Das deutsche Bildungssystem im Spiegel der kritischen Bildungstheorie


Master's Thesis, 2019

116 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Entwicklung der widersprüchlichen Tendenzen
2.1 Die Antike als Ausgangspunkt
2.2 Die Dialektik bei Immanuel Kant
2.3 Die Dialektik bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel
2.4 Die materialistisch-dialektische Gesellschafts-Theorie von Karl-Mar
2.5 Exkurs: Wilhelm von Humboldt

3. Die kritische Bildungstheorie Heydorns
3.1 Der Widerspruch bei Heinz Joachim Heydorn
3.2 Kategoriale Bestimmungen des Widerspruchs
3.2.1 Die Koh ä renz zwischen materialer und formaler Bildung
3.2.2 Das Bewusstsein des Menschen
3.2.3 M ü ndigkeit durch Rationalität
3.3 Die Fusion der Begriff
3.4 Zusammenfassung zur kritischen Bildungstheorie

4. Das Bildungssystem in Deutschland
4.1 Einleitung
4.2 Geschichte des Bildungswesens in Deutschland
4.3 Strukturierungen des Schulwesen
4.4 Steuerung des Bildungswesens
4.4.1 Von der Input- zur Outputsteuerung
4.4.2 Bildungsstandards und Kompetenzen

5. Politische Bildung in der Schule
5.1 politdidaktische Entwicklungen
5.2 Der bildungspolitische Rahmen der Politischen Bildung
5.2.1 bildungspolitische Rahmenbedingungen
5.2.2 Standards und Kompetenzen der Politischen Bildung
5.3 kritische Politische Bildun
5.3.1 allgemeine Anmerkungen zur kritischen Politischen Bildung
5.3.2 Positionierung

6. Schlussbetrachtunge

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb.1: Struktur des Sekundarschulsystems in den 16 Bundesl ä ndern (Stand 10/2015) (Tillmann, 2015)

Abb.2: Ver ä nderung der Geburtenzahlen 1990 bis 2012 in den L ä ndern der Bundesrepublik Deutschland (1990 = 100) (BpB, 2013d. Datenquellen: Statistisches Bundesamt, GENESIS-Datei, eigene Berechnungen der

Abb.3: Bev ö lkerungsstruktur in Deutschland 2010 sowie Ergebnisse der Vorausberechnung f ü r 2025 und 2035 nach Altersjahren. (Anzahl in Tsd.) (BpB, 2013b. Datenquellen: Statistische Ä mter des Bundes und der L ä nder, Bev ö lkerungsstatistik, 12. koordinierte Bev ö lkerungsvorausrechnung)

Abb.4: Arbeitnehmer im Inland nach Wirtschaftssektoren (1950-2012). (BpB, 2013a. Datenquellen: Ergebnisse der Erwerbst ä tigenrechnung in der Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR))

Abb.5: Verteilung 15-J ä hriger Sch ü lerinnen und Sch ü ler auf die Bildungsg ä nge nach sozio ö konomischem Status (2012) in Prozent. (BpB, 2018, basierend auf Leibniz-Institut f ü r Bildungsforschung und Bildungsinformation, 2016)

Abb.6: Entwicklung ö ffentlicher und privater Bildungsangebote zwischen 1998 und 2010. (BpB, 2012. Datenquellen: Statistische Ä mter des Bundes und der L ä nder, diverse Statistiken)

„Die dringlichste Bildungsaufgabe besteht darin, das Bewußtsein des Menschen von sich selber auf die Höhe der technologischen Revolution zu bringen“ (Heydorn, 1995a, S.137)

1. Einleitung

Bildungsreformen, Kompetenzerwerb, Ökonomisierung der Bildung. All das sind Schlagworte, die im Rahmen der aktuellen Diskussion um Bildung und Schule fallen. Ausgehend vom sog. PISA (Programme for International Student Assesment)-Schock im Jahr 2000 (vgl. u.a. Hepp, 2013b; Kühne, 2013) und der damit verbundenen Erkenntnis, dass andere Länder im Vergleich offensichtlich eher ihre Schülerinnen und Schüler [SuS] dazu befähigen konnten, die Tests innerhalb der PISA Studien erfolgreich zu bewältigen, wurde in Deutschland eine erneute Debatte um den Aufbau des Schulsystems, sowie die Inhalte und die Vermittlung dieser in den Schulen angestoßen (vgl. auch Max-Planck-Institut für Bildungsforschung [MPI], 2002). Eine Folge dessen waren zum einen u.a. neue Rahmenlehrpläne, die sich im Kern um den Erwerb von sog. Kompetenzen und Bildungsstandards drehen, und zum anderen eine Neuausrichtung der Evaluation und Bildungssteuerung innerhalb des Bildungssystems (vgl. u.a. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie [SBJF], o.J., Teil A-C). Insgesamt gesehen geht es hauptsächlich darum, dass es zu einem Wandel von einer Input- zu einer Output-Steuerung der Bildungsprozesse kam. Dem folgend sind die Bildungsinhalte und die Vermittlungsformen, also der Input, nicht wichtig, sondern nur die Ergebnisse, der Output, als Resultat von Bildung, die mit der neuen Steuerung in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken.

Nach Einführung dieser Veränderungen sind die kritischen Stimmen gegenüber dem Bildungssystem allerdings nicht leiser geworden oder gar verstummt. Im Gegenteil dazu wurden kritische Stimmen laut, die von einer Ökonomisierung der Bildung sprechen, also von einer reinen Ausrichtung auf die ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft. Der Kern der Kritik besteht darin, dass die Intention von Bildung, im Resultat die Mündigkeit der SuS, nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern nur die Verwertung der SuS im gesellschaftlichen Kontext, gemessen anhand der Ergebnisse. Oder anders ausgedrückt, dass sich die Intention des Bildungsbegriffs im Widerspruch mit der realen Umsetzung befindet.

Hier setzt diese Arbeit an, und es soll im Folgenden betrachtet werden, inwieweit die Bildungsinstitutionen, und die in diesen vermittelten Inhalte, zum einen die Mündigkeit der SuS in den Blick nimmt, und zum anderen, ob das institutionelle Bildungssystem den Ansprüchen an Bildung gerecht werden kann. Hierbei handelt es sich um eine Betrachtungsweise, die sich an der kritischen Bildungstheorie Heinz Joachim Heydorns (1916-1974) ausrichten wird. Diese wurde für die Betrachtung bewusst ausgewählt, da die Theorie Heydorns sowohl die Bildungsinstitutionen und –inhalte aufnimmt und betrachtet, als auch innerhalb ihrer Form immer wieder auf die jeweils aktuelle gesellschaftliche Situation angewandt werden kann. Ebenso wesentlich ist das Denken in Widersprüchen, welches die Theorie von Heydorn durchzieht, und das innerhalb seiner Werke ausführlich und logisch aufgebaut wird.

Um die kritische Bildungstheorie Heinz Joachim Heydorns nachvollziehen, und den Bezug zum aktuellen Bildungssystem herstellen zu können, ist es unabdingbar, sich die Ideen hinter, sowie die verwendeten Begrifflichkeiten innerhalb seiner Theorie zu vergegenwärtigen. Bereits an dieser Stelle sei gesagt, dass es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich sein wird alle Facetten seiner Theorie zu beleuchten, sodass im Folgenden nur versucht werden kann, einen Überblick zu schaffen und die für die Beantwortung der leitenden Fragen notwendigen Zusammenhänge und Begrifflichkeiten aufzunehmen und zu klären. Zuerst sollen daher einige grundlegende Überlegungen zu den Werken sowie zum Denken Heinz Joachim Heydorns angestellt werden, die wiederum wichtig sind, um das Gesamtkonstrukt seiner theoretischen Überlegungen zu erfassen, und die Erkenntnisse daraus auf das aktuelle Bildungswesen allgemein, und das Fach Politische Bildung im Speziellen, anzuwenden.

Im Anschluss an die Betrachtung der Theorie Heydorns soll es zu einer allgemeinen Betrachtung des Bildungswesens kommen, wobei hier die Schule als primäre Bildungsinstitution im Mittelpunkt stehen wird. Ausgehend von diesen allgemeinen Überlegungen wird darauf folgend das Fach Politik bzw. die Politische Bildung in der Schule beispielhaft beleuchtet. Hierbei soll analysiert werden, inwieweit u.a. die kritische Bildungstheorie Heydorns, bzw. dessen ideellen Inhalte, Anwendung findet. Hierzu wird im Besonderen betrachtet, inwiefern die sog. kritische Politische Bildung in der aktuellen Politischen Bildung repräsentiert ist, und ob es einer Neujustierung oder Ausweitung dieser benötigt. Hierbei wird darüber hinaus in einer Positionierung der selbst vertretende Standpunkt zur kritischen Politischen Bildung explizit in einem eigenen Kapitel dargestellt. Abschließend werden die Erkenntnisse und Überlegungen zusammengefasst, wobei in dieser Schlußbetrachtung ein kurzes Fazit involviert sein wird.

