Diese Arbeit untersucht, welche Rückschlüsse sich für eine "Evidenzbasierte Praxis" in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung ziehen lassen. Es handelt sich bei dieser Arbeit ausdrücklich nicht um ein Konzept evidenzbasierter Praxis. Es besteht der Anspruch, einige relevante Felder für ein Modell eines im Sozialwesen integrierbaren Evidenzbegriffs aufzuzeigen. Somit wird hoffentlich ein kleiner Beitrag zum "sozialen Aushandlungsprozess" evidenzorientierter Leitbilder im Sozialsystem geleistet.
Das neuere Phänomen "Wohlfahrtpluralismus" muss als Balanceakt im Spannungsfeld verschiedener Wertehaltungen und Denkstile betrachtet werden, die innerhalb der professionellen Organisation und Gestaltung gesundheitsbezogener und sozialer Hilfen im Dritten Sektor je eine berechtigte Rolle spielen. Gleichzeitig erwachsen mit der Professionalismuskritik durch die Adressaten auch von "innen" Legitimationsansprüche, was die professionelle Arbeit zum grundsätzlichen Überdenken ihrer Wissensbasis und des Gebrauchswerts ihrer Handlungspraktiken zwingt.
Mithilfe der klinischen Epidemiologie und ihrer naturwissenschaftlich ausgerichteten Wissenskonzeption versteht sich die "Evidenzbasierte Praxis" (EbP) aus der Medizin (EbM) kommend als Anleitungsmodell der gezielten Implementation wissenschaftlichen Wissens und Abwehr gegenüber "eminenzbasierter" Deutungshoheit, Autorität und Tradition. Damit scheint professionelles Handeln begründet, denn „Evidenz“ verspricht, verstanden als "Beweis", die Bereitstellung gültigen wissenschaftlichen Wissens und das Konzept der EbP seine Übertragung in die Praxis.
"Evidenz" erweist sich jedoch als mehrdimensionales Konstrukt. Zunehmend gewinnen Kooperation und Koordination als professionelle Handlungstypen sowie die Verschachtelung informeller und formeller Hilfen als zentrale Qualitätsmerkmale des Sozialsystems an Bedeutung. Des Weiteren kann Forschung als gesellschaftliches System und "gültiges Wissen" als Produkt komplexer sozialer Aushandlungsprozesse um Werte beschrieben werden.
Unterschiedliche Qualitätsurteile und abweichende Präferenzen setzen vereinfachten InputOut-Relationen der Wirkungsforschung deutliche Grenzen. Verschiedene Bedeutungsebenen der Evidenz werden unter Realgegebenheiten vor allem dann deutlich, wenn "Evidenz" mit dem "Evidenten" in ein Passungsverhältnis gebracht werden muss.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Wohlfahrtspluralismus im Kontext sozialstaatlicher Umbaumaßnahmen
1.1 Wohlfahrtspluralismus: Der Dritte Sektor
1.1.1 Eine ordnungsschematische Betrachtung: Die Vier-Sektoren-Theorie
1.1.2 Solidarität
1.1.3 Interdependenzen und Interpenetrationen
1.2 Ökonomisierung und Ökonomismus
1.2.1 Effizienz und Effektivität
1.2.2 Selbstzweck des Markts
1.3 Sozialpolitische Umstrukturierung, Legitimationskrisen und Paradigmenwechsel im professionellen Hilfesystem
1.3.1 Umbau des Sozialstaats
1.3.2 Soziale Dienste unter Legitimierungsdruck
1.3.3 Neuorientierungen in der Heil- und Sonderpädagogik
2 Gültiges Wissen, Professionalität und Dienstleistung im Kontext sozialer Aushandlungsprozesse
2.1 Die Evidenzdiskussion im Gesundheits- und Sozialwesen
2.1.1 Wozu Evidenz?
2.1.2 Evidenz und evidence – eine semantische Hürde
2.1.3 Das Konzept der Evidenzbasierten Medizin (EbM) nach Sackett et al
2.1.4 Die Rezeption der EbM im Gesundheits- und Sozialwesen
2.1.5 Die beste verfügbare Evidenz
2.1.6 Evidenztypen: Externe, interne und externalisierte lokale Evidenz
2.1.7 Evidenz und evidence - ein Annäherungsversuch
2.2 Gültiges Wissen und Profession
2.2.1 Sozialität der Erkenntnis nach Fleck
2.2.2 Konsens, Legitimation und Innovation
3.2.3 Professionalität
2.2.4 Vom Transfermodell zum Kooperativen Wissensmodell
2.2.5 Reflexive Wirkungsorientierung
2.3 Personenbezogene Dienstleistung
2.3.1 Soziale Dienstleistung und Ko-Produktion
2.3.2 Partizipative Entscheidungsfindung in der Evidenzbasierten Medizin
2.3.3 Besondere Merkmale eines neueren Dienstleistungsverständnisses
2.3.4 Soziale Qualität
2.3.5 Qualitätsausschnitt 1: Helferqualität - wer darf helfen?
2.3.6 Qualitätsausschnitt 2: Vermittlung zwischen „Evidenz“ und dem „Evidenten“
2.3.7 Qualitätsausschnitt 3: Die (vermeintlich) aktive Rolle Professioneller
3 Implikationen eines Motivs Evidenzbasierter Praxis in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung
3.1 Erbringungsverhältnis und –kontext sozialer Dienstleistung als Spannungsfelder
3.1.1 Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis
3.1.2 Hilfe als komplexes Vertragsverhältnis
3.1.3 Aspekte der Limitation und Kritik des Dienstleistungsverständnisses
3.2 Case Management und Evidenzbasierte Praxis
3.3 Evidenz in lebensweltlichen Bezügen
3.3.1 Das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung
3.3.2 Evidenz und Hilfe im Alltäglichen
3.3.3 Exkurs: Das Zeitproblem als Technologiedefizit – eine Skizze
3.3.4 Fallbeispiel: Konflikte der Vertrauensförderung und Entscheidungsfindung
3.4 Weitere Anmerkungen zur Akteurskonzeption im Dienstleistungsprozess
3.4.1 Notwendige Bedingungen einer Perspektivenöffnung
3.4.2 Entscheidungsfähigkeit als handlungstheoretische Grundlage
3.4.3 Der Capability Ansatz aus Sicht einer Befähigungsökonomie
3.4.4 Exkurs: Loyalitätsverhältnisse
3.5 Erkenntnistheoretische und ethische Perspektiven evidenzbasierter Entscheidungen
3.5.1 Drei erkenntnistheoretisch relevante Perspektiven nach Dederich
3.5.2 Ethische Entscheidungskriterien nach Schnell
3.6 Zur Evidenz des Selbsthilfegedankens
3.6.1 Historische Evidenz der Selbsthilfebewegungen in der Behindertenhilfe
3.6.2 Selbsthilfeförderung als Stärkung der Adressatenperspektive
4 Fazit
5 Ausblick
Literaturverzeichnis
Einleitung
Das neuere Phänomen „Wohlfahrtpluralismus“ als Forderung einer aktiven und solidarischen „Kultur des Helfens“ muss als Balanceakt im Spannungsfeld verschiedener Wertehaltungen und Denkstile betrachtet werden, die innerhalb der professionellen Organisation und Gestaltung gesundheitsbezogener und sozialer Hilfen im Dritten Sektor je eine berechtigte Rolle spielen. „Effizienz“ und „Effektivität“ gelten sowohl im Gesundheitswesen als auch in der Sozialen Arbeit1 grundsätzlich als einvernehmlicher (rechtlich verbindlicher) Konsens vor dem Hintergrund öffentlicher Finanzierung und Ressourcenknappheit sowie einer professionsethischen Verpflichtung gegenüber dem Empfänger2 von Hilfen.
Entwicklungen in Form von marktorientierten Steuerungs- und Organisationsmodellen, steigender Rationalisierung und Budgetierung, Leistungsmessung und Qualitätssicherung prägen zunehmend die Arbeitsprozesse und Handlungsspielräume der Leistungserbringer des Sozialsystems. Die gesellschaftliche Legitimation der Professionen steht daher zunehmend mit der Überprüfbarkeit der Wirksamkeit ihrer Leistungen in Bezug auf Gesundheit und Lebenswert der Nutzer in Verbindung. Gleichzeitig erwachsen mit der Professionalismuskritik durch die Adressaten auch von „innen“ Legitimationsansprüche, was die professionelle Arbeit zum grundsätzlichen Überdenken ihrer Wissensbasis und des Gebrauchswerts ihrer Handlungspraktiken zwingt.
Die Evidenzdebatte3 ist Teil dieser Entwicklungen. Mithilfe der klinischen Epidemiologie und ihrer naturwissenschaftlich ausgerichteten Wissenskonzeption versteht sich die „Evidenzbasierte Praxis“ (EbP) aus der Medizin (EbM) kommend als Anleitungsmodell der gezielten Implementation wissenschaftlichen Wissens und Abwehr gegenüber „eminenzbasierter“ Deutungshoheit, Autorität und Tradition. Sie beansprucht dabei, sich an der „besten verfügbaren Evidenz“ zu orientieren. Damit scheint professionelles Handeln begründet, denn „Evidenz“ verspricht, verstanden als „Beweis“, die Bereitstellung gültigen wissenschaftlichen Wissens und das Konzept der EbP seine Übertragung in die Praxis.
„Evidenz“ erweist sich jedoch als mehrdimensionales Konstrukt. Im Versuch einer Perspektivenöffnung des Evidenzbegriffs können erste Anhaltspunkte in der sozial-produktiven, immateriellen und übergeordnet sinnstiftenden Funktion des Dritten Sektors gesucht werden. Der Idealtypus des Wohlfahrtspluralismus erfordert umfangreiches und neues Wissen. Zunehmend gewinnen Kooperation und Koordination als professionelle Handlungstypen sowie die Verschachtelung informeller und formeller Hilfen als zentrale Qualitätsmerkmale des Sozialsystems an Bedeutung. Des Weiteren kann Forschung als gesellschaftliches System und „gültiges Wissen“ als Produkt komplexer sozialer Aushandlungsprozesse um Werte beschrieben werden. Professionelle Arbeit entfaltet sich in Interaktionsprozessen in Form einer reflexiven Wissens-Relation, die situativ realisierbares Wissen und Können erfordern. Der Evidenzbasierten Praxis wird mitunter ein unterkomplexes technokratisch-rationalistisches Wissensmodell vorgeworfen - wie kann dagegen ein sich der Wissenschaft-Praxis-Diskrepanz konstruktiv annäherndes Wissensmodell skizziert werden?
