Zur Dramaturgie im Kammerspielthriller


Thesis (M.A.), 1998

124 Pages, Grade: 1


Excerpt


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1. Zur Anatomie des Thrillers
1.1. Spezifikation eines Genres
1.2. Suspense und Spannung
1.3. Die Wahl des Schauplatzes als dramaturgisches Element

2. Reduktion als Grundlage - Der Kammerspielfilm
2.1. Exkurs: Das Kammerspiel als Form des Theaters
2.2. Der deutsche Kammerspielfilm der zwanziger Jahre
2.3. Hitchcock und die Idee des Kammerspiels

3. Der ´Kammerspiel-Thriller´ - Zwischenbilanz und Synthese

4. Filmanalyse
4.1. Zur Auswahl der Filme
4.2. Vorgehensweise und Methodik der Filmanalyse
4.3. Wait Until Dark
4.3.1. Synopsis
4.3.2. Die Entwicklung von Handlung und Figuren
4.3.3. Raum und Schauplatz
4.3.4. Formen des Suspense
4.4. Misery
4.4.1. Synopsis
4.4.2. Die Entwicklung von Handlung und Figuren
4.4.3. Raum und Schauplatz
4.4.4. Formen des Suspense
4.5. Death and the Maiden
4.5.1. Synopsis
4.5.1. Die Entwicklung von Handlung und Figuren
4.5.3. Raum und Schauplatz
4.5.4. Formen des Suspense

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang
Szenenprotokolle und filmographische Daten
Wait Until Dark
Misery
Death and the Maiden

Erklärung

Einleitung

„Irgendwie interessieren mich Filme mehr, die mir das Gefühl geben, da zu sein, die Wände um mich herum zu spüren und nicht bloß vor einer flachen Leinwand zu sitzen. Als ich jung war haben mich Filme, bei denen Tausende von Soldaten in verschiedene Richtungen rannten, nie interessiert. Eher ein Raum, eine Kabine, eine Schiff...“[1]

Roman Polanski

Bei der Vielzahl von Filmen, die sich unter der Genre-Bezeichnung Thriller subsumieren lassen, sticht eine Gruppe besonders hervor: Jene, die Spannung im Rahmen von nur wenigen Schauplätzen und mit nur wenigen Personen erzeugen. Als besondere Qualität dieser Werke wird in vielen Publikationen der Eindruck einer „klaustrophoben Atmosphäre“[2] wiedergegeben [hier im Bezug auf Polanskis Death and the Maiden (Der Tod und das Mädchen, USA/F/GB 1994)][3]. Dabei kann man von der Tatsache ausgehen, daß dieser Effekt nicht nur durch die strukturelle Eingrenzung des Geschehens erreicht wird, sondern auch durch eine konsistente Handlung, die mit diesen Rahmenbedingungen korrespondiert.

In diesem Kontext wird in der vorliegenden Arbeit die Frage erörtert, wie Autoren und Filmemacher mit der Limitierung der vorhandenen dramaturgischen Mittel im Bezug auf die Spannungserzeugung umgehen. Dabei soll mit dem Begriff des ´Kammerspiel-Thrillers´ nicht die Genese eines neuen (Sub-)Genres vorgenommen werden, sondern eine Untersuchung der spezifischen Verbindung sowie der gegenseitigen Beeinflussung beider filmischer Kategorien im Bezug auf die Dramaturgie der Spannung stattfinden.

Leider mangelt es gerade in der Verbindung zwischen den Eigenschaften des Thrillers mit jenen des Kammerspiels an aussagekräftiger Literatur, so daß als Basis zuerst die separate Betrachtung beider filmischer Kategorien im Vordergrund steht, deren Ergebnisse dann in der zweiten Hälfte der Arbeit an drei ausgewählten Beispielfilmen analytisch vertieft werden.

Im nun folgenden, ersten Kapitel wird der Thriller im Sinne eines eigenständigen Genres konturiert. Nach dieser generellen Betrachtung wird der Blick dann auf die Mechanismen des Suspense als wichtiges Element der Spannungserzeugung fokussiert, sowie auf die Besonderheiten im Umgang mit Schauplätzen.

Im Anschluß daran folgt eine Annäherung an das filmische Kammerspiel, das in der Sekundärliteratur gegenwärtig weder als Genre, noch als Sub-Genre existiert. Demzufolge wird zu Beginn dieses Abschnitts ein Umriß aus den Grundlagen des Kammerspiels als Theaterform und dem historischen Kammerspielfilm der zwanziger Jahre entworfen. Im nächsten Kapitel steht dann Alfred Hitchcocks Umgang mit eingeschränkten Rahmenbedingungen im Vordergrund. Hier erscheint die Tatsache interessant, daß der Regisseur in den Filmen Lifeboat (Das Rettungsboot, USA 1943), Rope (Cocktail für eine Leiche, USA 1948), sowie Dial M for Murder (Bei Anruf Mord, USA 1954) jeweils mit kammerspielartigen Rahmenbedingungen arbeitet und gleichzeitig verschiedene Genre-Ansätze (auch jene des Thrillers) verwendet. Das Ende dieser Ausführungen bildet eine thesenartige Verdichtung der bisher gewonnenen Erkenntnisse zu einer Charakterisierung des ´Kammerspiel-Thrillers´.

Im Anschluß daran folgt als zweiter Teil der Arbeit die ausführliche dramaturgische Analyse der Filme Wait Until Dark (Warte, bis es dunkel ist, USA 1967, Regie: Terence Young), Misery (USA 1990, R: Rob Reiner) und Death and the Maiden.

1. Zur Anatomie des Thrillers

Um den Mechanismus und die Erzeugung von Spannung in einem räumlich begrenzten Umfeld zu verstehen und formulieren zu können, erscheint es mir sinnvoll, grundlegende Überlegungen zur filmischen Kategorie des Thrillers vorzunehmen. Dabei soll es in der Folge nicht nur darum gehen, die Voraussetzung zu einer genauen Kategorisierung der später zu analysierenden Filme zu schaffen, sondern auch um die „Funktionsweise“ des Thrillers und die Ansprüche, die der Rezipient affektiv an die Gattung stellt, herauszuarbeiten.

1.1. Spezifikation eines Genres

Der Begriff des Thrillers wird in einer Enzyklopädie wie folgt beschrieben:

Thriller (englisch to thrill: erschauern lassen), Roman-, aber auch Film oder Hörspielgattung, die durch Verwendung von Spannungseffekten beim Leser bzw. Zuschauer Nervenkitzel und emotionale Reaktionen wie Angst oder Horror zu erreichen sucht.“[4]

Der Thriller hat demnach medienübergreifend den grundsätzlichen Anspruch, den Re­zipienten in seinen Bann zu ziehen, ihn mit der Handlung und dem Schicksal des Hel­den zu fesseln. Eingeschränkt auf die Betrachtung des Film-Thriller s geht hier der emotionale Bezug zum Zuschauer nach der Genre-Definition des rororo Filmlexikons einen Schritt weiter als in verwandten Genres:[5] „Der Thriller ist […] weit mehr noch als der bewußt mit einem Element der Distanzierung arbeitende Horrorfilm, das wahre Kino der Angst.“[6] Problematisch erscheint in der Folge jedoch der Versuch, eine ge­nauere Eingrenzung vorzunehmen. Tragen beispielsweise Western, Musical und Gangster-Film charakteristische Genre-Merkmale bereits im Namen, so determiniert das Wort Thriller auf den ersten Blick lediglich die beabsichtigte Wirkung auf den Rezipienten ohne näheren Hinweis auf konkrete Inhalte des betreffenden filmischen Werkes[7]. Demzufolge nähern sich eine Reihe von Autoren dem Genre auf der Basis von Betrachtungen der menschlichen Neigung, sich freiwillig vermeintlichen Situatio­nen der Gefahr auszusetzen und somit eine Art „thrill“ erfahrbar zu machen. Einen An­satz hierfür bietet Michael Balint, der in dem Buch „Angstlust und Regression“ mit den Mitteln der Psychoanalyse grundlegende Überlegungen zu diesem Thema anstellt. Mit dem Begriff „Angstlust“ formuliert Balint einen Ausdruck für die oben beschriebene Neigung des Menschen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den physisch erfahrbaren Situationen, die beispielsweise bei einer Reihe von Sportarten (Rennsport, Klettern) oder auch auf dem Jahrmarkt (Achterbahn, Geisterbahn) möglich sind.[8]

Den besonderen Reiz hierbei beschreibt Balint folgendermaßen:

„In allen Lustbarkeiten und Vergnügungen dieser Art lassen sich drei charakteristische Haltungen beaobachten: a) ein gewisser Betrag an be­wußter Angst, oder doch das Bewußtsein einer wirklichen äußeren Gefahr; b) der Umstand, daß man sich willentlich und absichtlich dieser äußeren Gefahr und der durch sie ausgelösten Furcht aussetzt; c) die Tatsache, daß man in der mehr oder weniger zuversichtlichen Hoffnung, die Furcht werde durchgestanden und beherrscht werden können und die Gefahr werde vorübergehen, darauf vertraut, daß man bald wieder unverletzt zur sicheren Geborgenheit werde zurückkehren können.“[9]

