Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Wir Flüchtlinge – Hannah Arendt im amerikanischen Exil
2.1 Verlust der Heimat und gefährlicher Optimismus
2.2 Assimiliertes Judentum – Paria und Parvenü
3 Ausschluss und Staatenlosigkeit
3.1 Ein neuer Flüchtlingsbegriff
3.2 Flüchtlinge und Menschenrechte
3.3 Flüchtlinge und Nationalstaat
4 Fazit: Der Flüchtling als politische Figur heute
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die politische Theoretikerin Hannah Arendt floh als Jüdin einst vor dem nationalsozialistischen Regime aus ihrer deutschen Heimat und erreichte schließlich die Vereinigten Staaten von Amerika, wo sie später ihre einflussreichsten Werke hervorbrachte. In New York erschien auch ihr Aufsatz „Wir Flüchtlinge“ für die jüdische Zeitschrift „The Menorah Journal“, welcher im Jahr 1943 erstveröffentlicht wurde (vgl. Arendt 2015: 33). Hier beschreibt sie aus einer subjektiven Perspektive die Erfahrungen und Konflikte jüdischer Geflüchteter in den Vereinigten Staaten und damit das politische Selbstverständnis des Flüchtlings. Der Aufsatz thematisiert die Krise der Selbstwahrnehmung, den Zusammenbruch der privaten Welt sowie die stete Assimilation der Juden. Er liefert zudem zentrale politische Aspekte der Heimat- und Staatenlosigkeit, welche auch heute noch zum Teil kontrovers diskutiert und auf aktuelle Ereignisse angewandt werden.
Diese Arbeit soll anhand einer umfassenden Rekonstruktion und Analyse des Aufsatzes von Arendt dessen wichtigste Konzepte aufschlüsseln und anschließend die politischen Ursachen und Zusammenhänge von Flucht und Staatenlosigkeit beleuchten. Der Flüchtling wird als politische Figur betrachtet, wobei herausgearbeitet werden soll, auf welche Weise verschiedene miteinander verwobene politische Aspekte zu jenem Zustand der Staaten- und Rechtlosigkeit führen. Abschließend soll erarbeitet werden, inwieweit die Erkenntnisse auch auf aktuelle Ereignisse anwendbar sind.
2 Wir Flüchtlinge – Hannah Arendt im amerikanischen Exil
In ihrem Aufsatz „Wir Flüchtlinge“ aus dem Jahr 1943 schildert Hannah Arendt mit einer Mischung aus Ironie und Melancholie die Situation geflohener und im Exil lebenden Jüdinnen und Juden (vgl. Bernstein 2018: 11). Den gesamten Inhalt schildert die Autorin aus der Perspektive der ersten Person, sowohl im Singular („ich“), als auch im Plural („wir“) und zeigt so, selbst geflüchtete deutsche Jüdin, ihre eigene Teilhabe an der Thematik. Gleichzeitig stilistisch prägend für den Aufsatz ist trotz der empathischen Erzählperspektive die an einigen Stellen auffallend kühle, beinahe zynische Distanz, mit welcher Arendt die Subjekte sowie die Ereignisse in ihrem Aufsatz beschreibt. Dies kann als Mittel gedeutet werden, trotz der eigenen Betroffenheit die kritische und reflexive Position deutlich zu machen. Somit verbindet sie sich einerseits mit dem Erzählten und schafft andererseits gezielte Distanzierung (vgl. Della Coletta 2014: 719 f.). Als leitende Motive lassen sich zum einen der Flüchtling als politische Figur herausarbeiten, welcher innerhalb der modernen globalen Gesellschaft einen paradoxen Status innehat. Zum anderen ist der später als scheinheilig und fassadenhaft entlarvte Optimismus ein weiteres wichtiges Motiv der Arbeit Arendts und damit zusammenhängend die Selbstwahrnehmung und Assimilation der jüdischen Flüchtlinge.
