Formen des Offenen. "Der Zauberberg" von Thomas Mann, die "Oxen of the Sun"-Episode im "Ulysses" von James Joyce und "Rayuela" von Julio Cortázar (Band 3)

Die Oxen of the Sun-Episode im Ulysses von James Joyce


Doctoral Thesis / Dissertation, 2020

80 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

3. Die Episode "Oxen of the Sun" im Ulysses von James Joyce
3.1 Beziehungen zwischen Mann und Joyce
3.2 Metempsychose, Parallaxe und Unbestimmtheit
3.3 Mythologische Bezugsrahmen
3.4 Dialog der Texte
3.5 Analogie: Stilgenese - Ontogenese

Literaturverzeichnis

Einleitung

Der vorliegende Text ist Teil einer literaturwissenschaftlichen Doktorarbeit, die in der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes in Saarbrücken eingereicht wurde. Die Arbeit entstand am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft. Wegen der mehr als 30 Stilnachahmungen in Oxen of the Sun ist zur Analyse dieser Episode in methodischer Hinsicht der Dialog der Texte naheliegend. Literatur und Literaturgeschichte besteht aus einem Netzwerk an Texten, die untereinander miteinander in Kontakt stehen. Die Oxen of the Sun – Episode ist hierfür wohl das typischste Beispiel. Im ursprünglichen Text ist der Ulysses von James Joyce ein Vergleichsglied neben zwei weiteren. Das sind der Zauberberg von Thomas Mann und der Roman Rayuela des Südamerikaners Julio Cortázar.

Das wachsende Mistrauen moderner Autoren in die epische Abbildbarkeit der empirischen Wirklichkeit führte in der neueren Gattungstradition des Romans zu einem immer stärkeren Vordringen offener, alinearer Erzählschemata. Gründe für dieses Abrücken von der kausallinearen Struktur des realistischen Erzählens liegen in einer zum Teil historisch bedingten weltanschaulichen Verunsicherung, die beispielsweise Thomas Mann während der Entstehungszeit des Zauberbergs die Unangemessenheit des traditionellen Formkanons als Mittel einer epischen Wirklichkeitsdarstellung häufig schmerzlich ins Bewusstsein rief. Die widerstrebenden Kräfte des historischen Kontextes während der Zauberberg - Produktion bewirken - nach Mann - in künstlerischer Hinsicht eine "Erschütterung aller kulturellen Grundlagen", mit Blick auf das historische Umfeld während der Entstehungszeit des Ulysses von Joyce spricht Hermann Broch von der Epoche im "Zustand der organischen Unbekanntheit". Dementsprechend wandelt sich auch die Erzählform. Die realistische Schreibweise mit ihren teleologischen Implikationen scheint jede Bedeutung verloren zu haben. Was den Prozess einer erzähltheoretischen Umorientierung noch zusätzlich beschleunigt, ist das Interesse der Autoren für ideologisch-weltanschauliche Denkmodelle, Leitbilder und Theoreme, die die wachsende Bedeutung offener, alinearer Erzählstrategien fördern.

3. Die Episode "Oxen of the Sun" im Ulysses von James Joyce

3.1 Beziehungen zwischen Mann und Joyce

Trotz des gemeinsamen zeitgeschichtlichen Kontextes, in dem die Werke von Mann und Joyce entstanden, ergaben Fragen nach möglichen literarischen Kontakten, das kaum nennenswerte genetische Beziehungen bestanden, die von größerer Bedeutung für die "Oxen"-Episode und den Zauberberg gewesen sind. Neben einigen typologischen Ähnlichkeiten dominieren Unterschiede in zentralen romanästhetischen Bereichen, so dass die Vermutung berechtigt erscheint, die zögernde Beschäftigung beider Autoren mit dem fremden Werk könne als Folge jener unvereinbaren Positionen gedeutet werden. Die spärlichen Dokumente - zumeist Briefe, Tagebucheinträge, biographische Schriften und parodistische Anspielungen auf Thomas Mann im Werk von Joyce scheinen zu belegen, dass die "Sympathie mit dem Tode" und Manns Schopenhauer orientierter Pessimismus einerseits und die artistische Konstruiertheit des Werkes von Joyce den Rezeptionsprozess zwischen beiden Autoren belastete.

Im Folgenden soll dieser Rezeptionsvorgang näher untersucht werden. Im Zentrum stehen Fragen nach dem Aufnahmemodus des fremden Werkes und seiner Bewertung. Die Frage, die sich mit diesem Ausblick auf die Auseinandersetzung beider Autoren mit dem fremden Werk stellt, ist, ob sich unter diesen Voraussetzungen nicht schon erste typologische Unterschiede ergeben, die die offenen Poetiken der "Oxen"-Episode und des Zauberbergs berühren.

Neben den Unterschieden möchte ich zunächst auf einige typologische Ähnlichkeiten hinweisen. Zu den gemeinsamen Punkten beider Poetiken gehört zweifellos die in beiden Texten deutlich feststellbare Tendenz zur wachsenden Auflösung der narrativen Syntax der realistischen Schreibweise. Typologische Ähnlichkeiten lassen sich in struktureller Hinsicht zwischen der leitmotivischen Wiederholungsstruktur des Zauberbergs einerseits und der Zergliederung des Erzählkontinuums der "Oxen"-Episode in stilistisch unterscheidbare Erzählsegmente andererseits herstellen. Die Absicht, die Mann mit der Literarisierung der Wagnerschen Leitmotive verbindet, wurde darin gesehen, die kausallineare Episodenfolge der "Geschichte Hans Castorps" zugunsten der Möglichkeit einer wechselseitigen Verknüpfung der hierarchisch angeordneten Themenkomplexe des Romans abzulösen. Manns ars combinatoria und Joyces episches Segmentierungsverfahren markieren die jeweilige Distanz der beiden Texte zur realistischen Schreibweise des traditionellen Romans. Die "Oxen"-Episode erzählt keine Geschichte realistischer Prägung. Die einzelnen Erzählsegmente variieren vielmehr die thematischen Schwerpunkte Geburt, Zeugung und Sexualität, die inhaltlich im Zentrum dieses Ulysses -Kapitels stehen. Durch diese Ergänzung, Erweiterung und letztlich Zerstörung der linearen Schreibweise kommt strukturell in beiden Texten die Auffassung von der Unmöglichkeit des traditionellen Erzählens im historischen Moment der Moderne zum Ausdruck.

Beide epische Präsentationsformen thematisieren auch implizit die wachsende Schwierigkeit des modernen Gattungstyps mit der tradierten Vorstellung von der Möglichkeit einer exakten Objektivierbarkeit des außer 1iterarisch Gegebenen mit den Mitteln des epischen Kunstwerkes. Zur Rettung des Totalitäts- und Objektivitätsanspruchs des Romans weicht Thomas Mann auf die Episierung des metaphysischen Willens-Bereichs Schopenhauerscher Prägung aus. Auch die Segmentierungstechnik der "Oxen"-Episode unterstreicht die wachsende Skepsis gegenüber der mimetischen Funktion des epischen Kunstwerks. Die einzelnen stilistisch unterscheidbaren narrativen Segmente bieten lediglich komplementäre, sich widersprechende, aber koexistierende Teilaspekte der dargestellten epischen Wirklichkeit. Mitgedacht dabei ist, dass das Segmentierungsverfahren durch unendlich scheinende Variationen des Themas eine Art Annäherungsprozess zwischen Fiktion und Wirklichkeit in Gang setzt, ohne dabei den Anspruch zu erheben, sie exakt objektivieren zu können. Neben diesen typologischen Ähnlichkeiten werden aber auch Unterschiede deutlich, die für die jeweilige Bewertung des Offenheitstheorems von Bedeutung sind. Während im Zauberberg die semantische Ambivalenz des Erzählgegenstands durch die metaphysische Wirklichkeitskonzeption des Romans bedingt ist, also von außen in die epische Form hineingetragen wird, scheint die Poetik der "Oxen"-Episode die Vermutung zu rechtfertigen, dass die Unbestimmtheit des in widersprüchliche Segmente zerfallenden Erzählgegenstands ein Problem des epischen Vermitt1ungsVorgangs selbst darstellt. Die Zergliederung des Erzählkontinuums in sich widersprechende Teilaspekte ist ein Ausdruck für die in erzählerischer Hinsicht produktiv gewordene Skepsis des modernen Gattungstyps, der die außerliterarische Wirklichkeit mit den Mitteln der epischen Kunst nicht mehr exakt zu determinieren vermag. Das epische Segmentierungsverfahren versucht durch unendlich scheinende perspektivische Brechungen eine unabschliessbare Annäherung, die nach dem traditionellen mimetischen Gattungsverständnis doch nie vollkommen gelingt.

Auf diese auch erkenntnistheoretische Problematik reagieren beide Texte ganz unterschiedlich. Das leitmotivische Erzählverfahren modelliert ein metaphysisches Denkmodell, das den Anspruch auf die Darstellungsmöglichkeit der objektiven Wirklichkeitstotalität sichert. Der "Beziehungszauber" der feldartigen Querverbindungen, die die Motivik im thematischen Beziehungsgeflecht der "Geschichte Hans Castorp" knüpft, modelliert das Schopenhauersche Philosophem von der stufenweisen Objektivierung des Willens in der individuellen Erscheinungsvielfalt der Objektwelt. Alles steht mit allem in Kontakt. Das Entindividuationsstreben des Romanhelden in beispielsweise der 'experimentellen' Erfahrung des Todes, während der kontemplativen Versenkung des Strandspaziergängers ins Nichts der ewigen Monotonie der Meereslandschaft und im Rauschzustand des Rauchers und Trinkers ermöglicht dem metaphysisch Disponierten, die Erscheinungsvielfalt der Objektwelt auf die dahinterliegende ewige Ureinheit des Willens transparent zu machen. Die Kreisstruktur der Welt bringt in den Augen des Zauberberg-Bewohners alles mit allem im Berührung, eindeutig sind die Phänomene seiner Erlebniswelt nur in ihrer Zweideutigkeit. Durch die doppelte Lektüre des Romans, die es erlaubt, den "Beziehungszauber" der Textelemente simultan zu aktualisieren, hat Mann dem Leser den Nachvollzug dieses metaphysischen Aktes zur Aufgabe gemacht. Die Lektüre des Romans wird zu einem Akt der metaphysischen Erkenntnis des Willens.