2. Die Entwicklung der widerspr ü chlichen Tendenzen

Ausgehend von der zentralen Intention dieser Arbeit sollen, wie bereits in den vorangegangenen Abschnitten erwähnt, die Relevanz und Aktualität der Widersprüchlichkeit geprüft werden, die Heydorn innerhalb seiner Bildungstheorie skizziert hat. Dazu sollen die Elemente der widersprüchlichen Tendenzen seiner Theorie auf Veränderungen und Entwicklungen im aktuellen Bildungswesen bezogen werden, letztlich also die Herausstellung der Dialektik des aktuellen Bildungswesens. Hierzu erscheint es notwendig einige grundlegende Überlegungen zum Begriff und der Entwicklung der Dialektik anzustellen, um die darauf folgenden Bezüge bzw. Ausführungen sinnhaft nachvollziehen zu können.

Grundlegend kann festgehalten werden, dass die Dialektik in sich ein dialektisches Problem aufweist (vgl. Wilsrecht, 2017). Denn will man auf der einen Seite die Dialektik in sich als Ganzes darstellen, müsste man konsequenterweise auf eine Darstellung der Charakteristiken der jeweiligen Teilmomente verzichten. Auf der anderen Seite muss man allerdings wissen, was die dargestellte Dialektik als Ganzes will, um die einzelnen Teilmomente wiederum zu verstehen. Als grundlegende, zentrale sowie systematische Kategorie ist der Widerspruch derjenige Begriff, der im Zentrum jeder Dialektik steht. Zugleich ist es auch der Begriff, der bei Heydorns kritischer Bildungstheorie die wichtigste Komponente darstellt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass es sich bei Heydorns Bildungstheorie um eine dialektische handelt. Was dies wiederum bedeutet, und wie sich die Dialektik innerhalb seiner Bildungstheorie äußert, soll u.a. Gegenstand der folgenden Ausführungen sein.

Um die Widersprüchlichkeit im Rahmen der Dialektik gedanklich einordnen und greifen zu können, sollen zuerst einige historische Entwicklungen dieser Kategorie nachgezeichnet werden. Auch hier gilt, dass eine vollständige Darstellung der Entwicklungen im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, und auch nicht zielführend wäre. Für das Verständnis der Dialektik in Heinz Joachim Heydorns Bildungstheorie, sowie für den späteren Bezug auf das aktuelle Bildungswesen, ist es dennoch wichtig, zumindest einen kurzen, ausschnitthaften Überblick zu erstellen.

2.1 Die Antike als Ausgangspunkt

Nach Wilsrecht (2017) und Diemer (1976) kann als Ausgangspunkt der Dialektik Zenon von Elea (um 490 v.Chr. bis 430 v.Chr.), dessen Mentor Parmenides (um 520/515 v. Chr. bis 460/455 v. Chr.) war, gesehen werden, der als erstes das basale Problem der Bewegung erkannte, welches als Anlass für dialektisches Sprechen und Denken gilt. In seinem bekannten „Der fliegende Pfeil ruht“ (Diemer, 1976, S.35, vgl. auch Röd, 1988) - Paradoxon stellt er heraus, dass sich ein fliegender Pfeil während seines Fluges zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Ort befindet. An diesem bestimmten, definierten Ort verweilt er in Ruhe, da er an diesem nicht in Bewegung sein kann. Würde der Pfeil nicht an diesem bestimmten Ort in Ruhe verweilen, wäre er an diesem Punkt nicht existent. Auf der anderen Seite würde er sich dem folgend aber nicht bewegen, da er an diesem einen Ort existent ist, wogegen die Flugbewegung allerdings als Ausgangslage der generellen Überlegungen dient. Diemer (1976, S.35) fasst dies folgendermaßen zusammen: „Denn, wenn er existiert, d.h. wirklich ist, muß er an einem bestimmten Ort sein. In diesem muß er dann je ruhen, also nicht sich bewegen. Das tut er aber“. Dies kann entsprechend als Beginn der dialektischen Betrachtungen angesehen werden, denn Zenon erkannte, dass in der Bewegung widersprüchliche Bestimmungen, zum einen die Bewegung durch den Flug, zum anderen die Existenz an einem Ort, vereint sind. Letztlich identifizierte er also die Bewegung, gesehen als Meinung, als Widerspruch zum Sein des Gegenstandes.

Eine Weiterentwicklung der Dialektik erfolgte anschließend durch Platon (428/427 v. Chr. bis 348/347 v. Chr.), der in der Form des Dialoges schrieb und durch diesen versuchte, das Wesen einer Sache zu finden (vgl. u.a. Platon, 1994a und 1994b; Wilsrecht, 2017). Das Wechselspiel innerhalb des Dialoges war allerdings nicht vom Zufall bestimmt. Vielmehr galt es, durch den Weg des Dialoges ein Ziel zu erreichen, wobei das Ziel für Platon das eigentliche Wesen desjenigen Gegenstandes ausmachte, über den der Dialog geführt wurde. Das Wesen des Gegenstandes, und das ist die elementare Erkenntnis daraus, stellt die Abgrenzung zu der reinen phänomenologischen, sinnlich aufgenommenen Erscheinungsform dieses Gegenstandes dar. Die begriffliche Entwicklung hin zum Wesen des Gegenstandes, den vorherigen Gedanken folgend also die Zielfindung durch die Entwicklung der Begriffe innerhalb des Dialoges, kann dabei als essentielles Merkmal von Dialektik angesehen werden. Adorno (2010) merkt dazu an, dass der „Unterschied von Wesen und Erscheinung […] für das dialektische Denken schlechterdings konstitutiv […]“ (Adorno, 2010, S.170) ist. Durch die Anpassung der Begriffe im Dialog nähert sich schließlich der Gegenstand seinem eigentlichen, urtümlichen Wesen an und wird in letzter Konsequenz mit diesem identisch.

Diese grundlegenden Überlegungen Platons gehen im Prinzip der Triplizität auf, die bis zu Hegel, und streng genommen sogar bis Heydorn, Einfluss auf das dialektische Denken nimmt (vgl. zur Triziplität u.a. Schönknecht, 2017, S.383ff.; Cürsgen, 2007). Hierbei handelt es sich um das formale These-Antithese-Synthese-Schema, bei welchem, sehr einfach dargestellt, einer These eine widersprüchliche Antithese gegenübergestellt wird, wobei diese Beiden letztendlich in ihrer Widersprüchlichkeit, auf Platon bezogen in der Begriffsfindung im Dialog, in einer Synthese aufgehen. Kennzeichnend für die Dialektik ist nun, dass die Synthese nicht den ideellen Endpunkt darstellt. Durch die von Zenon identifizierte Bewegung wird der gedankliche Vorgang in der Synthese auf eine höhere Ebene gehoben, in einer neuen These formuliert, und diese dann auf der neuen, höheren Ebene fortgeführt. Danner (2006) fasst dies wie folgt zusammen: „Mit der Synthese kommt dieser Prozeß nicht zur Ruhe, sondern er drängt weiter, und diese Synthese schlägt um zu einer neuen These “ (Danner, 2006, S.205f., Hervorhebung im Original). Dennoch handelt es sich bei dem Schema der Triplizität um eine rein formale und synthetisierte Logik, welche der Dialektik eigentlich nicht gerecht wird, da es bei dialektischen Gedanken an sich nicht um ein von den inhaltlichen Bestimmungen der Thesen losgelöst zu verstehendes Konzept handelt (vgl. auch Wilsrecht, 2017).

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auch Heydorn (1970, S.164ff.) den Beginn der menschlichen Bildungs- und Vernunftgeschichte in der Antike sieht. Er sieht den „Schritt vom Mythos zum Logos, vom Dichten zum Denken […]“ (Schönknecht, 2017, S.13; Hervorhebung im Original, s. auch Heydorn, 1970, S.10ff.), wobei Heydorn v.a. die wirtschaftlichen Interessen der damaligen Epoche als Anlass dazu sah (vgl. Heydorn, 1970b, S.10). Denn durch die veränderten wirtschaftlichen Bedingungen reichte es den Menschen nicht mehr aus, auf reine Tradierungsprozesse zurückzugreifen, weshalb die eigene Bewusstseinsbildung, verstanden als rationale Naturbeherrschung, in den Mittelpunkt der Überlegungen rückte.