2.1 Verlust der Heimat und gefährlicher Optimismus
Hannah Arendt leitet ihren Aufsatz mit dem Wort ein, welches gleich eines der wichtigsten Merkmale des ganzen Werks darstellt. Es ist das Wort „Wir“ und zeigt direkt die Perspektive, die Arendt einnimmt. Sie schreibt im Folgenden über das politische Selbstverständnis von Geflüchteten, zu denen sie selbst zählt, seit sie der Entrechtung und Verfolgung von Juden durch das Nazi-Regime entfloh und in den Vereinigten Staaten im Exil lebt. „Wir mögen es von vornherein nicht, ‚Flüchtlinge‘ genannt zu werden“ (Arendt 2015: 33) stellt Arendt zu Beginn klar. Direkt zu Beginn spielt sie auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Geflüchteten an, womit sie gleich die erste These ihres Aufsatzes einleitet: Die Bezeichnung „Flüchtling“ habe sich mit den vom Nazi-Regime verfolgten Juden grundlegend verändert (vgl. ebd.). Eine genaue Erläuterung dieser These soll in Kapitel 3 dieser Arbeit konzipiert werden. Arendt merkt an, es sei den geflohenen Juden ein großes Anliegen, gar nicht erst als „Flüchtlinge“ angesehen zu werden, sondern viel eher als normale Einwanderer, die „aus freien Stücken in Länder [ihrer] Wahl aufgebrochen wären“ (ebd.). Schon hier wird deutlich, was im weiteren Verlauf ihres Aufsatzes noch weiter ausgeführt wird: Die Frage der Identität jener Geflohenen sowie die Verleumdung ihrer Vergangenheit. Denn als Juden wollen sie nicht stigmatisiert werden (vgl. ebd.). Arendt behauptet sogar, sie „bestritten, dass [ihre] Situation irgendetwas mit der so genannten ‚jüdischen Frage‘ zu tun hätte“ (vgl. ebd.). Sie möchten laut ihr als Neuankömmlinge gesehen werden, bereit, voller Optimismus ein neues Leben zu bestreiten (vgl. ebd.: 34). Damit leitet sie zum weiteren wichtigen Motiv ihrer Arbeit über, dem vorgetäuschten Optimismus. Dieser „bewundernswert[e]“ Optimismus sei „selbst attestier[t]“ (ebd.), was vermuten lässt, die Flüchtlinge schreiben sich selbst vor, so zuversichtlich sein zu müssen. Vor allem nach dem, was Arendt als Zerrüttung des Privatlebens bezeichnet und die gravierenden Verluste beschreibt, die die Geflüchteten durchlebt haben (vgl. ebd.). Dazu zählen der Verlust der Sprache und damit die Natürlichkeit gewohnter Gesten und Reaktionen. Daneben beschreibt Arendt den Verlust von Freunden und Verwandten, die in Gettos zurückblieben oder Konzentrationslagern ermordet wurden. Die Geflüchteten „sollen vergessen“ (ebd.), sie sprechen untereinander nicht über jene Vergangenheit, die eigentlich noch immer Gegenwart ist: In den Konzentrationslagern, denen sie entkommen konnten, werden nun andere Jüdinnen und Juden massenhaft gefangen gehalten und warten auf den Tod (vgl. Heilbut 1987: 320). Die Geflüchteten möchten sich an das neue Leben schnell anpassen, indem sie alte Erinnerungen bestmöglich verdrängen und zurücklassen. Jene zwanghafte Assimilation ist ein Kernelement des Aufsatzes und findet sich bis zum Schluss stetig wieder. Arendt deutet ferner an, der Optimismus sowie die unmittelbare Anpassung an ein neues Zuhause werde von der Außenwelt erwartet, alles andere, wie etwa Anspielungen auf die Vergangenheit oder Anmerkungen über Hitler sowie die Konzentrationslager, „könnte ja als Pessimismus oder Mangel an Zuversicht gegenüber dem neuen Heimatland gedeutet werden“ (Arendt 2015: 34).
