„Kinder sind Zukunft“ – doch wie sieht es mit der Gegenwart aus? Kinder und Jugendliche leben in globalisierten gesellschaftlichen Strukturen, die einem immer schneller voranschreitenden Wandel unterliegen. Dieser Wandel reicht bis in die Familie hinein.
Die dortigen traditionellen Strukturen wurden längst aufgebrochen und durch neue patchworkartige Verhältnisse ersetzt. Dies wirkt sich auch auf sozial-gesellschaftlicher Ebene aus, was an einer veränderten Werteerziehung und einem veränderten Wertebewusstsein empirisch belegt werden kann. Das alles unter dem immer größer werdenden Einfluss einer vielfältigen Medienlandschaft.
Diese Arbeit fasst Ursachen zusammen und nennt Gründe für die veränderte Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen. Die daraus entstehenden Fragen für eine zeitgemäße Schulpädagogik sollen anhand ausgewählter Beispiele beantwortet werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Gesellschaft im Wandel
1.1. Historische Retrospektive
1.1.1. Die Nachkriegsjahre bis 1960
1.1.2. Gesellschaft in Westdeutschland zwischen 1960 und 1980
1.1.3. Gesellschaftlicher Wandel: 1980 bis zur Gegenwart
1.2. Zusammenfassung
2. Kinder und Jugendliche in ihrer gegenwärtigen Lebenswelt.
2.1. Mangelerziehung von Kindern und Jugendlichen
2.2. Wertewandel vs. Werteverfall
2.2.1. Wertbewusstsein vs. Wertvolles Handeln
2.2.2. Werte und Medien
3. Medialer Einfluss auf Kinder und Jugendliche
3.1. Fernseher
3.1.1. Beispiele positiver Auswirkungen von Fernsehkonsum
3.1.2. Beispiele negativer Auswirkungen von Fernsehkonsum
3.2. Computer (offline)
3.2.1. Positive Nutzungsmöglichkeiten
3.2.2. Negative Auswirkungen
3.3. Internet
3.3.1. Nutzungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche
3.3.2. Das Internet und seine negativen Auswirkungen
3.4. Handy
3.5. Zusammenfassung: Katharsis vs. Stimulans
4. Schule in der Gegenwart
4.1. Eine Bestandsaufnahme
4.2. Neue Methoden des Unterrichts
5. Medienerziehung in der Schule
5.1. Aufgaben schulischer Medienerziehung
5.2. Konzepte zum kritischen Umgang mit Medien
5.2.1. Medienpädagogisch orientierte Konzeption (G. Tulodziecki)
5.2.2. Integrative Medienerziehung in der Hauptschule (D. Spanhel)
5.3. Beispiele der Schul- und Unterrichtspraxis
5.3.1. Außerunterrichtliche Arbeitsmöglichkeiten am Computer
5.3.2. Unterrichtsprojekt zur Medienerziehung (Klasse 9)
6. Resümee/Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
„Kinder sind Zukunft“ - unter diesem Motto wurde dieses Jahr im April in den öf- fentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten eine Woche lang über die Themen Kinder, Familie, Erziehung und Bildung berichtet. Unter der Schirmherr- schaft der ARD luden zahlreiche Vereine zum Tag der offenen Tür ein. Schulen, wie beispielsweise die Astrid-Lindgren-Schule in Bremerhaven, stellten ihr Bil- dungskonzept vor. Die städtische Tageseinrichtung für Kinder in Stuttgart, welche die ganztägige Betreuung von Kindern zwischen 8 Wochen und 14 Jahren über- nimmt, öffnete ebenso ihre Pforten wie das Familienzentrum ElKiKo (Eltern- Kinder-Kommunikation) in Tübingen, welches sowohl über die wöchentlichen Treffs von Familien im Familiencafé, als auch über die Betreuungsmöglichkeit von Kleinkindern und Schülerhilfe informierte. Deutschlandweit wurde dieser Aktions- tag ins Leben gerufen und erfreute sich großer Resonanz. In dieser Woche stan- den die Kinder im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Doch warum dieser Aufwand? Weil wir Aussterben! Im Jahre 2050, so eine Schätzung, leben doppelt so viele Rentner, wie Kinder in Deutschland. Dies veröffentlichte jüngst das statis- tische Bundesamt. Um allen Ängsten vorzubeugen - nein, die Deutschen werden nicht aussterben, doch stimmt der Rückgang der Geburtenrate auf 1,3 Kinder im bundesweiten Durchschnitt (Quelle: statistisches Bundesamt) nachdenklich. Selbst die Politiker sind aufgeschreckt, das Thema Familie und Bildung, zuvor Randerscheinung im politischen Alltag, wird wieder debattiert und diskutiert. Erste Änderungen hin zu vermeintlich mehr Familienfreundlichkeit traten Anfang 2007 gesetzlich in Kraft. Statt Bundeserziehungsgeld können Eltern nun Elterngeld be- ziehen. Bis zu vierzehn Monate lang, anstatt der bisherigen zwölf. Doch ist dies nur der viel besagte Tropfen auf den heißen Stein! Aber warum sind wir Deut- schen fast „weltmeisterlich“ im Nicht-Kinderkriegen?
„Kinder sind Zukunft“, doch wie sieht das Leben in den bestehenden Kinderzimmern aus? Aus allen Ecken kommen die Hilferufe. Eltern sind überfordert mit der Erziehung und die Öffentlichkeit beklagt sich über das Fehlen selbiger bei den Kindern und Jugendlichen. Hat der Nachwuchs der Nation - unsere Sprösslinge - überhaupt keinen Anstand mehr? Sind alle guten Sitten über Bord und alle tugendhaften Eigenschaften verloren gegangen?
Der Umgangston unter den Jugendlichen hat sich genauso geändert, wie die Be- ziehung zwischen den Eltern und ihren Söhnen und Töchtern. Auch die Bildungs- institutionen des Landes haben Probleme. Sie kämpfen mit zunehmenden Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten bei ihren Schülern. Das ADH-Syndrom hat sich zu einer Modeerscheinung entwickelt, das allgemeine Lernniveau in den Klassen sinkt kontinuierlich, Sportlehrer beanstanden den körperlichen Zustand der Kinder und Jugendlichen. Fünfzehn Prozent der Sieben- bis Siebzehnjährigen sind zu dick, das stellte eine Studie des Robert-Koch-Instituts fest.
