Schule und Schüler in der deutschen Literatur um 1900 in Adolf Hermann Schmitz’ "Der Untergang einer Kindheit"

Von der „Jämmerlichkeit des Schulelends“


Proyecto/Trabajo fin de carrera, 2007

103 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Gliederung

Einleitung

1. Sozial- und bildungsgeschichtliche Grundlegung
1.1 Kindheit und Jugend im kaiserzeitlichen Deutschland
1.1.1 Kindheiten
1.1.2 Jugendleben
1.1.2.1 Idealbild der Jugend und gelebte Jugend
1.1.2.2 Organisierte Jugend und Jugendbewegung
1.2 Das deutsche Schulwesen im Kaiserreich 18
1.2.1 Dichotomie des Schulwesens
1.2.1.1 Höheres Schulwesen
1.2.1.2 Niederes Schulwesen
1.2.2 ‚Untertanenerziehung’
1.3 Schule in der Krise und Reformpädagogik
1.3.1 Bildungs- und Gesellschaftskrise
1.3.2 Populäre reformpädagogische Ansätze

2. Schule und Schüler als Motive der Literatur um 1900
2.1 Versuch einer gattungsmäßigen Bestimmung
2.1.1 Das Schul- und Schülermotiv als Adoleszenzthematik der Kinder- und Jugendliteratur
2.1.1.1 Wurzeln des klassischen beziehungsweise traditionellen Adoleszenzromans
2.1.1.2 Der klassische beziehungsweise traditionelle Adoleszenzroman
2.1.2 Das Schul- und Schülermotiv als Stoffgruppe der Allgemeinliteratur und Zeugnis der literarischen Moderne
2.2 Themen moderner Schul- und Schülergeschichten um 1900
2.2.1 Der Schüler im Angesicht des Feindbildes Schule
2.2.2 Der Schüler im Angesicht seines Seelenlebens
2.2.3 Der Schüler im Angesicht seines sozialen Umfeldes
2.2.4 Der Schüler im Angesicht der Lebenswirklichkeit
2.3 Zwischenbilanz

3. Oscar A. H. Schmitz’ Der Untergang einer Kindheit
3.1 Oscar Adolf Hermann Schmitz – Ein Schriftsteller des Fin de siècle
3.2 Der Untergang einer Kindheit – Literarisierte Autobiographie
3.2.1 Inhalt
3.2.2 Entstehungs- und Wirkungsgeschichte
3.3 Der Untergang einer Kindheit – Ein Schülerroman
3.3.1 Vorbemerkung
3.3.2 Entwicklungsstationen des Protagonisten
3.3.2.1 Früheste Kinderzeit im Geburtshaus – Vorprägung eines inneren Zwiespalts
3.3.2.2 Kinderjahre in der Villa Gabriel – Bindung an Familie und Garten
3.3.2.3 Ende der Kindheit und Beginn der Schülerzeit – Ahnungen von der Schule als „böse Macht“ und Vorboten einer sexuellen Reife
3.3.2.4 Neue Heimat, neue Schule – Das ganze Ausmaß der Schulmisere
3.3.2.5 Erfahrungen der Pubertät – Alte Zerrissenheit und neue Gefühlsdimensionen
3.3.2.6 Künstlerische Reifung – Schule als „Kerker“ des Geistes
3.3.2.7 Die letzten Jahre als Schüler – Akzeptieren der Schule als notwendiges Übel
3.3.3 Bilanz zu Oscar A. H. Schmitz’ Schülerroman

4. Zusammenfassung der Ergebnisse

Literaturverzeichnis

Einleitung

„In den letzten Wochen ist mir allein fast ein halbes Dutzend eben ausgegebener Bücher durch die Hände gelaufen, in denen das Thema berührt wird[]“[1],

kommentiert ein Rezensent das Erscheinen von Hermann Hesses Erzählung Unterm Rad im Jahr 1905 und konstatiert, nicht ganz frei von Schlagfertigkeit möchte man meinen, wie sehr sich seit gewisser Zeit ein Thema besonderer Beliebtheit bei Schriftstellern und lesendem Publikum erfreut.

Der damals wie heute bekannte Werktitel Unterm Rad zeigt unverzüglich das angekündigte zeitgenössische Interesse an: Es ist die Situation von Schule und Schülern, die die Gemüter der Jahrhundertwendejahre um 1900 bewegt. Natürlich: Schriftsteller und Dichter wendeten sich zu allen Zeiten dem Thema Schule zu, niemals zuvor aber – allenfalls in humoristischen Darbietungen – ging eine Vielzahl von Romanen und Erzählungen mit der Institution Schule ernsthaft ‚ins Gericht’. In den nun zahlreich erscheinenden literarischen Produktionen zeichnen Schriftsteller die kaiserzeitliche Schule als autoritär und unzeitgmäß und kritisieren ihre zerstörerische Wirkung auf das Individuum des Schülers. Nicht nur, dass der jeweilige Schülerheld prototypisch über besondere geistige und musische Fähigkeiten verfügt, sein Schicksal schließlich aber einer Katastrophe harrt; die Werke beziehen ihre Drastik darüber hinaus aus der Tatsache, dass den Darstellungen zumeist die Wirklichkeit autobiographischer Erfahrungen zugrunde gelegt ist. So ist es nicht nur bei Hermann Hesse, sondern etwa in Rainer Maria Rilkes kurzer Schilderung der brutalen Verhältnisse einer Kadettenanstalt in Die Turnstunde von 1902 oder in Emil Strauß’ Schülerroman mit dem vielsagenden Titel Freund Hein, ebenfalls von 1902. Es bleibt zu fragen, was große Schriftsteller wie Hesse oder Rilke – auch Thomas und Heinrich Mann, Stefan Zweig oder Robert Musil gehören in diese Aufzählung – veranlasste, das Motiv des durch die Schule missverstandenen und gequälten Schülers zu einem einhelligen Topos der Literatur um 1900 zu erheben, sodass Kritiker geneigt waren, von einer „Hochflut“[2] schulspezifischer Werke zu sprechen.