Ein derartiges Ereignis überstanden zu haben, stärkt nach Balint die psychische Kon­stitution des Rezipienten:

„Diese neuen Fähigkeiten geben uns […] das Gefühl, den Dingen gewach­sen zu sein, imstande, mit einigen unserer Ängste fertig zu werden“[10]

Ähnliche Verhaltensmuster lassen sich nach Ansicht des Autors beispielsweise auch bei Versteck-Spielen von Kindern entdecken. Dabei unterteilt er das Prinzip des Spieles in drei Elemente:

„a) aus einer äußeren Gefahr, die vom Fänger, Sucher oder Jäger dargestellt wird, b) aus den anderen Spielern, die die Sicherheitszone, „das Haus“, verlassen, indem sie die Gefahr mehr oder weniger freiwillig auf sich neh­men, und c) aus der zuversichtlichen Hoffnung, daß sie so oder so ihre Sicherheit wiedergewinnen werden.“[11]

Assoziativ betrachtet läßt sich hier nach Balint, wie auch in dem oben beschriebenen Verhaltensmuster, eine dramatische Struktur in Form von drei Akten erkennen: Das Kind versteckt sich und will nicht entdeckt werden. Wenn dies nicht gelingt (1), muß sich das versteckende Kind auf der Flucht vor dem als Fänger agierenden Kind das sichere Versteck verlassen. Es muß sich auf ungeschütztes Terrain begeben (2) und in der neuen Situation bestehen (3). Derry sieht hier bereits ein häufig wiederkehrendes dramaturgisches Schema des Thrillers vergegenwärtigt: Der Held will etwas, sieht sich dann jedoch mit einer neuen, unsicheren Situation konfrontiert und ist gezwungen, das Ereignis in diesem veränderten Umfeld zu überstehen.[12]

„Thus, I believe it is possible to use Balint as a model for understanding the suspense thriller[[13] ], which can be seen, then, as the genre that most consistently presents to its audience a series of vicarious thrills.“[14]

Balint beschreibt in diesem Kontext weiterhin das „Vohandensein einer wirklichen äu­ßeren Gefahr“ als wichtiges Element, „thrill-erzeugende“ Darbietungen von Lustbar­keiten „im allgemeinen“ abzugrenzen.[15]

Somit erscheint der Film-Thriller in seinem grundsätzlichen Ansatz als eine Art Simula­tion jener beschriebenen archetypischen Situationen, bei denen sich Personen einer kontrollierten Gefahr aussetzen. Durch die Identifikation mit dem Protagonisten erlebt der Rezipient die physischen Anstrengungen des Helden nach und erlangt dadurch das Gefühl des Nervenkitzels.

Besonders interessant für eine genauere Charakterisierung des Genres erscheint das von Balint formulierte dramaturgische Schema in Verbindung mit dem Vorhandensein einer wirklichen äußeren Bedrohung für den Helden. Man kann bei einer Vielzahl von Genre-Filmen beide Elemente erkennen und möglicherweise als kleinsten gemeinsamen Nenner festhalten. Besonders deutlich läßt sich dies in vielen Werken von Alfred Hitchcock beobachten: Ein unbescholtener Bürger wird in eine Gefahrensituation ver­wickelt und muß sich daraufhin unfreiwillig in einem neuen Umfeld zurechtfinden, was ihm letztlich gelingt. Des weiteren gibt es in all diesen Filme mindestens eine Situation der realen physischen Bedrohung, die es für den Helden zu überstehen gilt.[16]

Wie jedoch läßt sich der Thriller, der dem Rezipienten jenes archetypische Gefühl der „Angstlust“ als „Erlebnis aus zweiter Hand“[17] erfahrbar macht, noch genauer differen­zieren?

Der Autor Jerry Palmer vermeidet ähnlich wie Ralph Harper[18] im Bezug auf den litera­rischen Thriller eine präzise Definition und beschränkt sich auf die Beschreibung einiger weniger Elemente, die in allen von ihm besprochenen Werken vorkommen: „What makes a good thriller? Unfortunately, I can´t lay claim to a formula.“[19] Bei Autoren, die sich mit dem Film-Thriller beschäftigen, setzt sich diese offene Handhabung des Genres größtenteils fort. Seeßlen beispielsweise ordnet eine Vielzahl filmischer Kate­gorien unter den Oberbegriff Thriller und formuliert nur wenig übergreifende Aussagen zur Gattung. Seine Definiton bleibt ebenso fragmentarisch wie die theoretische Be­trachtung bei Droese. Die Autorin diskutiert das Genre nur in Ansätzen und widmet sich im anschließenden Teil des Buches ausschließlich den filmischen Werken von Alfred Hitchcock.[20] 17 spezifische Thesen zum Thriller stellen dagegen die Autoren in dem Buch „Thriller“, herausgegeben von Dirk Manthey und Jörg Altendorf, zusam­men. Problematisch jedoch erscheint die Tatsache, daß viele der später im Buch er­wähnten Werke nicht den vorangegangenen Überlegungen entsprechen.[21] Wie sehr die Schwerpunktsetzung der Autoren auseinander klafft, zeigt nicht zuletzt die Definiton zum Thriller im rororo Filmlexikon: Während in den oben genannten Büchern Suspense zumindest als wichtiges dramaturgisches Element gilt, wird hier folgendermaßen argu­mentiert:

„Der Thriller muß daher mehr sein als ein Film, in dem <<suspense>> […] eine bedeutende Rolle spielt.[…]. Fast alle Thriller handeln von Mord (oder dessen Androhung) als äußerster und dennoch glaubhaftester Gefährdung und sind extrem subjektiv, das heißt, sie geben dem Zuschauer kaum mehr Informationen als dem Helden.“[22]

Im völligen Gegensatz dazu steht die Aussage von Neale, der die Suspense Konstruk­tion im Thriller für unverzichtbar hält:

„Whatever the structure, whatever the specificity of the diegesis in any particular thriller, the genre as a whole, unlike that of the gangster or the detective story, is specified in the first instance by ist address, by the fact that it always, though in different ways, must have the generation of sus­pense as its core strategy“[23]

Diese These wird von Charles Derry in dessen - meiner Ansicht nach sehr konsistenten - Buch „The suspense thriller. Films in the shadow of Alfred Hitchcock.“[24] unterstrichen. Der Autor geht in seiner Definition davon aus, daß Filme aus dem Genre „Thriller“ generell mit Elementen des Supense arbeiten. Die charakteristischen Eigen­schaften für den Suspense-Thriller beschreibt Derry folgendermaßen:

„The suspense thriller can be defined as a crime work which presents a vio­lent and generally murderous antagonism in which the protagonist becomes either an innocent victim or a non professional criminal within narrative structure that is significantly unmediated by a traditional figure of detection in a central position.“[25]

Nicht zu diesem Genre gehören seiner Ansicht nach beispielsweise der Detektiv-Film, der Gangster-Film und der „Caper-film“[26]. Ein grundsätzlicher Unterschied sei hierbei der Umgang mit Moral und Ethik. Während im Suspense-Thriller dieses Thema beim Helden immer zur Disposition stehe und Veränderungen unterliege, würden die Prota­gonisten in den genannten Gattungen während des Films durchgehend die gleiche Hal­tung beibehalten. Aufbauend auf den geschilderten Beobachtungen von Michael Balint bildet dies für Derry die Basis des Suspense-Thrillers: Die Hauptperson sieht sich einer ungewohnten und offensichtlich bedrohlichen Lebensituation gegenüber, nimmt die Herausforderung an und muß dabei jedoch den eigenen moralisch-ethischen Stand­punkt überdenken.[27]

Harper beschreibt dagegen den Helden des „klassischen Thrillers“, der nach seiner An­sicht dem Detektiv- oder Agenten-Genre entspringt, als „Complete Man“: loyal, ver­trauenswürdig, integer und mit sozialem Gewissen. Seine Motivation und Ausrichtung stehe während der jeweiligen Geschichte nicht zur Disposition, so wie beispielsweise bei den James Bond Filmen.[28]

Nach Droese werden bei Hitchcock die Helden häufig mit einer Situation konfrontiert, die ihre eigene Identität und ihre Rolle in der Gesellschaft in Frage stellt. Sie werden gezwungen, sich mit einer bestimmten Situation auseinanderzusetzen und geraten nicht selten selbst in Verdacht, das Verbrechen begangen zu haben.