Joyce löst den "enzyklopädischen" Anspruch1 des Gesamtromans auch mit Blick auf die "Oxen"-Episode weniger durch die Annäherung an ein metaphysisches Denkmodell ein, sondern über die unendlich scheinenden perspektivische Brechung des Erzählgegenstands, über die Komplizierung der Form. Die Absicht scheint zu sein, ein episches Gebilde hervorzubringen, dessen Vielschichtigkeit und Komplexität der der außer 1iterarisehen Realität nahekommt. "Oxen" variiert die thematischen Schwerpunkte auf den unterschiedlichsten Ebenen des Textes. Er thematisiert die Entstehung biologischen Lebens und ihre ambivalente ethische Aspekthaftigkeit ebenso wie die Entstehung der Erzählkunst aus dem Mythos beinahe ausschließlich über formale Elemente. Auf den unterschiedlichsten Textebenen finden sich Anspielungen auf Geburtsvorgänge. In den Diskussionen der Medizinstudenten in der Vorhalle der Gynäkologischen Klinik, im Kreißsaal oben gebiert Mina Purefoy ihren siebten Sohn. Auf allegorische Entsprechungen zum Geburtsvorgang deuten Begleittexte zur "Oxen"-Episode hin: "Bloom is the spermatozoon, the hospital the womb, the nurse the ovum, Stephen the embryo 2." Im Zusammenhang der thematischen Äquivalente "Ontogeny/Stylogeny"3, evolutionäre Entwicklung des biologischen Lebens und der Erzählkunst weist Hugh Kenner darauf hin, dass die etwa vierzig narrativen Segmente als formale Entsprechungen zur vierzigwöchigen Schwangerschaft gedeutet werden können. Und die neunfache Kapitelunterteilung4 "der Oxen -Episode symbolisiert nach Joyce die neun Schwangerschaftsmonate der embryonalen Entwicklung.5

Auf der phonologischen Ebene des Textes dienen die klanglich-rhythmischen 'Klopfgeräusche' der alliterierenden "Bs" in der Sequenz Before born babe bliss had 6 als literal presentation of the centriole by which the cell will be fertilized 7. Am Ende dieses Kapitels soll auf die Polyfunktionalität der Textelemente des thematischen Komplexes Embryogenese noch eingegangen werden. Über all diese Thematisierungsvorgänge reicht das Spektrum der Fiktionalisierung embryonalen Wachstums in der komplexen Tektonik der Oxen -Episode.

Die vorwiegend erzähltechnische Inszenierung des enzyklopädischen Anspruchs ist von der Kritik mit Blick auch auf Manns vergleichsweise traditionelle Darstellungsmodi gerade wegen der starken Dominanz der Form gegenüber dem Inhalt als a kind of nihilism of unreasonable order verworfen worden:

"Joyce's problem was to range over the whole of modern life without having to express large areas of it only by explicit analysis or debate as, for example, Thomas Mann does in The Magic Mountain. His solution was a brave but futile attempt to employ an encyclopaedic symbolism like that of mediaeval Catholicism in order to dramatize these aspects of life - at least to the extent that mere techo nique can dramatize." 8

Die von Goldberg mit Blick auf den Zauberberg festgestellte wachsende Komplexität der "Oxen"-Episode ist das Ergebnis der steigenden Autoreflexivität und Autonomie des epischen Kunstwerks, das sich nicht mehr als fiktionales Modell eines metaphysischen Denksystems versteht. In den Diskussionen über Kunst im Kapitel "Scylla and Charybdis" lehnt Stephen Dedalus die Vorstellung von der Welt der Ideen als Gegenstand des epischen Kunstwerkes ausdrücklich ab. Wir werden zu Beginn des nächsten Abschnitts "Metempsychose, Parallaxe und Unbestimmtheit" darauf zurückkommen. Im Zentrum der Poetik der "Oxen"-Episode steht das Interesse an der experimentellen Erweiterung der darstellungstechnischen Möglichkeiten des modernen Romans, nicht die Suche nach den geeigneten epischen Mitteln zur fiktionalen Umsetzung eines metaphysischen Systems. Nicht nur die Kritik, auch moderne Autoren stehen der Dominanz der Form gegenüber inhaltlichen Momenten, trotz einer auch kaum verborgenen Bewunderung des Ulysses, häufig skeptisch gegenüber. Broch nannte die wachsende Tendenz des Ulysses zu formalen Experimenten die "Joycesche — Sackgasse "9, an deren Endpunkt zweifellos die Auflösung und Zerstörung der Gattung stehe. Joyce selbst hat sich in dem oben angesprochenen Strukturplan der "Oxen"-Episode kritisch zu diesem Trend zur wachsenden Autonomie, zur artistischen Konstruiertheit geäußert. Er bezeichnet dieses Erzähl verfahren, das den Kontakt zur historisch-gesellschaftlichen Realität des zeitgeschichtlichen Kontextes verliert, und in steigendem Maß über die eigenen epischen Darstellungsmöglichkeiten nachdenkt, die Form zum eigentlichen Inhalt werden lässt, als "Desecration of art".10

Auch in der kunsttheoretischen Problematik, wie sie von Thomas Mann im Doktor Faustus und in der Begleitsehrift Die Entstehung des Doktor Faustus formuliert wird, finden sich Parallelen zu diesem Entweihungsvorwurf, den Joyce gegen die artistische Konstruiertheit der "Oxen"-Episode richtet.

"Das Abreißen der Tradition, das plötzliche Verbraucht sein des Bestandes traditioneller Ausdrucksmittel, die Flucht in Strenge und Konstruktion, die Hinwendung zur kalten Gesetzmäßigkeit und zivilisatorischen Primitivität - der Barbarei. Die Gefahr, die der abendländischen Kunst, damit auch der Kultur droht, heißt Sterilität. Unbeantwortet steht über dem Roman die Frage: Sind die europäischen Kulturanlagen etwa bis zu ihrer Grenze entfaltet?"11

Manns eigene Charakterisierung der Romanfiguren des Doktor Faustus als ein "wunderliches Aquarium von Geschöpfen der Endzeit"12 scheint die Frage zu bejahen. Der Vorwurf der Sterilität richtet sich gegen den Traditionsverlust des modernen Kunstwerks, gemeint ist im Faustus-Roman im Wesentlichen die moderne Musik der Schönberg-Schule, als deren Promotor Adrian Leverkühn im Roman auftritt: "die unmittelbar überlieferten Formen der kulturellen Aktivität (sind) unanwendbar geworden.13 "

Für Thomas Mann ist nicht nur der Bruch der Moderne mit den Formen der kultur- und kunstgeschichtlichen Tradition ausschlaggebend für den Vorwurf der Sterilität moderner Kunst, auch die Auffassung vom fehlenden Kontakt zwischen Kunst und Künstler einerseits und Gesellschaft andererseits untermauern diese Kritik: "Das Fehlen des Kontaktes mit der Gesellschaft und dem aus den Lebensäußerungen der Gesellschaft schöpfenden Künstler lassen die Bemühungen des Künstlers konstruiert und erstarrt erscheinen."14

Diese selbstkritischen Äußerungen beider Autoren gegen ihre Kunst, Entweihung einerseits und Sterilität andererseits, scheinen auf typologische Ähnlichkeiten zwischen der "Oxen"-Episode und dem Roman Doktor Faustus hinzudeuten, die den Zauberberg weniger berühren: Autoreflexivität und artistische Konstruiertheit, Realitäts- und Traditionsverlust der Kunst, soziale Isolation des Künstlers u. ä. Dass Mann den Zauberberg von dieser Kritik noch ausnimmt, spricht für die stärkere Bindung des Romans an die kulturgeschichtliche Tradition des 19. Jahrhunderts: zu nennen wären die immer noch starke Verwurzelung im traditionellen Roman, die Einflüsse der Wagnerschen Musikkonzeption und die Wirkung der Schopenhauersehen Metaphysik auf die Wirklichkeitskonzeption der Zauberberg-Welt. Zudem erfüllt er als Initiationsroman noch eine konstruktive Aufgabe, die, wie der letzte Abschnitt des vorigen Kapitels zeigte, mit dem kunstkritischen Vorwurf artistischer Konstruiertheit unvereinbar ist.

Die typologischen Unterschiede, die im Wesentlichen die strukturelle Beschaffenheit und das Verhältnis Fiktion-Realität der offenen Poetiken der "Oxen"-Episode und des Zauberbergs berühren, sind meiner Ansicht nach von nicht geringer Bedeutung für das mangelnde Interesse beider Autoren an der jeweils fremden Romanproduktion. Analysen der literarischen Beziehungen zwischen beiden Autoren ergaben, dass, wenn man von punktuell nachweisbaren genetischen Kontakten zum Frühwerk Manns einmal absieht.15

Joyce jedes Interesse am Hauptwerk Manns verliert. Nach der Phase eines aktiven genetischen Kontaktes zwischen dem jungen Joyce und der Künstlernovelle Manns, Reminiszenzen, eine Reihe von Kongruenzen, Entlehnungen, Variationen u. ä. Wirkungsformen deuten auf die Quelle hin, tauchen Name und Werk Manns parodistisch und ironisch verfremdet in einigen Textpassagen im Finnegans Wake auf. Eine Textstelle präsentiert die weibliche Figur Anna Livia Plurabelle, wie sie Geschenke aus einem großen Sack angelt, um sie dann unter ihren Kindern zu verteilen. Auf diese Weise erhält Thomas Mann - "Mann in the cloack" - die Cholera als Geschenk: "a collera morbous for Mann in the cloack".16

Eine Bedeutungsebene dieser Sequenz stellt zweifellos einen intertextuellen Bezug zu Manns Tod in Venedig her. "Mann" deutet auf den Namen des Autors, "cloack" wie "cloaca", "Kloake", eine Straßenrinne, die das Schmutzwasser ableitet. Gestützt wird diese Deutung noch durch das Textelement "collera morbous", das, mit Blick auf Gustav von Aschenbach, das Bild der verseuchten Gewässer Venedigs aktualisiert.

Egris' Wertung der literarischen Beziehung zwischen Joyce und Mann, sie sei vorwiegend "allusive and philological", ist sicher zuzustimmen, sie trifft aber nicht das kritische Moment, das in der parodistischen Anspielung auf die Novelle Tod in Venedig mitgedacht ist. Der affirmative, lebensbejahende 17 Charakter des Ulysses legt die Vermutung nahe, dass die Anspielung "a collera morbous for Mann in the cloack" sich auch indirekt gegen die in der thematischen Konzeption der Novelle Tod in Venedig noch vitale Formel von Manns "Sympathie mit dem Tode" richtet. Auch die Todessympathie der Helden ist das werkimmanente Zeichen einer an Schopenhauers Pessimismus und Metaphysik orientierten Romankonzeption. Diese metaphysische Komponente ist der offenen Poetik der "Oxen"-Episode fremd. Gegenstand der Kunst ist nicht die metaphysische, sondern die empirische Realität. In den Diskussionen über die Aufgabe des Künstlers und den Darstellungsgegenstand der Kunst zwischen Stephen Dedalus und Russel in der Bibliotheksszene stellt die Episode "Scylla and Charybdis" beide konkurrierende Auffassungen einander gegenüber. Joyce parodiert durch Stephen Dedalus die Auffassung des Bibliothekars Russel, wonach Platos Welt der Ideen der Darstellungsgegenstand von Kunst sei. Dieser grundsätzliche Unterschied in den Konzeptionen beider Autoren ist meiner Ansicht nach verantwortlich für das geringe Interesse von Joyce an den großen Romanen von Thomas Mann. Joyces affirmative Haltung und Manns Pessimismus und "Todessympathie" sind unvereinbar.

Stützt man sich auf die Briefe von Thomas Mann, dann liegt die Vermutung nahe, dass Manns Auseinandersetzung mit dem Werk erst im Princetoner Exil beginnt, also nicht in die Entstehungszeit des Zauberbergs hineinfällt.18 Die Hinweise, die Mann selbst zu seinem Rezeptionsverhalten gibt, lassen den Schluss zu, dass die artistische Konstruiertheit der Werke von Joyce einen direkten Zugang erschwerte, weshalb Mann größtenteils auf die Vermittlung durch die Sekundärliteratur angewiesen ist.