Die Zahl von Gewalttaten und Mobbing an den Schulen ist in den letzten zehn Jahren drastisch angestiegen. Von Erpressung, bis hin zu schwerer Kriminalität, ist alles vertreten. Uns allen sind die Horrorbilder von Erfurt noch im Gedächtnis, als ein neunzehnjähriger Jugendlicher sechzehn Menschen und anschließend sich selbst tötete. Im November 2006 stürmte ein achtzehnjähriger die GeschwisterScholl-Realschule in Emsdetten schwer bewaffnet, verletzte Schüler und Lehrer und tötete sich dann ebenfalls selbst.
Nach solchen Szenarien kommt es bei der Ergründung der Ursachen immer wie- der zu der Frage, ob und inwieweit gewaltverherrlichende Computer- oder Konso- lenspiele eine Rolle gespielt haben. Studien darüber sind nicht eindeutig. Fakt je- doch ist, dass Medien, wie der Computer, vor allem das Internet, die Kinder und Jugendlichen beeinflussen. Konsolen haben die Spielplätze verdrängt und das Fernsehen ersetzt das Gespräch am Mittagstisch. In den letzten zehn Jahren hat sich die Welt im Bereich (Multi-) Media, mehrfach revolutioniert. Neue Technolo- gien sind morgen schon veraltet. Was heute Hightech ist, ist morgen schon Stan- dard. Es herrscht eine Vielfalt auf dem Markt, die kaum noch überschaubar ist. Der Begriff Wissenschaftsgesellschaft ist gleichzusetzen mit der Mediengesell- schaft. Die ältere Generation wurde bereits abgehängt, sie kann dem Tempo nicht mehr folgen. Das haben die Medien erkannt. Sie haben sich als Ziel den Nach- wuchs auserkoren. Er ist Hauptkonsument und Rezipient und sieht sich einer Viel- falt von medialen Reizen ausgesetzt.
Die Schule sieht sich mit diesen bereits angeführten Problemen konfrontiert. Sie steht jenem soziokulturellen Wandel als gesellschaftliche Bildungsinstitution ge- genüber. Doch wie soll sie diesem Wandel begegnen? Wie kann sie kompensato- risch auf die ansteigende Mangel-Erziehung einwirken? Inwieweit soll und kann die Schule die tragende Rolle der Medien in der Gesellschaft berücksichtigen? Der Schlüssel zu den Antworten liegt in der Art und Weise des Unterrichts bezie- hungsweise der Art und Weise des Unterrichtens und des Unterrichtetwerdens.
Diese Arbeit gibt einen Überblick über die gesellschaftliche Entwicklung der letzten 50 Jahre. Sie beschreibt die gegenwartsbezogene Lebenswelt der Kinder und der Jugendlichen und gibt Aufschluss über den soziokulturellen Status Quo. Besonders mediale Einflüsse auf das Verhalten und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sollen dabei genauer Untersucht werden. Vom heutigen Standpunkt aus stellt sie dar, wie diese sozialen, kulturellen und medialen Einflüsse den Schulalltag verändert haben.
Um dieser gesellschaftlichen Lebensumgebung der Kinder und der Jugendlichen gerecht zu werden, bedarf es pädagogischer Konzepte, die im sozialen und medi- alen Kontext eingebettet, diesen Veränderungen gerecht werden. Aufgezeigt an empirischen Beispielen aus der Schul- und Unterrichtspraxis sollen im dritten Teil der Arbeit Möglichkeiten vorgestellt werden, wie ein zeitgemäßer, kritischer Unter- richt aussehen kann, besonders in Bezug auf das Erlernen medialer Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen.
1. Gesellschaft im Wandel
Als Gesellschaft bezeichnet man ein Konstrukt entstehend aus einem Netzwerk mehrerer Individuen, Gruppen, einzelnen Staaten und Völkern, Subkulturen, wie Jugendkultur und gesamten Kulturen, die sowohl in sozialer, als auch in kultureller Abhängigkeit zueinander stehen, beeinflusst durch sich selbst und durch äußere Faktoren. Eine Gesellschaft ist nicht statisch, sondern veränderbar. Sie ist geprägt durch Historik und durch Erfahrungswerte der in dieser Gesellschaft Lebenden. Durch Wandlung von Umwelt, inneren Einstellungen, wie Werten und ethischen Haltungen, durch Veränderung sozialer Strukturen, durch Entwicklung und Fort- schritt, ändert sich das Gesamtbild einer Gesellschaft. Dabei stehen alle Variablen in engem Zusammenhang und beeinflussen sich gegenseitig.
Im Folgenden bezieht sich der Begriff Gesellschaft, soweit nicht anders erwähnt, auf die Gesellschaft Deutschlands in ihrer Gesamtform und die darin lebenden Kulturen und deren Subkulturen.