Die weitere Auseinandersetzung verdeutlicht soziale Qualität als Prozess. Sie ist aufgrund höchst individueller Bewertungskriterien nur schwer greif- bzw. standardisierbar. Der Gebrauchswert sozialer Dienstleistung für den Adressaten entwickelt sich im simultanen Prozess der Produktion und Konsumtion. Professionalität versteht sich hierbei als Begleitung und Stärkung der Produktionsprozesse des Adressaten, der zugleich den Anlass sozialer Dienstleistung darstellt und entscheidend zum Produktionsergebnis beiträgt. Unterschiedliche Qualitätsurteile und abweichende Präferenzen setzen vereinfachten Input-Out-Relationen der Wirkungsforschung und damit einem eindimensionalen Evidenzbegriff deutliche Grenzen. Verschiedene Bedeutungsebenen der Evidenz werden unter Realgegebenheiten vor allem dann deutlich, wenn „Evidenz“ mit dem „Evidenten“ in ein Passungsverhältnis gebracht werden muss.
Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Betrachtungen möglicherweise für eine „Evidenzbasierte Praxis“ in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung ziehen? Mit stärkerer Zuwendung zum Ambulant Betreuten Wohnen wird der Versuch unternommen, einige zentrale Fragmente der Untersuchungen vertiefend aufzugreifen und um weitere spezifischere Betrachtungsweisen zu ergänzen, dabei auch Besonderheiten und (kritische) Eigenschaften des Systems „Eingliederungshilfe“ zu berücksichtigen. Dies erfolgt anhand ausgewählter Aspekte ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Es handelt sich bei dieser Arbeit ausdrücklich nicht um ein Konzept evidenzbasierter Praxis. Auch wird diese Arbeit den Evidenzbegriff nicht klären können. Im Rückgriff u.a. auf erkenntnis- und wissenstheoretische, medizinische, ethische, rechtliche, sozial- bzw. heilpädagogische und ökonomische Aspekte kann jedoch eine weitreichende Relevanz der Evidenzdebatte festgestellt werden. Es besteht in diesem Rahmen der Anspruch, einige relevante Felder für ein Modell eines im Sozialwesen integrierbaren Evidenzbegriffs aufzuzeigen und möglicherweise konzeptionelle Anhaltspunkte für eine produktive Debatte in Bezug auf Evidenzbasierte Praxis und Bedeutung von „Evidenz“ für die Rehabilitation und spezifischer für die Behindertenhilfe zur Verfügung zu stellen, somit hoffentlich einen kleinen Beitrag zum „sozialen Aushandlungsprozess“ evidenzorientierter Leitbilder im Sozialsystem leisten.
[Der Arzt] muss […] auf andere Wissensbereiche zurückgreifen, die zu seiner ärztlichen ‚Lebenswelt‘ gehören und unter Umständen einer Evidenz bedürfen, die der ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ der EbM ganz fremd sein muss“ […]. Das Kernelement der Suche nach Erkenntnis und damit immer auch der Suche nach Evidenz [wird] immer die Begegnung zwischen Arzt und Patient bleiben“ (Weßling 2011, 239).
1 Wohlfahrtspluralismus im Kontext sozialstaatlicher Umbaumaßnahmen
In diesem ersten Kapitel soll mithilfe einer kurzen Verortung der „Arena sozialer Aushandlungsprozesse“ im Gesundheits- und Sozialwesen eine grundlegende Basis für weitere Überlegungen geschaffen werden. Aktuelle sozialpolitische Veränderungsprozesse bedürfen dabei angesichts der idealtypisch dargestellten Funktion des Dritten Sektors einer ersten kritischen Bestandsaufnahme. Es wird deutlich, dass sich Professionen als sich in der Gesellschaft und mit der Gesellschaft wandelnde Phänomene in vielerlei Hinsicht wachsenden Herausforderungen stellen müssen.
1.1 Wohlfahrtspluralismus: Der Dritte Sektor
1.1.1 Eine ordnungsschematische Betrachtung: Die Vier-Sektoren-Theorie
Bei der Betrachtung des Dritten Sektors4 handelt es sich um eine Vier-Sektoren-Theorie: Der Dritte Sektor ist intermediär und amorph. Er bildet einen Raum zwischen Staat, Markt und Familie/Verwandtschaft. Den vier Sektoren können idealtypische Eigenschaften oder Merkmale bzw. eigene Handlungslogiken zugeordnet werden. Dies geschieht im Bewusstsein einer von realen Phänomen abweichenden Stilisierung. Der Markt wird als soziale Relation definiert, dem eine For-Profit-Handlungslogik zugrunde liegt. Der Staat im Kontext einer rechtsstaatstheoretischen Herrschaftslogik wirkt (re-)distributiv und regulativ und greift als demokratisch legitimierte öffentliche Instanz im Auftrag des Gemeinwohls/ der Gemeinwirtschaft in die Sphären der bürgerlichen Gesellschaft, sowohl in offizielle Märkte als auch private Beziehungen ein. Zunehmend übernimmt der Staat die Rolle einer „Governance“ innerhalb eines, durch viele Stakeholder, netzwerkartige Verflechtungen und Mehr-Ebenen-Architekturen (EU, Bund, Länder, Kommunen) bedingten, höchst komplexen politischen Systems. Das staatlich verkörperte Gemeinwohl aggregiert jedoch nicht einfach die Summe aller Präferenzen der Bürger. Vielmehr handelt es sich um Prozesse der sozialen Konstruktion, u.a. um Diskurse, Agendabildung, Situationsanalysen und –deutungen, um Relevanzgewichtungen bzw. Prioritäten. Die Familie und die Verwandtschaftssysteme bilden als eigener Sektor idealtypisch im Prinzip der Liebe – nicht zu verstehen als Sozialromantik - einen Ort solidarischer Gegenseitigkeitshilfe. Weitgehend normativ ist hier die Reziprozität, das Geben und Nehmen, das längerfristig angelegt ist, eine symmetrisch ausbalancierte Tauschrelation nicht zur Bedingung macht und sich unterschiedlicher Währungen bedient (Geld vs. Dienstleistung, Sorge vs. Dankbarkeit, materielle Unterstützung vs. emotionale Zuwendung u.v.m.). Heteromorphe Tauschvorgänge spielen auch im Marktsystem, jedoch im Kontext einer „bilanzierten Nutzen-bezogenen Win-Win-Situation“ eine Rolle. Die Marktlogik impliziert den Eigennutz der Tauschpartner, die jedoch lernen sollen, dass sie sich „nur gemeinsam, durch kooperatives Verhalten, besserstellen können“ (Schulz-Nieswand & Köstler 2011, 94; 98). Das theoretische Prinzip der Reziprozität spielt als universales Prinzip der Gabe und Gegen-Gabe eine kaum zu überschätzende Bedeutung in der sozialen Wirklichkeit (vgl. ebd. 7). Sie kann als universales Phänomen auf einem Kontinuum der Gabe und Gegen-Gabe als Ausbalancierung, als einseitige Ausbeutung oder als generalisierte Norm bilanziert werden. Utilitaristisch betrachtet, geht es im Wohlfahrtspluralismus „um die soziale Wohlfahrtsmaximierung5 als Win-Win-Situation“ (Pareto Optimum), als „Aggregation der Eigennutzfunktion der Akteure“ (ebd. 99).
Jedoch können „Gabemechanismen […] nicht nur auf ökonomische Tauschmotive reduziert werden. Es geht um den sozialen und symbolischen Ausdrucksüberschuss“ (ebd. 98).
Gaben stiften Gemeinschaft, Identität, stiften Zeit und Raum, da Verknüpfungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschaffen werden, dienen somit der kulturellen Vererbung und dem kollektiven Gedächtnis. Gaben sind daher ‚totale soziale Tatsachen‘ und weisen eine Polyvalenz auf: ökonomische, rechtliche, soziale, kulturelle, religiöse, psychische Wirkungen (Schulz-Nieswand & Köstler 2011, 98f).
Dies impliziert eine sozial-produktive, immaterielle und übergeordnet sinnstiftende Funktion des Dritten Sektors. Ohne an dieser Stelle vertiefender auf den Evidenzbegriff einzugehen, kann zumindest die vorsichtige Frage festgehalten werden, ob hier möglicherweise bereits ein zentraler Ansatzpunkt für eine konstruktive Perspektive von „Evidenz“ zu finden ist.
1.1.2 Solidarität
Das Prinzip der Solidarität als Wohlfahrtspluralismus kommt im SGB XI § 8(1) im Kontext der Pflege als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe" zum Ausdruck. SGB XI § 8(2) thematisiert über die Länder, Kommunen, Leistungsanbieter und Kassen hinaus vor allem auch Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Selbsthilfegruppen, Ehrenamt – zusammengefasst das gesamte Spektrum sozialer Netze und ihrer Kooperation als Netzwerk (ebd.). Dieses Verständnis findet seine Grundlage in einer „neuen Kultur des Helfens und Pflegens“ (vgl. auch Dettling, 1995; zit. n. Speck 1999, 19: „neue Kultur des Sozialen“), in dem Anspruch auf eine Entwicklung von (kommunitaristischen) Versorgungslandschaften, in einer Verschachtelung informeller und professioneller Arbeit (vgl. Schulz-Nieswand, Köstler 2011, 55f). Der Wohlfahrtspluralismus ist laut Schulz-Nieswand und Köstler (2011) „keine abstrakte Ordnungsidee, sondern immer schon gelebte Praxis“ (56). Als Beispiel nennen sie die besondere Rolle der „Laienmedizin“ als existenzielle Voraussetzung für das Funktionieren der Akutmedizin. Soziale Stützsysteme können als konstitutiv für das Gelingen der Rehabilitation betrachtet werden, 80% der Pflege findet, querschnittlich, im häuslichen Rahmen statt (vgl. ebd.). Bei der Pflege der Eltern durch die Kinder können Opportunitätskosten (teilweise) über das Pflegegeld nach SGB XI kompensiert werden. All dies spricht aus soziologischer Sicht für komplexe Verschachtelungen der Verteilungs- und Umverteilungsprozesse (vgl. ebd. 52). Jedoch ist das Bürgerschaftliche Engagement und der Dritte Sektor nicht einfach auf die „Krise des Sozialstaats“ (vgl. auch Dettling, 1995; zit. n. Speck 1999, 18) der 1980er und 1990er Jahre mit seinen (damit verbundenen aber auch eigenständigen) Diskursen um Formalisierung, Bürokratisierung, Professionalisierung und Verrechtlichung im Rahmen der Leistungsgrenzen des Sozialstaats zurückzuführen: „Der ‚Wohlfahrtsstaat‘ hätte ohne die ergänzende, zum Teil einbettend- fundierende ‚Wohlfahrtsgesellschaft‘ noch nie funktioniert“ (Schulz-Nieswand & Köstler 2011, 56).