„In vielen Fällen wird der Held aber nicht ganz zu Unrecht verdächtigt, da er häufig ausreichend Motive für die Tat gehabt hätte. So läßt der vermeint­lich zufällig über den Helden einbrechende Konflikt, das Verbrechen, an dem er eigentlich nicht beteiligt ist, es aber durchaus begangen haben könnte (wie z.B. Strangers on a Train) die Schuldfrage in Hitchcocks Filmen oft auch als Schuldübertragung erscheinen. Chabrol und Rohmer prägten auf­grund dieser Tatsache den Begriff der ´´transference of guilt´´.“[29]

Für Derry entsteht Suspense bereits bei der Frage, ob der Held tatsächlich bereit ist, die Herausforderung anzunehmen und wie er in der Folge damit umgeht. Gangster- und Detektivfilme sind demzufolge seiner Meinung nach keine „Suspense-Thriller“ sondern „Process-Thrillers“, in denen Spannung dadurch entsteht, daß der Zuschauer beispiels­weise dem „Pozeß“ der Detektivarbeit folgt oder der Vorgehensweise von Gangstern bei einem Raub.[30]

Der in der vorliegenden Arbeit noch ausführlich zu diskutierende Film Wait Until Dark weist nach Derry die Merkmale eines exemplarischen „Suspense-Thrillers“ auf: Audrey Hepburn als blinde Suzy Hendrix kommt ohne ihr Wissen in den Besitz einer mit Heroin gefüllten Puppe und wird daraufhin in ihrer Wohnung von Gangstern aufge­sucht. Sie ist gezwungen, sich mit dieser gefährlichen Situation auseinanderzusetzen und muß schließlich auch ihre Ängste - beispielsweise gegenüber Feuer - besiegen, um zu überleben.[31] Im Gegensatz dazu beschreibt Derry Chinatown (USA 1974, R: Ro­man Polanski) als „hard-boiled-detective-film“, und damit als „Process-Thriller“[32]. Der Zuschauer begleitet Jack Nicholson als Privatdetektiv Jake Gittes bei seinen Recherchen über einen untreuen Ehemann, die ihn auf die Spur eines Skandals um die Trinkwasser-Versorgung von Los Angeles führen. Der Rezipient weiß zu keiner Zeit mehr als der Protagonist und verfolgt jeden seiner Schritte mit zunehmender Span­nung.[33] Somit bereiten letztlich beide Spielarten des Thrillers eine Form von Nerven­kitzel, wobei der „Suspense-Thriller“ nach Derry eine dramaturgisch homogenere Gruppe von Filmen umfaßt. Er unterscheidet hierbei weiterhin sechs Sub-Genres, auf deren genauere Betrachtung an dieser Stelle jedoch aus Platzgründen verzichtet wird: „The thriller of murderous passions“, „The political thriller“, „The thriller of acquired identity“, „The psychotraumatic thriller“, „The thriller of moral confrontation“, „The innocent-on-the-run thriller“.[34]

Es bleibt festzuhalten, daß Derry seine Konstruktion des Genres jedoch nicht als her­metisch ansieht. So nennt er beispielsweise Filme, die gleichwertig Elemente des „Process-Thrillers“ sowie des „Suspense-Thrillers“ beinhalten „Hybrid thriller“.[35] In der Fortführung dieser Auslegung überschneidet sich der Thriller auch mit Genres wie bei­spielsweise dem Horror-Film, dem Katastrophen-Film und dem Abenteuer-Film. Auch hier entsteht Nervenkitzel, der Hauptunterschied liegt nach Ansicht des Autors in der Form der äußerlichen Bedrohung des Helden:

„Certain horror films, for instance, in which the „monster“ is not a mystical or fantastic creature, but an insane individual who commits crimes, also warrant discussion in the context of suspense. Because their murderous protagonists are presented as objects of horror and virtual monsters, films such as Psycho (1960), Repulsion (1965) and the Collector (1965) might most accurately be perceived as belonging to both the suspense thriller and horror genres simultaneously.“[36]

Auch durch diese Aussage wird deutlich, wie problematisch sich die genaue Konturie­rung des Genres - nicht zuletzt durch die große Anzahl der Filme, die man in diesem Zusammenhang diskutieren könnte - darstellt. Grundsätzlich soll im weiteren Verlauf der Arbeit jedoch die von Derry vorgenommene Einteilung des Genres in „Process Thrillers“ und „Suspense Thrillers“ als offen gehaltene Basis für eine weitergehende Diskussion dienen, ohne dabei eine der beiden Formen als die „bessere“ oder „effektivere“ zu werten.

1.2. Suspense und Spannung

Da im vorangegangenen Kapitel das Element des Suspense als dramaturgische Grund­lage bei der Eingrenzung des „Thrillers“ eine bedeutende Rolle gespielt hat, erscheint es sinnvoll, sich nun genauer den spezifischen Mechanismen von Suspense im Rahmen der Erzeugung von filmischer Spannung zu widmen.

Borringo leitet den Begriff „Suspense“ von dem lateinischen Verb „suspendere“ ab, das er mit „in Unsicherheit schweben lassen“ übersetzt.[37] Grundlage für die Erzielung des Effektes ist ein Wissensvorsprung des Betrachters gegenüber einer handelnden Person im Film:

„Dadurch ist er gleichzeitig in der Lage, bevorstehendes Unheil oder die Vergrößerung des Dilemmas zu ahnen und konditioniert sich sodann selbst als verlängerter Arm des Textmachers und seiner verwandten Strategien in Richtung „Identifikation“.

Durch Identifikation mit der Angst (des Helden) und dem Grad der der In­tensität, mit der der Rezipient sich mit der Person die in Gefahr schwebt, identifizieren kann, kulminiert auch das Gefühl von Furcht und Hoff­nung.“[38]

Das in der Sekundärliteratur wohl meist zitierte Beispiel zu Funktion und Wirkung des Suspense stammt von Alfred Hitchcock, den Borringo und viele andere Autoren als „Meister des Suspense“ bezeichnen[39]: Wenn sich zwei Leute unterhalten und plötzlich eine Bombe explodiert, die sich unter dem Tisch befunden hat, so sind die Zuschauer überrascht. Wenn man vor der Unterhaltung eine Person den Raum betreten sieht, die die Bombe unter den Tisch legt, so erscheint das anschließende Gespräch in einem ver­änderten Kontext. Wann wird die Bombe explodieren? Werden die Personen die Bombe entdecken?

„Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten Sus­pense. Daraus folgt, daß das Publikum informiert werden muß, wann immer es möglich ist. Ausgenommen, wenn die Überraschung wirklich dazugehört, wenn das Unerwartete der Lösung das Salz der Anekdote ist.“[40]

Bei der visuellen Umsetzung einer szenischen Suspense-Konstruktion ist häufig die Parallelmontage ein wichtiges Element der Darstellung. Hier wird durch abwechselndes Hin- und Herschneiden von zwei räumlich getrennten, aber inhaltlich zusammenhän­genden Aktionen deren gleichzeitiges Ablaufen suggeriert und so Spannung erzeugt. In The man who knew too much (Der Mann, der zuviel wußte, GB 1934/ Remake USA 1955, R: Alfred Hitchcock) beispielsweise soll ein Mann genau bei einem Bec­kenschlag während eines Konzertes in der Royal Albert Hall erschossen werden. Hitchcock zeigt in dieser Szene abwechselnd die Frau - die von dem geplanten Mord weiß -, das Orchester und die sichtbare Pistole des versteckten Attentäters, bis schließ­lich die Frau aufschreit und den Mord verhindert.

Im Bezug auf die Wirkung einer derartigen Inszenierung postuliert Hitchcock, daß der Suspense-Effekt eine emotional stärkere Zuschauer-Bindung an das dargestellte Schicksal des betroffenen Charakters und dem Ereignis herstellt, als dies bei einem reinen Schock-Effekt der Fall sein könnte. Wie ein „Damokles-Schwert“[41] droht die Gefahr der betroffenen Person, wobei der Betrachter in die Szene durch den Wissens­vorsprung und seine Machtlosigkeit einzugreifen eingebunden wird. Truffaut ergänzt, mit diesem Stilmittel würde ein Film zu einem „Spiel nicht mehr zu zweit (Regisseur + Film), sondern zu dritt (Regisseur + Film + Publikum)“.[42]

Miller unterstreicht die These mit Ergebnissen einer wissenschaftlichen Studie zu die­sem Thema, weist jedoch gleichzeitig dem Überraschungsmoment bei der Auflösung des Suspense eine stärkere Bedeutung zu:

„Psychological testing with films containing stress scenes showed that the emotional response to anticipation of a stressful event was higher than the emotional response to a surprise occurence of the event. But if interest is stimulated by anticipation it can also wane if the events in a story are too predictable.“[43]

In diesem Kontext formuliert Miller das „suspense principle“ und das „surprise principle“, die nach seiner Ansicht in der dramatischen Struktur - und auch nach den Gesetzen des jeweiligen Genres - ausgewogen eingesetzt werden müssen, um beim Zuschauer keine Langeweile zu erzeugen:

„A film must keep the audience in constant expectation that something is going to happen, and then when it does happen, it should be different but not too different, from what we had expected.“[44]

Verdichtet beschreibt Miller das dramaturgische Prinzip des Suspense als „cue-delay-fulfillment pattern“[45], das heißt als Muster, bei dem auf eine Andeutung, daß etwas passieren wird eine Verzögerung und schließlich eine Auflösung folgt.