Am 05. August 1944 berichtet Mann der Freundin Agnes Meyer über die Lektüre von Campells und Robinsons A Skeleton Key to Finnegans Wake, die dem Leser die Vermutung eingab, "dass dieser Joyce wohl das größte literarische Genie unserer Epoche sein könnte. Jedenfalls ist Mr. Campells Studie als analytische und exegetische Leistung einfach bewundernswert, und es wird Amerika zur Ehre gereichen, daß dies hier für das Werk des Iren getan worden ist. Ich persönlich", ergänzt Mann, "muß den Verfassern umso dankbarer sein, als wissende und weisende Bücher über Joyce der einzige Weg zu ihm sind, der mir offen steht; denn ihn selbst zu studieren, dazu fehlt es mir an der nötigen rezeptiven Freiheit und Gutwilligkeit. Ich ahne eine Verwandtschaft, möchte sie aber lieber nicht wahrhaben, weil, wenn sie vorhanden wäre, Joyce alles besser, kühner, großartiger gemacht hätte. Was ich rezeptive Freiheit nenne, muß Mr. Campeil im höchsten Grad besitzen, sonst müsste ihm meine eigene Schreiberei als der flaueste Traditionalismus neben Joyce erscheinen.19 "

Da der Briefschreiber über seine Lektüreerlebnisse genau berichtet, sind die "wissenden und weisenden Bücher über Joyce", die Mann heranzieht, bekannt.20 Gerade Manns Bericht über die Lektüreerfahrung mit Mercantons Poètes de l'Univers wirft ein erhellendes Licht auf den Rezeptionsmodus, der einigermaßen typisch für Manns vermittelte Auseinandersetzung mit Joyces Werk ist.

Verschiedene Briefberichte über den eigenen Umgang mit den Quellen legen die Vermutung nahe, dass sich Manns Interesse nicht direkt auf das Bild richtet, das die Kritik von Joyce entwirft; worum es in erster Linie geht, ist die Einschätzung des Zauberbergs im Spiegel der internationalen Kritik, was interessiert, ist die literaturkritische und historische Einordnung des eigenen Werkes im von Joyce geprägten gattungsgeschichtlichen Zusammenhang der modernen Romantradition, wie sie beispielsweise auch von Mercanton vorgenommen wird. Dass der Ulysses das Paradigma der Moderne ist, anerkennt auch Thomas Mann. Was ihn an den oben erwähnten vergleichenden Studien interessiert, ist, welchen Rang die internationale Kritik dem Zauberberg mit Blick auf die paradigmatische Geltung des Ulysses zubilligt.

Unter diesen Voraussetzungen ist Manns Auseinandersetzung mit Joyce lediglich Ausdruck seines von vergleichenden Studien immer wieder geweckten Interesses am eigenen Werk. Unter dieser Perspektive las Mann offenbar auch schon Levins Einführung. Er konnte ihr deshalb so leidenschaftlich zustimmen, weil der Autor dem Werk des Deutschen dieselbe paradigmatische Bedeutung für die moderne Gattungstradition zubillige, wie der Produktion von Joyce.

Anders steht es im Fall Mercanton.21 Der Autor von Poètes de l´Univers ordnet in einem gattungstypologischen Ausblick den Zauberberg dem traditionellen, Joyces Ulysses dem modernen Gattungstyp zu: "Un seul d'entre eux (Joyce, Rilke, Valéry) possède une audience presque populaire: Thomas Mann. Elle tient sans doute à l'art qu'il pratique: Sous des formes considérables, cela reste le roman traditionnel." 22 Mann reagiert in einem Brief an Mercanton folgendermaßen: "Natürlich ist es kein Kleines, sich mit seiner eigenen künstlerischen Bemühung in ein Buch mit dem majestätischen Titel "Poètes de l'Univers" eingeschlossen zu finden. Aber sie mögen mir glauben, daß ich ihr Buch nicht weniger schätzen würde, wenn nicht von mir und dem Meinen darin die Rede wäre. Es ist aber auf so großmütige und doch wieder nicht unwahre Weise davon die Rede, dass die Kritik bei nahe mich selbst für mein Werk zu gewinnen vermag, an dem ich sonst viele Schlacken und Mängel zu sehen gewohnt bin. Sie reflektieren an einer Stelle über die Tatsache der Popularität meiner doch niemals ganz geheueren Bücher im Gegensatz zu denen von Joyce. Auch ich habe natürlich schon über diese Erscheinung nachgedacht. Es liegt ihr wohl viel Missverständnis zu Grunde, aber die Lesbarkeit dieser Produkte für viele mag mit einer Konzilianz und Umgänglichkeit ihrer Haltung Zusammenhängen, die über manches Widersprechende hinwegtäuscht, einem Traditionalismus, dessen Problematik in Kauf genommen wird..."23.

Die Tatsache, dass Mann das Joyce-Kapitel in Poètes de l Univers unberücksichtigt gelassen hat, und das Eingeständnis, dass diese vergleichende Studie Mercantons dazu geeignet ist, den Autor erneut für sein eigenes Werk zu "gewinnen", zeigt, dass Mann das Interesse an Joyce, auch an einem von der Kritik vermittelten Bild, nun offenbar verloren hat. Dass Joyces Werk, oder das Bild, das die Levin-Einführung davon geschaffen hat, als Orientierungspunkt zur adäquaten Einordnung der eigenen Romanproduktion im literaturgeschichtlichen Kontext der Moderne noch von Bedeutung ist, zeigt Manns Kritik an Mercantons gattungstypologischer Unterscheidung. Während Levin typologische Ähnlichkeiten hervorhebt und Zauberberg und Ulysses der Moderne zurechnet, wertet Mercanton Manns Montagne Magique als traditionellen Roman mit großem Publikumserfolg. Manns verhaltener Zorn - Mercantons Kritik beruhe auf einem "Missverständnis", deren verharmlosende Wertung seiner doch "niemals ganz geheueren Bücher" ihre falsche Popularität mit verantworte - richtet sich gegen die gattungsgeschichtliche Zuordnung zum traditionellen Roman, die auch nach Levins typologischen Untersuchungen künstlich und unberechtigt einen "Gegensatz" zum Ulysses konstruiert. Trotz der ironischen Selbstcharakterisierung des eigenen Werkes als "flauer Traditionalismus" scheint Mann von der Kritik gerade mit Blick auf Joyces Werk differenziertere literaturkritische Wertungen und gattungsgeschichtliche Einordnungen zu erwarten.

Thomas Mann scheint zu Joyce ein differenzierteres Verhältnis entwickelt zu haben, als die Rezeptionsforschung annimmt. Im Gegensatz zu Michael Palencia-Roth, der von einer "nonrelationship" zwischen Mann und Joyce spricht, geht Fürst von einer literarischen Beziehung von "considerable intensity" aus:

"It is altogether a strange episode in his (Thomas Manns) life, for although his regard for Joyce came relatively late in his career and was of short duration, it was nonetheless of considerable intensity"24.

Gegen die Auffassung von der beachtenswerten Intensität der Auseinandersetzung spricht, dass Mann kaum den direkten Kontakt zu Joyces Romanproduktion gesucht hat. Von einer unmittelbaren Beziehung zwischen rezipiertem und rezipierendem Autor kann kaum die Rede sein. Joyces "exzentrischer Avantgardismus"25, die Tendenz zu artistischer Konstruiertheit und Spielerei haben den direkten Kontakt wohl nicht verhindert, aber doch erschwert. Zudem haben, neben den oben schon angesprochenen Ähnlichkeiten, auch grundsätzliche gattungstypologische Unterschiede das Interesse an einer direkten Beziehung nicht unbedingt gefördert. Auch die Auffassung von der fehlenden Beziehung zwischen Mann und Joyce müsste dahingehend modifiziert werden, dass Joyces Werk als Orientierungspunkt für die Einschätzung des eigenen Werks im gattungshistorischen Horizont der Moderne schon von Bedeutung war. Joyces Modernität, deren Grundzüge Levins Einführung schon früh herausgestellt hat - der Ulysses sei "a novel to end all novels" - stimmt Mann mit Blick auf das eigene Werk zu:" Das trifft wohl auf den Zauberberg, den Joseph und Doktor Faustus nicht weniger zu". Gerade, mit Blick auf das Offenheitstheorem, sieht Mann die herausragenden Ähnlichkeiten beider Werke: "Es sind Sätze in dem Buch von Levin, die mich sonderbar tief berührten."The best writing of our contemporaries is not an act of creation, but an act of evocation, peculiarly saturated with reminiscences." Und dieser andere:"He has enormously increased the difficulties of being a novelist."26 Dass Thomas Mann gerade dem Theorem von der Unbestimmtheit der poetischen Sprache zustimmt, schließt nicht aus, dass sie, mit Blick auf den Zauberberg und die "Oxen"-Episode, das Ergebnis ganz unterschiedlicher theoretischer Überlegungen ist. Joyces Parodie von Manns Schopenhauer orientiertem Pessimismus und Manns nie entwickeltes Interesse an einer direkten Auseinandersetzung mit dem "Avantgardismus" von Joyce scheinen auf erste Anhaltspunkt für diese These hinzudeuten.

3.2 Metempsychose, Parallaxe und Unbestimmtheit

Auf wesentliche Unterschiede in den romanästhetischen Überlegungen, die der "Oxen"-Episode und dem Zauberberg zugrunde liegen, gehen die Diskussionen zwischen Stephen Dedalus und dem Bibliothekar George Russel in der Episode "Scylla and Charybdis" ein. Aus dem Diskussionspunkt, was der Darstellungsgegenstand von Kunst sei, entwickelt sich eine Auseinandersetzung, deren unvereinbare Standpunkte ansatzweise auf die Gegensätze der unterschiedlichen Konzeptionen zwischen Joyce und Mann hindeuten. Ich gehe auf diese ästhetischen Gesichtspunkte nicht nur ein, weil hierin Anhaltspunkte für die repräsentative Gegensätzlichkeit der romantheoretischen Standpunkte zu finden sind, sondern auch weil sie für die spätere Analyse der offenen Form der "Oxen" -Episode von nicht geringer Bedeutung sind.

Das Problem des Darstellungsgegenstands von Kunst wird schon gleich zu Beginn der Episode "Scylla and Charybdis" in die Diskussion zwischen George Russell und Stephen Dedalus eingeführt.