1.1. Historische Retrospektive
1.1.1. Die Nachkriegsjahre bis 1960
Beginnend mit der Nachkriegszeit fanden sich die heutigen Ur-Großeltern und Großeltern in einer schwierigen bis aussichtslosen Situation wieder. Tausende Städte und Dörfer waren zerstört, die Infrastruktur war nahezu nicht mehr vorhan- den und die Industrie und deren Produktion waren beinahe vollständig zum Erlie- gen gekommen. Familien waren durch den Krieg auseinander gerissen worden. Zumeist waren es die Väter, die entweder in Gefangenschaft saßen oder gefallen waren. So mussten die Frauen die Rolle der Männer mit übernehmen. Man lebte mit den Verwandten und anderen Familien auf engstem Raum in teils schwer beschädigten Wohnungen. Es gab kaum Arbeit und an allen Ecken und Enden fehlte es an lebensnotwendigen Gütern, wie Lebensmitteln und Medikamenten. Die Kinder und Jugendlichen waren von den Folgen des Krieges traumatisiert. Teilweise verwaist und ohne Hoffnung auf Besserung lebten sie unter widrigsten Umständen in den Städten und Dörfern. Unter der Bevölkerung allgemein herrschten Verzweiflung und Desorientierung. Ähnliches schreibt auch Elisabeth Höhn:
„Hunger, Not, Elend, Trümmer, hamstern, Schwarzmarkt, Kriminalität, tiefste Hoffnungslosigkeit kennzeichneten den Alltag. Die Menschen lebten unter uns heute kaum vorstellbaren Bedingungen, Jugendliche nicht anders als Erwachsene. Jeder war sich selbst der Nächste. Soli- darität, soziales oder politisches Engagement standen weder bei Erwachsenen noch bei Jugendlichen hoch im Kurs. Das Ende des Dritten Reiches und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten viele verunsichert und ihnen die Orientierung er- schwert. Die den Jugendlichen zugeschriebenen Gefühle waren auch in der Gesamtbevölkerung vorhanden. Sie stellten ein Lebensgefühl der Nachkriegszeit dar und bedingten ein ausgeprägtes Sicherheitsstreben in den fünfziger Jahren.“ (HÖHN 2003, S. 114)
Die Rolle der Frau war eine besondere. Wie bereits oben erwähnt, mussten sie oft den Vater ersetzen. Vermisst, tot oder geschieden1, waren die Männer oft nicht mehr Teil der Familie oder sie waren psychisch und physisch so beeinträchtigt, dass sie ihrer Funktion oftmals in der Familie als Vater nicht mehr nachkommen konnten. So waren es die Frauen, die den größten Teil des Wiederaufbaus leiste- ten. Es klingt paradox, doch war die Situation der damaligen Zeit ähnlich der heu- tigen Situation, auch wenn die Ursachen hierfür, wie bereits beschrieben, andere waren als heute. Das Bild der Nachkriegszeit bis Anfang der fünfziger Jahre war geprägt von der selbstbewussten Frau. Emanzipiert und unabhängig zogen sie ihre Sprösslinge meist alleine auf und hatten, wenn überhaupt, Hilfe von Großel- tern und sonstigen Verwandten. Unter der autoritär-patriarchalischen Adenauer- Regierung wurde die Frau wieder in ihre „ursprüngliche“ Rolle in der Familie zu- rück gedrängt, der Wunsch sich gesellschaftlich zu emanzipieren blieb jedoch er- halten. Zwei Jahrzehnte später im Zuge der sexuellen und kulturellen Befreiung sollte sich das gesellschaftspolitische Bild auch im Hinblick auf die Frau grundle- gend ändern.
Schulwesen während der Nachkriegszeit
Das Schulwesen wurde nach dem Krieg durch die Alliierten von Grund auf neu strukturiert. Während im Osten Schulen nach kommunistisch-sozialistischem Vorbild entstanden war im Westen wichtigster Bestandteil des Wiederaufbaus des Schulsystems die Entnazifizierung durch Demokratisierung der an den Universitäten und pädagogischen Hochschulen ausgebildeten Lehrkräfte. Eine hohe Klassendichte (oft über 80 Schüler pro Klasse), mangelnde Lehrmittel und schlechte äußere Unterrichtsbedingungen erschwerten das Unterrichten anfangs jedoch enorm. Im Laufe der nächsten zehn Jahre entwickelte sich das Schulsystem als Spiegelbild zum Wirtschaftsaufschwung und wurde zu einer anerkannten wichtigen Institution der neu entstandenen Demokratie. Wie in der Erziehung, so galt auch in der Bildung ein autoritärer Stil als angemessen.
Medien bis 1960
Medien spielten bis 1950 eine untergeordnete Rolle. Sie waren beschränkt auf Druckmedien, da diese am einfachsten zu besorgen waren. Grundsätzlich lässt sich für die Nachkriegsjahre folgendes mediale Bild der Jugendkultur festhalten:
„Für die 10- bis 16-Jährigen war es eine Phase des Sich-zurecht- Findens.2 Druckmedien dominierten in der Mediennutzung sie waren noch am ehesten zu besorgen. Radio war bis auf die beginnenden Hör- spielangebote uninteressant, Fernsehen noch weit entfernt.“ (KERLEN 2005, S.97)
Und zu den 50er-Jahren heißt es weiter:
„Man hatte noch die bellende Medienmodernität in Gestalt von Volks- empfängern, Wochenschauen und Propagandafilmen so stark in den Ohren und vor Augen, dass man diesen modernen Medien, die auch jenseits des Ozeans, im Stammland bloßer Zivilisation, bedenklich an- gewachsen waren, grundsätzlich misstraute. Das erklärt, warum „Ju- gend und Medien“ in den 1950er- und 1960er-Jahren kein Thema war - es sei denn, man rechnet das Buch zu den Medien, dann war es eine sehr einseitige Medienforschung in Bezug auf Kindheit und Jugend“
(ebda., S.100)
Das Radio diente als Informations- und Unterhaltungsquelle vornehmlich den Erwachsenen, für Kinder und Jugendliche gab es keinerlei eigenständige Programme (allgemein fehlte es an Vielfalt). Sie hatten sich dem Kulturregime der Erwachsenengesellschaft zu fügen. Die der Kinder- und Jugendliteratur zugeordneten Bücher, dienten als erzieherisch-bildendes Medium und nicht zur Unterhaltung oder der bloßen Zerstreuung.3
Andere Medien wie das Fernsehen hielten erst Mitte der fünfziger Jahre Einzug in deutsche Wohnzimmer. Ab 1956 etablierten sich kindgerechte Formate, die re- gelmäßig das Nachmittagsprogramm gestalten. Dazu gehörten Puppenspiele, Studiosendungen und Spielfilme.
Durch die rasche Entwicklung setzte sich das Fernsehen bereits Anfang der sechziger Jahre als Massenmedium durch.
