Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lief eine Welle der Gewalt durch Deutschland. Männliche Jugendliche töteten Lehrer, Mitschüler und sich selbst. Die Gewalt richtete sich zum Teil gegen einzelne Lehrer und Lehrerinnen, generell gegen die Schule als Institution. Erfurt, Pinneberg, Emsdetten, Offenbach, Schleswig usw. - eine bis dahin nicht gekannte Welle der Gewalt richtete sich gegen Mitschüler, Lehrer und Schulen. Die Ursachen für dieses gegen Bildungsinstitutionen gerichtete Verhalten jugendlicher und heranwachsender Männer könnten durch unterschiedliche psychologische und sozialwissenschaftliche Theorien erklärt werden.
Psychoanalytische Erklärungsversuche: Die Psychoanalyse sucht die Gründe für derart abweichendes Verhalten in Charakterdeformationen durch traumatische Erlebnisse in der oralen, analen und phallischen Phase der frühkindlichen Entwicklung und defizitären Identifikations- und Gewissensbildungsprozessen , die zu psychopathischen Formen der Es-Ich-Über-Ich-Balance geführt haben. Diese Taten sind nicht utilitaristisch, sondern irrationale, unkontrollierte oder impulsive Ausbrüche des Unterbewusstseins. Erklärungsversuch der Frustrations-Aggressions-Hypothese: Aus der Sicht der Frustrations-Aggressions-Hypothese entsteht die Gewalttat aus einer fundamentalen Kränkung, einer Frustration durch das Erfolg versagende, am Selektionsprinzip orientierte inhumane Schulsystem. Die zurückgewiesenenen Jugendlichen führen all ihr Leid auf die Zurückweisung durch Schule, Lehrer und Mitschüler zurück. Dadurch entsteht bei ihnen ein Rachegefühl, das Lehrer, Mitschüler und sie selbst in einen Strudel der Destruktion reißt. Behavioristische Erklärungsversuche: Die verhaltenstheoretische Lerntheorie sucht die Gründe für derart abweichendes Verhalten in Vorgängen des Modell-Lernens. US-amerikanische Vorbilder wie Amok-Mordtaten in Littleton und anderswo wirken stilbildend und rufen Nachahmer auf den Plan. Darüber hinaus werden mordlüsterne Computer-Spiele als auf die Verhaltens- und Handlungsbereitschaft abfärbend angesehen.
Sozialstrukturelle soziologische Erklärungsversuche: Die soziologische Anomietheorie sucht die Ursachen für derartig abweichendes Verhalten in Spannungen der Sozialstruktur. Die Jugendlichen streben nach gesellschaftlich legitimen Zielen wie Schulerfolg, Berufsperspektive und Wohlstand. Das Schulsystem mit seiner Selektionsfunktion sondert aus, deklassiert und vermittelt ein Looser-Bewusstsein.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der Beitrag der Psychoanalyse
- Die Bedeutung der frühen Kindheit
- Zur Bindungstheorie
- Familie, Erziehungsstil und psychoanalytische Theorie
- Neurotische Formen der Kriminalität nach Alexander/Staub u.a.
- Psychopathische Formen der Kriminalität
- Zusammenfassung
- Der Beitrag des Behaviorismus
- Der lerntheoretische Ansatz
- Die Theorie der differentiellen Assoziation von Sutherland
- Die Theorie der differentiellen Gelegenheiten von CLOWARD/OHLIN
- Zur Medienwirksamkeitsforschung
- Zusammenfassung
- Der Beitrag der geschlechtsspezifischen Sozialisationsforschung
- Zur Sozialisation der Jungen
- Zur Bedeutung der Mutter in der Kleinkindzeit
- Problematische Mutter-Rollen
- Die Rolle des Vaters
- Problematische Rollen als Vater
- Der Mythos der männlichen Überlegenheit
- Die Erwartungen der Eltern an die Söhne
- Jungen in der Schule
- Schulische Überlegenheit der Mädchen
- Männer und Alkohol
- Männer und Homosexualität
- Zur Sozialisation der Mädchen
- Krankheit und Heilung
- Schönheitsideal oder Schlankheitswahn?