1.1.3 Interdependenzen und Interpenetrationen
Als Kern einer Minimaldefinition kann der Dritte Sektor als Sektor des Non-Profit-Wirtschaftens, als Ort der „organisierten Liebesarbeit“6 (Schulz-Nieswand & Köstler 2011, 104) beschrieben werden. Dies bezieht sich in Deutschland auf die freie Wohlfahrtspflege, also die Freigemeinwirtschaftlichkeit. Wenn auch nicht der Logik des erwerbswirtschaftlichen For-Profit-Marktes folgend, stehen Sozialunternehmungen des Dritten Sektors hinsichtlich ihres Auftrags der optimalen Erfüllung von Versorgungsaufträgen sowie des bedarfswirtschaftlichen Aufgreifens und Förderns menschlicher Lebenslagen im Marktbezug. Die Gewinnerzielung bleibt, so Schulz-Nieswandt und Köstler weiter, strategisch wichtig, ist allerdings im rechtlichen Kontext von Steuerfreigemeinnützigkeit und normativ bezüglich der Stakeholder-Orientierung „an die sachzielorientierte, in der Regel zeitnahe Reinvestition […] streng gebunden“ (ebd.). Sie können im Hinblick auf ihre intermediäre Funktion gleichzeitig als Assoziationen, politische Interessenvertreter und Dienstleistungserbringer betrachtet und analysiert werden (vgl. u.a. Backhaus-Maul 2015, 32). Die Interessenvertretung ihrer Klientel gegenüber Politik und Verwaltung auf Bundes-Landes- und Kommunalebene (zugleich ihre wichtigsten Auftraggeber), die Erbringung sozialer Dienstleistungen im öffentlichen Auftrag und ihre Verortung in einem vom Staat inszenierten Wettbewerb mit anderen gemeinnützigen Organisation und privatgewerblichen Unternehmen sowie die Erwartungshaltung an die Organisationen, Engagement zur Reproduktion ihrer eigenen sozialkulturellen Grundlage zu fördern und sich zu legitimieren, sprechen für komplexe Interdependenzen und Interpenetrationen der Koordinationsformen Staat, Markt, Familie (Backhaus-Maul: vgl. ebd. 33). Die Mehr-Sektoren-Theorie kann über den Zweck hinaus, „ein abstraktes Ordnungsschema zur Analyse moderner Gesellschaften“ (Schulz-Nieswand 2011, 106) bereitzustellen, auch einen Beitrag dazu leisten, die innere Dynamik in Form von Übergängen, Wandlungen, Wechselwirkungen, aber auch Konfliktformationen (vgl. ebd.) zu verstehen, auch Abstimmungsprobleme und Interessenkonflikte in der Praxis, beispielsweise innerhalb der „Professioneller-Klient-Institution“ auf das Zusammenwirken der Ebenen „ökonomische Beziehung“, „politisches Steuerungselement“ und „soziale Ebene“ hin zu reflektieren (vgl. Wilken 2010, 27).
1.2 Ökonomisierung und Ökonomismus
1.2.1 Effizienz und Effektivität
Organisationsentwicklung verfolgt, wie Schlummer und Schütte (2006) betonen, keinen Selbstzweck (159). Vielmehr ist beim Thema Effizienzsteigerung und Effektivität von einer „humanistisch orientierten Grundidee“ zu sprechen (ebd. 160), deren Nachweis „von Professionellen durchaus gefordert werden [kann]“ (Wöhrle, 1994; zit. n. Schlummer & Schütte, 160).
Im Zuge von Evaluationsstudien im Bereich sozialer Dienstleistungen muss zudem eine weitere Komponente in Form der Ermittlung von Ursachen für die festgestellte Effektivität bzw. Effizienz (oder deren Ausbleiben) berücksichtigt werden. Innerhalb von Implementations- und Prozessanalysen ist daher generell zu fragen: Welche Faktoren waren für die […] ermittelten Ergebnisse verantwortlich (vgl. Schmidt 2010, 168)?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Da mit dem professionellen Handeln als berufliches Handeln Kosten verbunden sind, wird erwartet, dass nicht irgendwelche Wirkungen und nicht irgendein Nutzen, sondern im Vergleich zu anderen bessere, kostengünstigere oder sogar kostenlose Problemlösungen hervorgebracht werden. Damit muss sich jedes professionelle Handeln den Ansprüchen an Effizienz und Effektivität stellen. Wirksamkeit gilt als „conditio sine qua non jeglicher Professionalität schlechthin“ (Baumgartner & Sommerfeld 2012, 1163) und die Wirkungsorientierung folglich – besonders im Kontext öffentlicher Mittel – als Konsens.
Im SGB V § 12 (1) wird zur Rolle der GKV erläutert: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen“ (ebd.). In Bezug auf die Eingliederungshilfe7 für Menschen mit Behinderung sieht § 9 (2) des SGB XII den Vorrang offener Hilfen gegenüber der teilstationären oder stationären Bedarfsdeckung vor. Dabei werden grundsätzlich den Wünschen der Leistungsberechtigten und der Gestaltung von Hilfen durch die Leistungsanbringer Grenzen in Bezug auf „unverhältnismäßige Mehrkosten“ gesetzt (ebd.) und die schon seit 1960 existierende Gesetzesnorm des „ambulant vor stationär“ bekräftigt (vgl. Michels 2011, 29). Konsensfähig wird die Perspektive „ambulant vor stationär“ für die Zielgruppe Menschen mit Behinderung jedoch vor allem durch das SGB IX mit der Zielsetzung verbesserter Abläufe des Rehabilitationsverfahrens, der Optimierung von Kooperation zwischen den Beteiligten Stakeholdern, der Stärkung von Wunsch-, Wahlrecht und gleichberechtigter Teilhabe der Adressaten sowie der Möglichkeit der Selbstorganisation von Unterstützungsbedarfen in Form des Persönlichen Budgets (vgl. Schlebrowski 2009, 32f; SGB IX). Es schließt damit grundlegende sozialethische und strukturelle Ziele der Hilfen für Menschen mit Behinderung ein (z.B. Dezentralisierung/Deinstitutionalisierung, Normalisierung und Autonomie der Lebensführung im eigenen Wohnraum, Erhöhung von Selbstständigkeit und Selbsthilfefähigkeit; vgl. u.a. Röh 2009, 88), erfordert in seiner Programmatik allerdings auch eine „enge Verzahnung“ der verschiedenen Perspektiven (vgl. Michels 2011, 35) Zusammengefasst werden können die übergeordneten Leitideen und Vorgaben der Kostenträger im Bereich des Ambulant Betreuten Wohnens (BAGüS, 2006; zit. n. Michels 2011, 35):
- Ziel 1: Verbesserung der Bedingungen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung
- Ziel 2: Individuellere und bedarfsgerechtere Gestaltung der Hilfeleistungen
- Ziel 3: Effizienter und effektiver Einsatz des Eingliederungshilfebudgets
Damit ist ein entscheidender Handlungsrahmen für die Organisation professioneller Hilfen in der Rehabilitation gegeben, ihre tatsächliche Ausgestaltung jedoch kontrovers. Die Thematik um Effizienz, Effektivität und Wirkungsorientierung vereint politische, analytische, methodologische, ethische und professions- sowie wissenschaftstheoretische Debatten. Otto, Polutta und Ziegler (2010) bemerken, „dass nicht jede Maßnahme, die gewünschte Wirkungen entfaltet, auch eine angemessene Maßnahme darstellt“, auf der anderen Seite aber „Maßnahmen, die keine Nutzwerte im Sinne positiver Effekte auf die Zustände und Lebensführungen ihrer KlientInnen zeitigen, nicht zu rechtfertigen sind“ (9f). Welches Wissen braucht also eine gute und angemessene professionelle Hilfe?
1.2.2 Selbstzweck des Markts
Der Prozess der Ökonomisierung basiert auf einer Dichotomie. Einerseits als Methode der Rationalisierung der Ressourcenallokation mithilfe einer wissenschaftlichen Basis, andererseits als „Gewinnmaximierung“ innerhalb eines Dienstleistungsmarkts mit seinen entsprechenden Marktgesetzen (vgl. Weßling 2011, 110). Köstler und Schulz-Nieswand (2011) definieren „Ökonomismus“ als die „Verselbstständigung der ökonomischen Prinzipien, ohne Rücksicht auf die eigentlich gewollten Ziele“ und als „Verlust der sozial engagierten Wahrhaftigkeit des Handelns“ (105). Damit wird Wettbewerb zum Selbstzweck und der Markt verliert seine instrumentelle Funktion. Eine Transformationsgefahr des Dritten Sektors besteht durchaus, wenn soziale Ziele durch Markt und Wettbewerb einer wachsenden Dominanz von Formalzielen des erwerbswirtschaftlichen Handelns weichen. Hinsichtlich solcher Beobachtungen kann mit Neumann von einer „Mutation in der kulturellen Grammatik“ des Dritten Sektors gesprochen werden (Neumann, 2005; zit. n. Schulz-Nieswand & Köstler 2011, 105). In Abgrenzung zum Ökonomismus kann der (rational-wissenschaftlichen) Ökonomisierung, wie Speck mit Dettling anmerkt, eine „stimulierende Wirkung“ beigemessen werden, die keine Abkehr vom Sozialstaat, sondern eine „aktivere bürgerschaftliche Verantwortlichkeit für das Soziale […] vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft“ beinhaltet (Dettling, 1995; zit. n. Speck 1999, 18f).
1.3 Sozialpolitische Umstrukturierung, Legitimationskrisen und Paradigmenwechsel im professionellen Hilfesystem
1.3.1 Umbau des Sozialstaats
Den Umbaumaßnahmen des Sozialstaats und seinen strukturellen Innovationen liegt laut Dettling (1995) nicht allein die Finanzkrise des Staats zugrunde. Der bisherige Wohlfahrtsstaat ist schlichtweg „nicht mehr zeitgemäß“ (Dettling, 1995; zit. n. Speck 1999, 18). Neben der Frage der Finanzierung macht er innere, gesellschaftliche Grenzen wie Bürokratisierung, Verrechtlichung, Professionalisierung und Monetarisierung als Anlass für eine „grundlegend neue Sozialpolitik “ aus (ebd.). Im Unterschied zu den vorangegangenen Reformbemühungen eines bürokratisch-administrativen Handelns im Sinne von Rationalisierung und Optimierung von Verwaltungsabläufen (vgl. Dewe & Otto 2005, 187), ist in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre, ausgelöst durch die Rezeption des New Public Management (NPM), eine neue Wirkungsdiskussion zu beobachten, die sich innerhalb marktähnlicher Strukturen an einer Leistungssteigerung des „Outputs“ orientiert und Verwaltungshandeln zu unternehmerischen Entscheidungen macht (vgl. Dahme & Wohlfahrt 2010, 208). Damit verbunden sind die Einführung privatwirtschaftlicher Managementmethoden und betriebswirtschaftlicher Steuerungselemente sowie ein veränderter Erbringungskontext von sozialen Dienstleistungen in Form von Leistungs-, Prüf- und Qualitätsvereinbarungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern (ebd. 209). Neben den schon älteren Qualitätsdebatten z.B. in Bezug auf „Lebensqualität“ (vgl. u.a. Speck 1999) nimmt die „im Kern technokratische, vornehmlich effizienz- und leistungsorientierte Debatte um ‚Qualität‘“ (Dewe & Otto 2005, 187) nun auch die (z.B. pädagogischen) Prozesse der unmittelbaren Erbringung von Dienstleistungen in den Fokus (vgl. Otto et al. 2010, 10). Im Kontext der Kritik am „Spielraum“ der Ermessens- und Entscheidungskompetenz Professioneller soll valide empirische Wirkungsevaluation für Abhilfe sorgen und zu einer effektiveren Praxis beitragen (ebd. 11).