1.1.2. Gesellschaft in Westdeutschland zwischen 1960 und 1980
Nach den Jahren des Aufbaus befand sich Westdeutschland in einer Phase der wirtschaftlichen Hochkonjunktur. Im Ausland angeworbene Arbeitskräfte, steigen- de Exportzahlen, höhere Nettolöhne, technischer Fortschritt in der Industrie und im Haushalt sind Schlagworte, die für den Begriff der „Wohlstandsgesellschaft“ ste- hen. Durch die typischen deutschen Tugenden, wie Fleiß, Disziplin, Ehrgeiz, durch die Hilfe und Überwachung der Siegermächte, konnte sich Deutschland wieder zu einem wichtigen Wirtschaftsstandort der westlichen Welt entwickeln. Vor allem die Automobilindustrie boomte, durch neue technische Errungenschaften. Kernkraft- werke entstanden und in den privaten Haushalten erhöhte sich der Lebensstan- dard dank neuer Technologien in der Haushaltsgerätebranche. „Wir sind wieder wer!“, so bezeichnete Ludwig Erhard, damaliger Bundeskanzler, die Lebenssitua- tion und das Lebensgefühl der Bevölkerung. In ihn setzten die Menschen ihr zu- rückgewonnenes positives Zukunftsvertrauen. Es wurde weniger gespart, dafür florierte das Baugewerbe. Man baute oder vergrößerte das Eigenheim. Ein weite- rer Trend zeichnete die damalige Gesellschaft aus - Urlaub fern von zu Hause. So schreibt Helga Zeiher:
„Die Wohnung hat einen beträchtlichen Teil ihrer Freizeitfunktion an entfernte, oft weit entfernte Außenräume abgegeben: die Wochenendund Urlaubsräume und darin die Zelte, Campingwagen, Ferienwohnungen und Hotelzimmer.“
(ZEIHER 1983, S.182)
Generell ist das steigende Kaufverhalten der Menschen ein Beleg für diesen Wandel von Spar- zur Konsumhaltung.
Mitte der Sechziger waren es die Jugendlichen, die, anfangs nur das Bildungssys- tem kritisierend, gegen Politik und bestehende Konventionen revoltierten. Neue Lebensformen und Lebensstile zeugten vom Wandel bisheriger Normen. Studen- tenproteste und die Entstehung der ersten Kommunen sind weitere Beispiele für die Emanzipation der Jugend gegenüber der Gesellschaft. Klaus Wasmund fasst den Beginn einer über Jahre hinweg andauernden Jugendbewegung wie folgt zu- sammen:
„Überkommende hierarchische Strukturen und Herrschaftsverhältnisse wurden nicht mehr als naturgegeben oder schicksalhaft hingenommen, sondern in Frage gestellt. Politischer und sozialer Machtmissbrauch wurde bekämpft. Die Bereitschaft zur kritiklosen Anpassung oder Unterordnung war im Schwinden begriffen. Dafür stieg die Bereitschaft zur Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess, vor allem nahmen unkonventionelle Formen des politischen Protestes unter Einkalkulierung von Norm- und Regelverletzungen zu.“
(WASMUND 1982, S. 108)
Antiautoritäre Erziehung der Siebziger - A. S. Neill und Summerhill Die Siebziger folgten dem Gesellschaftsbild des vorigen Jahrzehnts. Das gesteigerte Kritikbewusstsein der deutschen Bevölkerung gipfelte in dem Wunsch sich von bisherigen gesellschaftlichen, politischen Zwängen zu lösen. Antiautorität war der zentrale Begriff dieses neuen Gesellschaftsbildes, mit welchem bisherige soziale und politische Strukturen kritisiert und in Frage gestellt wurden.
„Mit dem Begriff antiautoritär verbindet sich die Vorstellung einer aktiven, heftigen Auflehnung gegen jede Form von Autorität. Ihr Ziel war es, Herrschaft in jeglicher Form abzuschaffen“
(HÖHN 2003, S. 121)
Dabei ging es nicht um eine anarchistische Grundhaltung im Sinne von Chaos und Desorientierung, vielmehr um die Heranbildung mündiger und kritischer Bürger mit der Freiheit zur Selbstbestimmung und Selbstentfaltung der Persönlichkeit ohne eine oktruierende Politik oder sonstige Kontrollmechanismen, die die Entwick- lungsmöglichkeiten des einzelnen Individuums einschränkt oder beeinflusst.
„Durch die antiautoritäre Bewegung sollte Politik aus den Händen der Fachleute befreit und wieder zum Bestandteil des Alltags eines jeden Bürgers werden. Aus der antiautoritären Erziehung sollten keine autori- tären Persönlichkeiten hervorgehen, sondern mündige und selbständi- ge Menschen.“
(ebda., S. 121)
Mit der Befreiung von autoritären Persönlichkeitsstrukturen in der Pädagogik wur- de damals besonders ein Name verbunden: A. S. Neill! Sein Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ gehörten zu den literarischen Bestsellern des Jahres 1970. Wie bereits erwähnt ging es dabei um die Abschaffung einer indokt- rinierenden Erziehung. Neill beruft sich bei seinen reformpädagogischen Ansätzen immer wieder auf sein geistiges Vorbild Siegmund Freud und dessen psychoana- lytisches Erziehungsmodell, das die Anstrebung des Ich-Bewusstseins, gesehen als soziales, gesellschaftsfähiges, kritisches Individuum, über den Abbau des Über-Ichs, des Gewissens, als Instrumentarium eines, aus einer autoritären Ge- sellschaft bestehenden, aufgezwungen Gesetzbuches hinsichtlich moralischer und ethischer Grundhaltungen, vorsieht. Auch Jean Jaques Rousseaus pädagogische Leitmotive finden sich hier wieder. Der Glaube an das von Natur aus gute Kind oder die Bewegung vom Kinde aus waren Neills Prämissen, angelehnt an Rous- seau. Kinder würden sich frei entfalten, wenn man sie nur wachsen ließe war eine weitere. Nach Neills Auffassung würden sich Kinder dann entwickeln, wenn man sie ihren Egoismus ausleben ließe. Seiner These nach würde sich der Egoismus umwandeln in den sozial-pädagogisch wertvolleren Altruismus. Neills Credo laute- te: Erziehung zur Selbsterziehung!