Eine Ursache war zweifellos die sich um die Wende zum 20. Jahrhundert herausbildende Bewegung der Reformpädagogik, die auf die Literatur als Träger öffentlichen Bewusstseins große Wirkung ausübte. Nachdem bis zu Beginn des Kaiserreichs 1870/71 die Schulpflicht und damit die Alphabetisierung der Bevölkerung weitgehend durchgesetzt worden war[3], kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt zu Überlegungen hinsichtlich einer erzieherischen Verantwortung gegenüber dem Schüler. Solche reformpädagogischen Ansätze gingen dabei nicht von staatlicher Seite aus, sondern wurden vornehmlich von Fachleuten der sich neuerdings zu eigenen Wissenschaftszweigen herauskristallisierenden Pädagogik und Psychologie angestoßen. Verstärkung erfuhr die Strömung durch die Kräfte der sich etablierenden Jugendbewegung. Doch wie Reformpädagogik und Jugendemanzipation selbst wird auch die literarische Aktivität in Sachen Schule und Schüler am Ende des 19. Jahrhunderts erst in umfassenderem zeithistorischem Zusammenhang greifbar. Im Rahmen einer Einleitung wie dieser kann das selbstverständlich nur in verkürzter Form erfolgen, zumal mit der magischen Epochenschwelle das Zeitalter der Moderne in seiner enormen Komplexität und Ambivalenz Einzug hält. Ich möchte mich daher den einleitenden Worten des Aufsatzbandes „Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880 bis 1930 (Band 1)“ bedienen, um die bestimmenden Faktoren der Dekaden vor und nach 1900 in einer Überschau zu veranschaulichen:

„Um die Jahrhundertwende, mehr oder minder zwischen 1880 und 1930 entstand, was unsere heutige moderne Welt immer noch prägt. Damals durchlebte unsere Gegenwartskultur ihre gleichsam ‚klassische’ Phase, weshalb die Kunstwissenschaft ja auch von ‚Klassischer Moderne’ spricht. Aber dies gilt nicht nur für die Künste, sondern auch für die Wissenschaften, die mit der Lehre von den Elementarteilchen, der naturwissenschaftlichen Medizin und der chemisch-elektrischen Umwälzung der Technik nicht nur ein neues Welt- und Menschenbild, sondern auch eine neue Lebenswelt, in der sich der Mensch in seinen Wahrnehmungen und seinem Verhalten ganz neu orientieren mußte, erschaffen haben. Nicht zuletzt gilt es für die großen sozialen und politischen Strukturen wie etwa Imperialismus und Wohlfahrtsstaat, deren historische Konturen erstmals seit den 1880er Jahren sichtbar wurden und deren schicksalhafte Bedeutung noch für unser heutiges Leben nicht extra begründet werden müßen.“[4]

Als ein auffälliges und charakteristisches Moment der so zu verstehenden Aufbruchsepoche stellt sich den Herausgebern des Aufsatzbandes die „geistige Reflexion der neuen Zeit[]“[5] dar, denn Neuartigkeiten in allen Lebensbereichen forderten die Menschen zur Deutung ihrer Zeit heraus: „Mit der Moderne entstand so auch ihre Kritik, sowohl als gewagte Zukunftsprojektion wie auch als skeptisch-pessimistische Untergangsprophetie.“[6] Im Licht einer solchen „End- und Wendzeit der Kultur“[7] erhält schließlich auch die Literatur der Jahrhundertwende ihren ganz besonderen Stellenwert: Es ist die Zeit der literarischen Moderne, über die in der Literaturwissenschaft der allgemeine Nimbus der „Undefinierbarkeit“[8] und Nicht-Periodisierbarkeit herrscht. Den Stilpluralismus – für die Vielzahl der einzelnen Strömungen und Bewegungen hat sich der Begriff der Ismen für Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Expressionismus und so weiter bewährt – zwischen 1880 und 1920-1930 auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, scheitert grundsätzlich an den unüberbrückbaren Gegensätzlichkeiten ihrer Inhalte und Postulate, die selbst auf die Kontroversen der Zeitgeschichte zurückzuführen sind. Gleichzeitig ist es aber gerade diese noch nie da gewesene Parallelität von widersprüchlichen Literaturen, die die literarische Moderne von anderen Epochen der neueren deutschen Literatur abhebt und als eine wie auch immer geartete Einheit um 1900 erscheinen lässt. Da der Zeitraum der beginnenden literarischen Moderne einen wesentlichen Schwerpunkt dieser Arbeit ausmacht, soll es schließlich nicht unversucht bleiben, ihr an gegebener Stelle ein differenzierteres Verständnis jener Literaturepoche zugrunde zu legen. In Anlehnung an die oben vorgenommene Charakterisierung der Jahrzehnte um 1900 sei aber soviel im Voraus gesagt: Den Werken der Jahrhundertwende lässt sich ein konsequentes Krisenbewusstsein gegenüber der eigenen zeithistorischen Wirklichkeit und damit einhergehend Tendenzen der Autonomisierung von Kunst[9] nachweisen.

Die These lautet nun, dass die Zeit- und Literaturepoche der beginnenden Moderne symptomatisch ist für das Verständnis schulspezifischer Texte um 1900. Dass sich dies allerdings nicht auf den ersten Blick erschließt, stellt den Anlass dar, sich innerhalb dieser Arbeit näher mit den schulkritischen Texten um 1900 auseinanderzusetzen: Wie deutlich wurde, entstanden an der Epochenwende zum 20. Jahrhundert zahlreiche schulspezifische Texte; trotzdem ist eine Wahrnehmung jener als Werkgruppe der frühen literarischen Moderne unüblich und lediglich die ‚Klassiker’ unter ihnen werden heute noch rezipiert. Dass aber viele Protagonisten schulkritischer Texte in ihrer besonderen Empfindlichkeit gegenüber schulischen Zwängen, und das heißt immer auch gegenüber gesellschaftlichen Normvorstellungen, eine signifikante Stimmung vieler moderner Schriftsteller und Zeitgenossen geradezu versinnbildlichen, kommt allenfalls in der Fachliteratur – selbst hier eher unter erziehungs- oder institutionsgeschichtlichem Fokus –, nicht aber in literaturhistorischen Überblickswerken zur Geltung[10]. Dagegen ist die Fachwissenschaft aufgrund der inhaltlichen Kompatibilität dazu übergegangen, den neueren Zweig der Adoleszenzliteratur als Überordnungssystem auf jene schulkritischen Texte anzuwenden. Doch bringt dieses Vorgehen die Schwierigkeit mit sich, die Texte Hesses, Rilkes oder Thomas Manns als Werke einer spezifischen Zeit zu erkennen. Stattdessen werden die besonders im Deutschunterricht bevorzugten Erzählungen und Romane oftmals auf ihre Identifikationsfunktion reduziert. Während die schulspezifischen Texte aber nicht nur eine andere Adressatengruppe ansprechen als es die Autoren von Adoleszenzliteratur gewöhnlich beabsichtigen, ist auch das spezifische Motiv der Schule durch die weit gefasste Adoleszenzproblematik nicht hinreichend abgegrenzt. Als zukünftige Lehrerin für das Fach Deutsch ist mir eine Korrektur jener einseitigen Perspektive zugleich ein ganz persönliches Anliegen. Insofern soll ein erstes Ziel dieser Arbeit darin bestehen, aufzuzeigen, unter welchen Gesichtspunkten die schulspezifische Literatur der Jahrhundertwende als Gattung der Erwachsenenliteratur, genauer noch als Kategorie frühmoderner Literatur, Bedeutung erhalten kann. Dies soll anhand unterschiedlichster Werkbeispiele geschehen. Als sehr wertvoll für die Bearbeitung dieser Zielstellung zeigte sich die neuere Arbeit „Die modernen Leiden der Knabenseelen. Schule und Schüler in der Literatur um 1900“ von Ariane Martin[11].