1.3.2 Soziale Dienste unter Legitimierungsdruck
Luhmann und Schorr (1982) werfen der Pädagogik vor, sich in Bezug auf die Debatte um ihr eigenes „Technologiedefizit“ schnell mit der theoretischen Unlösbarkeit des Grundproblems („Wie ist Erziehung möglich?“8 ) abgefunden zu haben (12). Mit dem Vormarsch der empirischen Sozialforschung fand zwar die Renaissance der Technologie-Frage statt, denn es schien, als habe man hier die lange vermisste kausaltechnologische Lösung auf die Grundfrage der Erziehung gefunden; letztlich blieb das ursprüngliche Problem jedoch weiterhin bestehen, da die entscheidenden Resultate zur Generalisierung der Wirkung einzelner Faktoren vor allem hinsichtlich einer Umsetzung in eine Technologie des Erziehungssystems ausblieben (ebd. 14). Bereits Sigmund Freud, der „Urahn aller Beziehungshelfer“ betrachtete sein Metier als „unmöglichen Beruf“. Geändert hat sich daran bis heute nichts, denn im Gegenteil scheint sich der Legitimierungszwang der zu einem „Riesenheer“ gewachsenen Gruppe der im sozialen Sektor Beschäftigten intensiviert zu haben, „die durch sie verursachten Kosten mit einer nachprüfbaren Leistungsbilanz zu rechtfertigen“ (Schmidbauer, 1983; zit. n. DER SPIEGEL 1983, 216).
Durch die Auflösung des Korporatismus zugunsten von Markt- und Wettbewerbselementen wurde vom Gesetzgeber signalisiert, „dass aus seiner Sicht Kosten, Qualität und Wirkung sozialer Dienste zu Wünschen übrig lassen“ (Dahme & Wohlfahrt 2010, 209). Dabei spielt vor allem der Zweifel an der Effektivität und Effizienz professioneller Handlungs- und Entscheidungsautonomie, die Dysfunktion im System der Wohlfahrtsproduktion mit ihrem Interesse an der Hilfeerbringung selbst, weniger an ihrer erfolgreichen Beendigung eine entscheidende Rolle (vgl. Otto et al. 2010, 10). Die Allzuständigkeit des Staats hat laut Dettling zu einer „Erstarrung der sozialen Dienste“ geführt (1995, zit. n. Speck 1999, 18). Wesentliche Punkte in der Diskussion um „mehr Markt“ im Bereich sozialer Dienste scheinen ihr strukturelles Erstarren, Misswirtschaft und Monopolstellung als gesetzlich versicherte Leistungen darzustellen. Problematisch ist in diesem Kontext vor allem die Entfremdung vom Abnehmer der Dienstleistungen, also einer fehlenden Orientierung an der Nachfrage (vgl. Speck 1999, 29; 32). Jedoch sieht Speck den Vormarsch inklusiver Konzepte und den Abbau sonderpädagogischer Institutionen als „organisatorische Umschichtung“ aus ökonomischer Sicht nicht zuletzt in der „pervertierten Idee findiger Buchhalter“ (ebd. 13) begründet (zum Beispiel im Bereich Sonderschule).
Aktuelle Herausforderungen aufgrund entscheidender Veränderungsprozesse innerhalb des Kontexts sozialer Dienste sind für Speck die Aspekte (1) fachlich-professionell als Spezialisierung und Erschwernis einer ganzheitlichen psycho-sozialen Arbeit und Verlust innerbetrieblicher Flexibilität (2) Die Individualisierung und der Verlust objektiver Maßstäbe sowie die Vielfalt subjektiver Theorien und der Bedeutungsverlust eines Rückgriffs auf objektivierende wissenschaftliche Belege. (3) Die organisatorisch-rechtlichen Anforderungen externer staatlicher Reglementierung wie auch interner Normen und Kontrollen sowie innerorganisatorische Loyalität (u.a. durch Effektivität und Effizienz). (4) Die ethische Perspektive normativer Pluralität, der unterschiedlichen Auffassung von sozialen Verpflichtungen, gleicher Gültigkeit jeglicher Werte und Normen mit Folge einer alternativen rechtlich-bürokratischen Ordnung. (5) Der finanzielle Aspekt bezüglich der staatlichen Finanzierungskrise als Ursache von Qualitätssicherung und ihrer Infragestellung bisher aufgebauter Qualität (vgl. Speck 1999, 30; 31).
Wendt stellt dagegen zunächst berufsunspezifische Veränderungen im Kontext fortwährender gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse für die Beteiligten in der Wohlfahrtsproduktion fest: „Soziale Arbeit findet in der Gesellschaft statt und wandelt sich mit ihren Verhältnissen“ (Wendt 2006, 83). Berufsspezifisch sei dabei allerdings die wachsende Konkurrenz für die Soziale Arbeit durch andere Erbringer von Diensten „am Menschen“ zu beobachten (vgl. ebd.). Eine zentrale Problematik sieht Wendt in der Sichtweise (vor allem auch Selbstverortung) Sozialer Arbeit als Anwaltschaft benachteiligter sozialer Gruppen und als „ersatzweises Eintreten für das, was eigentlich in einer gesellschaftlichen Aktion zu tun wäre“ (ebd.). Dieses (historisch gewachsene) Bild entwerte das Geschäft des Berufes. Denn schließlich sei die Aufgabe der Sozialen Arbeit nicht nur „Klagelieder“ zu singen, sondern vor allem als autonome Leistung der Profession „in den gegebenen Zuständen des Gemeinwesens mit Personen und Gruppen ein situationsbezogenes Gelingen und Auskommen zu erreichen“ und dabei „durchaus zivil und politisch zu disponieren“ (ebd.). Ein weiteres Problem Sozialer Arbeit kann anhand des Kompetenzbegriffs analysiert werden. Ausgehend von seinen Komponenten „Zuständigkeit“ und „Befähigung“ kann geschlussfolgert werden, dass das mangelnde Wissen über die eigene Zuständigkeit dazu führt, dass auch über die eigenen Fähigkeiten keine konkreten Aussagen getroffen werden können. „Von allem etwas bieten zu wollen bedeutet, nichts richtig zu beherrschen und mit allem keine professionelle Domäne des Wissens und Könnens zu besitzen“ (ebd.). Doherr (2007) spricht von einer „diffusen Allzuständigkeit und Professionalisierung“ und meint dabei wohl Ähnliches (132). Insbesondere in Bezug auf die Steigerung der Komplexität sozialer Risiken im Zuge des Strukturwandels sind weitere Kompetenz- und Wissensstrukturen erforderlich (vgl. Dewe 2013, 94). Neben den handlungsweisenden Kriterien der Effektivität und Effizienz kann die Aussagekraft und Zuverlässigkeit methodisch anspruchsvoller Experimentalforschung als Konsens bezeichnet werden. Kontrovers diskutiert wird allerdings die Qualität von Wirkungsbeschreibungen hinsichtlich ihrer notwendigen und hinreichenden Bedingung für das Anleiten der Praxis (Otto et al. 2010, 12). Tatsächlich liegt die spezifische Expertise der Sozialen Arbeit laut Wendt in der „kooperativen Erschließung von Bewältigungs- und Verwirklichungsmöglichkeiten (capabilities) in der Lebensführung von Menschen und in der Gestaltung ihres sozialen Miteinanders“ (2006, 83). Dabei ist die Soziale Arbeit, wie Ansen (2006) bemerkt, trotz wachsender Konkurrenz im Bereich ihrer Handlungsfelder zwar dringend auf eine Überarbeitung ihres eigen Profils angewiesen, dennoch im Gesundheitswesen insgesamt in einer komfortablen Lage: Das Krankheitspanorama sowie die sozial ungleiche Verteilung von Krankheitsrisiken machen sie unverzichtbar (96). Für Insider im Bereich sozialer Dienste entfaltet sich das Qualitätsthema mit seinen Instrumenten zudem hinsichtlich der Chance einer Stärkung der professionellen Position, des fachlichen Ansehens gegenüber Öffentlichkeit und Kostenträgern und im Bereich der persönlichen Qualifizierungsmöglichkeiten durchaus motivierend (vgl. Speck 1999, 35).
1.3.3 Neuorientierungen in der Heil- und Sonderpädagogik
Bonfranchi widmet seiner Überzeugung von der Auflösung der Heil- beziehungsweise Sonderpädagogik mit der Frage „Löst sich die Sonderpädagogik auf?“ ein gesamtes Werk (Bonfranchi 1997). Beobachtet wird dabei die Auflösungserscheinung des Systems Sonderpädagogik9 anhand verschiedener Blickwinkel eines mehrdimensionalen Prozesses. Dabei handelt es sich um äußere, wie (molekular-)biologische (Pränataldiagnostik oder Gentechnologie), ökonomische (Kosten-Nutzen-Analysen) Einflüsse, aber auch innere - durchaus auch positiv zu bewertende - Bewegungen. Hierbei betrachtet er Integrationsbewegungen beziehungsweise das Normalisierungsprinzip in einer „Verschmelzung von sonderpädagogisch motivierten Institutionen mit denen der Regelpädagogik“ (Bonfranchi 1997, 8), unter anderem aber auch die Initiative Betroffener selbst („Independent-living-Bewegung“, „Krüppelbewegung“) als Gegenstand innerer Auflösungserscheinungen (ebd. 10). Zentral ist im heutigen Verständnis der Behindertenhilfe im Sinne von Inklusion, Teilhabe und Deinstitutionalisierung auch die Korrektur ihrer eigenen „Errungenschaften“. Bonfranchi verweist auf die „Käuflichkeit“ der Heil- und Sonderpädagogik zu Beginn der 1970er Jahre, im Zuge derer sie materielle Ressourcen und vermeintliche Anerkennung erhalten habe, „die doch weitgehend der Verbannung der Behinderten aus dem Alltag diente“ (ebd. 20). Abgesehen von den Sonderschulen war die Behindertenhilfe im Bereich ihrer Professionalisierung lange von „chaotischen Zuständen“ geprägt. Wacker bemängelt in ihrer Bestandsaufnahme im Jahr 1989 das Fehlen „obligatorischer Zertifikate“ und „vorgeschriebener Ausbildungsgänge“ zur Betreuung von Menschen mit Behinderung (Wacker, 1989; zit. n. Doherr 2007, 123). Eine unwesentliche Veränderung brachte die Heimpersonalverordnung 1993 durch die gesetzliche Vorgabe eines Anteils an – jedoch „nicht eindeutig bestimmten“ – Fachkräften (vgl. Heimpersv, 1993; zit n. Doherr 2007, 123).