"All these questions are purely academic, Russell oracled out of his shadow ... Art has to reveal to us ideas, formless spiritual essences. The supreme questions about a work of art is out of how deep a life does it spring. The painting of Gustav Moreau is the painting of ideas. The deepest poetry of Shelley, the words of Hamlet bring our mind into contact with the eternal wisdom, Plato's world of ideas. All the rest is the speculation of schoolboys for schoolboys ... - The schoolmen were schoolboys first, Stephen said superpolitely. Aristotele was once Plato's schoolboy ."27

Diese Auffassung, wonach der Darstellungsgegenstand von Kunst nicht die empirische Welt der Erfahrung, sondern Platos Welt der Ideen, die metaphysische Sphäre ist, trifft im Verlauf der Diskussion auf heftigen Widerstand Stephens, dessen Ablehnung indirekt auch Joyces Ablehnung jeder "metaphysical philosophy" formuliert.28 Diese Kontroverse zwischen Stephen Dedalus und George Russel kann auch als Stellungnahme gegen die metaphysische Orientierung der Romankonzeption Manns gelesen werden, da die Position Russels andeutungsweise mit denen von Mann, wie sie im Schopenhauer-Essay vertreten werden, in Einklang zu bringen sind. Wie oben schon dargelegt, sind die Ideen in der Schopenhauers Hierarchie der Künste der Darstellungsgegenstand auch der Dichtkunst, "da der Zweck aller Künste nur einer ist", schreibt der Philosoph, "Darstellung der Ideen, und ihr wesentlicher Unterschied nur darin liegt, welche Stufe der Objektivation des Willens die darzustellende Idee ist, wonach sich wieder das Material der Darstellung bestimmt; so lassen sich auch die voneinander entferntesten Künste durch Vergleichung aneinander erläutern"29.

Nicht nur in dieser Ästhetik auch in den romanästhetischen Überlegungen Manns ist die Vorstellung von der Rolle des Künstlers an die Auffassung vom metaphysischen Gehalt von Kunst gekoppelt. Nach Schopenhauer ist der Künstler das "ewige Weltauge", das die chaogene Vielfalt der raum-zeitlichen Vorstellungswelt auf die dahinterliegenden, ewigen und unwandelbaren Ideen transparent macht. Auch Manns erzähl theoretische Stellungnahmen ordnen der Umdeutung der Künstler-Figur als "Hermes", "Magier" oder "Mittler" zwischen der Welt der Vorstellung und der des Willens eine vergleichbare erkenntnistheoretisch bedeutsame Rolle zu. Der Künstler genießt das Privileg, neben dem Philosophen, der reinen Ideenanschauung, er vermittelt zwischen unterer und oberer Sphäre. Auch der Bibliothekar George Russell knüpft die vermittelnde Funktion des Künstlers an die darstellungsästhetische Auffassung, wonach "Plato's world of ideas" der Gegenstand von Kunst sei:

"Since the flesh and blood with which the artist may clothe his ideas are less real, they are inferior, not necessary, and therefore irrelevant to his main concerns. The aim of art is to bring the mind of the reader also into communication with the world of ideas, and this is done by a direct revelation of that world. The artist is only a medium, a middleman trough whom the minds of other men may reach the world of Forms." 30

Stephens Einwände gegen Russells Platonismus richten die Erkenntnistätigkeit der Kunst nicht auf die metaphysische, sondern auf die empirische Welt.31 Stephens Angriff auf die Ideenlehre Platos und die Aufforderung: "Hold to the now, the here, through which all future plunges to the past"32 erinnert an die Ausrichtung des Erkenntnisinteresses von Kunst und Künstler auf die empirische Welt in dem Essay Drama and Life: "Life we must accept as we see it before our eyes, men and women as we meet them in the real world, not as we apprehend them in the world of faery". 33 Der Darstellungsgegenstand des Romans ist nicht "Plato's world of ideas", das Erkenntnisinteresse von Kunst richtet sich, im Gegensatz zur mystischen Komponente der Wirklichkeitskonzeption des Zauberbergs, nicht auf die "world of forms", sondern auf die "Epiphanien" gerichtet. Sie werden in der Ästhetik Stephens zu einem "operativen Moment der Kunst": sie begründen nicht nur einen Modus, das Leben zu erfahren, sondern auch eine Anleitung, das Leben künstlerisch zu "gestalten"34.

Der Epiphanisierungsprozess, die ästhetische Wahrnehmung eines Objekts und die sprachliche Formulierung und künstlerische Gestaltung des Wahrgenommenen ist an dieser Stelle insofern von Bedeutung, als dieses Konzept gerade den 'antimetaphysisehen Aspekt der "Oxen"-Episode unterstreicht.35 Die Hauptthemen der Kunstauffassung Stephens, das Verhältnis Fiktion Wirklichkeit, die Autonomie des Kunstwerks, die perspektivische Brechung des Dargestellten und seine Abhängigkeit von einem individuellen Beobachterstandpunkt sind an das Epiphanie-Theorem geknüpft. Die Analyse der verschiedenen Stadien des Epiphanisierungsprozesses zeigt die Differenz zur metaphysischen Konzeption des Zauberbergs. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht nicht die mystische Erfahrung der metaphysischen Willenswahrheit, die rauschhafte Vereinigung mit dem kosmischen Ganzen, sondern Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeiten des Erkennens36 der außerliterarischen Realität.

Das Epiphanie-Konzept thematisiert das Wahrnehmungsverhältnis zwischen einem betrachtenden Subjekt und dem angeschauten Objekt und dessen Wirkung auf den künstlerischen Schöpfungsakt. Während im Stephen Hero Epiphanie lediglich einen Modus der Welterfahrung darstellt, die Realität vertraut dem "Ästheten mit einem Wink der Komplizenschaft ihre Geheimnisse"37 an, ist mit Blick auf die Novellensammlung Dubliners schon eine merkliche Ausdehnung der Konzeption festzustellen.

Über die Bedeutung als "sudden spirituel manifestation" hinaus gilt sie als "Schlüsselmoment" einer bestimmten Situation, die erzählerisch der Aufdeckung der Leere und der Sinnlosigkeit des Daseins dient. Über die thematisch-inhaltliche Schwerpunktbildung hinaus wird das Epiphanie- Konzept, jener subjektive Modus des Wirklichkeitserkennens, im Portrait und später im Ulysses zum auslösenden Moment des künstlerischen Schöpfungsaktes selbst: der Künstler wird zum "priest of eternal imagination, transmuting the daily bread of experience into the radient body of everliving life", Parallelen 38 ergeben sich zwischen "artist" und "god of creation"38. Die Erzählung modelliert strukturell ein intellektuell und emotiv erfahrenes Erlebnismoment aus dem Erfahrungshorizont des Künstlers. Die "Erzählform, die gleichzeitig zum enthüllenden Bild einer Situation wird, ist, um die Kategorie des Stephen Dedalus zu gebrauchen, eine Form von Epiphanie. Doch ist sie ... keine Epiphanie-Vision, sie ist vielmehr die klare Konsistenz einer Epiphanie-Struktur."39

Vergegenwärtigt man sich die Entwicklung des Konzepts vom Stephen Hero bis zur strukturrelevanten Größe der Epiphanie, dann scheint es nicht ausgeschlossen, die Segment Struktur des narrativen Zusammenhangs der "Oxen"-Episode auf die "sudden spiritual manifestation" zurückzuführen, deren visionäre Einsichten in die Dinge ihre Struktur modelliert. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang zwei Motive - das Parallaxe - und das Metempsychose- Motiv -, die implizit die Darstellungsabsichten der alinearen Segment Struktur der Episode kommentieren und so auch Hinweise auf die der Struktur zugrunde liegende epiphanische Erfahrung geben.

Parallaxe ist ein Terminus aus der Astronomie - etym. griech. "paraillaxis", das "Hin- und Herbewegen"40 - und bezeichnet dort den Winkel zwischen den Sehstrahlen von zwei Beobachtungsorten aus zum selben Objekt, beobachtbar als scheinbare Verschiebung des Objekts vor dem Hintergrund. Bei nahen Gegenständen ist eine parallaktische Verschiebung schon bei Wechselweisem Sehen mit beiden Augen feststellbar, etwa der Daumensprung. Wesentlich für das Phänomen der parallaktischen Verschiebung ist, dass das beobachtete Objekt, trotz optisch wahrnehmbarer Veränderungen, dasselbe bleibt, lediglich der Beobachter Standpunkt hat sich geändert. Dass verschiedene Beobachter verschiedene Phänomene sehen, ist ein Prinzip, das Joyce durch das Parallaxe-Motiv namentlich in den Roman aufgenommen hat. Das Wort wird siebenmal erwähnt.41

Es deutet hin auf die Mehrdeutigkeit der standortbezogenen Wahrnehmung. Eine dunkle Vorstellung von der parallaktischen Verschiebung des Objekts durch variierende Beobachterstandpunkte taucht im Assoziationshorizont Blooms zum ersten Mal in der "Laestrygonians"-Episode auf. Sie wird ausgelöst von der Uhr auf dem "Ballast Office", der Aufsichtsbehörde des Dubliner Hafens. Die Uhr auf dem Gebäude gibt zwei Zeiten an: "Dunsink time"42 und "Greenwich time":

"Mr Bloom moved forward raising his troubled eyes. Think no more about that. After one. Timeball on the ballast office is down. Dunsink time. Fascinating little book that is of sir Robert Ball's. Parallax. I never exactly understood. There's a priest. Could ask him. Par it's Greek: parallel, parallax. Met him pikehoses she called it till I told her about the transmigration. 0 rocks!"43

Weder der an Bloom vorbeigehende katholische Priester, der aufgrund seiner Kenntnisse der griechischen Sprache die etymologischen Hintergründe des Wortes Parallaxe klären könnte, noch die Erinnerungsversuche an das Buch des irischen Astronomen Sir Robert Ball können dem Betrachter der Uhr die Bedeutung des rätselhaften Wortes erhellen. Die 25minütige Zeitverschiebung, die die öffentliche Uhr auf dem Ballast Office angibt, ist selbst das Ergebnis einer parallaktischen Verschiebung des betrachteten Objekts - der Sonne -, hervorgerufen durch die verschiedenen zeitmessenden Standorte Dunsink Observatorium einerseits und Greenwich andererseits. Astronomisch korrekt ergänzt Kenner zu diesem Punkt: "astrohomers in those two places observe the sun from stations separated by 6 1/4° of longitude, this is, precisely and technically, parallax." 44

Während die doppelte Zeitrechnung und Parallaxe für Bloom ein unaufgeklärtes Rätsel bleiben, gibt der Blick auf die Uhr Stephen Dedalus im Stephen Hero im Moment des epiphanischen Erlebens Aufschluss über die Standortabhängigkeit des Beobachtungsvorgangs. Die Mehrdeutigkeit der Phänomene ist keine Eigenschaft des Dinges an sich, sondern eine Bedingung des Rezeptionsvorgangs selbst. Im Anschluss an die Textstelle, wo der jugendliche Künstler das epiphanische Erleben als "sudden spiritual manifestation" definiert, exemplifiziert Stephen die Phasen jenes Augenblicks tiefer Einsicht in die Zusammenhänge seiner empirischen Wirklichkeit anhand des Beispiels der Uhr auf dem Ballast Office:

He told Cranly that the clock of the Ballast Office was capable of an epiphany. Cranly questioned the inscrutable dial of the Ballast Office with his no less inscrutable countenance. - Yes, said Stephen. I will pass it time after time, allude to it, refer to it, catch a glimpse of it. It is only an item in the catalogue of Dublin's street furniture. Then all at once I see it and I know at once what it is: epiphany . - What? - Imagine my glimpses at that clock as the gropings of a spiritual eye which seeks to adjust its vision to an exact focus. The moment the focus is reached the object is epiphanised. It is just in this epiphany that I find the third, the supreme quality of beauty." 45

Andeutungen über die Einsicht in die "Seele" des analysierten Objekts, der Uhr mit der doppelten Zeitrechnung, finden sich in der folgenden Aufzählung von Beispielen, die die Mehrdeutigkeit des Wahrnehmungsvorganges selbst thematisieren: "Greek beauty laughs at Coptic beauty and the American Indian derides them both ... The apprehensive faculty must be scrutinised in action."