Für Derry wird beim Suspense die Frage, was als nächstes passiert, zurückgestellt. Stattdessen liegt für ihn der Akzent auf der Andeutung, daß etwas passieren wird. Gibt man dem Zuschauer dabei die Gelegenheit, sich das möglicherweise folgende Gescheh­nis umfassend auszumalen, so sei es dramaturgisch auch möglich, die Auflösung der Suspense-Szene auszusparen.

„In the famous story „The Lady or the Tiger“ by Frank Richard Stockton, the ending is suspenseful precisely because we know that behind that door waits either a lady or a tiger - one will marry the protagonist, the other will kill him. Suspense does not require a resolution, and in this instance no re­solution is offered.“[46]

Für Derry ist das wichtigste Resultat des Suspense-Effektes dagegen die veränderte Zeitwahrnehmung des Rezipienten. Wie bei gefährlichen Situationen in der Realität scheint sich in den betreffenden Szenen die Zeit in Erwartung eines bedrohlichen Er­eignisses auszudehnen und der Handlung mehr Gewicht zu geben.[47] Miller unterstreicht diese Ansicht und verweist in diesem Zusammenhang auf Alfred Hitchcock und dessen Idee, einen Film über den Untergang der Titanic zu machen. Auf die Anmerkung, hier­bei könne ja kein Suspense entstehen, da der Zuschauer schon vorher den Ausgang des Films kenne, gab jener die Antwort, der Zeitpunkt des Untergangs sei jedoch im Film als ausschlaggebendes Element des Suspense nicht bekannt. Vergleichbar erscheint die Struktur des Films All the president´s men (Die Unbestechlichen, USA 1976, R.: Alan J. Pakula)[48], in dem die Recherchen der Journalisten Woodward und Bernstein zum Watergate-Skandal nacherzählt werden. Bekannt ist hierbei allein der Ausgang der Geschichte, nicht jedoch die Details, wie und zu welchem Zeitpunkt die Protagonisten hinter die Einzelheiten des Skandals kommen. Somit wird der Betrachter mit einer „überdimensionalen“ Suspense-Konstruktion in die Geschichte eingebunden, ohne je­doch bei den konkreten Nachforschungen im Detail einen Wissensvorsprung gegenüber den Hauptpersonen zu haben. Suspense existiert hier nur im Bezug auf den gesamten Plot, nicht jedoch in einzelnen Sequenzen oder Szenen, in denen man wie in einem „Process-Thriller“ immer nur genau soviel weiß wie die Hauptcharaktere. Carroll be­zeichnet diese dramaturgische Form als „suspenseful macro-question“[49]: Der Skandal an sich ist den Zuschauern bekannt, offen bleibt jedoch, wann und auf welche Art die Journalisten die ganze Dimension des Komplotts aufdecken werden?

Diesen Gedankengang fortführend stellt die in vielen konventionellen Krimis auftre­tende Frage, wer der Mörder sei, grundsätzlich noch keine derartige „suspenseful macro-question“ dar. Alfred Hitchcock äußerte mit dem Blick auf die Entstehung einer emotionalen Bindung des Zuschauers durch Suspense Bedenken im Bezug auf „Whodunits“, also Filme, bei denen es in erster Linie um die Überführung eines Mör­ders aus einer Reihe von Verdächtigen geht, wie beispielsweise bei Murder on the Orient Express (Mord im Orient Express, USA 1974, R: Sidney Lumet): Es handle sich hier „nicht um Suspense, sondern eine Art intellektuelles Rätsel. Das ´Whodunit´ erweckt Neugier, aber ohne jede Emo­tion. Emotionen sind aber notwen­diger Bestandteil des Suspense.“[50]

Hierzu muß jedoch angemerkt werden, daß auch die Gattung des „Whodunits“ keine hermetische Kategorie darstellt und in den verschiedenen Spielarten durchaus Span­nung erzeugt werden kann: Derry sieht beispielsweise den Übergang von jener emotio­nal distanzierten dramaturgischen Form hin zu einem spannungsgeladenen Film im Vergleich „Whodunit“-„Hard-boiled detective-film“ (z.B. Chinatown)[51]:

„Hard-boiled detective works are not generally considered whodunits - not because we don´t know the identity of the murderer (usually we don´t), but because the detective´s adventures and the revelation of the corrupt society around him seem more important to us than the ultimate identity of the „official murderer“[52]

Gerade jene unscharfen Übergänge zwischen der Relevanz einzelner Strukturelemente der Dramaturgie läßt in diesem Zusammenhang eine abschließende, genaue Spezifizie­rung des Suspense und dessen Bedeutsamkeit für das Entstehen von Spannung äußerst schwierig erscheinen. Auch die Tatsache, daß Film dem Zuschauer immer etwas neues bieten muß, um als künstlerisch-unterhaltsames Medium interessant zu bleiben, impli­ziert eine ständige Modifizierung und Erweiterung gängiger Regeln der Spannungser­zeugung.

Deutlich wird dies beispielsweise in einem Film wie Seven (Sieben, USA 1995, R: David Fincher). Hier sind zwei Kommissare einem Mörder auf der Spur, der Leute tötet, die seiner Meinung nach jeweils eine der sieben Todsünden begangen haben. Der Zuschauer weiß zu keiner Zeit mehr über den Täter als die Ermittler und wird - mehr noch als in „Chinatown“ - durch die verregnete Großstadtatmosphäre und die schauer­lich „kreativen“ Morde emotional gefesselt. Der Betrachter will wissen, wer sich hinter derartigen Taten verbirgt und bangt nach einem Kampf von Hauptfigur Detective Mills mit dem anonymen Antagonist in der Mitte des Films fortan um das Leben des Beam­ten. Am Ende des zweiten Aktes stellt sich der Täter überraschend, wobei dies bewußt ein Teil seines Plans ist: Er hat bereits die Ehefrau von Mills ermordet und läßt sich von ihm als letztes Opfer seiner eigenen Mordserie „hinrichten“, wodurch Detective Mills sich selbst schuldig macht.

Dieser erfolgreiche und spannende Film ist in seiner Grundstruktur über lange Zeit ein „Whodunit“ und weist auf den ersten Blick keine offensichtlichen Suspense-Konstruk­tionen im „klassischen“ Sinn auf. Die Fragen, die der Zuschauer nach den ersten schauer­lichen Morden stellt, sind: Was wird als nächstes geschehen und wer begeht die Verbrechen? Ein bedeutendes Element der Spannung ist hierbei die Erwartungshaltung des Rezipienten, der durch die düstere Gesamtatmosphäre, durch unerwartete Wen­dungen und die Tatsache, daß hinter den Morden jeweils ein ausgeklügeltes Konzept steckt, mit einer stetigen Steigerung der Bedrohung rechnet. Erst als der Ermittler Mills persönlich in die Gefahr verstrickt wird, konkretisiert sich die bis dahin ver­schwommene Befürchtung des Zuschauers. Als sich der Täter freiwillig stellt, ändern sich die Fragen des Zuschauers: Was bezweckt der Täter mit dieser Aktion? Wird sich die Gefahr noch steigern? So entsteht die Spannung hier mit folgenden Elementen: Identifikation mit der Hauptfigur, düstere Gesamtatmosphäre, ständige Steigerung der Bedrohung, Interesse an der bedrohlichen Figur des Antagonisten. Das einzige deut­liche Element des Suspense ist der Titel „Sieben“, der eine Art zeitliche Begrenzung des Films andeutet, da der Film nicht nur sieben Morde darstellt, sondern die Film­handlung sich auch über sieben Tage erstreckt. Letztlich bleibt aber dieser Ansatz für eine „suspenseful macro-question“ zu verschwommen, um sich dem Betrachter auf den ersten Blick zu erschließen. Somit beschränkt sich das Vorhandensein von Suspense bei diesem Film darauf, dem Zuschauer das Gefühl zu vermitteln, daß im Laufe der Ge­schichte immer bedrohlichere Dinge passieren werden, die auch einen Aspekt der Un­berechenbarkeit beinhalten. Die oben im Text beschriebenen ursprünglichen Strukture­lemente des Suspense sind im Rahmen anderer Elemente der Dramaturgie derartig re­duziert eingesetzt, daß zwar ein Spannungseffekt erreicht wird, jedoch die Elemente als solche kaum zu erkennen sind.

1.3. Die Wahl des Schauplatzes als dramaturgisches Element

Sowohl bei den zu analysierenden ´Kammerspiel-Thrillern´ als auch bei Thrillern wie Speed (USA 1995, R: Jan de Bont) oder The Fugitive (Auf der Flucht, USA 1993, R: Andrew Davis) hat die Wahl des Schauplatzes als dramaturgisches Element eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Bei der folgenden Betrachtung liegt der Schwer­punkt daher auf dem Schauplatz als grundsätzlichem Bestandteil der narrativen Struk­tur des Thrillers, wobei im vorgegebenen Rahmen der Versuch unternommen wird, verschiedene filmische Konzepte im Umgang mit Spielorten auf jeweils einen Satz zu verdichten. In dieser Hinsicht sollen die ´Kammerspiel-Thriller´ innerhalb des Genres Thriller positioniert werden, der Blick auf die konkrete Inszenierung des jeweiligen Ortes oder Raumes wird in diesem Kontext jeweils zurückgestellt.