„Schaffen sie allen Zwang ab! Geben Sie dem Kind die Möglichkeit, es selbst zu sein! Schubsen Sie es nicht herum! Belehren Sie es nicht! Halten Sie ihm keine Predigten! Erheben Sie es nicht zu etwas Höherem! Zwingen Sie das Kind zu nichts! … Ein schwieriges Kind ist ein unglückliches Kind. Es ist im Widerstreit mit sich selbst; daher liegt es auch mit der Welt im Kampf“
(NEILL 1965, S.88)
Sein privates Landschulheim Summerhill (gegründet 1921) diente ihm als empiri- sche Forschungsarbeit an/mit den Kindern. Es erlangte mit dem Aufruf und dem Wunsch in Deutschland nach alternativen Bildungs- und Erziehungswegen einen äußerst hohen Bekanntheitsgrad. Nach dem Vorbild Neills wurden die deutschen Kinderläden4 gegründet. Diese Einrichtungen, in denen die Kinder tagsüber von studierenden Müttern zur Betreuung untergebracht wurden, lehnten sowohl die traditionelle Erziehung als auch jegliche Form der Autorität radikal ab. Heute auch dadurch begründet, dass die damaligen Betreuer nur unzureichend pädagogisch ausgebildet waren und zumeist auch keinerlei pädagogische Erfahrungen hatten und somit die Kinder zum teil einfach sich selbst überlassen wurden.
Kritische Stimmen der heutigen Zeit beschreiben den damaligen Erziehungsstil als „laissez-faire“ oder als permissive Pädagogik. Neills Theorien wurden damals zum Teil falsch interpretiert. Dieser wollte nie die Missachtung von Regeln zum erzie- herischen Fokus machen. Es wurde einfach antiautoritäre Erziehung mit Nicht- Erziehung gleichgesetzt. Neill aber wollte die Kinder erziehen, durch deren eigene, von ihnen erstellten Regeln, die sehr wohl bei Verstoß Konsequenzen in Form von Strafen, die die Kinder selbst aushandelten, nach sich zogen. Alles unter Anleitung und Überwachung der Erzieher (vgl. GERSTER, NÜRNBERGER 2001, S. 176 ff).
Das Schul- und Bildungssystem
Bis in die Mittsiebziger wurde das Schulsystem von Grund auf reformiert. Aus poli- tischer Sicht sollten die Bildungsinstitutionen einen wesentlichen Teil zur Festi- gung der sozialen Demokratie beitragen. Sozialökonomisch gesehen wurde darauf hingewiesen, welchen Stellenwert die Bildung für den beruflichen und sozialen Status hat. Die damalige Industriegesellschaft hegte den Anspruch auf fachlich gut ausgebildete Angestellte. Ein zielorientierter, wissenschaftlicher Unterricht wurde proklamiert und in neuen Bildungsplänen umgesetzt. Eine Tatsache mit Folgen, der die heutige Gesellschaft in Form von Bildungsrückständen im Anwendungsbe- reich immer noch Rechnung tragen muss. Hochschulen expandierten und die Fachrichtungen wurden immer differenzierter. Im Zuge der Emanzipation und der eingeforderten Chancengleichheit auch auf dem Bildungssektor schlugen immer mehr weibliche Jugendliche den Weg der höchsten Schulbildung ein. Waren es damals gerade mal ein Drittel, so sind heute mehr als die Hälfte der mit Abitur abschließenden Schulabgänger weiblich.
Noch eine Tendenz war deutlich sichtbar. Es herrschte akuter Lehrermangel an Schulen und Hochschulen. Der Bedarf an jungen Lehrern war zum einen bedingt durch die Bildungsreform - man brauchte neue Lehrkräfte, die Selbige mittragen würden, zum anderen entstand durch die steigende Anzahl der Klassendichte ein Lehrermangel, den die Regierung versuchte durch eine groß angelegte Kampagne zu beseitigen. Die Regierung war es auch, die Mitte der Siebziger zahlreiche Lehrer entlassen hatte. Leere Staatskassen waren der Grund, sodass sich, wie heute, ein ähnliches Bild an Schulen abzeichnete. Erhöhte Klassenfrequenzen, ausfallende Unterrichtsstunden und ausgebrannte Lehrkräfte.
Ein Novum dagegen waren gegenwärtige klassische Lehreraufgaben wie neben dem Unterrichten, das Erziehen von Kindern und Jugendlichen, das Beraten von Eltern, das Organisieren von außerschulischen Aktivitäten, das Innovieren von veralteten (autoritären) Lehr- und Lernmethoden. Damit waren viele damalige Lehrkräfte überfordert. Es breitete sich eine Art Identitätsangst aus, da eine Diskrepanz zwischen theoretischem Studienalltag und der nach dem Examen fälligen Eintritt in die Praxis bestand. Bezüglich dieser Diskrepanz führten später die pädagogischen Hochschulen ein praxisbezogenes Studium ein (im Gegensatz zu den rein fachwissenschaftlichen Universitäten).
Zur Rolle der Medien
Größten Einfluss in dieser Zeit hatte das Fernsehen. Anfang der sechziger Jahre, setzte es sich langsam gegenüber dem Rundfunk durch und löste diesen spätes- tens zur Fußball Weltmeisterschaft 1974 als führendes Massenmedium ab. Das Unterhaltungsprogramm wurde immer differenzierter. Neben kleinen Shows kam es zu den ersten abendfüllenden Unterhaltungssendungen - exemplarisch sei hier „Dalli Dalli“ mit Hans Rosenthal genannt. Es entstand neben der ARD die zweite öffentlich rechtliche Fernsehanstalt, das ZDF. Ende der Sechziger kamen dritte Regionalprogramme hinzu.