Die parallaktische Verschiebung des Erzählgegenstands vor dem Hintergrund wechselnder literarischer Bezüge rückt dabei in "Oxen" vermehrt Fragen nach dem Verstehen 1iterarischer Texte ins Zentrum als die erzähl erisehe Präsentation einer traditionellen Geschichte. Als Kommentar zur ewigen Wiedergeburt Leopold Blooms in den unterschiedlichen fiktiven Gestalten wechselnder intertextueller Bezüge heißt es: "Parallax stalks behind and goats them".46 Während Metempsychose den objektiven Zusammenhang des Identischen im Vielförmigen meint, beschreibt Parallaxe die Wirkung des Gestaltwandels auf das rezipierende Bewusstsein: "'parallax’ - seen from different spots, G e s t a l t s alter" 47, oder "'parallax', the key principles of stereoscopic vision based on at least two different reports"48.

Die wechselnden Stilparodien treiben die Seele des Dubliners durch die "Gestalts" der wechselnden Romanhelden der zweitausend- jährigen literarischen Tradition. Das Motiv signalisiert dem rezipierenden Bewusstsein, dass beispielsweise die Figur Blooms an sich nicht existiert, sie gewinnt ihre heterogenen, komplementären Konturen nur im Auflösungsprozess der wechselnden Stilparodien. Die charakterologische Unbestimmtheit des Protagonisten oder die ethisch-moralische Unbestimmtheit der thematischen Schwerpunkte Sexualität, Geburt, Fruchtbarkeit u. ä. stehen im Zentrum des Darstel1ungsinteresses der "Oxen"-Episodé. "Oxen" modelliert strukturell die epiphanische Erfahrung Stephens, die sich auf der Ebene der Heldenpsychologie im Stephen Hero schon andeutet: der Erkenntnisvorgang vermag, aufgrund der eingeschränkten, standortgebundenen Wahrnehmungsfähigkeit des Beobachters, den zu analysierenden Gegenstand nie vollkommen zu bestimmen.49

Die in erkenntnistheoretischer Hinsicht relevante Umdeutung, die die "Oxen"-Episode vornimmt, geht dahin, dass der Fiktionalisierungsprozess des epischen Kunstwerkes den dargestellten Gegenstand nie vollständig zu beschreiben vermag. Jedes Erzählsegment, jede Stilvariation aktualisiert eine Facette der dargestellten Wirklichkeit, deren Mehrdeutigkeit mit der steigenden Intensität des Segmentierungsvorgangs wächst. Die perspektivische Abhängigkeit des Wahrnehmungs- und des Fiktionalisierungsvorgangs hat Joyce auch in erzähltheoretischer Hinsicht zum Fundament des Gesamtromans gemacht: "Each adventure (that is, every hour, every organ, every art being interconnected and interrelated in the structural scheme of the whole) should not only condition but even create its own technique. Each adventure is so to say one person although it is composed of persons."50

Die Thematisierung des Vermittlungs- oder Beobachtungsvorgangs im Erzähl verfahren der "Oxen"-Episode hat Broch dazu bewogen, die Ulysses -Welt mit dem relativistischen Universum Einsteins zu vergleichen: "Immer schwingt bei ihm (Joyce) die Erkenntnis mit, dass man das Objekt nicht einfach in den Beobachtungskegel stellen und einfach beschreiben dürfe, sondern daß das Darstellungssubjekt, also der 'Erzähler als Idee' und nicht minder die Sprache, mit der er das Darstellungsobjekt beschreibt, als Darstellungsmedium hineingehören ... Das Werk soll selber aus der Beobachtung entstehen, der Beobachter ist immer mitten drin, er stellt dar und stellt sich und seine Arbeit gleichzeitig mit ihr da."51

Wir werden sehen, dass Julio Cortázar diese erkenntnistheoretische Problematik des Verhältnisses Fiktion - Realität in den immanent poetologischen Reflexionen Rayuelas erneut aufgreift, und durch explizite Anspielungen auf die epistemologische Situation in der modernen Physik die Bedeutung naturwissenschaftlicher Denkmodelle für die Wirklichkeitskonzeption des modernen Erzählens erneut unterstreicht. Die Unbestimmtheit des Erzählgegenstands ist in der "Oxen"-Episode und in Rayuela das Ergebnis des Wahrnehmungs- und damit auch des Fiktionalisierungsvorgangs moderner Erzählkunst.

Trotz dieser Übereinstimmung gehen doch die Begründungen, die die Poetiken beider Erzähltexte nahelegen, in ganz unterschiedliche Richtungen. Die formalen Experimente, zu erinnern ist hier an die von der Schopenhauer-Lektüre angeregte Literarisierung der Wagnerschen Leitmotivik, zielten dahin, die zeitlose metaphysische Willens-Wahrheit auch strukturell mit den Mitteln des epischen Kunstwerks zur Darstellung zu bringen. Nicht nur die Einflüsse Wagners und Schopenhauers, auch die vermittelnde Funktion Nietzsches und die partielle Umdeutung des Zauberberg als “Werk der Kontrapunktik “, “als Symphonie", eben als musikalisches Kunstwerk, in dem sich nach der Schopenhauerschen Ästhetik der Wille am reinsten manifestiere, zeigt andeutungsweise die metaphysische Überfrachtung des Literaturbegriffs von Thomas Mann.

Wie Manns Bestimmung der Rolle des Künstlers als “Mittler" zwischen der unteren und der oberen Sphäre, zwischen der Welt als Vorstellung und als Wille, schon andeutet, verwandelt sich auch Manns Erzählliteratur zu einem Medium der Einführung, der "I nitiation" in eine metaphysische Welt; eine Aufgabe, die ihren Status als autonome Kunstdisziplin zumindest in Frage stellt.

Im Gegensatz dazu deuten Stephens Diskussionen mit George Russell in der Bibliotheksszene der Episode "Scylla and Charybdis “ an, dass Joyces romanästhetische Reflexionen "Plato's world of ideas" als Darstellungsgegenstand ausdrücklich ablehnen. Als Ursprung des literarischen Schöpfungsprozesses garantiert es den antimetaphysischen Charakter auch der "Oxen"-Episode, die nicht im Dienst einer philosophischen Weltanschauung steht. Die ästhetische Erfahrung, die die "Epiphanie-Struktur" der "Oxen"-Episode erzählerisch modelliert, berührt direkt das Verhältnis Fiktion-Wirklichkeit. Die Einsicht, dass der Erkenntnisvorgang aufgrund der eingeschränkten, standortgebundenen Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters den zu analysierenden Gegenstand nie vollkommen zu bestimmen vermag, hatte direkte Auswirkungen auf die Segmentstruktur der Episode, deren stilistisch markierte Einzelfacetten immer nur Teilaspekte des Erzählgegenstands aktualisieren.

Die erzählerisch umgesetzte Lehre aus dem Moment epiphanischen Erlebens vor der Uhr des Ballast Office, wonach die Wirklichkeit zu komplex ist, als daß ein "transzendenter Standpunkt" eine vereinheitlichende Perspektive zuließe, bestimmt auch den autonomen Status des Literaturbegriffs, der der "Oxen"-Episode scheinbar zugrunde liegt: "Aufgabe der Kunst", unterstreicht Eco mit Blick auf den Ulysses von Joyce, "ist es weniger, die Welt zu erkennen , als Komplemente von ihr hervorzubringen, autonome Formen, die zu den schon existierenden hinzukommen und eigene Gesetze und persönliches Leben offenbaren. Gleichwohl kann jede künstlerische Form mit höchstem Recht wenn nicht als Surrogat der wissenschaftlichen Erkenntnis, so doch als epistemologische Metapher angesehen werden: das will heißen, daß in jeder Epoche die Art, in der die Kunstformen sich strukturieren - durch Ähnlichkeit, Verwandlung in Metaphern, kurz Umwandlungen des Begriffs in Gestalt -, die Art, wie die Wissenschaft oder überhaupt die Kultur dieser Epoche die Realität, widerspiegelt."52

Entsprechungen zu modernen naturwissenschaftlichen Denkmodellen, auf die oben schon hingewiesen worden ist, zeigen, dass die Struktur der "Oxen"-Episode in der Lage ist, "die Art, ... wie die Kultur dieser Epoche die Realität sieht", zu thematisieren. Dass dennoch der autonome, nicht mimetische Status dieser Kunst nicht gefährdet ist, zeigen eine ganze Reihe poetischer Bilder, mythologische und alttestamentarische Anspielungen, die im Umkreis der theoretischen Reflexionen der "Oxen"-Episode auf die Selbstbezogenheit des Schöpfungsaktes Kunst hindeutet. Sie bringt "Komplemente" der Welt hervor.53

Diese Bilder thematisieren dabei nicht nur die Genese des Kunstwerks, sondern auch die Beziehung des Künstlers zu seinem sozialen Kontext und das Verhältnis zum eigenen Werk. Gerade die "Oxen"-Episode, in deren thematischem Zentrum Punkte wie Geburt, Zeugung, Sexualität stehen, unterstreicht schon durch die Entsprechung biologischer und künstlerischer Entstehungs- und Schaffensprozesse die Komplexität der Kunst. Die vom Zauberberg zur "Oxen"-Episode zu beobachtende Tendenz zur wachsenden Autoref1exivitat des epischen Kunstwerks manifestiert sich in der Umdeutung der Funktion des Künstlers als “Mittler" zwischen der Welt als Vorstellung und als Wille zur autonomen Bedeutung als "S chöpfer".54

You have spoken of the past and its phantoms, Stephen said. Why think of them? If I call them into life across the waters of Lethe will not the poor ghosts troop to my call? Who supposes it? I, Bous Stephanoumenos, bullock befriending bard, am lord and giver of their life." 55

Die gehäuften Anspielungen auf das Rinder-Motiv in der Namensmischung Stephens stehen naturgemäß in direktem Zusammenhang zur Episode von den Rindern des Sonnengottes Helios. Sie sind unfruchtbar, aber unsterblich, sie werden frevelnderweise geopfert, von den Göttern aber wieder zu neuem Leben erweckt. Das Portrait ergänzt noch "Bous Stephaneforos" : "the ox, or bull, garland-bearer for sacrifice"56 Was die Bedeutung des Rinder- Motivs für unseren Zusammenhang noch erweitert, - "bullockbefriended bard" -.ist die aus dem Portrait bekannte Anspielung auf Thomas von Aquin .57

Die heterogenen thematischen Elemente des Rinder-Motivs sind Unfruchtbarkeit, Ewigkeit, Opfertod, andeutungsweise Anspielungen auf das an der scholastischen Tradition orientierte Epiphanie-Konzept58 und Elemente des Auferstehungsmythos. Damit sind mit Blick auf die Gestalt Stephens die soziale Problematik des Künstlers angesprochen,59 das psychologische Element des Selbstzweifels und die in erkenntnistheoretischer und ästhetischer Sicht bedeutsame Rolle des epiphanischen Erlebens; Bereiche, die die selbstbezogene Qualität der Kunst- bzw. Schöpferproblematik thematisieren. Auch in struktureller Hinsicht ergeben sich aus dieser auf allen Ebenen der Kunst- und Künstlerproblematik zu beobachtende Tendenz zu wachsender Selbstbezogenheit und Autonomie neue Möglichkeiten formaler Gestaltung. Mehr noch als die Polysemie des "Maria Mancini"-Motivs , mehr noch als die Mehrfachanschließbarkeit einzelner Motive an die unterschiedlichen Themaebenen des Zauberbergs dringen die alinearen Textschemata der "Oxen"-Episode über die semantische Ebene hinaus in sämtliche Textebenen vor. Die artistische Konstruiertheit der "Oxen"-Episode ist nur ein Unterschied zur Poetik des Zauberbergs. Unterschiedliche Auffassungen zum Verhältnis Fiktion-Wirklichkeit ein weiterer mit direktem Einfluss auf das Offenheitstheorem. Die wachsende Tendenz zur Autoreflexivität hat Auswirkungen auch auf die Komplexität der strukturellen Beschaffenheit "Oxens".