2.2 Dialektik bei Immanuel Kant

Um die historische Entwicklung der Dialektik weiter zu verfolgen ist es unerlässlich, zumindest in Ausschnitten auf die transzendentale Dialektik sowie die Antinomienlehre Immanuel Kants (1724 bis 1804), welche er v.a. in seinem Werk Kritik der reinen Vernunft (Kant, 1998) entwickelt und ausführt, einzugehen. Dies ist auch deshalb wichtig, da die Überlegungen Kants im weiteren Verlauf zum einen von Hegel aufgenommen und weiterentwickelt wurden (s. Kapitel 2.3), und zum anderen die kritische Bildungstheorie bzw. die Gedanken Heinz Joachim Heydorns beeinflusst haben. Hierbei geht es neuerlich nicht darum, und wäre in diesem Rahmen auch nicht möglich, die Werke und die Dialektik Kants in all seinen Facetten zu beschreiben oder vollständig ausgeführt darzustellen, sondern darum, einen Einblick zu geben, um die weiteren Entwicklungen v.a. bei Hegel und bei Heydorn nachvollziehen zu können.

Nach Kant (vgl. Kant, 1998, S.97ff.) ist es notwendig, dass eine allgemeine Logik ohne ideelle Inhalte vorausgesetzt wird, da sie erst dann zu einer transzendentalen, in diesem Sinne universellen Logik wird. Damit der Mensch zur Erkenntnis gelangen kann sind, Kant weiterhin folgend, zwei Dinge notwendig, die in einer nach ihm unumgänglichen Beziehung zueinander stehen. Auf der einen Seite steht für ihn die Sinnlichkeit bzw. Rezeptivität, auf der anderen der Verstand bzw. die Spontaneität, ohne welche die Erstgenannte, also die Sinnlichkeit bzw. Rezeptivität, unbestimmt bleiben würde. Baumgartner (1996, S.67) schreibt dazu: „[…] ihre Vereinigung – und nur ihre Vereinigung – macht Erkenntnis möglich“. Oder, um es mit den Worten Kants auszudrücken: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden“ (Kant, 1998, S.98). Durch die Kategorien Qualität, Quantität, Relation und Modalität, die Kant für den Verstand vorgibt, kann dieser die Eindrücke, die sich aus der Sinnlichkeit ergeben, dann folgend ordnen und begrifflich bestimmen.

Ein weiteres Vermögen zur Erlangung von Erkenntnis ist nach Kant „das Vermögen der Prinzipien“ (vgl. Kant, 1998, S.312), wobei er hiermit meint, dass durch die Vernunft ein sog. dialektisches Schlie ß en anhand von Prinzipien möglich wird (vgl. Kant, 1998, 339ff.). Für Kant gibt es diesbezüglich drei mögliche Arten des Unbedingten (vgl. Kant, 1998, B327ff. & Baumgartner, 1996, S.100), die er als transcendentale Ideen bzw. als reine Vernunftbegriffe (Kant, 1998, S.327) bezeichnet, und die die Grenzen der eigenen Erfahrungen übersteigen. Diese Ideen können begrifflich in drei Formen, namentlich Seele, Welt und Gott, eingeteilt werden. Durch die Ideen entstehen im Denken Widersprüche, was wiederum elementar für die Dialektik von Kant ist. Denn ihm folgend ist Logik nur eine rein formale Bedingung des Verstandes, rein analytisch, und sagt im Grunde über die Inhalte einer Erkenntnis nichts aus. Diese sind, wie oben dargestellt, der Sinnlichkeit vorbehalten, wobei sich die „dialektischen Bewegungen an und mit den Begriffen der reinen Vernunft“ (Schmidt, 2011, o.S.) vollziehen. Diese Überlegungen zur Sinnlichkeit und zum Verstand sowie zur Vernunft sind innerhalb der Aufklärung neu und sind bis heute für den ideellen Bildungsbegriff von elementarer Bedeutung. So hat auch Heydorn diese grundsätzlichen Überlegungen aufgenommen und verarbeitet, was sich stellenweise in seiner Bildungstheorie wiederspiegelt (vgl. u.a. Kapitel 3.2 dieser Arbeit).

Zusammenfassend kommt es nach Kant also dann zu einer Dialektik, wenn zum einen die Begriffe der Logik so angewandt werden, dass sie als transzendentale Ideen einen widersprüchlichen Wesenszug aufweisen und so zu einer Logik des transcendentalen Scheins werden, und zum anderen der Verstand, sowie die dazugehörigen Kategorien, jenseits der jeweiligen Erfahrungen zum Erkenntnisgewinn gebraucht werden. Eine Dialektik die sich entlang von transcendentalen Ideen bewegt ist für Kant begrifflich die transcendentale Dialektik und „geschieht in bestimmten Formen des Schließens“ (vgl. Schmidt, 2011, o.S.). Eine besondere Form hiervon, die auch von Kant besonders herausgestellt wird, stellen die sog. Antinomien der reinen Vernunft dar, wobei hier durch Kant die Widersprüchlichkeit anhand von Thesen und Antithesen dargestellt wird.

2.3 Dialektik bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Der vorläufige Abschluss der dialektischen Entwicklungen findet sich nach Wilsrecht (2017) bei den Überlegungen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831). Dieser nimmt die Ansichten Kants auf, kritisiert diese, und entwickelt darauf aufbauend seine eigene Dialektik. Die Kritik an der Philosophie Kants bezieht sich vor allem darauf, dass dieser den Erkenntnisgewinn v.a. in der Sinnlichkeit, geordnet durch die genannten Kategorien des Verstandes, sieht. Die Vernunft, die im Folgenden bei Hegel eine zentrale Rolle spielt, wird laut Hegel von Kant nicht genügend beachtet bzw. nicht richtig eingeschätzt: „Es wird im Seelensack herumgesucht, was darin für Vermögen sich befinden; es findet sich zufälligerweise noch Vernunft, - es wäre ebenso gut, wenn auch keine“ (Hegel, 1971, S.351). Hegels Ausführungen zufolge ist dies ein Fehlschluss seitens Kants, denn nach Hegel darf die Vernunft „[…] nicht mehr bloß Magd des Verstandes sein, sondern wird das Vermögen, das einzig imstande ist, die Widersprüche zu lösen, die in ihr durch das Tun jenes Verstandes entstehen“ (Gueroult, 1978, S.273). So sieht Hegel die Gründe des Widerspruchs nicht wie Kant in der transzendentalen Subjektivität, und geht in seiner Dialektik über die Logik des transzendentalen Scheins von Kant hinaus. Dennoch hebt Hegel auch die aus seiner Sicht positiven Erkenntnisse an Kants Arbeiten heraus. So schreibt er in Bezug auf Kant: „[…] aber die allgemeine Idee, die er zugrunde gelegt und geltend gemacht hat, ist die Objektivit ä t des Scheins und Notwendigkeit des Widerspruchs, der zur Natur der Denkbestimmungen gehört […]“ (Hegel, 1990, S.52, Hervorhebungen im Original; s. hierzu auch Wilsrecht, 2017). Dennoch grenzte sich Hegel in seinen Gedanken zur Sinnlichkeit und zum Verstand im Allgemeinen, sowie zur Vernunft im Speziellen, von Kant ab, wie oben bereits beschrieben.