Derry entwirft neben den in Kapitel 1.1. der vorliegenden Arbeit erwähnten sechs Kate­gorien des „Suspense Thrillers“ auch das Bild eines „Thrillers of Place“, dessen Gestalt er jedoch nur sehr knapp umreißt.[53] Damit werden Filme bezeichnet, die die Protago­nisten in ständiger Bewegung auf ein bestimmtes Ziel hin zeigen, wobei sich unter­schiedliche Gründe für die ständige Ortsveränderung beschreiben lassen: Während bei­spielsweise in Le salair de la peur (Lohn der Angst, F 1952, R: Henri-Georges Clouzot) vier Arbeiter den Auftrag bekommen, zwei mit Nitroglycerin bela­dene LKW´s 300 Meilen über unsicheres Gelände zu fahren, dürfen die Protagonisten in Speed einen Linienbus nicht unter 50 Meilen pro Stunde abbremsen, da sonst eine am Fahrzeug angebrachte Bombe explodiert. Als ein weiterer möglicher Beweggrund läßt sich in weiteren Filmen das Motiv der Flucht festhalten, dem bei Heinzelmeier und Knops ein komplettes Kapitel innerhalb des Thriller-Genres gewidmet ist („Der Flucht-Thriller“).[54] Hierzu zählen sie beispielsweise den Film Narrow Margin (Narrow Margin - 12 Stunden Angst, USA 1990, R: Peter Hyams)[55], bei dem ein Staats­anwalt eine Mordzeugin beschützen soll und sich beide auf der Flucht vor den Mördern in einen Zug retten, in dem sie jedoch ebenfalls vor den Antagonisten nicht sicher sind.[56]

Bei den drei erwähnten Filmen läßt sich als Gemeinsamkeit die Fortbewegung mit einer zunehmenden Bedrohung und dem Vordringen in für den oder die Helden geogra­phisch unbekanntes Terrain beschreiben, die die vom Antagonisten ausgehende Gefahr durch die neue Umgebung und deren jeweilige Unwägbarkeiten noch verstärkt. Über­tragen auf die von Balint formulierten Grundlagen der Angstlust lassen sich hier im Ansatz Elemente jener Gefahrensituationen wiedererkennen, denen sich Menschen in der Realität freiwillig aussetzen, um Nervenkitzel zu erlangen:

„Manche sind mit großer Geschwindigkeit verbunden, wie alle Formen des Rennsports, Reiten und Springen, Motorrennen, Schlittschuh- und Skilau­fen, Rodeln, Segeln, Fliegen usw. Andere stehen mit exponierten Situa­tionen im Zusammenhang, wie verschiedene Arten Springen und Tauchen, Klettern, […] Reisen in unbekannte Länder usw.“[57]

Unternimmt man einen Versuch der Klassifizierung, so läßt sich möglicherweise die ständige Fortbewegung des Helden in unbekannte Regionen als elementarer dramatur­gischer Bestandteil bei derartigen Filmen festhalten. Richtet sich hier die Dramaturgie in erster Linie nach dem geographischen Rahmen der Bewegung, so beschreibt Droese Hitchcocks Umgang mit Schauplätzen im Gegenteil dazu in der Tendenz eher als illu­strativ im Bezug auf die menschlichen Konflikte der Hauptpersonen. So wird ihrer Meinung nach durch die Wahl der Drehorte teilweise Spannung im Voraus angedeutet (beispielsweise durch den Einsatz des wiederkehrenden Motives der Treppen) oder das Geschehen mit einem „Ironiewert“ versehen (z.B. beim Showdown von North by Northwest [Der unsichtbare Dritte, USA 1959] auf den Präsidentenköpfen am Mount Rushmore als Gegensatz: chaotische Handlung/Symbol der Ordnung).[58] Hitchcock selbst hierzu:

„Man muß versuchen, alle diese lokalen Gegebenheiten in das Drama einzu­bauen. Die Seen müssen dasein, damit die Leute darin ertränkt werden, und die Alpen, damit sie in Schluchten stürzen.“[59]

Auch Spoto beschreibt die Wahl der Schauplätze bei Hitchcock in vielen Fällen als Sinnbild für die Manifestation menschlicher Abgründe in einem vermeintlich heilen Umfeld:

„As usual, all the solid markers of stability are powerless to save in the face of human perversity; thus the United Nations and the Mount Rushmore memorial are the Hitchcock-Lehman update for the enormous god´s head (Blackmail), Swiss country chapels and charming chocolate factories (Secret agent), Westminster Cathedral and the Dutch windmills (Foreign correspondent), the Statue of Liberty (Saboteur), a concert hall and a foreign embassy (The man who knew too much) and a mission church (Vertigo).“[60]

Deutlich wird hierbei, daß zwar jeweils einzelne Spielorte in den Filmen hervorgehoben werden, dramaturgisch auf die gesamte Länge der Werke jedoch der Bezug zu den Schauplätzen weniger elementar als bei einem der oben im Kapitel genannten Filme erscheint. Die Auswahl der Schauplätze reflektiert und verdichtet somit Struktur und Wirkung des Geschehens.

In dem Film Bad day at Black Rock (Stadt in Angst, USA 1955, R: John Sturges) zeigt sich eine weitere Möglichkeit im Umgang mit dem Ort der Handlung: Ein Fremder kommt in eine kleine, abgelegene Stadt im Südwesten der USA. Er will einen Japaner besuchen, der etwas außerhalb der Stadt wohnen soll, dessen Haus er jedoch abgebrannt vorfindet. Da die Bewohner der Stadt äußerst abweisend auf den Besucher reagieren, schöpft dieser den berechtigten Verdacht, daß der Mann Opfer eines Verbrechens aus Haß gegen die ehemaligen Kriegsgegner wurde.

Hier wirkt der Schauplatz wie eine Kulisse für das obskure Verhalten einer Gemeinde, die der Betrachter wie der Held auf den ersten Blick nicht zu durchschauen vermag. Der Ort der Handlung erlangt so einen wichtigen Teil seiner Bedeutung im Bezug auf das Verhalten der dort ansässigen Menschen: Die abgeschiedene Kleinstadt wird für den Betrachter zum Sinnbild für die Verschwörung der Bewohner gegenüber dem Ein­dringling.

In ähnlicher Weise läßt sich das Setting bei Hitchcocks Rear Window (Fenster zum Hof, USA 1954) beschreiben: Ein Fotoreporter, der durch ein gebrochenes Bein an den Rollstuhl gefesselt ist - beobachtet aus Langeweile die Bewohner seines Innen­hofes per Teleobjektiv. Dabei drängt sich ihm der Verdacht auf, daß der Mann in der Wohnung gegenüber seine Frau ermordet hat. Es gelingt dem Reporter jedoch erst spät, seine Freundin und einen Freund davon zu überzeugen, knapp bevor er selbst vom Mörder ins Visier genommen wird.

Hitchcock über den Schauplatz:

„Auf der anderen Seite des Hofes haben sie alle Arten menschlichen Ver­haltens, einen kleinen Verhaltenskatalog. Das mußte man unbedingt so machen, sonst wäre der Film ohne Interesse gewesen. Was man auf der Hofmauer sieht, ist eine Fülle kleiner Geschichten, es ist der Spiegel, wie sie sagen, einer kleinen Welt.“[61]

Somit wird auch hier der Ort des Geschehens nicht nur über seine architektonischen Spezifikationen im Film definiert, sondern insbesondere auch über das Verhalten und die Eigenheiten der Bewohner. Der Mikrokosmos des Hinterhofes impliziert für den Betrachter - übertragen auf die Realität - bestimmte Eigenschaften, wie beispielsweise die Tatsache, daß Leute hier zu Hause sind, sich in ihren Wohnungen dementsprechend verhalten, und zugleich mit anderen, ursprünglich fremden Menschen in einer engen Nachbarschaft wohnen. Hitchcock entwickelt aus dieser Grundstruktur in Verbindung mit dem in seinen Handlungsoptionen beschränkten Hauptcharakter und dem tatsäch­lichen Verbrechen die dramaturgische Ausgangssituation für den Film. Verdichtet man den Umgang mit Schauplätzen bei Rear Window und Bad day at Black Rock , so erscheinen die Orte des Geschehens hier besonders relevant in ihrer Funktion, ein spezifisches soziales Gefüge und dessen Regeln zu repräsentieren.