Im Zuge der Revisionsforderung eines durch Paternalismus, Fürsorge und Fremdbestimmung gekennzeichneten Hilfesystems (vgl. u.a. Doherr 2007, 13) zeichnet sich vor allem eine radikale Neuausrichtung in Form eines Verständnisses des Menschen mit Behinderung als Subjekt innerhalb sozialer Dienstleistung, nicht mehr als Objekt von wohlfahrtsstaatlicher Zuwendung ab (vgl. u.a. Fornefeld 2007, 40). In diesem Kontext hat zum Beispiel die Marschroute „vom Betreuer zum Begleiter“ prägenden Einfluss auf Sprachgebrauch und Selbstverortung der Behindertenhilfe entwickelt (vgl. u.a. Schlummer & Schütte 2006, 13; Hähner et al. 2011). Der Umbruch in der Behindertenhilfe ist somit auch geprägt durch die Bewältigung von historischem Ballast und im Kern an einem Paradigmen- und Perspektivenwechsel10 festzumachen. Mit dem Inkrafttreten des SGB IX hat die Forderung nach Selbstbestimmung rechtliche Relevanz in der Rehabilitationsgesetzgebung erlangt. Zu den neuen Modellen einer veränderten Berufsrolle gehört auch das Bild des Assistenten. Konsequent umgesetzt bedeutet dies „die Position eines Arbeitgeberstatus‘ des behinderten Menschen und umgekehrt den Arbeitnehmerstatus des/der Assistenten/-in, der/die quasi als Werkzeug, oder positiv formuliert als Dienstleister/in nur die Tätigkeiten und Verrichtungen auszuführen hat, die die Betroffenen nicht selbst ausführen können bzw. für die sie einen Auftrag erteilt haben“ (Doherr 2007, 13). Vor diesem Hintergrund stehen pädagogische Kompetenz und Intervention (Stichwort: Wirkungsorientierung) grundsätzlich in Frage, erscheint Laienarbeit im Assistenzkonzept (z.B. für die Unterstützung körperbehinderter Menschen) dagegen durchaus sinnvoll und rechtfertigbar, die Tendenz zu Mentalitäten von Hilfen als „Warentausch“ bzw. instrumentelle Unterstützung zum Nachteil der persönlichen Beziehung und Nähe wiederum problematisch (vgl. Niehoff, 2003a; zit. n. Doherr 2007, 14).
Die entscheidende Frage scheint in diesem Kontext das in einem professionellen Verständnis vereinte Verhältnis zwischen den berechtigten Ansprüchen auf Selbstbestimmung einerseits und dem Auftrag zu qualitativ guter Unterstützung andererseits zu sein sowie die grundsätzliche Legitimierung von Sonder- und Heilpädagogik als „konstituierender Bestandteil der Behindertenhilfe“ (ebd.). Der Legitimationsdruck des Sozialstaats, „Innovationen“ wie die Ambulantisierung in der Behindertenhilfe im Kontext von wirtschaftlichen und demographischen Veränderungen zu implementieren, steht dem Legitimationsdruck der Heil- und Sonderpädagogik gegenüber, sich genau in diesem Rahmen professionsethisch zu positionieren. Dederich (2013) gibt einen Einblick in die vielfältigen miteinander verknüpften Aspekte des Legitimierungsproblems der Heil- und Sonderpädagogik. Dazu gehört im Kontext von Ökonomisierung und Inklusion u.a. auch, „stichhaltige[…] Argumente für die Unverzichtbarkeit sonderpädagogischer Kompetenz“ gegenüber Gesellschaft und Staat zu liefern (165). Dabei verzeichnen Graf und Weisser (2005), die sich mit dem Gegenstand der Sonderpädagogik in Forschung und Ausbildung auseinandersetzen, durchaus einen steigenden Bedarf sonderpädagogischer Expertise, während sich das Fach gleichzeitig in einer „tiefgreifenden Krise über Form, Inhalt und Bedeutung seiner Selbst“ befindet: „ Da wird etwas nachgefragt, das sich selbst nicht begreifen kann “ (o.A.).
2 Gültiges Wissen, Professionalität und Dienstleistung im Kontext sozialer Aushandlungsprozesse
In das im ersten Kapitel stilisiert dargestellte wohlfahrtspluralistische Rahmenmodell mit spannungsvollen Bezügen zum realen Anforderungsprofil professioneller Dienstleistung im Rehabilitationssystem fügen sich die folgenden Betrachtungen ein.
Die Ausführungen zur Evidenzdiskussion versuchen eine Annäherung an den Evidenzbegriff und eine Auseinandersetzung mit einigen zentralen Begriffen und Motiven des Modells der Evidenzbasierten Praxis. Hier gilt die Herausforderung einer Orientierung zwischen „äußeren“ Einwänden und den Unklarheiten „innerer“ Aushandlungsprozesse.
Eine Perspektivenöffnung hinsichtlich des Evidenzbegriffs kann über erkenntnis- und wissenstheoretische Blickwinkel erfolgen. Dies kann in einem professionstheoretischen Konzept der Wissensbildung münden, das den Versuch unternimmt, der bekannten Theorie-Praxis-Diskrepanz auf konstruktive Weise zu begegnen.
Der Wirkungsdiskurs ist aufgrund der dargelegten Rahmengegebenheiten der Rehabilitation unerlässlich. Die Adressaten-/Nutzerorientierung ist dabei eine neuere Perspektive und soll besonders in Bezug auf den Aspekt der „sozialen Qualität“ nähere Beachtung finden.
2.1 Die Evidenzdiskussion im Gesundheits- und Sozialwesen
2.1.1 Wozu Evidenz?
„Was Evidenz für sich beansprucht, bleibt unhinterfragt, ist beweiskräftig, steht klar vor Augen, leuchtet unmittelbar und auf direktem Wege ein. Evidenz spricht für sich oder bürgt für anderes“.
(Cuntz et al. 2006, 9)
Dass „Evidenz“ in der professionellen Arbeit eine Rolle spielen soll, hat „intuitiv etwas Attraktives“ (Biesta 2010, 99). Eine gute Praxis, die sich einer „auf strikte[n] und effektive[n] Methodologien gründende[n] Evidenz“ bedient „hat in unserer gegenwärtigen technokratischen Kultur eine tiefe Faszination“ (Webb 2010, 187). Professionen beanspruchen, „über ein ‚spezialisiertes Wissen und Können, das als wertvoll für das menschliche Leben erachtet wird, zu verfügen‘“ (Freidson, 1994; zit. n. Biesta 2010, 99) und sich gemäß dem menschlichen Wohlbefinden auszurichten. Begründet werden kann somit, professionelles Handeln11 nach dem besten verfügbaren Wissen auszurichten. Zudem verlangt der wachsende Kostendruck im Gesundheits- und Sozialwesen nach objektiven Kriterien zur Beurteilung des „Werts“ einer Behandlung/Maßnahme. „Wertlose“ Behandlungsformen und Therapien sollen dabei durch die Nichtfinanzierung aussortiert werden (vgl. Rogler & Schölmerich, 2000, 1122). Dies zeigt auch u.a. auch die aktuelle rechtliche Basis der EbM im SGB V §137f mit Verweis auf „beste verfügbare Evidenz“ und „evidenzbasierte Leitlinien“.
2.1.2 Evidenz und evidence – eine semantische Hürde
Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Evidence-based medicine“ und anderer sich daraus ableitender Konzepte führte im Zuge ihrer Implementation in Deutschland allein in Bezug auf eine angemessene Übersetzung der EbM-Idee zu teils heftigen Irritationen und Diskussionen auf linguistischer, philosophiegeschichtlicher und wissenstheoretischer Ebene. Rogler und Schölmerich (2000) fragen:12 „Wer ist sich denn wirklich der Bedeutung des Begriffes ‚Evidenz‘ vollständig sicher?“ (1122). Die Annahme einer nicht nur sprachlichen, sondern auch „begrifflichen Inkompatibilität“ (Weßling 2011, 154) kann dabei als grundsätzliche Implementationsschwierigkeit, aber mutmaßlich auch als Nährboden für verschiedene vom ursprünglichen Kerngedanken der EbM nach Sackett et al. abweichende Variationen betrachtet werden. Bevor das Konzept der Evidenzbasierten Medizin vorgestellt und seine Rezeption sowie die zentralen Begriffe einer etwas vertiefenden Betrachtung unterzogen werden, illustrieren zunächst die folgenden Beiträge – bezeichnenderweise zunächst unsystematisch dargestellt – eine rege Beteiligung an der Evidenz-Debatte:
Der Begriff „Evidenz“ (lat. evidentia = Augenscheinlichkeit) bedeutet im Deutschen umgangssprachlich: Augenschein, Offenkundigkeit, völlige Klarheit. Die Aussage: „Das ist doch evident“ bedeutet somit, dass etwas nicht weiter hinterfragt werden muss, keiner weiteren Überprüfung bedarf (vgl. DNEbM 2015). Den Grundbegriff der „evidentia“ verfolgt Schnell unter Hinzunahme des Historischen Wörterbuchs der Philosophie als „Offenkundigkeitscharakter des je Offenkundigen“ bis Cicero zurück (Schnell 2004, 44). Des Weiteren meint Evidenz eine „einleuchtende Erkenntnis oder auch eine überwiegende Gewissheit“ (Schmidt 2006, 99) sowie „die empfundene Selbstverständlichkeit einer Aussage“ (Rogler & Schölmerich 2000, 1123), umschreibt also im Grunde, dass über die subjektive Empfindung eine gewisse Objektivität erreicht wird: „Das muss jeder vernünftige Mensch einsehen“ (ebd.). Husserl zufolge handelt es sich bei Evidenz um „nichts anderes als das ‚Erlebnis‘ der Wahrheit“ und den Gegensatz zum „bloß sachfernen Meinen“ (Husserl, 1975, 1977; zit. n. Schnell 2004, 44). Bock gibt zu bedenken, dass „Evidenz“ als „die unmittelbare, nicht auf Beweise gegründete Einsichtigkeit von Beobachtungen und Erkenntnissen“ auf das Gegenteil des angelsächsischen „evidence“ hindeutet (Bock 2001, 300). Denn die Begriffsbedeutung von „evidence“, übersetzt als Aussage, Zeugnis, Beweis, Ergebnis, Unterlage, Beleg verortet sich eher im Bereich der juristischen Beweisaufnahme und Faktenüberprüfung (vgl. DNEbM 2015; Nußbeck, 2013, 251; Bock 2001, 300; Schnell 2004, 44) und „bezieht sich auf die Informationen aus wissenschaftlichen Studien und systematisch zusammengetragenen klinischen Erfahrungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen“ (DNEbM 2015). In der Wissenschaftstheorie wiederum ist im Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert ein Rückgriff auf die im Lateinischen angelegte Fassung zu beobachten: „Als evident gilt das, was hervorsticht und als bedeutsam angesehen wird“ (Schnell 2004, 44).