Danach folgt ein Bruch. Arendt lässt vermuten, dass die im öffentlichen Leben stets unterdrückten Erinnerungen, sowohl an die Konzentrationslager als auch an das alte Leben generell, früher oder später doch zum Vorschein kommen:
„Ich weiß nicht, welche Erinnerungen und Gedanken nachts unsere Träume bevölkern. Ich wage nicht, nach Informationen zu fragen, denn auch ich sollte wohl besser eine Optimistin sein. Doch manchmal stelle ich mir vor, dass wir wenigstens nachts an unsere Toten denken und uns der Gedichte erinnern, die wir einmal liebten. […] Nein, irgendetwas stimmt nicht mit unserem Optimismus.“ (ebd.: 35)
Spätestens jetzt entlarvt Arendt den oberflächlichen Optimismus als Verdrängungsmechanismus, welcher sowohl die Verarbeitung des Erlebten behindert als auch Sorgen und Ängste verdecken soll, sowohl über die eigene Zukunft als auch über die Fremdwahrnehmung als vermeintlich „‘feindliche Ausländer‘“ (ebd.). Die Vergangenheit der Geflüchteten und gleichzeitig Gegenwart der noch Gefangenen wird verdrängt, um bestmöglich vergessen zu können. Auch damit zusammenhängende politische Entwicklungen werden verweigert, man vertraut lieber „auf die Sterne“ (ebd.), was zu jenem „‘ungesunden Optimismus‘“ (ebd.) führt, welcher letztlich nur die „Maske einer tiefen Todessehnsucht“ (Heilbut 1987: 320) darstellt. Die durch Verdrängung und Realitätsverweigerung hervorgerufenen Depressionen und Suizidversuchen werden von Arendt auf zynische Weise geschildert:
„Es gibt unter uns diese sonderbaren Optimisten, die erst einen Haufen optimistischer Reden halten und dann nach Hause gehen und das Gas aufdrehen oder sich eines Wolkenkratzers auf recht unerwartete Weise bedienen. Sie scheinen zu bestätigen, dass unsere ostentative Fröhlichkeit auf einer gefährlichen Todesbereitschaft beruht.“ (Arendt 2015: 35)
Jene Todesbereitschaft wurzelt laut Arendt zusätzlich darin, dass der Tod durch die Erlebnisse während des Holocaust seinen Schrecken verloren habe und damit auch die Juden ihren Lebensmut. Das Leben biete so viele Schwierigkeiten, dass man sich diese am liebsten ersparen möchte (vgl. ebd.: 36). Über die jeweiligen Motive wird geschwiegen, „denn diese scheinen […] allen klar zu sein“ (ebd.). Danach spricht Arendt von den Statistiken über Suizide bei Juden, „dass Juden die niedrigste Selbstmordrate unter allen zivilisierten Nationen“ (ebd.) hätten und dass dies laut Arendts Beobachtungen nun nicht mehr stimmen könne, da sich die Selbstmorde unter ihnen stetig ausbreiten. Diese Ausbreitung geschehe weltweit, nicht bloß auf die Orte in unmittelbarer Nähe zu den Geschehnissen der Schoah beschränkt (vgl. ebd.). Anschließend philosophiert Arendt über die Schwierigkeiten, die ein Suizid als Jude mit sich bringt. So erläutert sie, weshalb die Selbstmordrate in den Konzentrationslagern so gering sei, obwohl die Lage dort für die Jüdinnen und Juden mehr als aussichtslos ist. Arendt erklärt es mit dem Kollektivgedanken der Gefangenen: Ein individueller Selbstmord gelte angesichts der eine ganze Gruppe betreffenden Ereignisse als „asozial und gleichgültig“ (ebd.: 37), als ein „Affront gegenüber der Gruppe“ (Heilbut 1987: 320), als würde man jenes Schicksal „einzig als persönliches und individuelles Pech“ (ebd.) ansehen. Danach stellt sich Arendt der großen philosophischen Frage, ob der Selbstmord nicht „die letzte und höchste Garantie menschlicher Freiheit“ (Arendt 2015: 37) sei. Jedoch sei diese Frage für gläubige Juden sowieso obsolet, da sie auf Grundlage ihres Glaubens das Leben, welches von Gott geschenkt wurde und auch von ihm genommen werden soll, nicht eigenständig beenden sollen, da dies einem „blasphemischen Angriff auf die Schöpfung als ganze“ (ebd.) gleichkäme. Ferner bezeichnet Arendt die jüdischen Selbstmorde nicht als rebellische Akte, sondern als „still und bescheiden, als bäten sie für die gewaltsame Lösung […] um Verzeihung“ (ebd.). Zudem unterstellt Arendt den Selbstmörderinnen und