Ein grundlegender Gedanke Hegels in Differenz zu Kant war darüber hinaus, dass er ein absolutes Subjekt, einen absoluten selbst denkenden Geist als Daseinsbegründung innerhalb der eigenen individuellen Lebenswelt, welche er begrifflich als Objektivität beschreibt, annimmt. Er grenzt sich hierin von Kant ab, der wiederum das Erkenntnisvermögen des einzelnen Subjektes als transzendentalen Grund hierfür beschreibt. Wichtig bei diesem Gedankengang ist, dass Hegel davon ausgeht, dass die reale Objektivität, die Wirklichkeit, durch den eigenen, absoluten Geist bestimmt wird. Anders ausgedrückt, dass das Denken des Geistes die Lebenswelt bestimmt, und nicht anders herum. Die einzelnen, partikulären Momente sind hierbei jeweils als Teilstücke eines Ganzen zu sehen, welches es gilt zu erreichen, und wodurch sich die Worte Hegels, dass das Wahre das Ganze sei, erklären (vgl. Hegel, 1989b, S.24). Sesink (2006) schreibt diesbezüglich: „Nicht die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, sondern die geschlossene Vorstellung eines Dings als Ganzen ist der Ausgangspunkt. […] Und nicht die Synthesis ist die erste Aktion des Subjekts, sondern das „Zerlegen“ einer Vorstellung in ihre Elemente, die […] gerade nicht (wie bei Kant) die „vorgefundene“ Form der Vorstellung sind, sondern Produkte des analytischen Geistes, […]“ (Sesink, 2006, S.54; Hervorhebungen im Original). Speziell die Gedanken zur Partikularität, sowie die zum Ganzen, welches es gilt zu erreichen, finden sich später auch bei Heydorn u.a. im Zusammenhang mit dem Begriff der Mündigkeit wieder, und stellen innerhalb seiner Theorie ein grundlegendes Teilelement dar (vgl. auch Kapitel 3 dieser Arbeit).

Die Dialektik Hegels zeichnet sich des Weiteren durch seine Auffassung über den Begriff der Widersprüchlichkeit aus. Für Hegel ist das Sein als Kategorie die ursprüngliche Form einer jeden dialektischen Bewegung, und somit der Anfang eines jeden Gedankens. Er schreibt hierzu: „ Das Absolute ist das Sein. Es ist dies die (im Gedanken) schlechthin anfängliche, abstrakteste und dürftigste“ (Hegel, 1989a, S.183, Hervorhebungen im Original). Hegel (1989a) folgend erfährt der Gedanke prinzipiell keine Einflüsse von außen, dementsprechend auch keine von außen herangetragene Antithese wie z.B. im Dialog bei Platon. Vielmehr soll nach Hegel der Widerspruch, bzw. die dialektische Bewegung durch den Widerspruch, in der Sache selbst gefunden werden. Somit enthält für ihn jeder Gegenstand von Anfang an immer sowohl das Sein, als auch das Nichts als Gegenteil des Seins, also seine eigene Widersprüchlichkeit. Durch diesen immer vorhandenen Widerspruch, den jeder Gegenstand von Beginn an in sich trägt, und die damit verbundene und folgende selbstständige Korrektur, die durch die Bewegung erreicht wird, wird der Gedanke auf eine neue, höhere Kategorie gehoben. Taylor (1993, S.300) fasst dies wie folgt zusammen: „Da es sich um einen bestimmten Widerspruch handelt, erfordert das eine bestimmte Veränderung oder Anreicherung des Begriffes, und auf diese Weise erlangen wir eine neue Kategorie. Von hier aus kann eine neue Dialektik beginnen“. Weiterhin schreibt er: „Das Ergebnis dieser ersten Dialektik von Sein und Nichtsein ist folglich eine Synthese beider im Begriff des Daseins bzw. des bestimmten Seins“ (Taylor, 1993, S.306). Dieses neue Dasein bildet nach Hegel dann wiederum einen neuen Ausgangspunkt, nun jedoch auf einer wie oben beschriebenen höheren Ebene. „Das Dasein ist das einfache Einssein des Seins und Nichts. […] Seine Vermittlung, das Werden, liegt hinter ihm; sie hat sich aufgehoben, und das Dasein erscheint daher als ein Erstes, von dem ausgegangen wird“ (Hegel, 1990, S.116). Entscheidend ist hierbei zum einen, dass Hegel so aufzeigt, dass jedes Sein den Widerspruch bereits beinhaltet, und zum anderen, dass es auf allen Ebenen Widersprüche gibt, sich dieser also nicht durch die Synthese aufhebt, was sich in den Worten Hegels, „daß es nirgend im Himmel und auf Erden etwas gebe, was nicht beides, Sein und Nichts, in sich enthielte“ (Hegel, 1990, S.86) wiederspiegelt.

Dieses Zusammenspiel zwischen Sein und Nichtsein, sowie die Synthese Beider durch die Widersprüchlichkeit, spiegelt erneut die Triziplität wieder, wie sie bereits bei Platon beschrieben wurde. Auch bei Hegel wird durch die Synthese eine neue, nun höhere Ebene erreicht, wobei diese wieder alle Elemente der Triziplität bereits in sich trägt.

2.4 Die materialistisch-dialektische Gesellschaftstheorie von Karl Marx

In der folgenden Betrachtung soll die materialistisch-dialektische Gesellschaftstheorie von Karl Marx (1818-1883) in rudimentären Ansätzen betrachtet werden. Diese Theorie ist letztlich eine Umdeutung der idealistischen Dialektik Hegels, und findet sich in Heydorns kritischer Bildungstheorie in einigen Ansätzen und Begrifflichkeiten wieder. Vorab sei hierzu angemerkt, dass es bei der Kritik von Karl Marx nicht um eine grundsätzliche Kritik der Dialektik Hegels an sich geht, sondern um eine Kritik des absoluten Idealismus, der Hegel innewohnt. Und hierbei im Speziellen um die Ansicht, dass die materialistische Welt auf dem bei Hegel genannten absoluten, allumfassenden Gedanken, dem Sein begründet ist (vgl. u.a. Wilsrecht, 2017).

Für Marx und Engels (1968) ist besonders die Ansicht Hegels, dass das Endliche, also letztlich der Mensch, nur eine Zwischenstation für die Vollendung des absoluten und ganzen Geistes ist, fehlerhaft. Der Mensch wäre demnach eine Entfremdung des absoluten Geistes (vgl. Marx & Engels, 1968, S.569ff.). Marx schreibt hierzu über Hegel: „Aber indem Hegel die Negation der Negation - der positiven Bestimmung nach, die in ihr liegt, als das wahrhaft einzig und Positive, der negativen Beziehung nach, die in ihr liegt, als den einzig wahren Akt und Selbstbestätigungsakt alles Seins – aufgefaßt hat, hat er nur den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden […]“ (Marx & Engels, 1968, S.570, Hervorhebungen im Original). Und so setzt Hegel nach Marx und Engels (1968) zum einen nicht beim realen Menschen an, und beachtet zum anderen nicht die geschichtlichen Prozesse, die damit einhergehen, was nach Ansicht von Marx allerdings enorm wichtig ist. Darüber hinaus sieht Marx nach Wilsrecht (2017) Religion, Moral, etc. als das Ergebnis menschlicher Wesenskräfte, als menschliche Formen von Bewusstsein, was ebenfalls im Gegensatz zu den Ansichten Hegels steht.

Die konkrete Umdeutung der idealistischen in eine materialistische Dialektik erfolgt schließlich in der „Deutschen Ideologie“, welche von Karl Marx und Friedrich Engels (1820-1895) verfasst wurde (vgl. u.a. Marx & Engels, 2010; s. auch Wilsrecht, 2017). Marx und Engels beschreiben in dieser, dass nicht die ideellen Vorstellungen und Gedanken die Lebensweise der Menschen bestimmen, sondern, grob gesagt, die geistigen Bestimmungen durch die materialistischen Lebensweisen konstituiert werden. Letztlich also eine Umkehrung der Vorstellungen Hegels, der davon ausgeht, dass der absolute Geist die materialistische Welt bestimmt. Signifikant sind hierbei sowohl ihre Ausführungen zu den Produktionsverhältnissen, wobei sie hiermit die „verschiedenen Entwicklungsstufen der Teilung der Arbeit“ (Marx & Engels, 1958, S.22) meinen, als auch ihre Bemerkungen zu den Produktivkräften. So schreiben Sie, dass das, was die Menschen sind mit ihrer Produktion zusammenfällt, also mit dem, was sie und wie sie es produzieren (vgl. Marx & Engels, 1958, S.21ff.). Dem folgend bestimmt für Marx und Engels (1958) die wirtschaftliche bzw. ökonomische Lebensweise des Individuums seine ideelle Produktion: „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein“ (Marx & Engels, 1958, S.27).