Die vernachlässigte Auseinandersetzung mit dem Textkorpus der Schulliteratur unter einer eher literaturhistorischen Perspektive macht schnell plausibel, warum bislang kein tatsächlicher Überblick der erschienenen Schuldichtungen um 1900 besteht. Das kann auch im Rahmen dieser Arbeit schwer verwirklicht werden. Stattdessen soll, nachdem viele vergessene Texte gesichtet wurden, als zweites großes Ziel dieser Arbeit ein Text exemplarisch in den Vordergrund der Untersuchung gerückt werden, um an jenem epochenspezifische Aspekte schulkritischer Werke der literarischen Moderne zu manifestieren. Es handelt sich dabei um den weitgehend unbekannten Roman Der Untergang einer Kindheit von Oscar Adolf Hermann Schmitz, der selbst durch die jüngste Veröffentlichung seiner Tagebücher im Aufbau-Verlag der Vergessenheit enthoben wurde. Der Roman erschien erstmal 1905 unter dem Titel Lothar oder Untergang einer Kindheit, wurde dann aber ab der zweiten Auflage 1906 unter dem verkürzten Titel Der Untergang einer Kindheit publiziert. Erzählt werden die Kinder- und Jugendjahre Lothar Danecks, die in ihrem Verlauf mehrheitlich von der „Jämmerlichkeit des Schulelends“[12] überschattet sind.

Um den genannten Zielstellungen dieser Arbeit schließlich in angemessener Form nachgehen zu können und somit einen Beitrag zur Aufarbeitung einer literaturgeschichtlichen Gattung schulkritischer Werke um 1900 leisten zu können, soll in einem ersten Kapitel die historische Wirklichkeit um 1900 vor der Folie sozial- und bildungsgeschichtlicher Entwicklungen thematisiert werden, da diese den Anstoß gaben für die schulkritischen Literaturproduktionen jener Zeit. Im zweiten Kapitel werden anschließend die Frage der literaturwissenschaftlichen Gattungsbestimmung schulkritischer Texte diskutiert sowie deren zentrale Themen herausgearbeitet. Am Romanbeispiel Der Untergang einer Kindheit von Oscar Schmitz sollen im dritten Kapitel schließlich die vorhergehenden Erkenntnisse exemplifiziert werden.

1. Sozial- und bildungsgeschichtliche Grundlegung

Wenn in dieser Arbeit zwar insbesondere der Zeitraum der Jahrhundertwende im Fokus der Untersuchung steht, soll für die folgenden Betrachtungen das Zweite deutsche Kaiserreich von 1871-1918 den zeitlichen Rahmen vorgeben, genauer noch die Regierungsdaten Wilhelms II. während der drei Dekaden von 1888-1918. Die von jenem angestrengten Veränderungen im Bildungssektor sowie die sich zeitgleich zur Opposition formierenden reformpädagogischen Ansätze fallen indes mit dem Ende des 19. Jahrhunderts zusammen.

1.1 Kindheit und Jugend im kaiserzeitlichen Deutschland

1.1.1 Kindheiten

Soll es um Kindheit während der wilhelminischen Kaiserzeit gehen, müssen unterschiedliche Bereiche wie das Familienleben, die Beziehung von Kindern untereinander, das Verhältnis von Kind und gesellschaftlicher Öffentlichkeit sowie die Welt von Kind und Schule betrachtet werden. Die kindliche Wahrnehmung dieser gesellschaftlich vorgegebenen oder institutionalisierten Räume war selbstverständlich von verschiedensten Faktoren wie der sozialen und regionalen Herkunft abhängig. So machte es mit dem Beginn des Industriezeitalters etwa einen großen Unterschied aus, ob man in der Stadt lebte oder auf dem Land[13].

Die Erziehung des Kindes war eine der ersten Aufgaben innerhalb der sozialen Einheit Familie. Sie oblag grundsätzlich beiden Elternteilen gleichermaßen und verfolgte das Ziel der Aneignung unumstößlicher Tugenden wie Fleiß, Pflichterfüllung, Gehorsam, Bescheidenheit, Dankbarkeit, Ordnungsliebe, Frömmigkeit. Erziehungshandbücher waren den Eltern hilfreich, indem sie erläuterten, wie dem Kind dieser Tugendkatalog zu vermitteln sei: „Der Wille des Kindes muß gebrochen werden, das heißt es muß lernen, nicht sich selbst, sondern einem anderen zu folgen.“[14] An der Umsetzung dieser Erziehungsmaximen hing das individuelle Glück des Kindes, das mit Bestrafung in Form von Repressionen oder Liebesentzug rechnen musste, wenn es den erzieherischen Ansprüchen nicht Genüge leistete und mit Belohnung im umgekehrten Fall. Die Ängstigung der Kinder, zum Beispiel mit der Androhung des frühen Todes der Eltern, stellte dabei ein besonders drastisches Erziehungsmittel dar. Darüber hinaus wurde die Fraglosigkeit solch gängiger Erziehungsprinzipien durch Idealisierungen in Lesebüchern, Zeitschriften und Illustrationen, die die Kinder in ihrem täglichen Leben begleiteten, unterstützt.