3.3 Mythologische Bezugsrahmen

In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst auf die Bedeutung der mythischen Vorlage und des Mythos allgemein mit Blick auf die beiden Vergleichstexte eingehen. Die in erkenntnistheoretischer Hinsicht bedeutsamen unterschiedlichen Auffassungen zur Frage nach dem adäquaten Darstellungsgegenstand des epischen Kunstwerks - "Plato's world of ideas" einerseits und die Thematisierung des standortabhängigen Wahrnehmungsvorgangs andererseits - prägen auch die unterschiedlichen Positionen beider Vergleichstexte zum Mythos. In vielen Äußerungen Manns zum Thema Mythos wird eine Art platonisierende Interpretation der mythischen Welt deutlich, sie dient als Leitidee, aus deren Perspektive die historische Gegenwart der Moderne lediglich Abbildcharakter gewinnt. Diese Auffassung vom Bild-Abbild-Verhältnis ist deshalb so dominant, weil andere geisteswissenschaftliche Bereiche in den Augen Manns bestätigend wirkten: zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an das metaphysische Argument von der stufenweisen Objektivation des Willens in der Erscheinungsvielfalt der Vorstellungswelt und an Manns Stellungnahmen zur Freudschen Psychologie. Thomas Mann dachte bei dieser Deutung des Mythos als "Formel und Wiederholung"60, als "Wandel in tief ausgetretenen Spuren" an die Josephs-Romane, auf die inhaltlich-strukturelle Bedeutung der mythischen Kreisstruktur für den Zauberberg ist oben hingewiesen worden.

Im Gegensatz zu Manns Analogiegedanken von der Kontinuität, Parallelität und Deckungsgleichheit zwischen Mythos und Moderne scheint die "Oxen"-Episode nuancierter auf Besonderheiten der Joyce Auffassungen zur Art und Weise der Vermittlung von Gegenwart und archaischer Vergangenheit aufmerksam zu machen.61

Während Manns Ausführungen zu diesem Thema den Eindruck erwecken könnten, als ob der Argumentation Kenntnisse darüber zugrunde liegen, wie die mythische Wirklichkeit tatsächlich aussah, verschweigen sie doch eher, dass ihre Stellungnahmen Interpretationen sind, die rückblickend aus der historischen Distanz vom Standpunkt der Moderne aus vorgenommen werden. Mit Blick auf die "Oxen"-Episode scheint Joyce gerade das Moment der rückblickenden Interpretation des Mythos zum Grundaspekt des Vermittlungsvorgangs dieses Erzähltextes zwischen Gegenwart und mythischem Zeitalter zu erheben:

"The companions of Ulysses disobey the commands of Pallas. They slay and flay the oxen of the Sungod and are drowned save the prudent and pious Ulysses. I interpret the killing of the sacred oxen as the crime against fecundity by sterilising the act of coition. And I think my interpretation is 62 as sound as that of any other commentator on Homer." 62

Gemäß den erkenntnistheoretischen Vorgaben des künstlerischen Gestaltungsprozesses, fungiert der Mythos weniger als Formel, in deren Konturen sich die Moderne "zitathaft" wiederholt; in Joyces Mythifikation der erzählten Welt dient der Mythos eher als 'Urtext', dessen individuelle Auslegung und Stellungnahme zu den thematischen Schwerpunkten der "Oxen"-Episode von Bedeutung ist. Auf diese Nuance, die allerdings für "Oxen" wesentlich zu sein scheint, hat Iser hingewiesen. Für ihn ist das Verhältnis von homerischer Welt und modernem Alltag weniger als Parallele, "sondern eher als Horizont und Thema" zu verstehen, "wobei der Horizont als virtueller Standpunkt für die Erfassung des Themas gedacht ist"63.

Die Anspielungen auf die Schlachtung der heiligen Herden des Helios dient als Standort, von dem aus betrachtet der epische Darstellungsgegenstand sich in Richtung auf eine mythische Auslegung des Themas parallaktisch verschiebt. Der Mythos tritt damit als zusätzlicher Standpunkt, von dem aus die "Oxen"-Thematik wahrgenommen wird, in den Horizont der intertextuellen Verweiszusammenhänge ein, die die thematischen Elemente Sexualität, Fruchtbarkeit, Geburt und Zeugung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Die Vorstellung von der parallaktischen Verschiebung des Erzählgegenstands vor dem Horizont wechselnder intertextueller Anspielungen kommentiert auch das Metempsychose-Motiv, das in "Oxen" mit dem Parallaxe-Motiv verknüpft ist.

Die Episode erzählt keine Geschichte, sondern variiert ein Thema. In jedem Erzählsegment tauchen, in Entsprechung zum literarhistorischen Kontext der jeweiligen Text-Text-Beziehung, dieselben Figuren auf, wodurch der Eindruck von der ewigen Wiederkehr des Gleichen entsteht: "Styles were like incarnations; in 'Oxen of the Sun' we saw the dramatis personae reborn paragraph after paragraph as shifted decorums moved them down the centu6 3 ries: 1500 years without ageing".

Joyces "Myth of Eternal Return" reproduziert nicht, er variiert. Betrachtet man das Metempsychose-Motiv genauer, dann wird deutlich, dass das wirkungsästhetische Moment der parallaktischen Verschiebung darin mitgedacht ist. Die Stimme des Erzählers verdeutlicht das Motiv anhand der Gestalt Blooms: "What is the age of the soul of man? As she hath the virtue of the chameleon to change her hue at every new approach, to be gay with the merry and mournful with the downcast, so too is her age changeable as her mood. No longer is Leopold, as he sits there, ruminating, chewing the cud of reminiscence, that staid agent of publicity and holder of a modest substance in the funds." Blooms 'Seele' erinnert sich wie in einem "retrospective arrangement". Seine jetzige Inkarnation, die des seriösen Werbeagenten und Inhabers eines kleinen Päckchens Obligationen, wird durch Metempyschose zum "mirror within a mirror", in dem sich die Vielzahl seiner früheren Identitäten bricht: die des mythischen Heimkehrers von Troja, des Ritters der Höfischen Dichtung, die der Protagonisten des sentimentalen Romans, der allegorischen Dichtung u. a. Dass Metempsychose dabei kein Kopierverfahren darstellt, das ahistorisch Identitäten reproduziert, liegt, um im Bild zu bleiben, an der Oberfläche des Spiegels: "the mirror is breathed on", die 'Zeit' atmet auf den Spiegel und verzerrt die widergespiegelten Konturen Blooms. Hinter den zyklischen Erscheinungen, den Inkarnationen Blooms, taucht etwas anderes auf, das als die eigentliche Ursache der nuancierten Abweichungen im wechselnden Erscheinungsbild anzusehen ist: "Parallax stalks behind".64

Dieser Abweichung von der Vorstellung vom Wiederholungscharakter der Geschichte liegt die Auffassung zugrunde, daß Blooms Dubliner Existenz wohl kaum mit einer ihrer historischen Manifestationsformen je vollkommen übereinstimmt; auch nicht mit der des mythischen Kämpfers vor Troja. Die "soul of man" scheint demgegenüber ein bloßes Potential darzustellen, das in unterschiedlichen historischen Kontexten unterschiedlich aktualisiert wird. So unterstreichen sowohl Metempsychose als auch Parallaxe, die Standortbezogenheit des Wahrnehmungsvorgangs, der die Unbestimmtheit des Erzählgegenstands eher entfaltet als er sie einschränkt. Mit jeder Situierung in einem anderen historischen Kontext addiert dieses Kapitel eine Reihe komplementärer Bedeutungsaspekte zu einem Ganzen, die die zu charakterisierende Figur und die thematischen Schwerpunkte "Oxens" letztlich unbestimmt lässt: die unterschiedlichen Text-Text-Relationen charakterisieren Bloom als Ritter, Wanderer, Reisender, als Held des sentimentalen Romans von Sterne65 und im Stil neuerer Soziolekte als "Johnny in the black duds", eine Anspielung auf Blooms schwarzen Anzug. Jede Text-Text-Anspielung dient als möglicher Standpunkt, von dem aus gesehen sich der Darstellungsgegenstand gemäß den implizit mitgedachten 1iterarhistörisehen Wertvorstellungen umdeutet.

[...]


1 In einem Brief an Carlo Linati umreißt Joyce den Erzählgegenstand des Ulysses: "It is an epic of two races (Isrealite Irish)… and at the same time the cycle of the human body as well as a little story of a day (life) ... It is also a sort of encyclopaedia. My intention is to transpose the myth sub specie temporis nostri." Letters I, 143.

2 Ebd., 138f.

3 Vgl. hierzu den Strukturplan, den Joyce vom 14. Kapitel des Ulysses erstellte. Er gibt einen Eindruck von den thematischen Verf1echtungen der "Oxen"-Episode. Vgl. Ellmann, Ulysses on the Liffey, 180.