Als Ergänzung hierzu erscheint auch der Film Twelve angry men (Die zwölf Geschworenen, USA 1957, R: Sidney Lumet) erwähnenswert, bei dem die drama­tische Spannung zum Teil auch auf der Basis vorgegebener Abläufe einer Gerichts­verhandlung entsteht. Der Inhalt des Films: Vor der Urteilsverkündung ziehen sich die Geschworenen zur Beratung über das Schicksal eines jungen Angeklagten zurück, wo­bei einer der Männer an der Schuld des Jugendlichen zweifelt und in der Folge ver­sucht, die anderen von seiner Meinung zu überzeugen. Der Raum der Besprechung ist hier genauso wie die Anzahl der handelnden Personen und ihr Auftrag ein Teil des üb­lichen Gerichtsverfahrens und somit wichtige dramaturgische Rahmenbedingungen. Zusätzlich wird jedoch auch die physische Komponente des Eingeschlossenseins zu einem bedeutenden Element. Hierzu Regisseur Sidney Lumet:

„Im Laufe des Films wollte ich den Raum immer kleiner erscheinen lassen. Das hieß, daß ich nach und nach zu längeren Brennweiten übergehen würde. […] Es rückten nicht nur die Wände zusammen, sondern auch die Decke senkte sich. Das Gefühl einer wachsenden Klaustrophobie trug eine Menge dazu bei, daß sich die Spannung im letzten Teil des Films steigerte.[…].[62]

Verdichtet wird von Lumet die Tatsache, daß die Hauptpersonen in einer bestimmten Weise in ihrem Auftrag gefangen sind: Sie müssen nach den Regeln des Gerichts in dem vorgegebenen Setting ein Urteil fällen, das sie mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Eine ähnliche Determination der Protagonisten läßt sich in den vorher bespro­chenen Filmen erkennen: Der Fotograf in Rear Window kann sein Appartment wegen seiner Verletzung nicht verlassen, ähnlich wie der Besucher bei Stadt in Angst, der weder telefonieren noch aufgrund der fehlenden Zugverbindungen einfach wegfahren kann. Somit werden die sozialen Reglementierungen bei den drei Beispielfilmen zu­nehmend durch reale physische Einschränkungen ergänzt.[63]

Vergleicht man hierzu den Umgang mit Schauplätzen bei den später zu analysierenden Filmen, so läßt sich - ohne zuviel vorwegzunehmen - festhalten, daß hier die soziale Komponente gegenüber der architektonischen Begrenzung der jeweiligen Spielorte zurücksteht. Als beispielsweise bei Death and the Maiden (Der Tod und das Mädchen, GB 1995, R: Roman Polanski) Dr. Roberto Miranda (Ben Kingsley) nach einer Reifenpanne zufällig in das abgelegene Haus des Ehepaars Escobar gerät, scheint die Frau (Sigourney Weaver) in ihm einen Verhörbeamten und Folterer wiederzu­erkennen, dem sie in früheren Jahren der chilenischen Diktatur einmal als Häftling aus­geliefert war. Sie fesselt ihn daraufhin an einen Stuhl und verlangt ein Schuld-Einge­ständnis. Der Schauplatz wird so für Escobar zum Gefängnis, er muß den Befehlen seiner Peinigerin folgen. Im Gegensatz zu Bad day at Black Rock beispielsweise impliziert der Schauplatz hier von vorneherein kein spezifisches soziales Gefüge, außer dem der Bewohner. Dieses läßt sich in der dramaturgischen Bedeutung jedoch erst im Laufe des Filmes erkennen, wobei sich besonders die Abgeschiedenheit des Hauses in diesem Zusammenhang als wichtiges Detail für die „ungestörte“ Entwicklung der spe­zifischen Beziehungen zwischen den Charakteren erweist.

In diesem Punkt ähnlich erscheint der Sachverhalt bei dem Film Abwärts (Deutschland 1984, R: Carl Schenkel): Vier Leute bleiben nachts im Fahrstuhl eines Büro-Hochhauses stecken. Als sich die Rettung verzögert, versuchen die Eingeschlos­senen selbst, sich in Sicherheit zu bringen, was zu Spannungen zwischen den Charakteren führt. Die Tatsache, daß einer der drei Männer einen Koffer voll Geld bei sich hat, spitzt den Konflikt zu. Hier zwingt die Enge des Schauplatzes und die Tat­sache des Eingeschlossenseins die Menschen zu sozialer Interaktion. Wird normaler­weise der Fahrstuhl nur als kurzzeitiges und eher anonymes Fortbewegungsmittel be­nutzt, so verändert die spezifische Situation den Blick des Betrachters auf den Ort des Geschehens.

In beiden Beispielen wird jeweils die hermetische Architektur - unter Miteinbeziehung der geographischen Lage - zum Hauptaspekt der dramaturgischen Einbindung des Schauplatzes, wobei die Absicht, die Begrenzung des Raumes zu überwinden, für eine oder mehrere Hauptfiguren jeweils eine grundlegende Handlungsmotivation in den Filmen darstellt.

Faßt man die vier herausgearbeiteten Eingrenzungen zusammen, so ergibt sich folgen­des Bild: Im ersten Abschnitt erscheint die ständige Fortbewegung des Protagonisten als wichtigster Aspekt, im darauffolgenden die im Bezug auf die Dramaturgie reflexive und verdichtende Auswahl der Spielorte. Im dritten Abschnitt wird der Schauplatz zum Sinnbild für ein spezifisches soziales Gefüge, wobei die Hermetik der Architektur - die hier als ebenso wichtiger Bestandteil miteinfließt - im vierten Abschnitt eine eigen­ständige, wichtige dramaturgische Grundlage bildet.

2. Reduktion als Grundlage - Der Kammerspielfilm

Beim filmischen Kammerspiel gegenwärtig von einem Subgenre oder gar einem eigen­ständigen Genre zu sprechen, scheint bei der dürftigen Literaturlage und der geringen Anzahl von Filmen eher unangemessen. Auch die Tatsache, daß im angelsächsischen Sprachgebrauch meines Wissens nach kein vollwertiges Synomyn für das deutsche Wort „Kammerspiel“ zur Umschreibung derartiger Filmen existiert, unterstreicht diese Einschätzung.[64] Somit steht in den folgenden Kapiteln im Vordergrund, Merkmale für einen erkennbaren „Kammerspielcharakter“ bei filmischen Werken herauszuarbeiten.

2.1. Exkurs: Das Kammerspiel als Form des Theaters

Die Verwendung des Begriffes Kammerspiel läßt sich im niederländischen Sprach­gebrauch nach Pilick bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen („Kamerspel“), wobei dies jedoch lediglich die landläufige Bezeichnung für „Schauspiel“ war.[65] Der im heuti­gen theaterwissenschaftlichen Sinn verwendete Ausdruck wurde dagegen erst Anfang des 20. Jahrhunderts aufgebracht und bezeichnet sowohl die dramatische Form der Stücke, als auch die in der Größe reduzierten Schauspielstätten. Neben dem schwe­dischen Dramatiker August Strindberg (1849-1912) gilt der österreichische Schau­spieler und Regisseur Max Reinhardt (1873-1943) als Urheber der Idee, in ihrer Dimen­sion eingeschränkte Werke auf extra dafür eingerichteten Bühnen zu präsen­tieren[66]:

„Seit ich beim Theater bin, wurde ich von einem bestimmten Gedanken ver­folgt und schließlich geleitet: Die Schauspieler und die Zuschauer zusam­menzubringen - so dicht aneinander gedrängt wie nur möglich“.[67]

Strindberg führte diesen Gedanken fort, in dem er durch die Produktion und Auffüh­rung eher psychologisch nuancierterer Stücke mit Betonung auf inneren Vorgängen der Charaktere „eine Anstalt für das Vergnügen der Gebildeten“[68] erschaffen wollte.

Gegenüber den Prinzipien des Naturalismus, mit dessen Ansatz, „das geschaute Wirk­liche in seiner Mannigfaltigkeit zu fixieren“[69] die Vorläufer der Kammerspiel-Theater gegründet worden waren, entstand nun mit den extra für jene Spielstätten geschaffenen Werken eine neue und eigenständige Spielart des Theaters. Hier, so Pilick, „reduziert sich [das Bestreben] auf die Ausmalung der erlebten Wirklichkeit der Einzelseele: ´´Der Mensch tritt wieder in den Vordergrund; im Naturalismus verschwand er im ´Milieu´ - und nun steigt er wieder empor daraus´´“.[70]

Am 8. November 1906 eröffnete Max Reinhardt das erste „echte“ Kammerspiel-Thea­ter in Berlin mit dem Stück „Gespenster“ von Hen­rik Ib­sen (1828-1906).[71] Weitere häufig gespielte Dramatiker waren anfangs an derartigen Häu­sern neben anderen Anton Tschechow (1860-1904), Arthur Schnitzler (1862-1931), Frank Wedekind (1864-1918), Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) und natürlich August Strindberg.[72] Letzterer eröffnete 1907 ein den Kammerspielen vergleichbares „Intimes Theater“ in Stockholm und bezeichnete im gleichen Jahr als einer der ersten Autoren vier seiner Stücke als Kammerspiele. („Wetterleuchten“, „Brandstätte“, „Gespen­stersonate“, „Scheiterhaufen“)[73].