Hier zeigt sich das dialektische Element in der Theorie von Karl Marx. Der wechselseitige Zusammenhang zwischen den Individuen in der Gesellschaft und der Gesellschaft an sich ist das dialektische, das sich gegenseitig beeinflussende, an der materialistischen Theorie. „Also ist der gesellschaftliche Charakter der allgemeine Charakter der ganzen Bewegung; wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert“ (Marx & Engels, 1968, S.537, Hervorhebungen im Original). Wichtig ist hierbei auch für Marx wieder die Bewegung der Vorgänge:

„In dem Akt der Reproduktion selbst ändern sich nicht nur die objektiven Bedingungen, z.B. aus dem Dorf wird Stadt, aus der Wildnis gelichteter Acker etc., sondern die Produzenten ändern sich, indem sie neue Qualitäten aus sich heraus setzen, sich selbst durch die Produktion entwickeln, umgestalten, neue Kräfte und neue Vorstellungen bilden, neue Verkehrswesen, neue Bedürfnisse und neue Sprache“ (Marx, 1983, S.402).

Somit sind die materialen Produktionsverhältnisse sowie die Produktivkräfte, und deren Bewegung sowie deren Entwicklung für Marx das bestimmende Merkmal des Bewusstseins einer Gesellschaft. Nach Heydorn (1970) sind mit der Bildungstheorie von Karl Marx „alle Kategorien entwickelt, um das Verhältnis von Bildung und Herrschaft aufzudecken“ (Heydorn, 1970, S.166).

2.5 Exkurs: Wilhelm von Humboldt

Zwar ist es nicht unbedingt notwendig und zielführend, Wilhelm von Humboldt (1767 bis 1835) und seine Bildungskonzeption zur Beschreibung des Widerspruchgedankens heranzuziehen. Dennoch soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über seine Konzeption gegeben werden. Hintergrund hierfür ist, dass die grundlegenden Ansichten einerseits in das Denken Heydorns eingeflossen sind, und andererseits teilweise noch immer maßgeblich für das heutige Bildungswesen sind.

Humboldt (1960, S.56-63), angesiedelt im Neuhumanismus, folgend reduziert ein Bildungsgedanken, der sich nur an der Nützlichkeit ausrichtet, den Bildungsbegriff auf die Verwendbarkeit des Menschen, wobei dies nicht im Sinne des Begriffes, nicht seine ursprüngliche Intention ist. Diese zielt vielmehr auf die Selbstwerdung ab. Hierbei lehnt Humboldt, Borst (2009, S.55 f.) folgend, nicht die damals vorhandenen Fachschulen ab, plädiert aber dafür, dass jedem Menschen vor dieser Fachausbildung die Möglichkeit eingeräumt wird, über eine allgemeinbildende Schule die eigenen individuellen Kräfte zu wecken und zu entwickeln. Und dies solle nach Möglichkeit für alle Menschen gelten, egal welchem Stand bzw. welcher Klasse diese angehören (vgl. Humboldt, 1964). Gleichzeitig plädiert er dafür, die Fach- von der Allgemeinbildung zu trennen: „Denn beide Bildungen - die allgemeine und die specielle - werden durch verschiedene Grundsätze geleitet. Durch die allgemeine sollen die Kräfte, d.h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden; durch die specielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten.“ (Humboldt, 1964, S.188). Dem folgend muss nach Humboldt die allgemeine Bildung der fachlichen vorgeschaltet sein, um die angestrebte Selbstwerdung erreichen zu können. „Bildung im Neuhumanismus ist daher wesentlich Selbstbildung “ (Borst, 2009, S.59, Hervorhebung im Original).

Die Leitidee in Humboldts Bildungstheorie ist „die Art und Weise, wie der Mensch in der Auseinandersetzung mit seiner historisch geschaffenen Welt Autonomie gewinnen kann“ (Borst, 2009, S.62). Humboldt ist sich, Borst (2009) folgend, darüber bewusst, dass er in der Theorie verbleibt, und dass die Umsetzung dieser Theorie in der Wirklichkeit herausfordernd erscheint. Gleichzeitig verweist er darauf, dass seine Entwürfe für die Zukunft gedacht sind, da seine theoretischen Bildungsentwürfe nicht mit der Wirklichkeit vereinbar sind, und auch nicht sein können, da es sonst keine Entwicklung geben könne (vgl. Humboldt, 1960). Der Staat sollte sich darüber hinaus bei der angestrebten Selbstwerdung zurück halten, und es sollten auch alle anderen Zwecke prinzipiell ausgeblendet werden. „Zweck ist die Selbst-Bestimmung selbst“ (Schäfer, 1996, S.33). Die dafür notwendige Reife zur Freiheit der Menschen entsteht demnach durch die Freiheit selbst (vgl. Borst, 2009, S.65). Die Lösung für den offensichtlich immanenten Widerspruch der Freiheit sieht Humboldt in einer allgemeinen Bildung, wie oben bereits beschrieben.

Ein weiterer wichtiger Aspekt in Humboldts Bildungskonzeption ist der Bezug zur Sprache (vgl. Humboldt, 1981). Für ihn ist „der Ursprung der Sprache […] zugleich der Ursprung des Menschen“ (Menze, 1965, S.226). Humboldt schreibt dazu: „Die sinnliche Bezeichnung der Einheiten nun, zu welchen gewisse Portionen des Denkens vereinigt werden, um als Theile andern Theilen eines grösseren Ganzen, als Objecte dem Subjecte gegenübergestellt zu werden, heisst im weitesten Verstande des Worts: Sprache. […] Die Sprache beginnt daher unmittelbar und sogleich mit dem ersten Act der Reflexion […]“ (Humboldt, 1981, S.97). Demnach ist es für Humboldt allein die Sprache, durch die der Mensch seiner selbst Herr werden, und sich im Wechselspiel zwischen der Welt und seiner Selbst verständigen kann. Dem folgend sind Sprache und Denken für Humboldt unmittelbar miteinander verschränkt (vgl. zum Thema Sprache auch Kap. 3.2.1 dieser Arbeit).

Zusammenfassend soll an dieser Stelle eine Textpassage von Borst (2009, S.9) über die Bildungskonzeption Humboldts angeführt werden, wenngleich sich diese nur auf die Universität als Bildungsinstitution bezieht, und dennoch auch auf die Schule als weitere Institution angewandt werden kann:

„[…], dass die Universität ein Ort sein solle, der es zulässt, in gebührender Distanz zu kirchlichen, staatlichen oder ökonomischen Begehrlichkeiten zu lehren, zu lernen und zu forschen. Mit anderen Worten: Sie sollte jene Organisation sein, die die für alle Menschen gleich gültige allgemeine Bildung im Sinne von Reflexion über die Dinge, die Welt und das Selbst ermöglichen und so zu einer kritischen Haltung gegenüber gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen beitragen sollte. Unter dieser Prämisse wird eine anwendungsbezogene, funktionalistische Berufsausbildung zunächst sekundär, weil sie nur auf spezifische Fähigkeiten, nicht aber auf die Ganzheit und Allgemeinheit des Menschlichen abzielt.“ (Borst, 2009, S.9).

3. Die kritische Bildungstheorie Heydorns

Die bisherigen Ausführungen stellten einen auszugsweisen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Dialektik dar. Die Überlegungen dahingehend sind wichtig um die Gedankengänge, Begrifflichkeiten und Inhalte der kritischen Bildungstheorie Heinz Joachim Heydorns zu erfassen und zu verstehen. Allerdings soll und kann im Folgenden nicht die gesamte Bildungstheorie Heydorns betrachtet und analysiert werden, sondern es wird eine Konzentration auf die dialektischen Aspekte erfolgen. Die dialektischen Momente und Kategorien in der Theorie Heydorns sollen folgend auch zur Kritik der aktuellen Situation genutzt werden. Dazu ist es notwendig, sich erst dem Begriff des Widerspruches bei Heydorn anzunähern, um dann über die nähere Betrachtung einzelner Begriffe und Kategorien zu einem abschließenden Überblick über die Theorie zu gelangen. Die dann gewonnenen Erkenntnisse sollen anschließend auf das aktuelle Bildungswesen übertragen werden.

Sowohl Wilhelm von Humboldt, als auch Kant, Hegel und Marx finden Eingang in das Denken Heinz Joachim Heydorns. Doch auch andere abendländische Philosophen beeinflussten ihn in seinen Überlegungen, wie Koneffke (2004, S.12) schreibt: „Seine Lehrer waren zunächst die Toten, die Großen des deutschen Idealismus, dann die des 19. Jahrhunderts: Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche, Bahnsen.“ Die spiegelt sich u.a. auch in der Sprache wieder die er verwendet, und die seine Ausarbeitungen besonders auf der sprachlichen Ebene herausfordernd erscheinen lassen. So ist es „Heydorns Sprache selbst, die sich implizit gegen bruchstückhafte Vereinnahmung wehrt“, wie Pongratz (1995, S.12) schreibt. Christian (1989, S.37) fasst dies wie folgt treffend zusammen: „Wer sich auf Heydorn einläßt, muß wissen, was auf ihn zukommt. Wie er als Autor von sich selbst höchste Konzentration fordert, weil er um das Gewicht des Gegenstandes weiß, so auch vom Leser die Bereitschaft zur produktiven Aneignung“.

