Am 12.März 1938 sitzt Joseph Buttinger, alias Gustav Richter, im Zug, der ihn von Wien nach Paris bringen soll. Nach dem fehlgeschlagenen Aufstand der österreichischen Sozialisten war Richter 1935 rasch zum Vorsitzenden des Zentralkomitees der im Untergrund tätigen Revolutionären Sozialisten aufgestiegen, die international als legitime Vertreter der österreichischen Sozialdemokratie gewertet wurden.
Es war Richter klar, dass er beim ersten Exiltreffen keinen leichten Stand haben würde. Er hatte seinen Kader ohne Weisungen für eine Weiterführung der Parteiarbeit zurückgelassen, überdies waren ihm nur wenige Spitzenfunktionäre ins Ausland gefolgt. Er konnte allerdings damit rechnen, dass die beiden Spitzenfunktionäre Otto Bauer und Friedrich Adler keine Führungsposition anstrebten.
Tatsächlich wurde Buttinger am 1. April 1938 nicht nur Vorsitzender der neugegründeten Auslandsorganisation der österreichischen Sozialisten (AVOES), er brachte auch sein kompromissloses, revolutionäres Programm ohne Gegenstimme durch. Dieses bald umstrittene, jedoch konsequent umgesetzte Programm führte dazu, dass es bei Kriegsende weder eine österreichische Auslandsvertretung noch eine Exilregierung gab. Dieses Faktum sollte die Nachkriegsgeschichte Österreichs entscheidend prägen und das keineswegs zum Nachteil. Es war dadurch Platz für eine von der Sowjetunion ohne Absprache mit den Westalliierten eingesetzte provisorische Regierung unter Karl Renner.
Doch die diesem Gremium auferlegten raschen landesweiten Wahlen führten nicht zu der von den Initiatoren erhofften kommunistisch dominierten Volksfront, sondern zu einer Konzentrationsregierung unter der Dominanz bürgerlicher und sozialdemokratischer Kräfte. Dieser Regierung gelang es nun nicht nur eine Teilung des Landes zu verhindern, sondern die Voraussetzungen für den „Sonderfall Österreich“ mit der frühzeitigen Entlassung des Landes in die Freiheit zu schaffen.
Auf Basis von bislang unveröffentlichten Sitzungsprotokollen und Dokumenten der AVOES und deren Nachfolgeorganisation können dem Leser die Motive und Handlungsmuster des sozialdemokratischen Exils erstmals zusammenhängend und nachvollziehbar dargestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT
- 1. EINLEITUNG
- -- Quellen
- -- Hinweise
- 2. DIE GENESIS DER AUSLANDSVERTRETUNG DER ÖSTERREICHISCHEN SOZIALISTEN (AVOES) UND DIE DEKLARATIONEN VON BRÜSSEL UND PARIS
- 3. DIE WURZELN DER EXILPOLITIKER UND IHRER POLITIK
- 3.1. Ein Blick zurück
- 3.2. Die reformistischen Gründerväter (1867-1914)
- 3.3. Krieg und Revolutionsoption (1914-1919)
- 3.4. Der Austromarxismus (1919-1934)
- 3.4. Die Sozialdemokratie im Abseits (1934-1938)
- 4. DAS ENTSCHLOSSENE EXIL (MÄRZ 1938 BIS JUNI 1940)
- 4.1. Europa von 1938 bis Kriegsbeginn
- 4.2. Die Flüchtlinge
- 4.3. Sozialdemokraten unter dem Hakenkreuz
- 4.4. Die AVOES definiert ihre Exilpolitik
- 4.5. Kriegsausbruch und Spannungen in der AVOES
- 5. DAS EXIL UND SEINE ZWEIFEL (JUNI 1940 BIS JUNI 1941)
- 5.1.Die internationale Lage bis Juni 1941
- 5.2. Österreichische Flüchtlinge und ihre Gastländer
- 5.3. Die politische Exilorganisationen der Österreicher
- 5.4. Die Politik der AVOES vom Kriegsbeginn bis Juni 1941
- 6. DAS EXIL UND DIE HOFFNUNG (JUNI 1941 BIS HERBST 1943)
- 6.1. Der Kriegseintritt der Sowjetunion
- 6.2. London: Das Free Austrian Movement und die Spaltung der österreichischen Sozialisten
- 6.3. New York: Das Ende der AVOES und der Kriegseintritt der USA
- 6.4. New York: Die Gründung des Austrian Labor Committee (ALC)
- 7. DIE ZEIT DER UNGELIEBTEN GEWIßHEIT AB OKTOBER 1943
- 7.1. Paukenschlag Moskauer Deklaration
- 7.2. Deklarationsgegner Adler schockt das Exil
- 7.3. Pollaks Coup - die „Österreichische Vertretungskörperschaft”
- 7.4. Kommunistische Antwort: Das Free Austrian World Movement
- 7.5. Wie real ist Friedrich Adlers Rücktritt ?