Was jedoch sind konkret die charakteristischen Stilmerkmale des Kammerspiels bei der Heterogenität der genannten Autoren? Pilick nähert sich dieser Frage zuerst mit dem Blick auf das „Format“, da Strindberg in den Briefen an das Intime Theater als erste These die prägnante Kürze der dort gezeigten Stücke, sowie die Vermeidung von Zwischen­akten forderte.[74] Somit wurde der Einakter von Strindberg zur idealen Form für derartige Bühnen proklamiert.[75] Des weiteren stellt Pilick fest, daß aus diesem Grund und aufgrund des beschränkten Raumangebots die Anzahl der handelnden Per­sonen stark begrenzt ist.[76] Dies ergibt die Tatsache, daß kaum Nebenrollen existieren und sich somit möglicherweise als Themenbereich jener der Familie besonders anbietet, was der Autor in der Mehrzahl der Kammerspiele von Strindberg verwirklicht sieht[77]. Hierbei werde auch die Dimension der Konflikte deutlich, die sich entsprechend inner­halb dieses oft sehr privaten Rahmens bewegen:

„Es entstehen daher keine Haupt und Staatsaktionen, die weltbewegende Probleme behandeln, sondern eben ´´Kammerspiele´´, welche Seelen­regungen zum Gegenstand haben, die historisch und politisch bedeutungslos sind.“[78]

Die Vermeidung einer konkreten Bezugnahme auf die gesellschaftlichen Rahmenbedin­gungen sei, so Pilick, in den meisten Stücken die einzige verwendbare Aussage dar­über. Der Autor verweist dagegen auf den Begriff der Intimität, der nach seiner Mei­nung ein wichtiges Wesensmerkmal des Kammerspiels darstellt. Die Nähe der Zu­schauer zu den Schauspielern sowie die häufige Wahl des Schauplatzes als Ort des Pri­vaten würde die Rezipienten auf außerordentliche Weise in die Handlung einbinden. Dabei habe das Schamgefühl des Betrachters - dem sich hier eine real sonst verschlos­sene Welt offenbart - große Bedeutung, wie auch das der handelnden Personen, deren Charakterzüge sich erst in der dargestellten Privatsphäre manifestieren.[79]

„Die Gründe für dieses Verbergen und Verschweigen sind Tabus. Es han­delt sich um Handlungen oder Eigenschaften, deren man sich im Fall der Veröffentlichung zu schämen pflegt, entweder bloß, weil an die tabuisierte Sphäre des Privaten gerührt wurde, oder aber weil jene Eigenschaften oder Handlungen sich nicht als im Einklang mit den Vorstellungen befindlich herausstellten, die in der Öffentlichkeit als Norm gelten.“[80]

Die „starke Neigung nach Einheit von Zeit und Ort“[81], die Strindberg als beabsichtigte Charaktereigenschaft der Kammerspiele formulierte, soll dabei die intime Wirkung un­terstreichen und in Verbindung mit der limitierten Anzahl der handelnden Charaktere eine in der Dramaturgie hermetische Konstruktion generieren. Dabei läßt sich ein ähn­licher Ansatz erkennen, wie bei den aus der „Poetik“ des Aristoteles abgeleiteten For­derungen nach der Einheit von Zeit (Spielzeit=gespielte Zeit), Ort (Kein Schauplatz­wechsel) und Handlung (in sich stringente Darstellung), wodurch der dramatische Ef­fekt der Tragödie betont werden sollte.[82]

In diesem Kontext spielt die Vergangenheit, so Pilick, eine wichtige Rolle. Schon vor Beginn des eigentlichen Stückes haben Geschehnisse stattgefun­den, auf deren Basis dann die dramatischen Konflikte des Schauspiels im Rückbezug entstehen.[83] So wird in Strindbergs „Wetterleuchten“ (Erstaufführung 1907)[84] die Geschichte eines älteren Herren erzählt, der in einem Mietshaus wohnt. Als mit den neuen Mietern in der Woh­nung über sei­ner eigenen Leben in das eher ruhige Haus kommt, beginnt er, sich Ge­danken über deren Herkunft zu machen. Im weiteren Verlauf stellt sich heraus, daß seine geschiedene Frau samt Tochter und neuen Ehemann eingezogen sind, woraufhin bei der Konfrontation alte Haßgefühle wieder aufbrechen.

Die mißratene Ehe des Protagonisten wird somit zum Kernpunkt für die spezifische Dramatik der Ausgangssituation und erweitert deren Entwicklung auf mehreren Ebe­nen: Während man den Handlungsstrang der Gegenwart sieht, entsteht durch die reflexive Miteinbeziehung der Vorgeschichte beim Zuschauer eine zweite imaginative Handlungsdimension.

Auch der Dialog, so Pilick, wird dabei in erster Linie retrospektiv eingesetzt. Ihm komme die besondere Bedeutung zu, die komplexen Zusammenhänge der Vergangen­heit für die weitere Handlung zusammenzufassen und letztere gleichzeitig - auch auf­grund der eingeschränkten Bühnenaktivität - gleichfalls in der Gegenwart voranzutrei­ben.[85] Da auch die Konflikte der Personen häufig bereits in einer früheren Zeit angelegt seien, offenbare sich in den Dialogen weiterhin nicht deren Entwicklung, sondern le­diglich das „Aufeinanderprallen“. So zeige sich als Konsequenz besonders deutlich die Determination der Charaktere, die in Verhalten und Ausdruck in ihrer Vergangenheit „gefangen“ sind. Sprache wird letztlich zum Manifest des sinnlosen Versuches, zurück­liegende Taten ungeschehen zu machen:

„Das Geschehen im Kammerspiel ist dann zu Ende, wenn das Geheimnis seiner stimmungsmäßigen Unheimlichkeit gelüftet ist. Der Schlüssel, um das Rätsel der Gegenwart zu verstehen, bietet sich ausschließlich darin, die verleugnete Realität der Vergangeheit lebendig werden zu lassen. […] Die Technik der Kammerspiele ist daher ´´analytisch´´´, in ihrer Wirkung dage­gen sind sie ´´apokalyptisch´´, d.h. enthüllend.“.[86]

Pilick betont abschließend, daß die von ihm empirisch erarbeiteten Eigenschaften des Kammerspiels sich nicht auf eine bestimmte dramatische Gattung beschränken. Dazu muß jedoch angemerkt werden, daß der Autor sich mit seinen Ausführungen haupt­sächlich auf die Entstehungszeit des Kammerspiels bezieht, und dabei insbesondere auf die Arbeiten Strindberg. Auch wenn es in diesem Zusammenhang offen bleibt, ob spä­tere Spielarten - wie beispielsweise jene des absurden Theaters von Beckett - mit den Ansichten von Pilick nicht übereinstimmen, erscheint die Prüfung interessant, inwiefern sich in den mit dem filmischen Kammerspiel beschäftigenden Kapiteln Analogien oder Unterschiede feststellen lassen.

[...]


[1] Zit in: Concorde - Castle Rock/Turner [Hg.]: Presseheft zu Death and the Maiden. O.O., O.J., S. 12.

[2] Zit. in: Seidel, Hans-Dieter: Furien auf Rachkurs. Was bleibt, stiftet der Schrecken: „Der Tod und das Mädchen“, von Roman Polanski verfilmt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 5.5.1995.

[3] Die später im Text erwähnten Filme werden jeweils mit dem Originaltitel benannt, in Klammern folgt dann - falls vorhanden - der deutsche Titel, sowie Produktionsland, Produktionsjahr und Regisseur.

[4] Microsoft Encarta Enzyklopädie. 1993-1996. Stichwort „Thriller“ (CD-Rom), Zit. Encarta 1996

[5] Bawden, Liz, Anne [Hg.]: Rororo Filmlexikon. Filme T-Z.3. Filmbeispiele, Genres, Länder, Institutionen, Technik, Theorie. Hamburg 1978. S. 666f. Zit. rororo Filmlexikon 1978

[6] Ebd. Vgl. hierzu auch Seeßlen, Georg: Thriller. Kino der Angst. Marburg 1995. S. 22. Zit. Seeßlen 1995

[7] Derry, Charles: The Suspense Thriller. Films in the shadow of Alfred Hitchcock. London 1988. S. 6. Zit. Derry 1988.

[8] Balint, Michael: Angstlust und Regression. Stuttgart 1960. S. 17-21. Zit. Balint 1960

[9] Ebd., S. 20.

[10] Ebd., S. 112. Vgl. hierzu auch Droese, Kerstin: Thrill und Suspense in den Filmen Alfred Hitchcocks. Coppengrave 1995. S. 20 f. Zit. Droese 1995. Die Autorin zitiert aus der englischsprachigen Ausgabe des Buches von Balint.

[11] Balint 1960, S. 21.

[12] Derry 1988, S. 22.