4 Kenner, Dublin's Joyce, 19.

5 Letters I, 139.

6 Ulysses, 382.

7 Atherton, "'Oxen of the Sun'", James Joyce's 'Ulysses', 316.

8 Goldberg, The Classical Temper, 287.

9 Broch, Briefe 1929-1951, 317.

10 Ellmann, Ulysses on the Liffey, 180.

11 Maître, Thomas Mann. Aspekte der Kulturkritik in seiner Essayistik, 117.

12 Mann, Entstehung des Doktor Faustus, XI, 281.

13 Maître, Thomas Mann, 116.

14 Vgl. zu diesem kulturkritischen Aspekt der Kunst Manns auch: Nüdel, Die Kunsttheorie Thomas Manns, 17ff.

15 Joyces Frühwerk, etwa der Gedichtband Poems Penyeach und der Jugendroman A Portrait of the Artist as a Young Man zeigen noch typologische Ähnlichkeiten, die Andersens Speku1ationen berechtigt erscheinen lassen, wonach Joyce die Künstlernovelle Tonio Kröger gelesen hat: analoge thematische Elemente wie der Freundschaftsbruch zwischen Dedalus und Cranly einerseits und Tonio Kröger und Hansen andererseits und vergleichbare sprachliche Wendungen in dem Gedicht "Tilly" legen die Vermutung nahe, dass es zwischen dem jungen Joyce und dem Frühwerk Manns zu einem aktiven genetischen Kontakt gekommen ist, der Einfluss auch auf den eigenen Literaturprozess gehabt hatte. Vgl. Anderson, "James Joyce's 'Tilly'", PMLA, 73 (1958), 285-298, Vgl. zu diesem Thema auch J. Mitchell Morse, "The Artist as Savior", Modern Fiction Studies, 5 (1959), 103-107. Der Autor konzentriert sich im wesentlichen auf psychotypologische und soziotypologische Äquivalenzen zwischen den beiden Künstlerfiguren Stephen Dedalus und Tonio Kröger. Die Auffassung von der unmittelbaren Materialbeziehung zwischen dem jungen Joyce und dem Frühwerk Manns unterstreicht der Autor auch in dem Aufsatz "Joyce and the early Thomas Mann", Revue de Littérature Comparée, 36 (1962), 377-382. Spätere Reaktionen scheinen zu belegen, dass sich Joyces Interesse punktuell auf die frühen Novellen, auch Tod in Venedig, konzentrierte. Als Jacques Mercanton an den Autor im Exil mit der Bitte herantritt, in der Zeitschrift Maß und Wert eine politische Stellungnahme gegen das faschistische Regime in Deutschland abzugeben, lehnt Joyce ab. Die Begründung für diese Entscheidung war, dass die 'Verbreitung' des Romans Finnegans Wake in Deutschland nicht durch unbedachte politische Äußerungen gefährdet werden sollte. Zudem hat sich Joyce zu strikter politischer Neutralität entschieden, weshalb die Zeitschrift Maß und Wert als Publikationsorgan ausschied, da Mann Jahre zuvor semi-nazistische Haltung in dieser Zeitschrift niedergelegt hatte. Schon deshalb galt sie für Joyce als "politisch ausgerichtet". Vgl. Ellmann, James Joyce, 675. Hinzu kam, dass Joyce wohl nicht mit dem Regime in Deutschland sympathisierte, gegenüber Samuel Beckett allerdings offen sein Interesse für das "Phänomen" Hitler bekundete. Ebd.

16 Zit. nach Egri, "A Survey of Criticism on the Relation of James Joyce and Thomas Mann", Hungarian Studies in English, 2 ( 1965), 105-120, hier bes. 106. vgl. hierzu auch Tindall, A Reader's Guide to James Joyce, 280, der weitere intertextuelle Bezüge aufdeckt.

17 Die zyklisch wiederkehrende, lebensbejahende Formel "Yes" gewinnt gerade durch ihre Platzierung am Romanende im Molly-Monolog eine in thematischer Hinsicht fast programmatische Funktion für den Gesamtroman: "... I put the rose in my hair like the Andalusian girls used or shall I wear a red yes and how he kissed me under the Moorish wall and I thought well as well him as another and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he asked me would I yes to say yes my mountain flower and first I put my arms a round him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perTume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I "will Yes" (meine Hervorhebungen) Vgl. Ulysses, 704. Auch Gilbert hebt die Bedeutung der Molly-Figur für den Gesamtroman hervor: "Thus we find that Molly Bloom acts as a paradigm or Massstab of all characters (or nearly all) in Ulysses". Vgl“ Gilbert, James Joyce's 'Ulysses'", 388.

18 Mit Blick auf Joyce taucht Manns Name zum vielleicht ersten Mal 1927 auf, als sich der Autor des Zauberbergs dem internationalen Protest gegen die Verbreitung eines Raubdrucks des Ulysses in den Vereinigten Staaten anschließt. Vgl. hierzu den Appendix A" der Bodley Head-Ausgabe des Ulysses, 1955, 745, der alle Namen verzeichnet, die sich dem "International Protest against the unauthorised and mutilated Edition of Ulysses in the U.S.A." anschließen. Die Tatsache, dass sich Mann diesem Protest anschließt, spricht mehr für seinen Willen zur internationalen Solidarität gegen ein kopierrechtliches Vergehen als für die direkte Auseinandersetzung mit Joyces Roman.

19 Briefe II, 382.

20 Schirokauer, "Bedeutungswandel des Romans", Maß und Wert, 3 (1940), H. 5/6, 675-90. Die vergleichende Studie des Autors zwischen dem Ulysses und Lotte in Weimar hatte für den Joyce- Rezipient Mann etwas "Packendes". Vgl. Briefe II, 140. Mann stimmt leidenschaftlich zu. Er erwähnt die Lektüre von Levins Einführung in einem Brief erneut an Agnes E. Meyer: "Gerade bekam ich ein Buch über Joyce (von Harry Levin, New Directions Books), worin vergleichend viel von mir die Rede ist." Vgl. Briefe II, 239. Ausführlichere Erwähnung findet Levins Bruch im Essay Die Entstehung des Doktor Faustus, XI, 205. Auch in diesem Fall stimmt Mann Levins literaturkritischen und theoretischen Stellungnahmen leidenschaftlich zu. Von Bedeutung für diesen Vermitt1ungsvorgang sind auch Campells und Robinsons Einführung, von der oben schon die Rede war, und Jacques Mercantons, Poètes de l'Univers. Paris 1947; ein Werk, das die literarische Beziehung zwischen Rilke und Valéry ebenso berücksichtigt wie gewisse gattungstypologische Aspekte des Ulysses und des Zauberbergs. Mercanton widmet Mann neben Joyce ein eigenes Kapitel.

21 Palencia-Roths Studien im Thomas Mann-Archiv ergaben, dass in Manns privatem Exemplar von Mercantons Buch lediglich die Seiten des Vorworts und die des Kapitels von Poètes de l'Univers zum eigenen Werk aufgeschnitten waren. Mann ging es um die Selbsteinschätzung des eigenen Werkes im gattungsgeschichtlichen Kontext der modernen Literatur. Palencia-Roths Einschätzung dieses Mangels an direktem Interesse für das Joyce- Kapitel Mercantons scheint in dieser Radikalität die Eigenart des Verhältnisses Mann-Joyce nicht zu treffen: "Much of Manns so-called relationship to James Joyce would seem to be an invention of the critics". Vgl . Palencia-Roth, "Thomas Mann's Non-relationship to James Joyce", Modern Language Notes, 91 (1976), 574-581, hier bes. 581.

22 Poetes de Univers, 10.

23 Ich zitiere Auszüge dieses unveröffentlichten Briefs von Mann an Mercanton nach Palencia-Roth, "Thomas Mann's Non-relationship to James Joyce", Modern Language Notes, 91 (1976), 579f.

24 Fürst, "Thomas Mann's Interest in James Joyce", The Modern Language Review, 64 (1969), 605.

25 Mann, Entstehung des Doktor Faustus, XI, 205. Manns Rezeptionsmodus scheint dabei symptomatisch für die anfängliche Aufnahme des Ulysses im deutschen Sprachraum. Unter der Kapitel Überschrift "The Novel nobody read: 1922-1927" schreibt Breon Mitchell einem von Ezra Pound in der Zeitschrift Der Querschnitt im Jahre 1924 veröffentlichten Artikel "James Joyce ' s Ulysses'" den ausschlaggebenden Impuls zu, der den Roman im Deutschland der 20er Jahre bekannt macht. Vgl. dazu Brean Mitchell, James Joyce and the German Novel 1922-1933, 5-24.

26 Mann, Entstehung des Doktor Faustus, XI, 205.

27 Ulysses, 185. Zu den konkurrierenden Auffassungen und ihren Verankerungen in den Philosophien von Plato und Aristoteles, vgl. Goldberg, The Clasical Temper, 66ff.

28 Eb d ., 62.

29 Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, I, 352.

30 Goldberg, The Classical Temper, 68.

31 Stephens Erwiderung: The schoolmen were schoolboys first, Stephen said superpolitety. Aristotle was once Plato’s schoolboy" auf Russel Schlusssatz seiner metaphysisch orientierten Kunstauffassung, deutet schon darauf hin, dass die ästhetischen Überlegungen des Künstlers der Philosophie von Aristoteles näherstehen als Russels Platonismus. Stephens Erwiderung auf Russel: "Unsheathe your dagger definition. Horseness is the whatness of allhorse" schließt sich dabei der Polemik Antisthenes', auch ein Schüler Platos, gegen die Ideenlehre des Meisters an. Stephens Entgegnung richtet sich gegen ein Beispiel zur Verdeutlichung der Ideenlehre Platos, wonach ein Pferd eine nur unvollkommene Annäherung an die Idee "Pferd" darstelle. Stephen paraphrasiert dabei die Polemik von Antisthenes –gegen Plato. "0 Plato, I see a horse, but I do not see horseness". Vgl. Gifford/Seidman, Notes for Joyce, 161.

32 Ulysses, 186.

33 Joyce, Drama and Life, 45.

34 Eco, Das offene Kunstwerk, 334.

35 Die Joyce-Rezeption hat auf die geistesgeschichtlichen Quellen des Epiphanie-Konzepts hingewiesen. Joyce selbst hat dieses Konzept über die Epiphanie-Definition Stephens im Stephen Hero, wo sich das epiphanische Erleben des Protagonisten ausschließlich auf die Wahrnehmung des Realen konzentriert, um den Aspekt des künstlerischen Schöpfungsvorgangs erweitert. Im Stephen Hero heißt es: "By an epiphany he meant a sudden spi- ritual manifestation, whether in the vulgarity of' speech or of gesture or Tn ä memorable phase of the mind itself." Vgl. Joyce, Stephen Hero, 216. Aufgrund der Entwicklung des Konzepts, das sich von der ursprünglichen Definition als "sudden spiritual manifestation" entfernt, schlägt Aubert mit Blick auf die späteren Romane vor, auf den Begriff ganz zu verzichten. Vgl. "Joyce und Thomas von Aquin. Zur Ästhetik des Polaer Notizbuchs", Materialien zu Joyces Ein Portrait des. Künstlers »als, junger, Mann, 290ff. Im Gegensatz dazu hält Eco auch über Stephen Hero hinaus an dem Begriff fest. Ausschlaggebend sind auffällige Ähnlichkeit zwischen dem Portrait und d'Annunzios Werk, vor allem die Abhängigkeit “von Annunzios Titel "Epifania del Fuoco", der nachweisbaren Einfluss auf das erweiterte Epiphanie-Konzept Joyces ausgeübt hat. Vgl. Eco, "Joyce und d'Annunzio. Die Quelle des Begriffs der Epiphanie", Materialien zu James Joyces 'Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, 279ff.