Und dennoch erscheint gerade durch bzw. in der Verwendung der Sprache Heydorns das Wesentliche, der Kern seiner Bildungstheorie: Das Denken in Widerspr ü chen. Dieses Widerspruchsdenken soll für die weiteren Ausführungen daher auch die Basis sein, von welcher aus die weiteren Überlegungen, v.a. in Bezug auf die Analyse des gegenwärtigen Bildungssystems, angestellt werden.

Heydorns stellt nach Wilsrecht (2017) in seinem Hauptwerk „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“ (Heydorn, 1970) die historischen Stationen der abendländischen Rationalitätsentwicklung, begriffen als Bildungsgeschichte, und die Stellung dieser als widersprüchliche Bestimmung innerhalb der Gesellschaft dar. Heydorn geht dem folgend davon aus, dass dynamische Entwicklungsprozesse der Bildung und der Gesellschaft nur über die Aneignung und die Auseinandersetzung mit der Geschichte vergegenwärtigt werden können: „Um den gegenwärtigen Ort zu bestimmen, muß die ganze Geschichte eingeholt werden; es gibt keine Entlassung aus der Mühsal“ (Heydorn, 1970, S.8). Dies ist auf einer weiteren Ebene insofern besonders wichtig für Heydorn, da er unter den Eindrücken des faschistischen Regimes in Deutschland, sowie denen des zweiten Weltkrieges aufwuchs, und ihn diese unerträgliche Erfahrung nachhaltig beeinflusst hat (vgl. hierzu u.a. Euler, 2009). Weiterhin geht er davon aus, dass die Widersprüche im geschichtlichen Prozess die allgemeinen Rationalitätsentwicklungen prinzipiell erst möglich gemacht haben. Heydorn sieht Bildungsgeschichte somit stets in einem notwendigen Widerspruch, ohne welchen es nicht zu Entwicklungsprozessen kommen kann. Zusammenfassend betrachtet Heydorn den Begriff der Bildung also unter einer historisch-gesellschaftstheoretischen Dimension (vgl. Sesink, 2006, S.13; vgl. zur Geschichte der Pädagogik auch Blankertz, 1982).

Einhergehend mit diesen Überlegungen ist es für Heydorn wichtig, dass die bereits genannte Historie auch ins eigene Bewusstsein gerückt wird, denn „die Fähigkeit zur umfassenden Reflexion der eigenen Lage ist die Voraussetzung von Handlungsfähigkeit“, wie Boenicke (2000, S.10) dazu schreibt. Pongratz (1995, S.12) fasst dies wiederum treffend zusammen: „Bildungstheorie ist so gesehen nichts anderes als der Versuch, die objektiven Voraussetzungen der Epoche ins Bewußtsein zu heben, um die Verhältnisse nach ihrer eigenen Melodie zum Tanzen zu bringen“. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich das Denken in Widersprüchen in Heydorns Bildungstheorie sowohl auf pädagogischer, als auch auf gesellschaftlicher Ebene zeigt. Diesbezüglich geht er nach Wilsrecht (2017) davon aus, dass die Positionierung der Bildungsinstitutionen innerhalb der Gesellschaft die Ansicht, was innerhalb dieser Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt unter Bildung verstanden wird, maßgeblich beeinflusst.

Weiterhin lässt sich bereits im Titel seines Hauptwerkes (vgl. Heydorn, 1970) erkennen, dass Heydorn einen Zusammenhang, sowie einen Widerspruch zwischen den Begriffen Bildung und Herrschaft sieht. Das wiederum bedeutet, dass sich nach ihm Beide gegenseitig sowohl bedingen, als auch entwickeln. Dementsprechend kann Bildung nach Heydorn (1970) nicht für sich alleine, sondern muss immer im Zusammenhang, in der Verschränkung mit den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten, in diesem Kontext begrifflich verstanden als Herrschaft, gesehen werden. Die daraus entstehende Diskrepanz zwischen diesen beiden Begriffen ist allerdings nichts Zufälliges und sorgt nach Wilsrecht (2017) auch nicht dafür, dass die Entwicklung der Bildung eingeschränkt wird. Gegenteilig dazu ist es sogar konstituierende Bedingung für die o.g. genannten Entwicklungstendenzen. Euler (2009) schreibt dazu, dass Heydorn sich durch diese Sicht von anderen Theoretikern unterscheidet, da "für ihn die Institutionalisierung der Bildung ein für die Bildung und die Bildungstheorie wesentlicher Gegenstand ist“ (Euler, 2009, S.44). Diese Gedankengänge leitet Heydorn u.a. von den bereits genannten philosophischen Strömungen ab (s. Kapitel 2). Der dazu gehörige philosophische Begriff für eine Entwicklung aufgrund sich widersprechender Tendenzen und Bedingungen lautet Dialektik, wie bereits innerhalb dieser Arbeit (s. ebenfalls Kapitel 2) dargestellt worden ist. Dem entsprechend handelt es sich bei Heydorn um eine dialektische Bildungstheorie, da er systematisch analysiert, wie die gesellschaftlichen Gegebenheiten mit der Bildung, unter Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklungen, verschränkt sind, bzw. inwieweit diese zusammen hängen und sich gegenseitig bedingen.

Mit diesen grundsätzlichen Gedanken vollendet sich nach Wilsrecht (2017) dann die Theorie Heydorns und der Bezug zum heutigen Bildungswesen kann herausgestellt werden. Die doppelte Beziehung die er aufzeigt, zum einen die Widersprüche in der Gesellschaft als Basis für Entwicklungstendenzen von Bildung, zum anderen die daraus resultierenden inhaltlichen Bestimmungen von Bildung, kann immer wieder neu in den jeweils aktuellen Kontext gesetzt, und so aktuelle Entwicklungen herausgestellt werden. So stellt sich darauf folgend die für die weiteren Ausführungen leitende Frage, inwieweit die dargestellte Dialektik Heydorns von Bedeutung für das aktuelle Bildungswesen ist, bzw. wie und in welcher Form diese aufgenommen und konstruktiv berücksichtigt wird bzw. werden kann. In Bezug auf den Titel dieser Arbeit soll hierzu die kritische Bildungstheorie Heinz Joachim Heydorn in Bezug auf das heutige Bildungswesen, und hier insbesondere auf das Unterrichtsfach „Politische Bildung“ angewandt werden.

3.1 Der Widerspruchs bei Heinz Joachim Heydorn

Wie in den einleitenden Worten dieses Kapitels bereits erwähnt, ist die grundlegende Kategorie, die als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen bei Heydorn entscheidend ist, die des Widerspruchs. Um diese in seiner Theorie erfassen und einordnen zu können, ist wiederum ein Bezug zu den geschichtlichen Rahmungen unerlässlich.