Mit der „Sendung mit der Maus“ (Erstausstrahlung: 7. März 1971), wurden die ers- ten, speziell für Kinder gestalteten TV-Formate ausgestrahlt, die eine kindgerechte Bildung zum Ziel hatten. An diesem Beispiel zeigt sich, dass, sowohl in Druckme- dien, als auch in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsparten, das Angebot für Kin- der und Jugendliche damals von der Intention geleitet war, pädagogischen und didaktischen Zielen zu dienen. (vgl. KERLEN 2005, S. 120)
Die Sesamstraße als erzieherischer „Überflieger“ aus Amerika war ein weiteres Beispiel dieser sich ausbreitenden Vielfalt, sowie das entstehende Schulfernsehen, dessen Aufzeichnungen sich später auch im Unterricht wieder fanden. In Schulen wurden erste Sprachlabore und Multimedia-Systeme installiert, auch wenn diese in keinem Verhältnis zum heute üblichen medialen Schulinventar standen. Einige Pädagogen setzten sich bereits kritisch mit dem Thema Medien auseinander, wie zum Beispiel Paul Heimann, Pädagoge und Begründer der Ber- liner Schule. Über die Faszination der „neuen“ Medien schrieb er:
„ […] die auffällige Faszinationskraft der filmischen Bildsprache ist wohl das erste, das bei der Berührung mit den modernen Massenmedien bemerkt wird. Sie ist nicht bloß so ein diffuses Interessantheitsmoment, sondern ein sehr spezifischer Effekt, der auf dem Mechanismus der technischen Weltabbildung beruht, wobei man nicht nur an die optische, sondern ebenso an die akustische Komponente denken muss, die über eine eigene Art vor allem emotionaler Faszination verfügt.“
Man befürchtet speziell vom Schulfernsehen einiges: Die Begünstigung sehr rezeptiver Verhaltensweisen, einen didaktischen Impressionismus, die Entstehung eines gefährlichen Konformismus, die Lähmung der produktiven Phantasie durch künstliche Reizvermehrung, das Zurück- gehen der Primärerfahrungen zugunsten von Sekundärerfahrungen, die Entpersönlichung, die Mechanisierung des pädagogischen Bezuges und die Einebnung der individualisierten Unterrichtsarbeit."
(HEIMANN 1978, S. 212)
Heimann konnte nicht abschätzen wie Recht er mit seinen Vermutungen haben sollte.
Auch Dieter Baacke nahm schon 1974 kritischen Bezug zum Mediengebrauch im Unterricht. Er weist in seinen Veröffentlichungen ausdrücklich darauf hin, dass die neuen Medien nicht als pädagogische Hilfsmittel entwickelt wurden, sondern der Hauptzweck die Nutzung von Massenmedien die Unterhaltung ist. Seine damalige Annahme, dass Medien nur zweitrangig der Informations- und Meinungsbildung dienen, muss von heutigem Standpunkt aus jedoch revidiert werden, denn Medien werden mehr denn je zur Beeinflussung und Herstellung von Meinungen verwendet, sowohl politisch als auch soziokulturell.
(vgl. VOLLSTÄDT 2003, S. 26)
Speziell zum Fernsehkonsum von Kindern (untersucht wurden 10/11- und 13/14- Jährige) stellte Sozialpsychologin Hilde T. Himmelweit5 nach empirischen Forschungen in England folgende Thesen auf:
- Je interessanter die Alternativen, desto geringer die Nutzung
- Es besteht eine Relation von sozialem Milieu und kindlicher Fernseh- nutzung.
Als Alternativen bezeichnet Himmelweit:
a) viele andere Interessen
b) das Freie Spielen
c) geselliges Beisammensein mit wem auch immer (Eltern, Peers)
Vorgestellt wurden die Ergebnisse in Ludwig v. Friedeburgs Sammelband „Jugend in der modernen Gesellschaft“, 1965.
Diese, von Himmelweit aufgestellten Relationen, sind auch bei gegenwärtig auf- gestellten Erhebungen zu berücksichtigen und haben weiterhin ihre Gültigkeit. Deutsche Untersuchungen, die innerhalb ihrer Forschungen den Fokus explizit auf Kinder und Jugendliche und deren Umgang mit Medien richten, fanden bis 1980 nicht statt. Zudem wurde bis zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich das Lesever- halten untersucht. Medien wie das Fernsehen waren selten, und wenn dann nur als Randerscheinung Gegenstand der Medienforschung. Einzig Gerhard Maletz- ke6, angeregt durch Himmelweits Forschungen, veröffentlichte 1959 eine Studie mit dem Titel: „Fernsehen im Leben der Jugend. Studien und Untersuchungen.“ Er gilt in Fachkreisen als Pionier der Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland.
1.1.3. Gesellschaftlicher Wandel: 1980 bis zur Gegenwart
Die gesellschaftlichen Strukturen der 80er- und 90er-Jahre lassen sich wie folgt beschreiben. Durch die sexuelle und emanzipatorische Revolution der Jahrzehnte zuvor, ergaben sich neue soziale Schichten, deren Wandel bis heute andauert. Beispielsweise fanden sich immer mehr Ein-Eltern-Haushalte. Größtenteils waren es Frauen, die allein erziehend das Bild der traditionellen Familie von Grund auf veränderten. Vermehrt traten auch uneheliche Partnerschaften und Wohngemein- schaften, deren Ursprung aus den 70er-Jahren stammte, im Gesellschaftsbild auf. Weiterhin stieg die Zahl der Ehe-Scheidungen, während die Zahl der Eheschließungen kontinuierlich sank. Ein Trend, der bis heute anhält.
Elisabeth Höhn beschreibt dies so:
„Hintergrund dieser Entwicklung, die scheinbar mehr auf Trennung denn auf Verbindung abzielt, ist der gegenwärtige Zeitgeist, der die Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit im Sinne von äußerem Erfolg, Freiheit ohne lästige Pflichten, Zwänge und Beschränkungen, Geld und Konsum, Unabhängigkeit, Einfluss und anderen Annehmlichkeiten zum Lebensideal erhebt. Das Kind mit seinen Krankheiten, Problemen, Wünschen nach Zuwendung, mit den Kosten, die es verursacht, passt hier nicht ins Bild.“
(HÖHN 2003, S. 181)
Höhn stellt die soziokulturellen Strukturen der Gesellschaft treffend dar. Die Priori- täten lagen und liegen bei der Verwirklichung des Selbst, der Befriedigung der Be- dürfnisse des Individuums, der Emanzipation von der Gesellschaft. Aus dem Stre- ben nach Gemeinwohl entwickelte sich das Streben nach dem eigenen Glück und der eigenen Karriere, nach Freiheit und Selbstverwirklichung. Besonders hoch stehen diese Werte bei den Jugendlichen im Kurs, wie später noch genauer er- sichtlich wird.