Selbstmördern eine Art „Selbstsucht“ (ebd.: 38), die sie zu den Taten treibt. Denn letztlich resultiere ihr selbstzerstörerischer Optimismus aus der „Verzweiflung an sich selbst“ (ebd.), wobei sie nicht begreifen, dass dieser gravierende Wandel das ganze jüdische Volk betreffe (vgl. ebd.: 38, Heilbut 1987: 320). Dieses Argument führt sie weiter aus, indem sie analysiert, wie sich das Fremd-, aber vor allem das Selbstverständnis der Jüdinnen und Juden wandelte: Zunächst als Philanthropen und zuverlässige, vertrauensvolle Mitbürger in der Gesellschaft angesehen, mussten sie schließlich selbst gerettet werden. So macht sich ein Gefühl der Erniedrigung unter ihnen breit sowie gewisse Hysterie aufgrund einer Art Generalverdacht, dem sie nun als Fremde ausgesetzt seien (vgl. ebd.). Man sehnt sich nach der Vergangenheit und dem früheren Ansehen, welches man einst genoss, zurück (vgl. Arendt: 38 f.). Sie führt daran anschließend erneut die Frage nach der Identität aus, was schließlich in dem Satz gipfelt „Unsere Identität hat sich so oft gewandelt, dass niemand ergründen kann, wer wir wirklich sind.“ (Arendt 2015: 39). Den Status des Flüchtlings wollen sie nicht akzeptieren und sich und anderen daher ständig beweisen, normale Einwanderer zu sein (vgl. ebd.: 40). „Sehr wenige Menschen haben die Stärke, ihre eigene Integrität zu bewahren, wenn ihr sozialer, politischer und rechtlicher Status vollkommen verworren ist“ (ebd.) hält Hannah Arendt fest und stellt direkt im Anschluss die Vermutung auf, jene Verworrenheit resultiere teilweise aus dem Verhalten der Jüdinnen und Juden selbst, indem sie ständig ihre Identität wechseln und nicht den Mut haben, für eine tatsächliche Veränderung ihres Stellenwerts in der Gesellschaft einzustehen (vgl. ebd.). Den ständigen Wechsel der Identität in Form einer andauernden Anpassung an das jeweilige Zielland erläutert Arendt zuspitzend mit der Anekdote über den fiktiven „Herrn Cohn“, der, angetrieben durch die Flucht von Hitler und dessen Regime erst in Deutschland, dann in Tschechien, später in Österreich und schließlich in Frankreich lebte und jedes Mal ein „Superpatriot“ (ebd.) zum jeweiligen Land war, sich quasi wie auf Knopfdruck neu anpassen konnte. Und solange er nicht wahrhaben wolle, was er wirklich ist, einfach ein Jude, so würde er sich noch sein Leben lang immer nur anpassen, seine wahre Identität verleugnend (vgl. ebd.: 41). Die Loyalität und den Patriotismus des jüdischen Volkes, versinnbildlicht in der Figur des Herrn Cohn, entlarvt Arendt als „Routine oder Gewohnheit“ (ebd.) und damit nicht als die wahren Gefühle der Geflohenen, sondern reine Anpassungsmaßnahme, um ein möglichst positives Bild von sich zu wahren (vgl. ebd.: 41 f.). Arendt verdeutlicht, sich erneut bildhaften Beispielen bedienend, dass das vermeintliche Stigma, unter welchem die Geflüchteten leiden, ein imaginäres sei und daher auch der ganze Selbstbetrug der jüdischen Flüchtlinge zum Teil selbstverschuldet ist (vgl. ebd.: 42). Arendt schafft anschließend einen Übergang zur politischen Stellung des Flüchtlings, indem sie erneut auf dessen nicht zuzuordnenden, verworrenen Status verweist, der dadurch gekennzeichnet ist, durch keinerlei gesetzliche Regelung geschützt zu sein und daher auf nichts anderem beruht als auf nacktem Mensch-Sein (vgl. ebd.). Der Ausschluss aus der Menschheitsfamilie erfolgt durch „Diskriminierung als soziale Waffe“ (ebd.), ein Phänomen moderner Gesellschaften, welche den sozialen Tod von Individuen hervorrufe (vgl. ebd.: 42 f.). In dem Kapitel „Die Aporien der Menschenrechte“ aus ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ führt sie die Charakterisierung des modernen Flüchtlingsbegriffs weiter aus. Auch im späteren Kapitel dieser Arbeit soll jene besondere politische Stellung des Flüchtlings als Grenzfigur außerhalb rechtlicher Schutzmaßnahmen sowie dessen Bedeutung für die internationale Staatengemeinschaft genauer untersucht werden.