Betrachtet man die Auffassungen von Bildung bei Kant, Hegel, aber auch bei Humboldt und Marx, ist erkennbar, dass der Mensch durch seine eigene Vernunft zu sich selbst, und so seinen Platz innerhalb des bestehenden Gesellschaftsgefüges finden soll. Grundlegend für die Entwicklung ist hierbei stets die Widersprüchlichkeit zwischen der herrschenden politischen Ordnung und der Bildung an sich, wobei sich die Inhalte des Widerspruchs aus eben diesem Verhältnis, bzw. aus der Diskrepanz der Beiden zueinander ergeben. Für Heydorn (2004) besteht darüber hinaus ein Unterschied zwischen den Begriffen Bildung und Erziehung. Für ihn ist Erziehung zwar „ein beabsichtigtes Handeln am Menschen, doch schließt sie ein reflektiertes Subjekt-Objekt-Verhältnis nicht notwendigerweise ein“ (Heydorn, 2004, S.181). Bildung wird für ihn dagegen „zwar erst möglich, nachdem Erziehung historisch vorausgegangen ist, nimmt daher aufgehobene und verwandelte Aspekte des Erzieherischen stets weiterhin mit, ist jedoch ganz in die Bewußtseinshelle gerückt“ (Heydorn, 2004, S.181). Anders ausgedrückt bedeutet Bildung für ihn eine ausdifferenzierte Reflexion seiner selbst, mit welcher der Mensch sich von der Gesellschaft, bzw. von der objektiven Wirklichkeit distanzieren kann, wobei Erziehung stets determiniert ist durch die gegebene Wirklichkeit und unreflektiert ausgeführt wird. Pongratz (1995) schreibt dazu: „Die Tatsache der Erziehung selbst ist der Idee der Bildung vorgängig. Alle Erziehung ist mit dem naturwüchsigen Regenerationsprozeß der Gesellschaft gegeben; sie ist nicht abtrennbar von der gesellschaftlichen Reproduktion der Menschen“ (Pongratz, 1995, S.20f.). Und weiter: “Darin liegt der vorrationale Charakter von Erziehung; er zielt auf Anpassung, nicht auf Distanz; er zielt auf Beherrschung, nicht auf Befreiung; er zielt auf Vereinnahmung, nicht auf reflexive Differenz“ (Pongratz, 1995, S.21). Heydorn (1970) selbst schreibt dazu: „Mit dem Begriff der Bildung wird die Antithese zum Erziehungsprozeß entworfen; sie verbleibt zunächst unvermittelt. […]. Bildung dagegen begreift sich als entbundene Selbsttätigkeit, als schon vollzogene Emanzipation. Mit ihr begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber […]. Bildung ist eine neue, geistige Geburt, kein naturalistischer Akt; mit ihr muß sich der Mensch noch einmal über sein Bewußtsein einholen, sich selbst repetieren.“ (Heydorn, 1970, S.10). An anderer Stelle weist er darauf hin, dass Erziehung Zucht ist, „notwendige Unterwerfung, die wir durchlaufen müssen, Aneignung, um die wir nicht herumkommen; Bildung ist Verfügung des Menschen über sich selber, Befreitsein, das in der Abneigung schon enthalten ist, aus ihr schließlich heraustreten soll.“ (Heydorn, 1995a, S.136).

Sesink (2006) fügt aus pädagogischer Sicht ergänzend hinzu, dass der Erziehungsbegriff, im Unterschied zum Bildungsbegriff, eindeutig transitiv ist. „Es gibt jemanden, der erzieht, und es gibt jemanden, der erzogen wird. Ein intransitives, spontanes Moment enthält der Begriff nicht. Auch in der reflexiven Form […] wird die Trennung von Subjekt und Objekt nicht aufgehoben, sondern lediglich in das Subjekt hineinverlagert. Der Erziehungsbegriff ist daher ein Begriff, der anders als der Bildungsbegriff die pädagogische Fremdbestimmung ausspricht“ (Sesink, 2006, S.20; Hervorhebung im Original).

Nach Heydorn (1970) entsteht Bildung allerdings nicht von selbst, und bedarf einem gewissen gesellschaftlichen Bewusstsein, welches im vorab vorhanden sein muss: „Erst nachdem sich Bedürfnisse entwickelt haben, die die geordnete Vermittlung eines rational bestimmbaren Wissens notwendig machen, sind die Voraussetzungen für eine erste Selbstverständigung gegeben. Die materielle Entwicklung bereitet den Ansatz, ein bestimmter Grad gesellschaftlich-ökonomischer Rationalität ist vorauszusetzen“ (Heydorn, 1970, S.10). Hier stellt Heydorn zugleich den Zusammenhang zur institutionalisierten Bildung her. Denn nur wenn die Gesellschaft einen gewissen Punkt erreicht hat, ab welchem die einfache Tradierung bzw. einfache Wissensvermittlung die eigene Reproduktion durch Erziehung nicht mehr gewährleisten kann, kommt Bildung, Heydorn (1970) weiter folgend, und insbesondere die institutionalisierte Bildung, zum Tragen. Gleichzeitig sieht er einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung und Ausdifferenzierung von (Bildungs-)Institutionen, und der Ausprägung der materialen Bedürfnisse der Gesellschaft, wobei hierzu später noch weitere Ausführungen folgen werden.

Einhergehend mit diesem Gedanken sieht Heydorn (1970) die Ausdifferenzierung und den Entwicklungsstand der jeweiligen politischen Organisation der Gesellschaft im Verbund mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft zu sich selbst (vgl. Heydorn, 1970). Aus dem Verhältnis von Bildung auf der einen Seite, und dem gesellschaftlichen Bewusstsein zu sich selbst auf der anderen Seite, ergibt sich für Heydorn ein entscheidender Ansatz für alle zukünftigen Entwicklungen: „Die Gesellschaft sucht den Menschen für bestimmte, klar definierbare Zwecke zu begaben, die sich aus ihrem Interesse, einer gegebenen Machtlage, dem Entwicklungsstand ihrer Produktivkräfte ergeben. Sie begabt ihn nicht als Menschen, sondern immer nur partiell, sie bedarf seiner als Bruchstück“ (Heydorn, 1970, S.12.). In diesem Gedankengang lässt sich zum einen die Verbundenheit zu Karl Marx und dessen materialistisch-dialektischer Gesellschaftstheorie erkennen (s. Kapitel 2.4), zum anderen erfolgt an dieser Stelle ein Verweis zu den kategorialen Bestimmungen des Bildungsbegriffs, wobei auf diesen Bereich weiter unten (s. Kapitel 3.2) näher eingegangen wird.

Dieser Gedankengang von Heydorn ist entscheidend, da er hier den Zusammenhang zwischen dem intendierten freiheitlichen Grundgedanken der Bildung, und dem Reproduktionsgedanken der institutionalisierten Bildungseinrichtungen, in welchen die Interessen der politischen Gesellschaft vorherrschen, herstellt. Dem folgend wird für ihn die institutionalisierte Bildung von Herrschaft sanktioniert und benutzt, sobald auf der einen Seite die Gesellschaft eine gewisse Bewusstseinsebene erreicht hat, und sobald auf der anderen Seite die Entwicklung der Bildungsinstitutionen einhergeht mit der der Produktivkräfte (vgl. Heydorn, 2004, vgl. auch Wilsrecht, 2017).

An dieser Stelle soll, Wilsrecht (2017) folgend, der Begriff der Herrschaft ansatzweise betrachtet werden, den Heydorn in engem Zusammenhang sowohl mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, als auch mit der Institutionalisierung von Bildungsprozessen sieht. Heydorn schreibt dazu: „Bewältigung der Natur war Entfremdung, die alte Herrschaft war nicht ohne Rechtfertigung; die neue Entfremdung ist aller Rechtfertigung bar. Institution ist Herrschaft […]“ (Heydorn, 1970, S.331). Anders ausgedrückt wird für Heydorn in der objektiven Wirklichkeit die Bildung in den Institutionen in ihrer eigentlichen Intention nicht umgesetzt, da die institutionalisierte Bildung stets durch gesellschaftliche und herrschaftliche Interessenslagen und Anforderungen beeinflusst ist.

Sichtbar, und zum besseren Verständnis, macht Heydorn (1970) dies am Beispiel der Bildungsidee innerhalb der Aufklärung. So war die grundlegende Intention des Bürgertums während dieser Phase, sich zum einen durch Arbeit von der Natur zu emanzipieren, und sich zum anderen durch Befreiung im Geiste der politischen und gesellschaftlichen Herrschaft entgegenzustellen. Am Anfang jener Epoche waren, Heydorn (1970) folgend, die ideellen Voraussetzungen für die Umsetzung dieser Idee gegeben, und auch eine Etablierung dieser Grundsätze in den Bildungsinstitutionen wurde prinzipiell angestrebt. Doch kam es, vor dem Hintergrund einer eventuell zu erreichenden Teilhabe an der Herrschaft bzw. zur Sicherung des eigenen Standes, schnell zu einer Anpassung an die ökonomisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten und Interessenslagen innerhalb der Wirklichkeit der Institutionen. Heydorn (1970, S.68) notiert hierzu: „Die Entwicklung des elementaren Schulwesens wird in gleicher Weise durch die ökonomischen Interessen der feudalen Herrschaft und der aufsteigenden bürgerlichen Klasse bestimmt; es besteht zugleich ein gemeinsames Interesse, diese Bildung in herrschaftsbedingten Grenzen zu belassen“. Die dialektischen Züge, die der Bildung und der Herrschaft immanent sind, blieben so unwirksam, und es wurde nach Heydorn zum ersten Mal der „Produktionsidiot nach vorgegebenen Maß“ (Heydorn, 1970, S.85) durch die Bildungsinstitutionen erzeugt (vgl. hierzu auch Wilsrecht, 2017).