Die Familienstruktur war durch feste Beziehungsverhältnisse geordnet. Im Regelfall wurde die familiäre Hierarchie angeführt vom Vater, dem sich sowohl Mutter als auch Kind unterordnen mussten. Der Vater, das Oberhaupt der Familie, musste in dieser Rolle der allgemeinen Aufgabe nachkommen, in Konfliktsituationen die hierarchischen Beziehungsebenen innerhalb der Familie zu wahren beziehungsweise wiederherzustellen. Er war der Garant für die innere Stabilität der Familie und setzte als solcher nicht selten Gewalt als Mittel erzieherischer Züchtigung ein. Die Figur des Vaters musste dem Kind schließlich nicht ohne Grund als etwas Gottähnliches vorkommen, denn während es in der Kirche die Gottesfürchtigkeit gelehrt bekam, erfuhr es zu Hause die alleinige Herrlichkeit des Vaters. Natürlich darf die Realität nicht von Klischees überlagert und das Matriarchat als mögliche Alternative zum Patriarchat angenommen werden, doch war die familiäre Rolle der Mutter im Normalfall eine andere. Ihr wurden durch die Öffentlichkeit ganz bestimmte Aufgabenbereiche, insbesondere hinsichtlich der Kindeserziehung, zugewiesen: Die Mutter war zuständig für habituelle Erziehungsprozesse und die affektive Fundierung des Kindes. Während das Vater-Kind-Verhältnis von Achtung und Distanz gekennzeichnet war, stellte die Beziehung zur Mutter demgegenüber den Ausgleich im emotional-empfindsamen Bereich dar. Im Idealbild der gesellschaftlichen Öffentlichkeit befriedigte die Mutter, gemeinsam mit den Geschwistern, somit das Bedürfnis nach Harmonie und Behaglichkeit. Verklärtes Familienglück im Hochzustand ereignete sich im Kinderleben während der hohen kirchlichen und familialen Festtage wie Kommunion und Konfirmation, zu Geburtstagen oder Weihnachten.

Jenseits des primären Sozialisationsraums Heim und Familie sind den Kindern zu Beginn des modernen Zeitalters die nachbarschaftlichen Straßen und Höfe ein beliebter Erlebnisraum, in dem sie mit befreundeten Kindern ohne Aufsicht von Erwachsenen gemeinsame Zeit verbringen konnten. Diese Form der Sozialisation, der Kinder untereinander, war von entscheidender entwicklungspsychologischer Bedeutung, da sie nicht nur Ergänzung, sondern auch vollständiger Ersatz für mangelnde liebevolle Zuneigung im eigenen Zuhause sein konnte. Der räumliche Gegensatz zwischen drinnen und draußen konnte überhaupt nur für die in der Stadt aufgewachsenen Kinder erfahrbar werden, das heißt für Kinder bürgerlicher oder proletarischer Herkunft. Den Kindern auf dem Land war dieser urbane Lebenskreis mit seinen Mietskasernen, Hauseinfahrten, Straßenzügen, Hinterhöfen, Kleingärten und Vororten, in denen sich die Stadtkinder ihre Spielräume suchten, fremd.

Unter den ‚Kleinen’ der Stadt gab es nun große Unterschiede: Während sich die Kinder proletarischer Herkunft Straßenkämpfe lieferten und Hausherren, Hausmeister und Schutzmänner als Repräsentanten der bürgerlichen Ordnung früh zu verachten lernten, suchten die Eltern des gehobenen Bürgertums die Spielgefährten ihrer Kinder selbst aus. Das reichlich ausgestattete Kinderzimmer sowie der eigene Hof mit Garten mussten die reale Erlebniswelt der Straße mit ihren vielfältigen Sozialkontakten ersetzen, denn die Sorge der bürgerlichen Eltern vor dem schlechten Einfluss der Klassenfremden ließ sie ihre Kinder von der Straße fernhalten. Neben diese soziale Trennung, die meist schon die Separierung in Wohnviertel mit sich brachte, trat schließlich noch jene nach Alter, Geschlecht und Konfession. Die unterschiedlichen kindlichen Sozialisationserfahrungen außerhalb des gewohnten Familienumfelds lassen sich nach Christa Berg an einer Verhältnisgleichung wie folgt veranschaulichen:

„Die gemischte Sozialität der Kinder nahm mit dem Aufstieg ihrer Eltern auf der sozialen Stufenleiter ab. Unter dem Gesichtspunkt heterogener Sozialerfahrungen wie der Transformation der sozialen Wirklichkeit für das eigene Verstehen durch handelnde Auseinandersetzung ist darum die Kindheit der obersten Sozialschichten die beschränkteste.“[15]

Ein weiterer Bereich, der Kindheit um 1900 prägte, war die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit im Kaiserreich, das heißt der monarchischen, staatlichen, militärischen und kirchlichen Macht im Reich. Dieser Einfluss galt allen voran in der bürgerlichen Welt, wo der kaiserliche Hof als Vorbild des Familienlebens popularisiert wurde. Rein äußerlich wurde die Verehrung der Kaiserfamilie etwa über das Nachahmen der beliebten Matrosenanzüge in der Kindermode zur Schau gestellt. Vor allem aber die patriotisch-festlichen Gebärden an nationalen und militärischen Gedenk- und Feiertagen „verbanden sich im kindlichen Bewußtsein zu einer Erfahrung der Freude, des Besonderen, der Hochachtung vor dem, was da vorüber zog und ja auch mit Hochrufen begrüßt wurde.“[16] Schnell konnte diese durch die Erwachsenenwelt übertragene Begeisterung aber auch in ängstlichen Respekt umschlagen, wenn Vertreter der Obrigkeit angesichts geringfügiger Missachtung der staatlichen Ordnung ihre Strenge uneingeschränkt offenbarten. Ihr jeweiliges Bild von staatlicher Gewalt gewannen Kinder so aus ihren Beobachtungen des Umgangs der Erwachsenen mit Behörden und Polizei, aus der täglichen Lektüre und dem Schulunterricht.

Nicht minder eindrucksvoll für das Erleben von Kindheit im Kaiserreich war die regelmäßige Begegnung mit der Kirche. Da der Protestantismus Staatsreligion war, strahlten die geistlichen Würdenträger kirchliche und staatsherrschaftliche Macht zugleich aus. Doch ganz gleich, ob katholische oder protestantische Kirche, Gläubige erfuhren die religiöse Erziehung stets als disziplinierend und lernten, dass ein frommer Lebenswandel immer auch einen untertänigen Lebenswandel bedeutete. Allein die Garderoben der Geistlichen mussten die Kinder gleichsam an ihre Achtung gegenüber allen Uniformträgern erinnern, denn das Militärische durchdrang das Alltagsleben auf selbstverständliche Weise. Krieg – so wurde es mit Hilfe von Liedern und beliebten Kriegsspielen von früh an propagiert – hatte nichts mit Töten und Grausamkeiten zu tun, sondern bedeutete, im Dienst für das Vaterland heldenhaft zu siegen oder ehrenvoll das Leben zu lassen. In diesem gesellschaftlichen System von Über- und Unterordnung wurde Unterwerfung als funktionaler Mechanismus von Konfliktregelung von klein auf infiltriert. Das Kind war an den Umgang mit Hierarchien gewöhnt beziehungsweise vom Glauben an diese durchdrungen, immerhin lebte es mit der unzweifelhaften Autorität gemeinsam unter einem Dach, denn der Vater verkörperte dem Kind Kaiser, Lehrer, Polizei und anthropomorphen Gott zugleich.