2.2 Assimiliertes Judentum – Paria und Parvenü
Zuletzt beschreibt Arendt die Figuren des „bewusste[n] Parias“ (Arendt 2015: 43) auf der einen Seite sowie der des „soziale[n] Parvenüs“ bzw. „Emporkömmling[s]“ (ebd.) auf der anderen. Sie bezieht sich dabei auf den Journalisten und Literaturkritiker Bernard Lazare (Arendt 2015: 43). Im Kontext des Exils verweisen die Unterteilungen in Paria und Parvenü auf zwei unterschiedliche Reaktions- beziehungsweise Verhaltensweisen in Bezug auf die starken Verluste und damit einhergehende Nostalgie, die zu Beginn des Aufsatzes beschrieben wird (vgl. Arendt 2015: 34). Der Parvenü ist in diesem Fall „durch das Streben nach wirtschaftlichem Aufstieg“ (Leibovici 2011: 304) gekennzeichnet sowie dadurch, hierfür die eigene Herkunft und Identität zu leugnen (vgl. ebd.). Parvenüs neigen dazu, sich zu assimilieren und damit zu wirtschaftlich erfolgreichen Philanthropen aufzusteigen, während die Paria häufig die „Schnorrer“ blieben (vgl. ebd.). Denn dieser gilt eher als Außenseiter, soziale Normen und Gepflogenheiten sowie bürgerliche Traditionen sind ihm zuwider (vgl. Benhabib 2006: 66). Er hält allerdings auch überzeugt an seiner Außenseiterstellung und dem Anderssein fest und versteckt sich nicht hinter Mimikry, wohingegen der Parvenü eben jenen Außenseiterstatus zu überwinden versucht (vgl. ebd.: 76 f.). Die Einstellung der Paria hält Arendt selbst für mutig und erstrebenswert, allerdings auch für gleichermaßen gefährlich. Indem man sich so offen der Öffentlichkeit preisgibt und seine Identität aufrechterhält, liefert man sich eben jener aus und setzt sich dem Schicksal des ungeschützten, bloßen Mensch-Seins aus (vgl. Raimondi 2016: 103). Um diesem Ausgeliefertsein zu entgehen, flüchtet sich der Parvenü in eine Fassade, die seine wahre Herkunft und Identität leugnet, was wiederum zu den gravierenden psychosozialen Folgen führt, wie den Depressionen und im drastischsten Fall dem Suizid (vgl. Heuer 2007: 1166). Als Alternative sieht Arendt nun den bewussten Paria. Dieser lehnt nach Lazare Lügen und Anpassung ab, gilt als gesellschaftlicher Rebell, der sich klar zu seinen Wurzeln bekennt und für neue gesellschaftliche Verhältnisse kämpft (vgl. Leibovici 2011: 304). Er versteckt sich weder hinter einer Maskerade, noch liefert er sich gänzlich hilflos aus, indem er alles preisgibt und somit völlig ungeschützt der Öffentlichkeit gegenübertritt. Sein Bewusstsein und Wille zum Handeln erfordert Mut ist damit die Voraussetzung für Flüchtlinge, den handlungsunfähigen Opferstatus zu verlassen und politisch handelnde Subjekte werden zu können (vgl. Heuer 2007: 1166). Bewusste Paria unterscheiden sich von den von Minderwertigkeitskomplexen und politischem Desinteresse gekennzeichneten Parvenüs in ihrer Courage, ihrem breiten Interesse am Weltgeschehen sowie ihrer Menschlichkeit, was Arendt bewundert (vgl. ebd.: 1167). Für sie repräsentieren sie genau das, was sie als essenziell für politische Weiterentwicklung ansieht: Tatendrang, politisches Interesse, Mut sowie der Wille zur Machtentfaltung ohne dazu zwingend Gewalt anwenden zu müssen (vgl. ebd.: 1169).
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