- 7.6. Das Exil und die Vorstellungen von der Zukunft
- 8. DAS EXIL UND DIE 2.REPUBLIK
- 8.1. Die Intentionen der Kriegsführenden
- 8.2. Die Aktionen der Österreicher im Lande
- 8.3. Die Fehlkalkulation des Kreml
- 8.4. Das Exil und die neue Partei
- 9. ZUSAMMENFASSUNG
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit der Exilpolitik der österreichischen Sozialdemokratie zwischen 1938 und 1945. Ziel ist es, die Denkstrukturen, Strategien und Auswirkungen dieser Exilpolitik aufzuzeigen und die Rolle von Friedrich Adler in diesem Kontext zu beleuchten. Die Arbeit basiert auf neu erschlossenen Dokumenten aus dem Adler-Archiv des International Institute of Social History in Amsterdam.
- Die Genese der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES)
- Die Entwicklung der Exilpolitik der AVOES
- Die Rolle von Friedrich Adler in der Exilpolitik
- Der Einfluss der Exilpolitik auf die Gründung der Zweiten Republik
- Die Spaltung der österreichischen Sozialisten im Exil
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel führt in die Thematik der Arbeit ein und beleuchtet die geschichtliche Entwicklung der österreichischen Sozialdemokratie. Das zweite Kapitel behandelt die Gründung der AVOES und ihre ersten Deklarationen in Brüssel und Paris. Das dritte Kapitel untersucht die Wurzeln der Exilpolitiker und ihrer Politik, indem es die Entwicklung der österreichischen Sozialdemokratie von den reformistischen Gründervätern bis zur Zeit des Austromarxismus und der Abseitsstellung der Partei zwischen 1934 und 1938 beleuchtet.
Das vierte Kapitel befasst sich mit dem entschlossenen Exil der österreichischen Sozialisten nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Hier werden Themen wie die Flüchtlingssituation, die Haltung der Sozialdemokraten unter der NS-Herrschaft und die Definition der Exilpolitik der AVOES behandelt. Das fünfte Kapitel behandelt die Zeit des Exils zwischen Juni 1940 und Juni 1941, fokussiert auf die internationale Lage, die Situation der österreichischen Flüchtlinge in ihren Gastländern und die politische Exilorganisation der Österreicher.
Das sechste Kapitel analysiert die Entwicklung der Exilpolitik zwischen Juni 1941 und Herbst 1943, einschließlich des Kriegseintritts der Sowjetunion, der Gründung des Free Austrian Movement und der Spaltung der österreichischen Sozialisten, sowie der Gründung des Austrian Labor Committee (ALC). Das siebte Kapitel widmet sich der Zeit der „ungeliebten Gewissheit“ ab Oktober 1943, mit der Moskauer Deklaration, dem Schock der Deklarationsgegner im Exil, der Gründung der „Österreichischen Vertretungskörperschaft” durch Pollack, der kommunistischen Antwort durch das Free Austrian World Movement, dem Rücktritt von Friedrich Adler und den Vorstellungen vom zukünftigen Österreich im Exil.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit wichtigen Schlüsselbegriffen wie Exilpolitik, österreichische Sozialdemokratie, Friedrich Adler, AVOES, Austrian Labor Committee (ALC), Free Austrian Movement, Moskauer Deklaration, Zweite Republik. Die zentralen Themenbereiche der Arbeit sind die Denkstrukturen und Strategien der Exilpolitik, die Auswirkungen auf die Gründung der Zweiten Republik, die Rolle von Friedrich Adler und die Spaltung der österreichischen Sozialisten im Exil.
- Quote paper
- Dr. Hans Christian Egger (Author), 2004, Die Exilpolitik der österreichischen Sozialdemokratie 1938 bis 1945, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89893