2.1.3 Das Konzept der Evidenzbasierten Medizin (EbM) nach Sackett et al.
Die Arbeitsgruppe um David Sackett an der McMaster University hat sich 1996 zur Frage „Evidence based medicine: what it is and what it isn’t“ geäußert. Verständlich wird ihr Ansatz in seinem ursprünglichen Schwerpunkt als Trainingsmethode, um „den Klinikärzten kritische Mittel für ihre Einschätzungen an die Hand zu geben, um die wissenschaftliche Basis der medizinischen Entscheidungsfindung zu stärken“ (Bellamy et al. 2010, 31).
EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung (Sackett et al. 1997).
Bei der individuellen klinischen Expertise handelt es sich um das „Können und die Urteilskraft, die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben“ (ebd.). Expertise entwickelt sich im Kontext „treffsicherer Diagnosen“ und in Form der „mitdenkenden und –fühlenden Identifikation und Berücksichtigung der besonderen Situation, der Rechte und Präferenzen von Patienten bei der klinischen Entscheidungsfindung im Zuge ihrer Behandlung“ (ebd.). Hinsichtlich der „besten verfügbaren Evidenz“ verweisen Sackett et al. darauf, dass sie „zur Neubewertung bisher akzeptierter diagnostischer Tests und therapeutischer Verfahren“ und „solche[r], die wirksamer, genauer, effektiver und sicherer sind“ führe (ebd.).
Deutlich wird das Anliegen der EbM nach Sackett et al. vor allem in dieser Aussage:
Gute Ärzte nutzen sowohl klinische Expertise als auch die beste verfügbare externe Evidenz, da keiner der beiden Faktoren allein ausreicht: Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis durch den bloßen Rückgriff auf die Evidenz ‚tyrannisiert‘ zu werden, da selbst exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht anwendbar oder unpassend sein können. Andererseits kann ohne das Einbeziehen aktueller externer Evidenz die ärztliche Praxis zum Nachteil des Patienten leicht veraltetem Wissen folgen (Sackett et al. 1997).
Dass es sich bei dem Konzept der EbM nicht um ohnehin praktizierten Usus handelt, wird unter anderem anhand der „beeindruckenden Vielfalt bei der Integration der Einstellungen der Patienten“ […] wie auch durch die unterschiedliche Häufigkeit, mit der gleiche Verfahren angewendet werden“, unterstrichen. Darüber hinaus sind zentrale Punkte des Leitartikels zum einen die Abwehr des Vorwurfs einer „Kochbuchmedizin“, da es sich bei EbM laut Sackett et al. um einen „Bottom-up“, nicht einen „Top-down“ Ansatz handelt, zum anderen die Wertschätzung einer je nach Fragestellung angemessenen Forschungsmethodik im Bereich Diagnostik, Prognostik und Therapie. Für Letztere wird der „Goldstandard“, die randomisierte kontrollierte Studie (RCT) favorisiert. Generell deutet der Hinweis auf „die nächstbeste externe Evidenz“ bei fehlender kontrollierter Studie darauf hin, dass EbM hinsichtlich des Instrumentariums der empirischen Sozialforschung einen hierarchisch gestaffelten Evidenzbegriff impliziert. Abbildung 1 veranschaulicht die zentralen Kernelemente (bzw. „Säulen“; vgl. Cochrane Deutschland 2015) des EbM-Konzepts.
2.1.4 Die Rezeption der EbM im Gesundheits- und Sozialwesen
Mit Blick auf das Konzept der Evidenzbasierten Medizin und der Suche nach einem wissenschaftstheoretischen Fundament moniert Weßling (2011), „dass weder der Begriff der evidence in seiner englischsprachigen Verwendung durch Sackett et al. noch der der Evidenz in seiner deutschsprachigen Verwendung durch Raspe et al. bisher wirklich eindeutig in ihrem theoretischen Gehalt bestimmt worden sind“ (147). Aufgrund der oben dargelegten verschiedenartigen Semantik gilt die „Evidenzbasierte Medizin“ bei vielen Kritikern als unreflektierte begriffliche Übernahme im deutschen Sprachraum. So sprechen sich einige Autoren für eine Abwandlung als „beweisgestützte Medizin“ (vgl. u.a. Bock 2001, 300) oder für eine Anpassung des Begriffsverständnisses von Evidenz als „Begründung“ oder „nachweisgestützt“ aus (vgl. Wichert 2005, A1569). Raspe (2000) misst dagegen der begrifflichen Diskussion „trotz oder sogar wegen der möglichen Missverständnisse“ einen produktiven Wert bei (39). Die „Karriere“ der EbM in Deutschland umfasst nach Raspe (2003) vor allem die akademische Diskussion um Theorie, Ethik und Geschichte der klinischen Medizin und die Regulierung und Rationalisierung der ärztlichen Praxis auf der systemischen Ebene, jedoch bisher weniger ihre Resonanz als „evidence- based clinical medicine“ (689). Dem stimmt auch Bock (2001) zu, der im Konzept EbM aktuell eher einen Pleonasmus beobachtet, da sie sich mehr an der wissenschaftlichen Medizin orientiert, anstatt sich – ganz im Sinne Sacketts et al. – in bewusste Nähe zur ärztlichen Praxis zu begeben, also das (therapeutische) Handeln des Arztes in den Vordergrund zu stellen, das sich auf bewiesenen Verfahren gründen soll (301).
So ist die EbM in Deutschland insbesondere unter dem Aspekt ihres „Geburtsfehlers“ als „Revolution von oben“ (Top-Down) bzw. als Instrument der Gesundheitspolitik zu betrachten (vgl. Raspe, 2007; zit. n. Weßling 2011, 36; Raspe 2000, 55). Rogler und Schölmerich (2000) beobachten zudem einen wachsenden Universalanspruch der EbM Idee, der mit der ursprünglichen „Integration von klinischer Erfahrung und bester externer Evidenz zur Lösung eines individuelle (sic) Problems“ nach Sackett et al. nicht mehr deckungsgleich scheint (1123). Erklärbar werden vor diesem Hintergrund die teils heftigen und polemisch geführten Debatten im Kontext der „Deprofessionalisierung des Arztberufs“ (vgl. u.a. Raspe 2003; Weßling 2011, 106ff). Im Zentrum stehen dabei u.a. ethische Fragen, ökonomischer Druck, Machtverluste gegenüber anderen Gesundheitsberufen, wachsende gesellschaftliche Kontrolle, Entmündigung bzw. Verlust der Selbstverwaltungsautonomie (vgl. ebd.).
In der Versorgungsforschung wird die Evidenzbasierte Medizin dem allgemeineren Bereich der Evidenzbasierten Praxis, also im Kern der (individuellen) Patientenebene zugerechnet (vgl. Pfaff & Schrappe 2011, 34). Aus dem ursprünglichen Modell der EbM ist inzwischen ein transdisziplinäres Konzept geworden, das im gesamten Gesundheitswesen (als Evidenzbasierte Praxis: EbP) eine weite Verbreitung gefunden hat (vgl. Nußbeck 2013, 256). Sein Auftreten und diesbezügliche Debatten erstrecken sich insgesamt über viele (Human-)Wissenschaften und Anwendungsbereiche (u.a, Psychologie, Pädagogik, Supervision, Versorgungsforschung, Pflege, Suchttherapie, Unterstützte Kommunikation; vgl. Hüttemann 2010, 123).
Die Evidenzbasierte Praxis und das „What-Works-Paradigma“ stehen „für zunehmend zielgerichtete Zusammenführungen von Wirksamkeits- und Effektstudien, für den Ausbau von Informationsnetzwerken und Datenverarbeitungssystemen sowie für die Implementation entsprechender Praxisprogramme“ (Dewe 2013, 98). Dabei soll sich Dienstleistung rational, wirtschaftlich und gleichzeitig passgenau auf den jeweiligen Adressaten ausrichten (ebd.). Entscheidenden Nährboden liefert dabei z.B. die Kritik an der vorherrschenden Sozialen Arbeit als „authority-based Profession“ (vgl. Gambrill, 2001; zit. n. Albus et al. 2011, 244). EbP findet u.a. vor dem Hintergrund eines häufig fehlenden oder mangelnden „informed consents“ im Zusammenhang mit einer wachsenden Fülle von Behandlungsmaßnahmen, unter dem Gesichtspunkt seriöser Berufspraxis, zum Schutz der Adressaten oder auch bzgl. der Sicherstellung lebenslanger Fort- und Weiterbildung auch im sozialen Sektor Anklang (vgl. Nußbeck 2013, 251). Nußbeck beobachtet darüber hinaus bei EbP als allgemeinere Form der EbM eine breitere Definition und größere Zuwendung zu „klinische[r] Praxis und Erfahrung, Klientenbedürfnisse[n], ihre[n] Eigenschaften[n] und individuellen Präferenzen sowie deren Integration in Entscheidungen über individuelle Interventionen“ im Sinne Sacketts und plädiert angesichts erschwerter Umsetzbarkeit methodisch anspruchsvoller empirischer Sozialforschung im Bereich pädagogischer Fragestellungen für angepasste Kriterien von Evidenz, die zusätzlich „das Spektrum erweitern sollen“ (ebd. 253).
Ein entscheidender Kritikpunkt an der aktuell beobachtbaren Entwicklung Evidenzbasierter Praxis scheint jedoch die Verkürzung des Ansatzes auf die Ermittlung von Evidenz zu sein, dabei jedoch kaum die entscheidende Frage nach den Bedürfnissen und der subjektiven Wahrnehmung Betroffener zu stellen (ebd. 262). Auch Wilken (2010) merkt an, dass das von den Beteiligten als elementar Empfundene der Arzt-Patienten-Beziehung innerhalb der Professionalisierungsdebatten insgesamt unterbelichtet und meist implizit bleibt (12).
2.1.5 Die beste verfügbare Evidenz
Sackett verwendet „evidence“ im Sinne Poppers, also als „Hypothese, die zur Falsifizierung offen ist“ (Köbberling 2000, 18). Nach Köbberling enthält die EbM-Technik folgende Verfahrensschritte (ebd.18f; vgl. Weßling 2011, 16):
1. Formulierung beantwortbarer klinischer Fragen
2. Suche nach der besten externen Evidenz
3. Kritische Bewertung dieser Evidenz bezüglich Validität und klinischer Relevanz
4. Umsetzung dieser Erkenntnisse in die klinische Arbeit
5. Bewertung der eigenen Leistung
Eine Rangordnung der Evidenz wurde in konsequenter Weise zuerst von der Canadian Task Force on the Periodic Health Examination verwendet, um Empfehlungen zur Prävention zu erarbeiten (vgl. Perleth & Raspe o.A., 1). Aus dieser Hierarchie wurde „die Stärke der Empfehlung“ (strength of recommendation) abgeleitet und das System der Evidenzstufen seither in verschiedenen Varianten weiterentwickelt. Es gilt als Standard für die Bewertung medizinischer Technologien sowie als Maßstab in Kostenübernahmeentscheidungen der Bundesauschüsse Ärzte/Krankenkassen.