Von anderer Kultur und Struktur präsentierte sich das öffentliche Leben von Kindern proletarischer beziehungsweise sozialdemokratischer Elternhäuser. Sie wuchsen in der Wirklichkeit von Arbeiterbewegung und Klassenkampf auf. Kinder dieser Sozialisationskreise standen nicht nur den Unterwerfungsmechanismen des Staates, sondern auch der sich in den Großstädten entfaltenden Konsumwelt mit ihren Kaufhäusern und Geschäftspassagen eher fern. Diese blieb der bürgerlichen Sozialsphäre vorbehalten, bei der die Angebote moderner Gebrauchs- und Luxusartikel völlig neue Bedürfnisse weckte.

Die Aufgabenbereiche der beiden kindlichen Sozialisationsräume Schule [17] und Familie waren im modernen Kaiserreich klar voneinander getrennt: So bestand zwischen Eltern und Schule das Einverständnis, das heimatliche Elternhaus habe die habituelle Erziehung des Kindes zu übernehmen, während die Schule der Angelegenheit der intellektuellen Ausbildung des Sprösslings nachzukommen habe. So konnte etwa ein Gymnasiallehrer offenkundige Lern- und Verhaltensprobleme des Kindes auf vermeintliche Missgriffe der elterlichen Erziehung zurückführen. Anders gestalteten sich die Verhältnisse in der zeitgenössischen Volksschule: „Sie akzeptierte einen pädagogischen Auftrag für Unterricht und Erziehung.“[18] (Hervorhebung durch den Autor). Kinder beider Schultypen machten grundsätzlich unterschiedliche psychosoziale Erfahrungen: Kam es zum Konfliktfall, sah das Gymnasialkind zu, wie sich die Eltern eher auf die Seite des Schullehrers als auf die des eigenen Kindes stellten. Diese Übereinstimmung der Werteorientierung von Schule und Elternhaus hatte sicherlich die Optimierung der schulischen und beruflichen Karriere des Kindes zum Ziel. Gegenteiliges wird vom Volksschulmilieu berichtet: Hier weiß man von gezielten Beschwerden der Eltern gegenüber Lehrern. Als Ursache muss das sensiblere Unrechtsbewusstsein der meist proletarischen Eltern angenommen werden oder auch eine pragmatisch-geringschätzige Sichtweise, die der schulischen Ausbildung wenig Bedeutung für den späteren Lebensweg von Arbeiterkindern beimaß. Christa Berg wagt daher die nicht übertriebene Behauptung: „Waren bürgerliche Kinder eher für schulischen Erfolg disponiert als proletarische, glücklichere Schüler waren sie deshalb keineswegs.“[19] Nachvollziehbar wird dies umso mehr, wenn man betrachtet, dass die Schule dem Proletarierkind zum ersten Mal Raum ließ, Kind zu sein. Von dem täglichen Abmühen in Fabriken oder dem häuslichen Arbeitsbetrieb konnte es in die Schule entfliehen und nachweisbare Lernfreude entwickeln. Die andere Seite der historischen Wirklichkeit zeigt aber auch, dass für Arbeiterkinder ebenso wie für die gut situierten Altersgenossen Disziplinierungen und Bestrafungen sowohl in der Schule als auch zu Hause auf der Tagesordnung standen.

1.1.2 Jugendleben

1.1.2.1 Idealbild der Jugend und gelebte Jugend

Jugendlich sein im Zweiten deutschen Kaiserreich – das hieß, sich zwischen den Polen eigener Selbstkonzepte und überlieferter Konformitätszwänge zu bewegen. Das Industriezeitalter signalisierte den Beginn grundlegender demographischer, ökonomischer und sozialstruktureller Umwandlungen; die Auflösung traditioneller Haus- und Lebensgemeinschaften war nur ein Kennzeichen dieser modernen Entwicklungen. Kindheit und insbesondere Jugend wurde in diesem Prozess zusehends als eigenständiger Lebensabschnitt begriffen und als solcher auch verlängert. Indem Jugendlichkeit mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts verstärkt geschlechts-, schicht- und regionalbedingte Ausformung erfuhr, entstanden Muster typisch jugendlichen Verhaltens, mehr noch: Im Zuge kulturkritischer, lebensreformerischer Zeittendenzen wurde Jugend zum Hoffnungsträger für eine umfassende geistige Erneuerung gegen die Herrschaft des Konservatismus.

Trotz oder gerade wegen dieser neuen Wahrnehmungstendenzen waren klischeehafte Idealbilder vom Jungsein im kaiserzeitlichen Deutschland überaus populär. In der Trivialliteratur, den Erziehungsratgebern, im Schulunterricht, ja im öffentlichen Bewusstsein generell, hatte das beinahe mittelalterlich anmutende Bild vom ‚gebildeten Jüngling’ beziehungsweise der ‚christlichen Jungfrau’ weiterhin Konjunktur. Beiden wurden geschlechterspezifische Tugenden zugeschrieben, die die ideale Ergänzung von Mann und Frau zu verherrlichen halfen, die tatsächliche Polarisierung der Geschlechter und insofern die verhinderte Emanzipation von Mädchen und jungen Frauen aber verdeckten. Während die ‚Jungfrau’ unpolitisch, karitativ und sozial engagiert, dabei fromm, asexuell, sittsam und fleißig sein sollte, gehörte es zur obersten Pflicht des ‚Jünglings’, sich dem liebenden Dienst für Kaiser und Vaterland zu verschreiben und für diese alle Heldenopfer zu bringen. Der Identifikation mit dieser verschönten Charakterzeichnung kam die zeitgenössische Mädchenliteratur entgegen, die bürgerlichen und adeligen jungen Frauen den Typus des infantilen, „trotzköpfigen“[20] und naiven ‚Backfischs’ vorlebte. Der Verlauf solcher Geschichten folgte meist dem gleichen Muster: Die Einsicht in die Notwendigkeit lässt die literarische Vorlage des jungen, unreifen Mädchens bald die weiblichen Tugenden der Selbstanpassung, Güte und Demut anerkennen. Ihr individuelles und standesgemäßes Glück wird perfekt durch eine sie materiell absichernde Ehe – ein Lebenskonzept wie es ferner von der Realität nicht sein konnte.