- Geschlechtsspezifische Aspekte
- Zusammenfassung
- Der Beitrag des Interaktionismus
- Der labeling-approach von Sack
- Akten-Analyse von Brusten/Müller
- Kriminalität als Resultat eines Interaktionsprozesses
- Totale Institutionen nach GOFFMAN
- Verbrecher-Stereotyp und Dunkelziffer-Problematik
- Definitions-, Interaktions- und Selektionsprozesse nach SACK und BECKER
- White-Collar-Kriminalität nach SUTHERLAND
- Zusammenfassung
- Diskussion
- Der Beitrag der sozialstrukturellen Anomietheorie
- Die ursprüngliche Anomietheorie von DURKHEIM
- Die Anomietheorie von MERTON
- Die Theorie der Bandendelinquenz von COHEN
- Die Subkulturtheorie von Miller
- Zusammenfassung
- Diskussion
- Zur Aktualität der Anomietheorie
- Anomische Strukturen der Postmoderne
- Desintegrationstendenzen der postmodernen Gesellschaft
- Der Beitrag des Marxismus
- Kriminalität als unbewusster Protest des Proletariats
- Entfremdung als Ursache abweichenden Verhaltens
- Ein Beispiel für Klassenrecht nach K. MARX
- Kritik der Klassenjustiz
- Zusammenfassung
- Der Beitrag der Sozialpsychologie
- Ansätze bei Freud in „Totem und Tabu“
- Vergeltung, Sühne und Rache bei ALEXANDER/STAUB
- Die Funktion der Strafjustiz in Klassengesellschaften
- Die Straflust der autoritären Persönlichkeit
- Zusammenfassung
- Diskussion
- Der Beitrag der Sexualwissenschaft
- Sexualunterdrückung nach W. REICH
- Kulturanthropologische Studien
- Die sexualwissenschaftlichen Thesen REICHS
- Freie Erziehung nach NEILL
- Abweichendes Verhalten durch Sexualunterdrückung
- Resultate empirischer Sexualforschung
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieses Buch befasst sich mit dem Phänomen der Gewalt an Schulen, insbesondere im Kontext von Jugendkriminalität und der Sozialstruktur. Es bietet einen umfassenden Überblick über verschiedene sozialwissenschaftliche Theorien, die abweichendes und kriminelles Verhalten erklären. Die Analyse der psychoanalytischen, behavioristischen, sozialisations-, interaktionistischen, anomie- und marxistischen Perspektiven sowie der Sozialpsychologie und Sexualwissenschaft soll ein tiefgreifendes Verständnis für die komplexen Ursachen und Zusammenhänge von Gewalt an Schulen ermöglichen.
- Die Bedeutung der frühen Kindheitserfahrungen und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen und delinquentem Verhalten
- Die Rolle von Lerntheorien, sozialer Umwelt und kulturellen Einflüssen bei der Entstehung von Gewalt
- Der Einfluss von Geschlechtsspezifischer Sozialisation und soziokulturellen Normen auf das Verhalten von Jugendlichen
- Die Analyse von strukturellen und sozialen Ursachen für Kriminalität und Gewalt im Kontext von Anomietheorien
- Die Bedeutung von Machtstrukturen, Klassenkonflikten und politisch-sozialen Zusammenhängen für die Entstehung von Gewalt an Schulen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung des Buches beleuchtet den aktuellen Kontext von Gewalt an Schulen und beschreibt die Bedeutung sozialwissenschaftlicher Theorien für die Erklärung dieses Phänomens.
Das Kapitel über den Beitrag der Psychoanalyse analysiert die Rolle der frühen Kindheit, Bindungstheorien, Familie und Erziehungsstil sowie die Bedeutung von psychischen Störungen für die Entstehung von abweichendem Verhalten.
Im Kapitel über den Behaviorismus werden lerntheoretische Ansätze wie die Theorie der differentiellen Assoziation und die Theorie der differentiellen Gelegenheiten sowie der Einfluss von Medien auf das Verhalten von Jugendlichen diskutiert.
Das Kapitel über die geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung analysiert die Sozialisationsprozesse von Jungen und Mädchen und untersucht die Einflüsse von Mutter- und Vaterrolle, Geschlechterrollen und schulischen Erfahrungen auf die Entwicklung von Jugendlichen.
Der Beitrag des Interaktionismus wird beleuchtet, indem der labeling-approach von Sack, die Akten-Analyse von Brusten/Müller, die Bedeutung von Interaktionsprozessen, totale Institutionen und die Kriminalität als Resultat sozialer Definitionen diskutiert werden.
Das Kapitel über die sozialstrukturelle Anomietheorie analysiert die Entstehung von abweichendem Verhalten im Kontext von gesellschaftlichen Spannungen und anomischen Strukturen, wobei die Theorien von Durkheim, Merton, Cohen und Miller vorgestellt werden.
Der Beitrag des Marxismus wird beleuchtet, indem der Zusammenhang zwischen Kriminalität, unbewusstem Protest, Entfremdung und Klassenjustiz untersucht wird.
Im Kapitel über die Sozialpsychologie werden Ansätze von Freud sowie die Rolle von Vergeltung, Sühne, Rache und der Strafjustiz in Klassengesellschaften im Kontext von Gewalt analysiert.
Das Kapitel über die Sexualwissenschaft betrachtet die Rolle von Sexualunterdrückung, Kulturanthropologie und empirische Sexualforschung für die Entstehung von Gewalt an Schulen.
Schlüsselwörter
Gewalt, Schule, Jugendkriminalität, Sozialstruktur, abweichendes Verhalten, kriminelles Verhalten, psychoanalytische Theorie, Behaviorismus, Sozialisation, Interaktionismus, Anomietheorie, Marxismus, Sozialpsychologie, Sexualwissenschaft, Frustration-Aggressions-Hypothese, Medienwirksamkeitsforschung, geschlechtsspezifische Sozialisation, Labeling-Theory, totale Institutionen, Klassenjustiz, Entfremdung, Sexualunterdrückung, empirische Sexualforschung.
- Citation du texte
- Professor Dr. phil. Karl-Heinz Ignatz Kerscher (Auteur), 2008, Gewalt an Schulen, Jugendkriminalität und Sozialstruktur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90049