Der Evidenzbasierten Praxis geht es vor allem um die Offenlegung der Güte eines Wirksamkeitsbelegs und um die Herstellung von Transparenz (vgl. Schmidt 2006, 101), um die Organisation, Bewertung und Verbreitung von Studien vor dem Hintergrund wachsender Publikationsfluten und darüber hinaus um das Selbstverständnis als Information der Nutzer (vgl. Hüttemann 2010, 131). Sie orientiert sich an einer fünf-stufigen Evidenzhierarchie. Dabei werden die randomisierte kontrollierte Studie (RCT) als Goldstandard (höchste „Glaubwürdigkeit“; vgl. Weßling 2011, 23) des Instrumentariums sowie systematische Übersichten einzelner RCTs der Evidenzstufe I zugeordnet. Die schwächste Evidenzstufe (V) beinhaltet „Konsensuskonferenzen und/oder klinische Erfahrungen anerkannter Autoritäten ohne explizite Grundlage von kritisch bewerteter Evidenz“ (Weßling 2011, 21), insgesamt jedoch „jeden Evidenztyp, der nicht mit Hilfe des Methodenkanons der klinischen Epidemiologie gewonnen wurde“ (ebd. 22).
Hohe Evidenzlevel im Sinne der empirischen Sozialforschung sind besonders bei medizinischen (vs. sozialen) Interventionen, individuen- (vs. gemeindebezogenen) Maßnahmen, bei leicht zugänglichen (vs. benachteiligten) Bevölkerungsgruppen und bei wirtschaftlich lukrativen Maßnahmen (besseres Sponsoring) zu finden (vgl. Rychetnik et al., 2002; zit. n. Gerhardus et al. 2008, 409). Der angemessene methodische Wissenszugang richtet sich, wie die Begründer der EbM um Sackett selbst erläutern, nach der konkreten Fragestellung beziehungsweise dem Problem. In diesem Sinne betrachtet Schmidt die Evidenzbasierte Praxis durchaus als flexible Methode. Die „beste verfügbare Evidenz“ bezieht sich auf ihrem höchsten Level neben der Ermittlung systematischer Evidenzbasierung auch auf qualitative Forschungen und Expertenempfehlungen aus „strukturierter Konsensbildung, bei nicht nachgewiesener oder strittiger Evidence“ (ebd.). Für die sogenannten S3 Leitlinien im medizinischen Bereich wird beispielsweise dringend die Einbindung der klinischen Expertise der Professionellen empfohlen. Somit muss die Perspektive der systematischen Wissensermittlung vor allem da besonders breit angelegt werden, wo sich der Gegenstand der Evidenzsuche in einem interdisziplinären und multiprofessionellen Feld bewegt (vgl. Schmidt 2006, 102).
Insgesamt ist durchaus strittig, ob starke und schwache Evidenzen in Form der Evidenzgrade der EbM unterschieden werden können. Ein absoluter und damit objektiver Evidenzbegriff, wie von Bretano vertreten, kann nicht durch Abstufungen definiert werden. Abstufungen erfolgen bei ihm lediglich durch den Grad der Überzeugung. Überzeugungen entsprechen jedoch einem subjektiven Erleben, das sich jederzeit als falsch herausstellen kann. „Schwache“, „starke“ oder „vitale“ Evidenzen erzeugen eine subjektive Komponente (vgl. Rolger & Schölmerich 2000, 1125). Doch scheint die EbM in ihrer aktuellen Interpretation ja „gerade das subjektive Moment [des Evidenzbegriffs] zugunsten des objektiven zurückdrängen, d.h. von individueller Erfahrung weitgehend absehen“ zu wollen (vgl. Rogler und Schölmerich 2000, 1123). Bock (2001) zufolge ist eine Bewertung jeder einzelnen Studie zur Urteilsbildung im Sinne einer „Best-Evidence Synthesis“ (nach Slavin) unumgänglich. „Der dabei ins Spiel kommende subjektive Faktor wird auch durch die scheinbare Exaktheit und Objektivität der Rechenoperationen mit Metaanalysen nicht eliminiert werden“ (303).
Dennoch betrachtet Schmidt die „beste verfügbare Evidenz“ (im Sinne des angelsächsischen „evidence“) als Konstrukt, das auch das Sozialwesen „grundsätzlich in die Lage versetzt, eine wissensbasierte Weiterentwicklung praktischen Handelns im Sinne evidenzbasierter Praxis einzuleiten“ (Schmidt 2006, 101). Denn eine alleinige Orientierung am „Goldstandard“ der empirischen Sozialforschung zur Bildung nationaler Standards auf der Makro-Ebene würde dazu führen, dass die Soziale Arbeit kaum die Möglichkeit hätte, „mit Hilfe von evidenzbasierter Praxis ihre Dienstleistungen zu sichern und eine kontinuierliche Qualitätsverbesserung anzustoßen“ (ebd.). Das scheint jedoch die Evidenzbasierte Medizin selbst auch erkannt zu haben. Innere Aushandlungs- und Anpassungsprozesse werden beispielsweise anhand der aktuellen Beschreibung von „Evidenz“ (mit Verweis auf das angelsächsische „evidence“) seitens des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin deutlich: Evidenz „bezieht sich auf die Informationen aus wissenschaftlichen Studien und systematisch zusammengetragenen klinischen Erfahrungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen“ (DNEbM 2015). Interessanterweise wurde der Zusatz „systematisch zusammengetragenen klinischen Erfahrungen“ erst im Nachhinein ergänzt. Das wird bei Dick und Kringler (2007) ersichtlich, die sich der gleichen Quellen annehmen (42).
An dieser Stelle soll die Betrachtung des sich in erster Linie auf den der klinischen Epidemiologie beziehenden Evidenzbegriffs nicht weiter vertieft werden. Kritische Beiträge sind ausreichend auch an anderer Stelle zu finden13. Stattdessen wird hinsichtlich der weiteren Annäherung an die Bedeutungsebenen des Evidenzbegriffs eine begriffliche Vertiefung bevorzugt.
2.1.6 Evidenztypen: Externe, interne und externalisierte lokale Evidenz
Implizit erweckt der Begriff der „individuellen klinische Expertise“ des EbM Konzepts nach Sackett et al. den Anschein, als handele es sich dabei um das Äquivalent einer internen Evidenz (vgl. Weßling 2011, 202). Als grundlegendes Unterscheidungskriterium wird häufig angeführt, dass „die interne Evidenz primär auf eigener Erfahrung beruht und die externe hauptsächlich auf der Anderer“ oder dass die externe Evidenz dem „statistischen Durchschnitt“, die interne Evidenz dem „individuellen Patienten/Klienten gelte (u.a. Schnell 2004, 44; 46). Dabei ist die gemeinsame Quelle interner und externer Evidenz das „bei der Sache selbst Sein“ (ebd. 44). Die genaue Abgrenzung einer externen und internen Evidenz ist laut Raspe jedoch „ein in der EbM bisher vernachlässigtes Thema“ (vgl. Weßling 2011, 202). Behrens gibt darüber hinaus in seiner Entgegnung auf einen Beitrag von Werner Vogd zu bedenken, dass es mitunter gerade die Unaufhebbarkeit der Unterscheidung von interner und externer Evidenz sei, die zur Entstehung von EbM geführt habe (vgl. Behrens 2003, 262). Dieser Eindruck wird auch durch die bereits oben herangezogene Aussage Schnells erweckt, der den unterschiedlichen epistemologischen Status von interner Evidenz als leibliches Wissen, das mehr ist, als in Sprache zu fassen wäre und externer Evidenz hervorhebt (vgl. Schnell 2004, 43). Eine explizite Erwähnung in der Definition der EbM durch Sackett findet allerdings nur die externe Evidenz (vgl. Raspe 2000, 39; Sackett et al. 1997).
externe Evidenz: Die Evidenzbasis der EbM leitet sich aus wissenschaftlich kontrollierten Erfahrungen ab, aus den jeweils verfügbaren Ergebnissen klinisch evaluativer Forschung. „Solche Evidenz [ist] der aktuellen klinischen Situation grundsätzlich äußerlich“ (Raspe 2000, 39). Auch die örtliche und zeitliche Einordnung der externen Evidenz charakterisiert ihr Erscheinungsbild: Die betreffenden Studien werden fast immer anderenorts, „in jedem Fall aber in der Vergangenheit [durchgeführt]“ (ebd.). Wenn Evidenz aus früherer methodisch kontrollierter Erfahrung handlungsleitend werden soll, muss sie „importiert“ werden. Darüber hinaus wird zwischen direkter und indirekter Evidenz unterschieden (vgl. Ohmann & Verde 2011, 280). Dies hängt mit der Fähigkeit des Ergebnisses zusammen, „einen direkten Zusammenhang zwischen einer Exposition, einer diagnostischen Strategie oder einer therapeutischen Intervention mit dem Auftreten eines Endpunktes14 her[zustellen]“. So sind häufig Modelle der verallgemeinerten Evidenzsynthese nötig, um indirekte Evidenzen oder „Stücke“ direkter Evidenz hinsichtlich wichtiger Endpunkte in Beziehung zu setzen (vgl. Eddy et al., 1992; zit. n. Ohmann & Verde, 280). Die engere Definition der „externen Evidenz“ bleibt jedoch oftmals, wie Weßling (2011) zu denken gibt, unklar. Nicht immer liegt der Fokus ausschließlich auf klinisch-epidemiologischen Inhalten wissenschaftlicher Artikel. Definitionen der „externen Evidenz“ erweisen sich durchaus auch als offener (vgl. ebd. 18).
Interne Evidenz: „Gibt es ‚externe‘ Evidenz, dann muss es weitere, z.B. ‚interne‘ geben. Offenbar haben wir es in der medizinischen Praxis mit Evidenzen zu tun“ (Raspe 2000, 40). Die interne Evidenz ist im Gegensatz zur externen Evidenz in der klinischen Situation zu suchen, sie zeigt sich zum Beispiel „in den Ergebnissen klinisch und technisch unterstützten Beobachtens und Messens, im Wiedererkennen typischer Krankheitsbilder, im Wahrnehmen eigener Affekte und im zwischenmenschlichen Verstehen und schließlich auch im pathophysiologischen und psychopathologischen Erklären“ (ebd.). Voraussetzung hierfür sind neben externer Evidenz auch Überlieferung und Lernen. Interne Evidenzen bilden so das Substrat aller individuellen klinischen Erfahrungen. Es handelt sich um „in Fleisch und Blut“ übergegangenes Wissen und ist als Ganzes nicht sprachlich artikulierbar (vgl. Schnell 2004, 43). Raspe weist jedoch darauf hin, dass dies für eine „handlungswissenschaftliche Fundierung“ nicht ausreiche. Es fehle dabei unter anderem an Kontrolle, Systematik und Dokumentation sowie an Sensibilität für seltene und ausbleibende Ergebnisse, wie sie vor allem von der Prävention erhofft werden (ebd.).