Der weitaus größere Teil junger Menschen im Kaiserreich, jener, der eine Volksschulausbildung hinter sich gebracht hatte und vor der Lehre oder dem Eintritt ins Berufsleben stand, konnte sich durch solche lebensfernen Leitbilder nicht angesprochen fühlen. Für den Jüngling oder das Mädchen aus den Unterschichten gab es keine vorgefertigten Muster. Als Handwerker, Fabrikarbeiter, Landarbeiter oder weibliche Arbeitskräfte passten sie nicht in das Idealbild und erregten aufgrund ihres proletarischen Lebenswandels, der häufiges Wechseln des Arbeitsplatzes oder Freizeitgestaltung in Kneipen und auf Rummelplätzen bedeutete, die Besorgnis von Sittenwächtern. Schon an der eigentlichen begrifflichen Beschreibung dieser nicht der bürgerlichen Sozialnorm entsprechenden jungen Menschen fehlte es den Verantwortlichen, sodass zunächst der aus dem Jugendstrafvollzug brauchbare Begriff des ‚Jugendlichen’ herangezogen wurde. Im Laufe der Zeit verlor dieser seine abfällige Konnotation von Verbrechen und Verwahrlosung und vereinte als neutrale Sammelbezeichnung staatsbürgerlicher Erziehung bald alle bürgerlichen und nichtbürgerlichen jungen Frauen und Männern zwischen 14 und 20 in sich.

Die Wirklichkeit gelebten Jugendlebens hing maßgeblich vom Geschlecht sowie der sozialen und regionalen Herkunft, das heißt den entsprechenden ökonomischen Voraussetzungen ab und macht deutlich, dass soziale Differenzen unter der wertneutralen Vereinheitlichung des Begriffs ‚Jugendliche’ verschwommen bleiben mussten. Das Dasein jugendlicher Frauen und Männer der Bauern- und Arbeiterklasse war geprägt von Rationalität und dem Streben nach dem schnellen Übertritt in das Erwachsenenleben, da nur dieses die Existenz sichernde Arbeitsausübung garantierte. Auch die in dieser Lebensphase relevante Partnerwahl unterlag den Kategorien von Wirtschaftlichkeit und Zweckdenken, war das persönliche Glück, insbesondere von Frauen, doch vor allem von äußeren Konventionen wie materieller Sicherheit und sozialer Makellosigkeit abhängig. Die Lebenswelt bürgerlicher Jugendlicher unterschied sich hiervon grundlegend: Die gleichaltrigen Zeitgenossen waren zumeist Gymnasiasten oder höhere Töchter und erachteten dies als standesgemäße Würde. Der bürgerliche Sohn genoss im Gymnasium entweder eine literarisch-ästhetisch-geschichtliche Bildung, die in bildungsbürgerlichen Kreisen hoch geschätzt wurde oder aber beschritt den neusprachlichen, naturwissenschaftlich-technischen Bildungsweg, welchen das Industrie- und Wirtschaftsbürgertum für seine Sprösslinge präferierte. Eine knappe Charakterisierung des zeitgenössischen Gymnasiasten könnte wie folgt lauten:

„Er schrieb oft Tagebücher, Gedichte, artikulierte sich in reflektorischen Aussagen über sich selbst, schwankte in Gefühlswirrungen, und literarisch-ästhetisch-philosophischen Ambitionen, kultivierte Freundschaften, nicht selten auch Weltschmerz und Sehnsüchte, litt unter den Verhaltensanforderungen der Erwachsenenwelt, die auch doppelbödige Moral verrieten und Sexualtabus zur Qual machten.“[21]

Fand der Bürgersohn im Gymnasium zwar einen Raum, in dem er wesentlich länger als seine klassenfernen Altersgenossen jugendliche Freiheit genießen konnte, verpflichtete die soziale Herkunft und finanzielle Abhängigkeit vom bürgerlichen Elternhaus andererseits, sich hinsichtlich Sozialstatus und Lebensstil an den Eltern zu orientieren. Grundsätzlich siegte dieser äußere Anpassungsdruck weitgehend über alle Widerstände der Jugendlichen. Natürlich konnte den jungen Menschen die Widersprüchlichkeit ihrer Zeit und Umwelt trotzdem nicht entgangen sein: „Man sah die Fassaden, die Tarnung, die Doppelbödigkeit, Halbherzigkeit (…) und hielt sich doch bedeckt in der Auseinandersetzung mit den (Über-)Vätern, im sozialen Umfeld generell.“[22] Gesamtgesellschaftliche Problemzusammenhänge wie Politik oder die dringliche soziale Frage blieben dem sich auf das studentische Leben vorbereitenden Gymnasiasten verschlossen. Dies waren praktische Fragen, die mit seiner schöngeistigen und gesicherten Bürgerwelt nichts zu tun hatten. Äußerte sich ein tatsächliches Leiden und Verzweifeln an diesen vorgegebenen Schul- und Familienverhältnissen, wurde dieses entweder übersehen oder im elterlich-lehrerschaftlichen Einvernehmen verharmlost, verdeckt oder schlichtweg ignoriert. Diese Verhaltensmechanismen basierten auf einer von jeher auf tugendhafte Konventionen der Entsagung, Zurückhaltung und des Gehorsams beruhenden Erziehung in bürgerlichen Kreisen, die Probleme nach innen zu leiten gewohnt waren und „auf diese Weise eine verdeckte aggressive Männlichkeit schufen“[23]. Ein sich gegen Ende des Jahrhunderts anbahnender Generationskonflikt, der erstmals Zweifel an der Autorität und dem bürgerlichen Sicherheitsdenken verlauten ließ, kam deswegen nicht aus dem klassischen Bürgertum, sondern wurde auf Seiten der Bürgersöhne des neuen Mittelstandes – sie strebten eine naturwissenschaftliche Berufslaufbahn an und verfügten über mehr Aufgeschlossenheit und Unabhängigkeit als ihre Altersgenossen der humanistischen Gymnasien – laut.