36 Nach Goldberg weist die Mehrstufigkeit des Epiphanisierungsprozesses Parallelen zur "three-fold analysis of any act of ordinary apprehension" der scholastischen Tradition auf: die drei Stufen dieses Bewusstwerdungsvorgangs, die Thomas von Aquin mit den Begriffen "integritas", "consonantia" und "claritas" beschreibt, übersetzt Stephen mit "wholeness", "harmony" und "radiance". Vgl. Classical Temper, 50. Im Gegensatz zur thomistischen Philosophie weist Eco auf die stärkere Akzentuierung der individuellen Perspektive des betrachtenden Subjekts in den unterschiedlichen Stufen des Epiphanisierungsvorgangs hin: "Ein Objekt enthüllt sich nicht durch seine objektiv nachprüfbare Struktur, sondern allein dadurch, dass es zum Emblem für einen inneren Zustand Stephens wird ... Hier handelt es sich nicht um ein Sichenthülen des Dinges in seiner objektiven Wesenheit (quidditas), sondern um das Sichenthüllen dessen, was das Ding in diesem Augenblick für uns bedeutet: und es ist der Wert, welcher dem Ding in diesem Augenblick zugeschrieben wird, der das Ding tatsächlich macht. " Vgl. Eco, Das offene Kunstwerk, 335f

37 Ebd., 332.

38 Joyce, Portrait, 215.

39 Eco , Das offene Kunstwerk, 351.

40 Vgl. hierzu den Eintrag unter dem Stichwort "Parallaxe" in Meyers Grosses Taschenlexikon in 24 Bänden. Mannheim u. a. 1981, XVI, 261.

41 Vgl. Hanley, Word Index to James Joyce's 'Ulysses'. Madison, Wisconsin 1937T

42 Die astronomischen Berechnungen des Dunsink Observatory waren 1904 maßgebend für die Zeitrechnung in Irland. Gemessen an "Greenwich time" ging "Dunsink time" 25 Minuten nach. Vgl. Gifford/Seidman, Notes on Joyce, 128.

43 Ulysses, 153.

44 Kenner, Ulysses, 75.

45 Joyce, Stephen Hero, 216. Der folgende Hinweis: "Y ou know what Aquinas says' und die Anspielung auf die "third, the supreme quality of beauty" deuten auf Stephens Lektüre von Thomas Schönheitskriterien hin, auf deren Bedeutung für die Definition der Epiphanien Eco schon eingegangen ist. Wir müssen hier unterscheiden. Im Zentrum von Stephens Interesse steht zunächst die Analyse der epiphanischen Erfahrung, ihre Mehrphasigkeit, nicht die Erfahrung selbst. Er beschreibt diese Mehrphasigkeit als dreistufigen Erkenntnisprozess, an dessen Endpunkt das Objekt dem Betrachter sein Geheimnis preisgibt: "we recognise that it is that thing which it is. Its soul, its whatness, leaps to us from the vestment of its appearance. The soul of the commonest object, the structure of which is so adjusted, seems to us radiant. The object achieves its epiphany." Ebd., 218. In diesem Moment der Synthese erstrahlt das zu analysierende Objekt im Moment des epiphanischen Erlebens. Zu den besonderen Zeit-Merkmalen der Epiphanie, vgl. auch: Bohrer, "Utopie des ‘Augenblicks und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur", Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, 180-218.

46 Ulysses, 411 .

47 Kenner, Ulysses, 73.

48 Senn, "Remodeling Homer", Light Rays: James Joyce and Modernism, 75.

49 Die wechselnden literarischen Bezüge charakterisieren Bloom einerseits als "the goodliest guest that ever sat in scholar's hall and that was the meekest man and the kindest that ever laid husbandly hand under hen and that was the very truest knight of the world", andererseits aber auch als "this alien", "this traitor", "a defendor of other", "a censor of Morals, a very pelican in his piety" und ironisch als "this new exponent of morals and healer of ills". Ulysses, 386 und 406. Auf diese Verschiebung der Darstellungsabsicht der Episode weist Marylin French hin: "'Oxen' deals with the relation between reality and the mode of perception". The Book as World, 222.

50 Letters, I, 147

51 Broch, James Joyce, 47f. In diesem Zusammenhang spricht French mit Blick auf den Ulysses von einer "epic of relativity", vgl. The Book as World, Ellmann vom "uncertainty principle", vgl . Ulysses on The Liffey, 17, und Kenner sieht Parallelen zur "Heisenbergian trouble with the evidence", eine Anspielung auf die nicht zu eliminierende Unbestimmtheitsrelation zwischen Beobachter und beobachtetem Objekt, vgl. Kenner, Ulysses, 81. In dem Exkurs "Die Ausprägung des Zeit-Romans in Thomas Manns 'Zauberberg' und James Joyces 'Ulysses'" der Monographie zu Prousts A la recherche du temps perdu geht Hans Robert Jauß auf typologische Unterschiede ein, die für die Poetik beider Erzähltexte von unmittelbarer Bedeutung sind. Im Gegensatz zum Zauberberg, dessen Erzähler von einem "transzendentalen Standpunkt" eine Anspielung auf die metaphysischen Implikationen der vor- und rückdeutenden Leitmotivik - aus den Wiederholungscharakter der erzählten Wirklichkeit simultan aktualisiere, löse die Poetik des Ulysses, Jauß denkt speziell an die Episode "Wandering Rocks" seinen Erzählgegenstand durch mehrfache Brechung der dargestellten Wirklichkeit in den Perspektiven mehrerer Beobachter auf, ohne dass dabei eine übergeordnete Einheit sichtbar werde: "das Nebeneinander der Blickfelder wird nicht durch eine exteriore Klammer der Gleichzeitigkeit zusammengehalten". Die hier angesprochene Zeit-Problematik berührt die erkenntnistheoretische Situation nicht direkt, sie ist aber mitgedacht: "transzendaler Standpunkt" vs. parallaktische Verschiebung des Erzählgegenstands durch wechselnde Beobachtestandpunkte. Vgl. Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts 'A la recherche du temps perdu', 41f.

52 Eco , Das offene Kunstwerk, 46.

53 Einträge in dem oben schon erwähnten Strukturplan der "Oxen"- Episode deuten schon auf ein solches Verhältnis hin: "Ontogeny/Stylogeny", "Gestation (natural )/gestation (artistic)" u. a. Vgl. Gilbert, Ulysses on the Liffey, 180.

54 "Could we hazard", fragt Brennan, "the proposition that Joyce represents the novelist as creator, and Mann the novelist as imitator - and that Mann fs the greater novelist thereby ?" Diese Unterscheidung scheint Joyce sei bstbezogenere Haltung als Romanautor mit zu denken. Vgl. Brennan, "Introduction" zu Three Philosophical Novelists, 9ff.

55 Ulysses, 411f .

56 Stephen Beschäftigung mit Thomas brachte ihm unter seinen Schulkameraden den Namen "dump ox" ein, der auch von historischer Bedeutung ist. Vgl. Gifford/Seidman, Notes on Joyce, 27.

57 Odysseus gab den Schatten der Unterwelt das Blut geopferter Rinder zu trinken, um sie zu neuem Leben zu erwecken. Ebd.

58 Odysseus gab den Schatten der Unterwelt das Blut geopferter Rinder zu trinken, um sie zu neuem Leben zu erwecken. Ebd.

59 Vgl. hierzu den Abschnitt "His women" in Ellmann, "Two Perspectives on Joyce", Light Rays, 7, und Beja"The Joyce of Sex: Sexual Relations in 'Ulysses', Light Rays, 112ff. Auf die androgyne Natur des Künstlertyps geht der Äufsatz von Boyle, "Joyce's Consubstantiality: Woman as Creator", Light Rays, 126, ein.

60 Mann, Freud und die Zukunft, XII, 492. Auch von psychoanalytischer Seite wird die Auffassung Manns bestätigt: Sigmund Freud "wollte, im Licht psychoanalytischer Erfahrungen, die Urgeschichte der Menschheit aufklären, unter den Prämissen, dass aus den prähistorischen Bildungen der individuellen Psyche, wie sie im analytischen Prozess greifbar werden, auch die kollektive Prähistorie zu erschließen sei." Vgl. Rutschky, "Freud und die Mythen", Mythos und Moderne, 227. Auch nach Claude Lévi-Strauss ist der Mythos als ''kodifizierter kollektiver Traum" zu verstehen. Vgl. Hüppauf, "Mythisches Denken und Krisen der deutschen Literatur und Gesellschaft", Mythos und Moderne, 517. Eine umfassendere Darstellung der mythologischen Anspielung bietet. Sandt, Mythos und Symbolik im 'Zauberberg1 von Thomas Mann. Bern 1971

61 Levin hat schon früh darauf hingewiesen, dass es sich bei den Parallelen zwischen der Ulysses-Welt und dem Mythos Homers um solche handelt, "that never meet". Vgl. Levin, James Joyce, 71. Kenner spricht von "heuristic uses", die Joyce von Werkkorrespondenz Mythos-Moderne mache: "Sometimes they helped him choose among a hundred ways of specifying some detail. Sometimes they fenced with system the mere accidents of experience: drawing continually on events from his own life but aware that what had merely happened could have happened a thousand ways, he liked interlocking reasons for the version he chose." Kenner, Ulysses, 26.

62 Budgen, The Making of 'Ulysses', 215.

63 Iser, "Historische Stilformen in Joyces 'Ulysses'", Der implizite Leser, 281. Goldberg, The Classical Temper, 202.

64 Ulysses, 409.

65 Auf die Bedeutung der "continous parallel between contemporaneity and antiquity" im Ulysses hat T.S. Eliot schon 1923 hingewiesen. Vgl. "Ulysses, Order and Mythe", Critical Essays on James Joyce, 27. Aus dieser Auffassung vom anologen Verhältnis zwischen Mythos und Moderne leiteten andere Kommentatoren die von der "cosmic synthesis" ab. Vgl. Knuth, "The Ring and the Cross in Joyce's 'Ulysses'", 'Ulysses': Cinquante ans après, 181, und Jacquet, "Les Plans de Joyce pour 'Ulyssesr", 'Ulysses': Cinquante ans après, bes. den Abschnitt "Fontion du Mythe“, S9ff. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Gilbert, James Joyce's 'Ulysses', bes. den Abschnitt "'Ulysses' and the Odyssey". Auf die Verknüpfung des Metempsychose - mit dem Parallaxe-Motiv verweisen Senn, "Remodeling Homer", Light Rays, 70ff und der Abschnitt "About 'episodes' and correspondences " in Sultan, The Argument of Ulysses, 118 und Kenner, "Who's He When He's at Home“, Light Rays, 69.

Excerpt out of 80 pages

Details

Title
Formen des Offenen. "Der Zauberberg" von Thomas Mann, die "Oxen of the Sun"-Episode im "Ulysses" von James Joyce und "Rayuela" von Julio Cortázar (Band 3)
Subtitle
Die Oxen of the Sun-Episode im Ulysses von James Joyce
Author
Year
2020
Pages
80
Catalog Number
V900037
ISBN (eBook)
9783346226167
ISBN (Book)
9783346226174
Language
German
Keywords
James Joyce, Dialog der Texte, Oxen of the Sun, Leopold Bloom, Stephen Dedalus, Komparatistik
Quote paper
Dr. Paul Forssbohm (Author), 2020, Formen des Offenen. "Der Zauberberg" von Thomas Mann, die "Oxen of the Sun"-Episode im "Ulysses" von James Joyce und "Rayuela" von Julio Cortázar (Band 3), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/900037

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