Externalisierte lokale Evidenz:
Klinische Erfahrung in Form erzählbarer Kasuistik, Gedächtnis und Gewissen liegt auch aggregiert vor, zum Beispiel in Form klinisch registrierter Einzelfälle. Es handelt sich um einen Evidenztypen, der an immer größerer Bedeutung gewinnt. „Lokal“ bezieht sich auf das in einer Einrichtung generierte Wissen. Mit „externalisiert“ könnte man das Phänomen beschreiben, dass interne Evidenz extern gespeichert wird, im Zuge dessen systematisiert, zu verschiedenen Zeitpunkten abgerufen und vielfältig verarbeitet werden kann. Zum Beispiel „auch um Kostenträger und Patienten“ – im Sinne einer evidence-informed patient choice - „von der Qualität des eigenen Handelns zu überzeugen“ (Raspe 2000, 41). Raspe misst dem Typ der externalisierten Evidenz auch im Rahmen interner und externer Qualitätssicherung einen wachsenden Stellenwert bei sowie der Untersuchung der Zweckmäßigkeit (effectiveness) medizinischer Leistungen unter Alltagsbedingungen (ebd. 42). Innerhalb der Implementation von Wirkungsorientierung in der Praxis muss Forschungswissen neben der Orientierung an den individuellen Klientenbedürfnissen in Relation zu einem institutionsbezogenen „lokalen Wissen“ gesetzt werden (vgl. Proctor & Rosen 2010, 219).
Trotz dieser zusammengestellten Ausführungen bleibt anhand der gesichteten Literatur unklar, ob die interne Evidenz nicht als eine der externen Evidenz übergeordnete Perspektive geltend gemacht werden kann. Es könnte argumentiert werden, dass die interne Evidenz unter Bezugnahme auf verfügbare externe Evidenz, Erfahrungswerte des Professionellen, den Problemkontext sowie die Wünsche des Patienten/Klienten und andere Faktoren idealtypisch als Synonym für das Ergebnis eines individuellen Aushandlungsprozesses dargestellt werden kann. Eine Gleichsetzung allein mit der klinischen Expertise des Professionellen (wie bei manchen Autoren üblich) wäre in diesem Zusammenhang unzulänglich. Unklar bleibt auch die Bedeutung des „direkten“ und „intuitiven“ Zugangs zu Erkenntnissen über Wertvorstellungen und Ressourcen in der klinischen Situation, auf die Gerhardus et al. (2008) in Abgrenzung zu einem populationsbezogenen Evidenzbegriff des „Public Health“ verweisen (409). Dies sind jedoch Gedankenskizzen, die an dieser wie auch anderer Stelle in dieser Arbeit keine eindeutige Antwort finden und im Rahmen einer Vertiefung weiter aufgegriffen werden müssen.
Evidenzbasierung nach Schnell:
Mit Schnell (2004) kann nun, nach einer näheren Betrachtung der EbM-Methode und ihrer zentralen Begriffe, zunächst das Anliegen einer (Neu-)Konzeption der „besten verfügbaren Evidenz“ anhand fünf kritischer Punkte nachverfolgt werden (43):
1. Das eng an Karl Popper orientierte Verständnis des Fortschritts, der immer mehr Wahrheit erzeugt, das Falsche absterben lässt und so das aktuell verfügbare Wissen der Wahrheit am nächsten kommt, ist eine einseitige Betrachtung. Forschung ist ein gesellschaftliches System, das, so wie es Wissen verfügbar macht, anderes dem öffentlichen Zugriff entzieht oder gar nicht erst zulässt.
2. Externe Evidenz entsteht durch eine Explikation impliziten Wissens. Externe Evidenz war also historisch betrachtet einmal interne Evidenz. Über welche Sprache findet diese Explikation also statt? Ist dies eine konkrete Fragestellung des Dokumentationswesens?
3. Wissen soll im klinischen Entscheidungsprozess in der Idee der Integration kohärent zusammenstimmen. Idealistisch betrachtet darf es daher nicht zu viele sich um Geltung streitende und nicht zu wenig Antworten auf eine Entscheidung abverlangende Fragestellung geben.
4. Das Wissen des Experten ist leibliches Wissen und liegt hinter einer explizierenden Sprache. Er weiß folglich mehr, als er in Worte fassen kann. Die Integration von eigener Expertise, die versprachlicht wird, und bereits formulierter externer Evidenz, erfolgt nicht auf einer Ebene.
5. Die verschiedenen beteiligten Wissensebenen haben eine gemeinsame Quelle. Der Evidenzbegriff schwankt in seiner langen Traditionen zwischen ontologischen und normativen Bestimmungen
2.1.7 Evidenz und evidence - ein Annäherungsversuch
Wie oben dargestellt wurde, kreist ein zentraler Schwerpunkt der EbP-Diskussion um die eher schwache und mehrdimensionale Definition des Evidenzbegriffs. Eine konstruktivere Annäherung der Begriffe liefert Cuntz in seinen Anmerkungen zur Übersetzung des englischsprachigen Beitrags von Nichols (2006, 98). Demnach ist der deutsche Evidenzbegriff im Englischen eher als „self-evidence“ aufzufassen. Allerdings ist das Evidenzmoment im Sinne des Deutschen […] in der englischen evidence durchaus mitgedacht, nur dass es hierbei nicht so sehr darauf ankommt, dass diese Evidenz einem Ding oder einer Tatsache erlaubt, für sich selbst einzustehen, sondern vielmehr für etwas anderes, etwa ein Verbrechen oder ein historisches Geschehen bürgen zu können. Ein guter Beweis muss das zu Beweisende als genauso Seiendes oder häufiger noch als genauso Gewesenes erscheinen lassen. Daher wird bei der Übersetzung von evidence […] mit gutem Grund auch „Evidenz“ verwendet (Nichols, 2006, 98).
[...]
1 Die traditionelle Abgrenzung der Profession „Soziale Arbeit“ als Jugend- und Sozialhilfe bzw. Sozialarbeit und Sozialpädagogik ist aus heutiger Sicht nicht mehr haltbar (vgl. Thole 2012, 19f). Sie entwickelt sich zu einer „ganzheitlichen Perspektive“ u.a. auch in der Behindertenhilfe (vgl. Röh 2009, 26). Nicht ohne Belang ist jedoch in der vorliegenden Arbeit die längere Forschungstradition der „klassischen“ Arbeitsfelder z.B. hinsichtlich empirischer Sozialforschung. Sollte im Folgenden von der „traditionellen“ oder „klassischen“ Sozialen Arbeit die Rede sein, wird dies entsprechend kenntlich gemacht. Davon abgesehen wird mit „Sozialwesen“, „soziale Arbeit“, „soziale Dienste, „sozialer Sektor“, usw. üblicherweise eine allgemeinere Form gewählt.
2 Allein zum Zweck der Vereinfachung sei hier und im Folgenden mit der männlichen Form immer auch die weibliche bezeichnet. Die Begriffsverwendung für das Subjekt von Hilfeleistungen variiert dabei. Dies ist zum einen durch eine in der Literatur zu beobachtende wissenschaftliche Unentschlossenheit, zum anderen häufig durch den je professionsspezifischen Zugang zur Thematik begründet.
3 Die im Titel dieser Arbeit verwendeten einfachen (englischen) Anführungszeichen kennzeichnen den Evidenzbegriff grundsätzlich als Konstrukt, somit als einen innerhalb seiner Bedeutung(-sebenen) zur Diskussion gestellten Terminus. Diese Art der Hervorhebung wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht in konsequenter Weise verfolgt. Explizite Betonungen der Bedeutungsebene erfolgen in der Regel mithilfe der im Deutschen üblichen Anführungszeichen („…“).
4 Die einleitenden Ausführungen zum Dritten Sektor beziehen sich vornehmlich auf die Arbeit von Schulz-Nieswand und Köstler (2011), die an dieser Stelle zwecks einer Vertiefung ausdrücklich empfohlen wird, ebenso wie der geschichtliche Überblick der Koordinationssysteme und ihr Zusammenwirken bei Kubon-Gilke (2013).
5 Aus internationaler Perspektive ist eine „mixed economy of welfare“ in neuen Arrangements und Aufgabenverteilungen zwischen Markt, Staat, gemeinnützigen Organisationen und Privatinitiative zu beobachten (vgl. Wendt 2006, 84).
6 Siehe hierzu auch Kubon-Gilke 2013, 63ff.
7 Zur rechtlichen Dimension der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung ausführlich u.a. Niediek, 2010; Weber 2014.
8 Die Grundfrage nach der Beziehung zwischen „Kausalität (mit Voraussetzung zeitlich-linearer, gesetzmäßiger Ordnungsfähigkeit), Rationalität (nach Maßgabe des Zweck/Mittel-Schemas) und Sozialität (unter der Bedingung der Einbeziehung der Selbstreferenz der beteiligten Subjekte)“ kann historisch auf die Zeit um 1800 zurückgeführt werden (Luhmann & Schorr 1982, 14; 16).
9 Bonfranchi verwendet die Begriffe Sonderpädagogik und Heilpädagogik synonym (vgl. Bonfranchi 1997, 7).
10 Die Begriffe Paradigmenwechsel und Perspektivenwechsel werden hier häufig synonym verwendet. Ob dies im Sinne Th. S. Kuhns wissenschaftstheoretischer Annahme bzgl. der sogenannten Paradigmenwechsel angemessen erscheint, ist diskutabel (vgl. u.a. Schlummer & Schütte 2006, 13).
11 Viele Professionen orientieren sich am „Modell einer Veränderungs(be)wirkung“. Es sollen in diesem Verständnis Zustände herbeigeführt werden, die als besser oder wünschenswerter betrachtet werden (vgl. Biesta 2010, 102). So erklärt die Frage, ob der gewünschte Effekt einer professionellen Intervention eintritt, die prominente „What works“ Frage in den Diskussionen über Evidenzbasierte Medizin bzw. Evidenzbasierte Praxis (ebd.).
12 Aufgrund des gegebenen Rahmens und der Zielrichtung dieser Arbeit kann hier keine historische Vertiefung im Hinblick auf die jeweiligen Bedeutungstraditionen von Evidenz (kontinentale Tradition) und evidence (angelsächsische Tradition) geleistet werden. Es sei jedoch angemerkt, dass es sich mit der phänomenologischen Schule Husserls einerseits und dem Neopositivismus des Wiener Kreises um Schlick und die Gründerfigur Carnap andererseits um zwei philosophische Strömungen des 19. Und 20. Jahrhunderts handelt, mit je starken Wurzeln im deutschsprachigen Raum. Einen ausführlichen Einblick bietet Weßling 2011, 153f.
13 U.a. Bock (2001); Rogler & Schölmerich (2000); Dick & Kringler (2007).
14 Mit „Endpunkten“ sind beispielsweise erfassbare bzw. messbare Phänomene wie Symptome, Funktionsverlust oder Tod gemeint (vgl. Ohmann & Verde 2011, 280).
- Arbeit zitieren
- Moritz Sturmberg (Autor:in), 2015, Konzeptionelle Überlegungen im Bereich ambulant betreuten Wohnens für Menschen mit Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/900935
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