1.1.2.2 Organisierte Jugend und Jugendbewegung

Das Spektrum an jugendlicher Organisation in Gruppen, Verbänden und Vereinen nahm seit der Reichsgründung beständig zu. Die älteren konfessionellen und berufsbezogenen Vereinigungen wurden durch die neue Sportbewegung der Turn- und Spielvereine sowie durch semipolitische und explizit politische Jugendvereine des sozialistischen, konservativen und nationalistisch-vaterländischen Lagers ergänzt. Als spezialisierte Form der autonomen Freizeitgestaltung gründeten die Jugendlichen unter sich Freundschaftskreise, städtische Cliquen in dafür vorgesehenen Clubs, Treffs oder Lokalen, die in ihrer Territorialität ein starkes „Wir-Bewusstsein“ entfalteten. Auch wenn von einer stetig wachsenden Zahl von Vereinen gesprochen werden kann, so waren um 1900 nur etwa 20% der Jugendlichen in solchen organisiert[24]. Abgesehen von parteipolitischen Jugendorganisationen der Sozialdemokraten, Konservativen und Nationalisten waren alle Organisationen im Kaiserreich für die (männliche) Jugend, und nicht von ihr gegründet worden. Angesichts dieser Verhältnisse sowie der ideologischen Inanspruchnahme vieler Vereine bezweifelt Christa Berg eine gesteigerte Sozial- und Individuationsfähigkeit der Jugendlichen durch das reger werdende Vereinsleben. Ähnliches gilt für die so genannte Jugendpflege, die es sich als staatliche Initiative seit etwa 1890 zur Aufgabe gemacht hatte, die zeitgenössische Arbeiterjugend vor schlechten Einflüssen wie dem Alkoholismus, der Jugendkriminalität und dem vermeintlichen ‚Spuk’ der Sozialdemokratie zu bewahren. Von dieser negativen Zielformulierung ausgehend, wurden unterschiedliche nationalpolitische Sozialmaßnahmen geschaffen, die dem Jüngling für die erzieherische Lücke nach der Entlassung aus der Volksschule bis zum Eintritt in den Wehrdienst eine sinnstiftende Beschäftigung sein sollten. Die Jugendpflegemaßnahmen folgten einem bürgerlichen Sozialisationsmuster, das an den Bedürfnissen der Volksjugend schlichtweg vorbeiging und die pädagogische Sinnhaftigkeit des Konzeptes heute in Frage stellt.

War die Jugendpflege ein von staatlicher und somit von jugendferner Seite ins Leben gerufene Programm, verstand sich die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Jugendbewegung als „Selbsterziehungsgemeinschaft“[25]. Es wäre jedoch ein Fehlschluss, die Jugendbewegung als „Avantgarde oder Prototyp jugendlicher Subkultur“[26] herausstellen zu wollen, denn ihr Anhängerkreis reduzierte sich auf eine Minderheit gut situierter Jugendlicher, die vornehmlich die Verhältnisse ihres eigenen Sozialumfeldes beanstandeten. In der Verehrung der Natur, der Erhöhung des Prinzips von Schlichtheit und Einfachheit konstruierten sie einen Gegenpol zur der von ihnen verhassten bürgerlichen Welt der Mittelmäßigkeit und suchten nach neuen Persönlichkeitsidealen. Die zur Ausdifferenzierung einer eigenen Jugendkultur beigetragene Formierung der Jugendbewegung darf daher nicht auf ein Gesamtbild von Jugend angewendet werden. Nichtsdestotrotz spielt die Jugendbewegung aufgrund ihrer fermentierenden Wirkung für Jugendkultur und die reform- und sozialpädagogische Theorie und Praxis des modernen Zeitalters eine große Rolle. Darüber hinaus waren viele der Autoren, die um 1900 Schul- und Schülergeschichten verfassten, Anhänger jener Bewegung.

Progressiver Initiator und eigentlicher Gestalter der Jugendbewegung war die in den letzten fünf Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene Gruppierung des Wandervogels, die sich 1913 im Dachverband ‚Wandervogel e.V., Bund für deutsches Jugendwandern’ zusammenschloss. In der Wandervogelbewegung verwirklichte sich das der Jugendbewegung eigene Prinzip der Naturverbundenheit: Bei gemeinschaftlichen Wanderungen, Wochenendausflügen und -fahrten, aber auch bei Festen und Spielen setzten sich die zwischen 12 und 19 Jahre alten Oberschüler ohne Begleitung Erwachsener von den konventionellen Schul- und Familienausflügen ab und huldigten dem einfachen Naturgenuss auf langen Tagesmärschen, bei Übernachtungen unter freiem Himmel und bei kostengünstiger Selbstverpflegung. Diese neue Form eines anspruchslosen und jugendgemäßen Gemeinschaftslebens hatte mit gesellschaftlichem Aussteigertum jedoch wenig zu tun. Im Gegenteil wurde die Wandervogelbewegung zu wahrer Wanderkunst mit Ausrüstung, Skizzen, Tagebuchaufzeichnungen, Liedern, Ritualen und Abzeichen stilisiert. Die immer größer werdende Teilnehmerzahl verlangte hierarchisch organisierte Strukturen, innerhalb derer Hingabe, Autoritätsgläubigkeit und Treue von den Anhängern erwartet wurde. Diese für die Bewegung charakteristischen Tugenden mussten Selbstreflexion und theoretische Zugrundelegungen notwendigerweise hemmen. Ihre eigentliche Programmatik blieb so diffus und folgte schablonenhaften Phantasien vom Ausbruch aus der Konvention und der Großstadt. In dieser naiven, bewusst unpolitischen Gestaltung war die Jugendbewegung von Beginn an stark ideologieanfällig; Antisemitismus und Antifeminismus etwa waren akzeptierte Grundsätze des Wandervogels. Im Glauben an die Notwendigkeit neuer Wertinhalte war die Jugendbewegung ihrerseits Teil einer neuen zeitgenössischen Lebenskultur. Jene so genannte Lebensreformbewegung – eine rein bürgerliche Bewegung, die die geistige Kultur ihrer Zeit in einer Krise wähnte – proklamierte für sich in zeittypischem Kolorit das Zweckmäßige, Natürliche und Einfache. Ausdruck fanden diese Axiome beispielsweise in schlichter oder selbst gefertigter Kleidung oder in floraler Inneneinrichtung.

Hat die Wandervogelbewegung zwar ein neues, individualistisches Bild vom Jungsein zumindest für einen Teil der Jugendlichen im Kaiserreich kultiviert, so muss bezweifelt werden, ob der Nimbus einer souveränen Gemeinschaft tatsächlich zutrifft. Christa Berg zweifelt eine solche Aktionskraft des Wandervogels an, vielmehr erachtet sie als Voraussetzung für dessen Entstehung eine „ ‚Komplizenschaft’ von Jung und Alt“[27]. In einer Welt, in der sich das besitzende Bürgertum – einerseits bedroht von der erstarkenden Arbeiterbewegung, andererseits von der aristokratisch-politischen Führungsschicht – nach Sicherheit und Werterhalt sehnte, bildete die neue Jugendbewegung letztlich eine Art Trost und „inkarnierte Zukunftshoffnung“[28] für die unerfüllten Erwachsenenträume. Die im Grunde

antibürgerliche Wertschätzung des Wandervogels wurde somit ins Gegenteil verkehrt.