Höhn stellt ihre Annahmen aber nur aus einem Blickwinkel der Lebenswirklichkeit, dem der moralischen Wertebeziehung des Individuums zur Gesellschaft, dar. In Betracht gezogen werden müssen jedoch auch andere Einflüsse. Am Beispiel der Ehe ist die höhere Lebenserwartung zu berücksichtigen. Dieser simple Faktor hat komplexe Auswirkungen auf das Zusammenleben. Ehen halten, bei Gültigkeit der Formulierung „Bis das der Tod euch scheidet“, theoretisch um Jahre länger als noch vor ein paar Jahrzehnten. Weiterer Grund ist die Abnahme von religiösen Werten. Die traditionelle kirchliche Heirat, nach der nur Gott eine Ehe scheiden darf, gibt es immer seltener. War es früher moralisch verpönt eine Eheverbindung zu lösen - vor allem Frauen hatten danach in der Gesellschaft einen schlechten Stand - so scheint es seit den 80er-Jahren gesellschaftlich akzeptiert und mit dem Wegfall des Schuldgesetzes ebenso gebilligt.
Standesamtliche Ehelichungen und Scheidungen im Vergleich
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Bundesamt für Statistik)
Jährlich kommen nach Angaben „Der Zeit“ in der Gegenwart 150.000 Schei- dungskinder hinzu (vgl. BRINCK 2003, Stand: 05.06.2007). Durch moderne Ehe- Verträge und wesentliche Vereinfachungen im Scheidungsrecht werden Trennun- gen ohne große Folgen für die Partner möglich. Letztendlich lohnt es sich selbst aus sozioökonomischen Gründen nicht mehr an zerrütteten Ehen festzuhalten.
Steuererleichterungen wiegen den Kostenfaktor bei weitem nicht mehr auf. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass seit Mitte der 80er-Jahre die Scheidungsrate verstärkt zugenommen hat.
Die geringere Wertschätzung den Bund fürs Leben beziehungsweise des Lebensabschnitts einzugehen oder eine Familie zu gründen, erkennt man auch an den steigenden Single-Haushalten, laut Höhn ebenso eine Folge der Individualisierung und des Wandels von Wertvorstellungen in der Gesellschaft seit den 80er-Jahren, die bis zum heutigen Tage andauert.
Kritik muss geübt werden an Höhns Äußerung über das Streben nach Karriere. Sicherlich ist durch die theoretische Gleichstellung von Frauen und Männern in der Berufswelt ein wichtiger Beitrag zur Emanzipation der Frau gelungen, doch sieht das in der Praxis anders aus. Noch immer werden männliche Bewerber bevorzugt eingestellt, da es für Firmen ein höheres Risiko darstellt eine Frau, die möglicher- weise der Familie den Vorzug gibt, schwanger wird und dann als potenzielle Ar- beitskraft nicht mehr zu Verfügung steht, einzustellen. Auf Grund von Profitstreben und Wirtschaftrentabilität sind Firmen und deren Manager nicht bereit dieses Risi- ko einzugehen.
Umgekehrt hat sich durch Rationalisierungsmaßnahmen im Zuge technischen Fortschritts und modernisierter Produktionsabläufe die Arbeitswelt grundlegend verändert. Arbeitsplätze sind wertvoll und begehrt. Ein Blick auf die steigende Arbeitslosigkeit seit Beginn der 80er-Jahre (siehe Gra- fik7 ) macht deutlich, dass auch der Wiedervereini- gung und ihrer wirtschaftli- chen Folgen wegen (Um- wandlung der Wirtschafts- form), sich die Arbeitslage drastisch verschlechterte.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das bekam auch die Politik zu spüren, denn mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit sank das Vertrauen in die Regierungsparteien. Insbesondere jugendliche Wähler, die keine Chance auf Arbeit sahen, kehrten der Politik den Rücken. Die allgemei- ne Meinung der Deutschen über korrupte Politiker und ein verstärktes Desinteres- se der Bevölkerung ließen die Wahlbeteiligung immer weiter sinken. Neben dem vorher beschriebenen sozialen Phänomen der familiären Mischformen und Einzel- haushalte, war dies das politische Bild, das die 80er- und 90er-Jahre prägte.
Schule und Bildung
Durch die immer schneller werdende Entwicklung in den Bereichen Wirtschaft, Technik und Wissenschaft sowie in den Sozial- und Kulturstrukturen der Gesell- schaft, sahen sich die Schulen einer zunehmend wachsenden Herausforderung gegenübergestellt.
„Angesichts dieser Herausforderung“, so formuliert Elisabeth Höhn tref- fend, „steht die Schule vor der Aufgabe, beim Zusammenwachsen der Kulturen und für das friedliche Zusammenleben auf der Welt, den zu vermittelnden Kanon von Wissen, Kompetenzen und Einstellungen neu zu definieren.
Sie muss auf die Auswirkungen reagieren, die der Pluralismus der Le- bensstile, die abnehmende Erziehungsleistung des Elternhauses und der wachsende Einfluss so genannter >geheimer< Miterziehender wie Medien und Peer-Groups auf Kinder und Jugendliche haben.“ (HÖHN 2003, S. 232)
weiter schreibt sie:
„Aufgrund der Zunahme von Kleinfamilien und unvollständigen Familien sind beständige, verlässliche und belastbare Beziehungen zu Erwachsenen für viele Kinder und Jugendliche kaum mehr vorhanden. Gerade deshalb wurde in den zurückliegenden Jahren deutlich, dass die Schule wieder verstärkt erziehen muss.“
(ebda., S. 232)
Mit der Bezeichnung „Peer-Groups“ spricht Höhn die sozialen Kontakte an, wie Freunde oder Interessensgemeinschaften, die mit zunehmendem Alter der Ju- gendlichen immer stärker an Einfluss gewinnen. Die Quintessenz aus Höhns Zitat liegt in dem zusätzlichen erzieherischen Auftrag, der der Schule neben der Wis- sensvermittlung mehr und mehr oblag. Anfang der 80er-Jahre war dies die ent- scheidende Entwicklung im Schulalltag und wurde in der Erneuerung des Schul- gesetzes verankert.