[13] Derry bezeichnet Thriller grundsätzlich als Suspense Thriller.

[14] Ebd.

[15] Balint 1960, S. 27.

[16] Beispielsweise bei North by Northwest, USA 1959, als Roger Thornhill (Cary Grant) für einen Spion gehalten wird und von Polizei und Gangstern gejagt wird. Vgl. Droese 1995, S. 18-31.

[17] Droese 1995, S. 20 .

[18] Vgl. Harper Ralph: The World of the Thriller. London 1974. Der Autor konzentriert sich auf die Beschreibung werksimmanenter Strukturen der Spannungserzeugung und der Reaktion des Lesers darauf. Dabei verzichtet er auf verdichtende Schlußfolgerungen. Zit.: Harper 1974.

[19] Palmer, Jerry: Thrillers. Genesis and Structure of a Popular Genre. London 1978. S.80.

[20] Droese 1995.

[21] Hamburg 1991.

[22] rororo Filmlexikon 1978, S. 666.

[23] Neale, Stephen: Genre. London 1980. S. 29. Zit Neale 1980.

[24] Derry 1988.

[25] Ebd., S. 62

[26] Hierzu zählen Filme, in denen es um die aufwendige Ausführung eines bestimmten Verbrechens geht, erzählt aus der Perspektive der Verbecher. Beispiel hierfür sind Topkapi ( USA 1964, R: Jules Dassin) oder The Asphalt Jungle (USA 1950, R: John Huston). Vgl. hierzu Derry 1988, S. 59 u. Seeßlen 1995, S. 104-117.

[27] Derry 1988, S. 67f.

[28] Harper 1974. S. 25-31.

[29] Droese 1995. S. 13.

[30] Derry 1988, S. 67f.

[31] Ebd.

[32] Weitere (Sub-) Genres, die zu Derrys Kategorie des „Process-Thrillers“ gehören sind neben den weiter oben erwähnten Gangster- und „Caper-film“ der „Bandit-film“ und der „Police-Procedural-Film“, Derry 1988, S. 288.

[33] Ebd., S. 38

[34] Ebd., S. 63.

[35] So beispielsweise The Naked Face. ( USA 1984. R: Bryan Forbes.) Derry 1988, S. 324.

[36] Ebd. S. 324f.

[37] Borringo, Heinz-Lothar: Spannung in Text und Film: Spannung und Suspense als Textverarbeitungskategorien. Düsseldorf 1980. S. 38. Zit.: Borringo 1980.

[38] Ebd. S. 46

[39] Ebd. S. 38

[40] Zit. in: Truffaut, Francois: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht. München 1973. S. 64. Zit: Truffaut 1973

[41] Der Ausdruck stammt aus einer antiken Erzählung, in der Dionysos, Tyrann von Syrakus Damokles zu einem Festmahl eingeladen hat. Im Laufe des Essens bemerkt Damokles ein Schwert über seinem Kopf, das nur an einem einzigen Haar aufgehängt ist. Dionysos will ihm so zeigen, wie sehr er (Dionysos) als Staatsoberhaupt in der Gefahr vor Anschlägen oder ähnlichem lebt. Vgl. u.a. Salje, Gunther: Hitchcock - Regieanalyse - Regiepraxis. Röllinghausen 1996. S. 130.

[42] Truffaut 1973, S. 13.

[43] Miller, William Charles: Screenwriting for narrative film and television. London 1980. S. 28f. Zit. Miller 1980. Der Autor beruft sich auf folgenden Artikel: Markellos, Cf. und Nomikos, S.: „Surprise versus Suspense in the Production of Stress Reaction. In: Journal of Personality and Social Psychology 8. O.O. 1968. S. 204-208.

[44] Miller 1980. S. 29.

[45] Ebd. S. 126.

[46] Derry 1988. S. 31

[47] Derrry 1988, S.32

[48] Ähnlich hierzu ließe sich auch das dramaturgische Prinzip von Filmen wie beispielsweise „Apollo 13“ (USA 1995), R: Ron Howard, bei dem die Havarie der gleichnamigen Weltraummission im Mittelpunkt steht.

[49] Carroll, Noel: Toward a theory of film suspense. In: Persistence of Vision. No. 1. Summer 1984. S. 65-89. S. 74. Zit. Carroll 1984. Der Autor bezeichnet demgegenüber Suspense-Konstruktionen in Szenen und Sequenzen als „suspenseful micro-question“.

[50] zit. in:Truffaut 1973. S. 63. Vgl hierzu auch Cooke, Lez: Hitchcock and the Mechanics of Cinematic Suspense. In: Bloom, Clive: Twentieth Century Suspense. The Thriller Comes of Age. New York 1990. S. 189-202.

[51] Vgl. hierzu Derry 1988, S. 59f. : Der Autor geht hier auf weitere Spielarten des „Whodunits“ ein..

[52] Derry 1988, S. 59.

[53] Derry 1988, S. 321f.

[54] Heinzelmeir, Adolf u. Knops, Thilo: Thriller. Hamburg 1991. S. 117-127. Zit. Heinzelmeier/Knops 1991.

[55] Remake eines Films mit dem gleichen Titel aus dem Jahr 1952, R: Richard Fleischer

[56] Ebda S. 118f.

[57] Balint 1960, S. 21.

[58] Droese 1995. S. 63 f.

[59] Truffaut 1973. S. 94.

[60] Spoto, Donald: The Art of Alfred Hitchcock.Fifty years of his motion pictures (Compl. rev. a. upd.). New York 1992. S. 311.

[61] Truffaut 1973, S. 212.

[62] Lumet, Sidney: Filme machen. Hinter der Kamera mit einem großen Regisseur. München 1996. S. 87f. Zit. Lumet 1996.

[63] Ähnliche Sachverhalte ließen sich außerdem in Filmen wie Das Boot (Deutschland 1981, R: Wolfgang Petersen) mit dem Schauplatz U-Boot, oder Midnight Express (USA 1978, R: Alan Parker) mit dem Schauplatz Gefängnis beschreiben.

[64] Geläufig scheint der Begriff „chamber film“ zu sein, der jedoch nur bei zwei Rezensionen zu Filmen im Filmlexikon „Cinemania 97“ ([Hg:] Microsoft, CD-Rom) - in Anführungszeichen gesetzt - auftaucht (Alice, USA 1990, R: Woody Allen und bei „Nach der Probe“,Schweden 1984, R: Ingmar Bergman). Als weitere Formulierung findet „Single-Set Film“ Verwendung, so zum Beispiel bei Elisabeth Weis: The silent srceam. London 1982. Kapitel 7: Aural Intrusion and the Single-set Films

[65] Pilick, Eckhardt: Strindbergs Kammerspiele. Ein Beitrag zur Dramaturgie des intimen Dramas. Köln 1969. S. 5. Zit. Pilick 1969

[66] Vgl. Encarta 1996, Stichwort „Kammerspiele“

[67] Zit in: Fiedler, Leonard M.: Max Reinhardt in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1975. S. 84. Zit.: Fiedler 1975

[68] Zitiert in: Pilick 1969, S. 18.

[69] Ebd. S. 24.

[70] Ebd.

[71] Fiedler 1975, S. 84

[72] Encarta 1996, Stichwort „Kammerspiele“

[73] Ebd.

[74] Pilick 1969, S. 32.

[75] Vgl. zur Theorie des Einakters auch Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1974. S. 90-95.

[76] Pilick 1969, S. 102.

[77] Ebd.

[78] Ebd.

[79] Ebd. S. 108 f.

[80] Ebd. S. 108.

[81] Zit in: Ebd. S. 52

[82] Explizit äußerte sich Aristoteles nur über die Einheit der Handlung und den stringenten Ablauf der darstellten Zeit. Vermutlich entstand die strikte Forderung nach den „drei Einheiten“ erst in den Interpretationen späterer Jahrhunderte. Verstärkt werden sollte damit nach Platz-Waury konkret die „Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftigkeit“ des Dramas. Platz-Waury, Elke: Drama und Theater. Eine Einführung. Tübingen 1980. Vgl. hierzu auch: Fyfe, W. Hamilton [Ed.]: Aristotle´s Art Of Poetry. A Greek View Of Poetry And Drama. Oxford 1963. S. XXI und als gegensätzliche Stellungnahme dazu Encarta 1996, Stichwort „Drama“

[83] Pilick 1969, S. 104.

[84] Ebd. S. 45.

[85] Ebd. S. 104f.

[86] Ebd. S. 110.

Excerpt out of 124 pages

Details

Title
Zur Dramaturgie im Kammerspielthriller
College
Ruhr-University of Bochum  (Institut für Film- und Fernsehwissenschaften)
Grade
1
Author
Year
1998
Pages
124
Catalog Number
V89
ISBN (eBook)
9783638100656
ISBN (Book)
9783638933483
File size
859 KB
Language
German
Keywords
Dramaturgie, Kammerspielthriller
Quote paper
Uwe Flade (Author), 1998, Zur Dramaturgie im Kammerspielthriller, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89

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