Dieser Vorgang während der Aufklärung wiederholte sich nach Heydorn immer wieder im Laufe der Geschichte (vgl. Heydorn, 1970). Demnach war die Intention, den Menschen durch Selbsterkenntnis und Reflexion seiner selbst auf eine höhere Ebene zu bringen, jeweils vorhanden, jedoch folgte dem Gedanken keine Übersetzung in die Wirklichkeit bzw. in die Bildungsinstitutionen. Die objektive Wirklichkeit war demzufolge durch die ökonomischen Interessenslagen und die politische sowie gesellschaftliche Herrschaft determiniert, und für die freiheitssuchende Bildung nicht, oder nur unzulänglich zugänglich. „Ein Bildungskonzept ist nur so weit progressiv, als die Kräfte, die es vertreten, zugleich einen direkten Kampf um die Veränderung der Gesellschaft rühren. Nur damit werden die Möglichkeiten der Bildung aktualisiert, wird Bildung zu einem bedeutsamen Moment der Auseinandersetzung. Bildung für sich selbst vermag wenig, sie ist keine List der Vernunft“, wie Heydorn dazu notiert (1995a, S.74). An anderer Stelle schreibt er bezogen auf die Bildung: „So zielt Bildung auf absolute Herrschaft der Vernunft, wird als antizipatorische Kraft verstanden, als vorgezogene Freisetzung des Menschen von aller Sklaverei“ (Heydorn, 1970, S.94).

Diesen Gedanken folgend konzipiert sich dann auch Heydorns Bildungstheorie, die zum einen von einem Bildungsbegriff ausgeht, der Fortschritt und Rationalität auf ideeller Ebene beinhaltet, auf der anderen Seite aber auch davon ausgeht, dass dieser ideelle Gedanke aufgrund ökonomischer und gesellschaftlicher Interessen in der Wirklichkeit der Bildungsinstitutionen nicht umgesetzt bzw. manipuliert wird.

3.2 Kategoriale Bestimmungen des Widerspruchs bei Heydorn

Die Bildungstheorie Heinz Joachim Heydorns lässt sich, wie oben erwähnt, durch Anpassungen auf die jeweils aktuelle Wirklichkeit anwenden bzw. auf diese beziehen. Um diese Anpassung zu vollführen ist es elementar, sich die dialektischen Kategorien seiner Theorie zu vergegenwärtigen, da diese konstitutiv für seine Gedanken über die Widersprüchlichkeit von Bildung und deren Umsetzung in der objektiven Wirklichkeit sind. Diese Kategorien können hierbei sowohl dafür sorgen, dass die Wirklichkeit in den Institutionen reproduziert wird, als auch, dass sie diese Wirklichkeit zu einer höheren Ebene übersteigen (vgl. Wilsrecht, 2017).

Für Heydorn (1995a) setzt sich der Begriff der Bildung aus mehreren Elementen zusammen, die nicht unbedingt immer übereinkommen müssen. Er spricht hierbei von einem „Zwiespalt des Begriffes“ (Heydorn, 1995a, S.283). Daher sollen im Folgenden verschiedene grundlegende Kategorien seiner Theorie betrachtet werden, um die immanenten dialektischen Züge, bzw. den von ihm beschriebenen Zwiespalt des Begriffes zu durchdringen.

3.2.1 Die Koh ä renz zwischen materialer und formaler Bildung

Der Zwiespalt des Begriffes Bildung wird durch Heydorn (1995a) insbesondere bei der kategorialen Aufspaltung dessen in die materiale und formale Bildung sichtbar. Beide haben für sich isoliert genommen einen bestimmten Stellenwert und Platz innerhalb des Bildungsbegriffs, und spiegeln sich nach ihm gleichzeitig auch in ihrer jeweiligen Form in den Bildungsinstitutionen wieder. In der Synthese Beider liegen für ihn letztlich die Perspektiven, die für eine Neufassung von Bildung als kritische Bewusstseinsbildung notwendig sind. Doch was versteht Heydorn unter den Begriffen der materialen und formalen Bildung?

Um dieser Frage nachzukommen, wird zuerst der Begriff der materialen Bildung konkretisiert. Nach Heydorn (1995a) ist dieser eng verbunden mit der Historie der Bildungsinstitutionen und spiegelt sich in dieser wieder. Am Anfang der massenhaften institutionalisierten Bildung stand die Reproduktion der Produktionsverhältnisse, demnach also die Vermittlung von Arbeitsinhalten, die Beherrschung der Natur. Es bestand eine enge Verflechtung zwischen der Produktion und rein materialen Bildungsinhalten, und „erst mit dem Einbrechen der abstrakten industriellen Produktion […]“ (Heydorn, 1995a, S.160) wurde eine inhaltliche Änderung möglich, aber dann auch notwendig. Und dennoch verblieb es, Heydorn weiter folgend, lange bei einem funktionellen Zusammenhang zwischen Arbeitsprozess und bildungstheoretischem Inhalt (vgl. Heydorn, 1995a).

Die materiale Bildung als Prozess zur Erreichung der Mündigkeit über die Natur nimmt dennoch eine zentrale Rolle in der Geschichte der Bildungsinstitutionen ein, v.a. in der Ausbildung der quantitativen Struktur der Institutionen (vgl. Wilsrecht, 2017). Nur durch die Elemente der materialen Bildung, im Zusammenhang mit der Abstrahierung der Produktionsprozesse, bildeten sich die zahlreichen Institutionen und es kam zu einer Vermittlung von Inhalten auf gesonderter Ebene, wie Heydorn schreibt: „Mit ihr setzt Massenbildung an, in ihr ist der uneingelöste Hinweis auf die Bewältigung der materiellen Determination, die sie zugleich voraussetzt“ (Heydorn, 1995a, S.161).

Gleichzeitig ist die materiale Bildung in Ihrer Zweckmäßigkeit gebunden und steht im Zusammenhang mit der Bildung von partiellen Rationalitäten (s. hierzu auch Kap. 3.2.3), wobei dies wiederum im Zusammenhang mit der Strukturierung der Bildungseinrichtungen steht. Vor allem die Volks- und Arbeitsschulen wurden nach Wilsrecht (2017) durch die materiale Bildung bestimmt, um dadurch möglichst effektive Arbeitskräfte auszubilden. Heydorn schreibt dazu: „[…], die Bildung des Knechts bleibt an das Materiale gebunden, er ist Arbeitskraft“ (Heydorn, 1995a, S.166). Zusammenfassend werden, Heydorn (1995a) folgend, durch die materiale Bildung also Inhalte vermittelt, die zum einen den Produktionsprozessen angepasst waren, und die zum anderen die Naturbeherrschung als Ziel hatten.

Diesen Gedanken folgend steht der materialen die formale Bildung dialektisch gegenüber, wobei diese sich nach Heydorn noch vor der materialen Bildung gründete (vgl. Heydorn, 1995a, S.161). Steht die materiale Bildung im direkten Zusammenhang mit Produktionsprozessen, ist die formale Bildung demzufolge auf die Herausbildung des eigenen Bewusstseins fokussiert, und damit von der unmittelbaren, objektiven Lebenswelt gelöst.

„Es ist wichtig, den auslösenden Vorgang, gerade weil er unter der frühen Bedingung einen hohen, abstrakten Evidenzgrad gewinnt, in seiner Dialektik zu erkennen. Das gesellschaftliche Bedürfnis bildet den Ausgangspunkt; es richtet sich auf die Natur. Ein Akt tiefer geistiger Unvermeidbarkeit, der den Umweg über das Fremde gehen läßt, fällt mit dem realen Bedürfnis zusammen. Der Mensch befragt sein Gegenüber und erlöst es aus seiner magischen Verstrickung; er erlöst damit sich selbst […] Das primäre gesellschaftliche Bildungsinteresse wird als Beherrschung der Natur erkennbar, aber mit diesem Interesse geht ein anderes auf: Der Mensch beginnt sich zu entdecken.“ (Heydorn, 1970, S.15).

[...]

Excerpt out of 116 pages

Details

Title
Das deutsche Bildungssystem im Spiegel der kritischen Bildungstheorie
College
Free University of Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft)
Grade
1,7
Author
Year
2019
Pages
116
Catalog Number
V900979
ISBN (eBook)
9783346218841
ISBN (Book)
9783346218858
Language
German
Keywords
kritische Bildungstheorie, Heydorn, politische Bildung, Politikunterricht
Quote paper
Marco Degen (Author), 2019, Das deutsche Bildungssystem im Spiegel der kritischen Bildungstheorie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/900979

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