Hier folgt ein kurzer Abriss der Entwicklung der 80er- und 90er Jahre, ohne ge- nauer darauf einzugehen, da die Folgen und Auswirkungen, die diese entschei- dende Entwicklung, sowohl für die Kinder, als auch für die Jugendlichen hatte und hat, in einem der nächsten Kapitel gesondert und ausführlich erläutert werden sol- len. Wichtig zu erwähnen ist, dass sich die Entwicklungszeit neuer Medien seit den 80er-Jahren drastisch verkürzt hat. Die gegenwärtige Situation besteht in ei- nem immer kürzer werdenden Zyklus, der sich ständig verbessernden und der neu entwickelnden technischen und medialen Gegebenheiten. Nachfolgend werden die wichtigsten Entwicklungen auf dem Mediensektor aufgezeigt:
Medienentwicklungen in den 80er- und 90er-Jahren
- 1982: Entwicklung des Internets
- 1983: Erster PC kommt nach Deutschland
- 1984: Einführung privater Fernsehanbieter
- 1985: Vertrieb des ersten Mobilfunknetzes (C-Net)
- 1985: Durchbruch des Notebooks
- 1987: Erster Fernsehsatellit (ASTRA)
- 1990: Das World Wide Web wird kommerzialisiert
- 1990 bis heute: Entwicklung leistungsstärkerer Hard- und Software
- 1992: Umstellung auf ein leistungsstärkeres Mobilfunknetz (D-Net)
- 1996: Die DVD kommt auf den Markt
(MOSER 2000, S. 43)
Zeitgleich wurden die ersten Studien in Auftrag gegeben, die sich mit den Auswir- kungen der Medien speziell auf Kinder und Jugendliche beschäftigten. Erwäh- nenswert hier ist die 1980 erschienene Schweizer Analyse: „Die Massenmedien im Leben der Kinder und Jugendlichen. Eine Studie zur Mediensozialisation im Spannungsfeld von Familie, Schule und Kameraden“ von Ulrich Saxer, Heinz Bon- fadelli und Walter Hättenschwiler. Selbige Forscher wurden 1986 von ARD/ZDF und der Bertelsmann-Stiftung beauftragt, eine Jugendmedienstudie in Deutsch- land durchzuführen, deren Erhebung zwei Jahre zurücklag. Thema der Studie war das Erforschen des jugendlichen Mediengebrauchs insgesamt in Deutschland. Am Ende stand die Erkenntnis: Jugendliche verwenden Medien zielbewusst und aktiv, das heißt, sie dienen zur Befriedigung verschiedenster Bedürfnisse. Dies stand im Widerspruch zum traditionellen Medienwirkungskonzept der damaligen Zeit, dass die Bevölkerung den medialen Reizen ausgeliefert sah. Bonfadelli spricht von ei- ner entstandenen Multimedia-Generation der damaligen Jugendlichen. Eine Begrifflichkeit, die bis zum heutigen Tag zutrifft. (Vgl. KERLEN 2006, S. 121)
Weiterhin zu nennen sind in den 90er-Jahren die Bertelsmann-Stiftung, die sich mit dem Leseverhalten der Jugendlichen auseinandersetzt, sowie die Studien zu „Jugend, Information, (Multi-) Media“ (JIM), deren neueste Ergebnisse im weiteren Verlauf der Arbeit gezeigt werden.
1.2. Zusammenfassung
Der gesellschaftliche Wandel der vergangenen Epochen ist grundlegend für die gegenwärtige Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen. Aus den Entwicklungen im sozialen, kulturellen und medialen Bereich ergeben sich Konsequenzen für das derzeitige Gesellschaftsbild und der sich in diesem Kontext befindenden Jugendkultur.
Der folgende Teil der Arbeit geht näher auf die heutige Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen ein und stellt einen Bezug zur daraus resultierenden Problema- tik des Schulalltags her. Die Rolle multimedialer Einflüsse, insbesondere Compu- ter, Internet und Fernsehen, wird dabei besondere Berücksichtigung finden und soll einen Begründungszusammenhang herstellen zwischen dem Verhalten der Kinder und Jugendlichen und dem unsachgemäßen, unkritischen medialen Kon- sum.
[...]
1 Die Scheidungsrate in den Jahren der Nachkriegszeit stieg sprunghaft an - Zwangshochzeiten während des Krieges wurden im Nachhinein wieder geschieden, genauso wie rückkehrende Väter, die aber durch die Folgen des Krieges vollkommen verändert, für die eigenen Kinder fremd waren und häufig von diesen abgelehnt wurden.
2 Gemeint sind die Nachkriegsjahre bis 1950
3 Populär waren die Geschichten vom Struwwelpeter (1845), Beispielhaft in ihrer Erziehungsfunktion.
4 Diese Betreuungsinstitutionen erhielten ihren Namen daher, als politisch engagierte Studentinnen Ende der sechziger Jahre zur Zeit der Studentenbewegung Wohnungen oder Läden anmieteten, um dort ihre Kinder unter erzieherischer Aufsicht betreuen zu lassen, damit sie aktiv an Aktionen teilnehmen konnten.
5 Hilde T. Himmelweit - deutsche Sozialpsychologin, ausgewandert nach England. Publizierte ihre empirischen Forschungsergebnisse in dem Buch: „Television and the Child“, 1958 in England erschienen.
6 Gerhard Maletzke, deutscher Kommunikationswissenschaftler und Psychologe. Seine Untersuchungen wurden im Hans-Bredow-Institut für Rundfunk und Fernsehen an der Universität Hamburg durchgeführt. Rundfunk, Zeitung, Buch, Film, Hobby, Schallplatte, Organisation wurden damals als mögliche Freizeitgestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Medien benannt. (vgl. Kerlen 2005, S.121)
7 Quelle: Bundesagentur für Arbeit
- Arbeit zitieren
- Markus Daubner (Autor:in), 2007, Kinder und Jugendliche in einer veränderten Gesellschaft und medialen Einflüssen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89267
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