1.2 Das deutsche Schulwesen im Kaiserreich

1.2.1 Dichotomie des Schulwesens

Das Bildungswesen des Kaiserreichs ist Spiegel einer Gesellschaft, die mit der modernen Epoche zusehends komplexer wird. Die Entwicklungen des Industriezeitalters bringen neue Berufe, ja neue gesellschaftliche Schichten und sich gegenüberstehende Klassen hervor, die konsequenterweise das Bildungswesen entscheidend bestimmen[29]. Hellmut Becker und Gerhard Kluchert waren in diesem Zusammenhang für mich besonders anregend und richtungweisend, da sie ein wesentliches Charakteristikum kaiserzeitlichen Schulwesens in der Formierung von „zwei Reichen der Bildung“[30] sehen: Gab es in den einzelnen Gliedstaaten des Reichs zwar vielfältige bürokratische und institutionelle Unterschiede im Bereich des Schulwesens, war die klare Grenze zwischen höherer und niederer Bildung doch ein reichsweites Faktum und verschärfte sich sogar noch im Laufe der Zeit. Unterschiede zwischen beiden Bildungsbe‚reichen’ zeigten sich in der staatspolitischen Aufsicht und Verwaltung, in den an den Schulen zu vermittelnden Lehrinhalten und Methoden, in der Ausbildung des Lehrpersonals und vor allem in der sozialen Herkunft der Schüler. Bildungschance und Sozialstatus hingen eng miteinander zusammen: Wer die Grenze zwischen höherem und niederem Schulwesen von ‚unten’ nach ‚oben’ passieren wollte, hatte nur wenige Erfolgsaussichten. Der längere Lauf einer höheren Schulausbildung war selbstverständlich mit höheren finanziellen Mitteln verbunden, über die ein unselbstständiger Handwerker oder ein Arbeiter nicht verfügte. Diese Determination setzte sich für die zukünftige berufliche Karriere fort: Ein Abschluss an einer höheren Schule führte automatisch zur Berechtigung für höhere Ämter im Staatsdienst oder aber über die Universität zu den freien akademischen Berufen. Umgekehrt bedeutete eine niedere Schulausbildung den beruflichen Verbleib innerhalb der Unterklasse. Der Differenzierung dieses verhältnismäßig dichotomen Bildes soll eine genauere Betrachtung beider Schulsphären dienen.

1.2.1.1 Höheres Schulwesen

Sinnbild einer höheren Schulbildung mit der Berechtigung zu einem Universitätsstudium war von jeher das Gymnasium. In seinem vornehmlich bildungsbürgerlichen Wirkungsrahmen erhielten Professoren-, Ärzte-, Ingenieurs- und Rechtsanwaltssöhne hier eine klassische, wissenschaftspropädeutische Schulausbildung. Das höhere Schulwesen war damit von jeher ein reines System von Knabenschulen[31]. In seinem für das 19. Jahrhundert maßgeblichen „Selbstverständnis als kleine bürgerliche Elite- und traditionalistisch-historisch ausgerichtete Altsprachenschule mit betonter Distanzierung von lebenspraktischen Bezügen“[32] entwickelte sich das Gymnasium aus dem humanistischen Gelehrtenschulwesen am Ende des 18. Jahrhunderts. Das beanspruchte goethezeitliche Bildungsideal einer umfassenden Menschenbildung musste das Gymnasium bis zum Ende des 19. Jahrhunderts angesichts wirtschaftlicher, sozialer und politischer Veränderungen jedoch zusehends korrigieren. Industrialisierung, Technisierung, Verwissenschaftlichung, Spezialisierung, Vermassung, Verstädterung und Nationalisierung, kurz gesamtgesellschaftliche Modernisierungsprozesse, prägten das Gesicht des öffentlichen Bildungswesens insofern, dass Bildung in erster Linie „als Nutzbarmachung des Menschen für das ökonomisch-soziale Dasein“[33] begriffen wurde. Das althergebrachte Gymnasium musste sich somit an die Bedürfnisse eines technisch-wirtschaftlichen Zeitalters insbesondere im Bereich des Lehrkanons anpassen: Der Umfang der alten Sprachen wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu Gunsten neuerer Fremdsprachen, naturwissenschaftlicher Fächer und der Geschichte vermindert. Was dieses fachlich-inhaltliche Zugeständnis deutlich vor Augen führt, ist die zeittypische Rivalität zwischen humanistischen und realistischen Bildungsströmungen, die schließlich zur Entstehung neuer Schultypen anstieß: In der zweiten Jahrhunderthälfte etablierten sich realistisch ausgerichtete Anstalten, die ihrerseits mehr und mehr um Anerkennung gegenüber den privilegiert-humanistischen Bildungseinrichtungen kämpften. Die so genannten Realschulen hatten ihren Ursprung schon im 18. Jahrhundert, waren für das Bildungswesen aber noch wenig von Bedeutung. Erst die wirtschaftliche Aufwärtsbewegung und die Herausbildung eines Wirtschaftsbürgertums ließen deren Zahl und Ansehen bei gleichzeitigem zahlenmäßigen Rückgang der Gymnasien ansteigen. Man führte die Unterscheidung zwischen neunklassiger Realschule erster Ordnung mit Lateinpflicht, siebenklassiger Realschule zweiter Ordnung mit wahlfreiem Latein und sechsklassiger Realschulen dritter Ordnung ohne Latein ein. Bis 1870 gelang es der Realschule, das Berechtigungswesen soweit an das der Gymnasien anzunähern, dass Abiturienten der Realschule erster Ordnung das Universitätsstudium bestimmter Fachrichtungen antreten durften. Als in den 80er Jahren schließlich die lateinlose Realschule zur Oberrealschule mit den Schwerpunkten Mathematik, Naturwissenschaften und Fremdsprachen ausgebaut wurde, traten das Humanistische Gymnasium, das aus der ‚Realschule erster Ordnung’ umbenannte Realgymnasium sowie die Oberrealschule bis zum Ende des Jahrhunderts „als die drei fest installierten Typen der höheren Schule“[34] gleichberechtigt nebeneinander auf.

Unbestritten bleibt, dass, soweit die Bevölkerung auch zwischen den drei höheren Schulen wählen konnte, diese ein spezifisches „Sozialprofil“[35] beibehielten. So blieb das Gymnasium auch lange über die Jahrhundertwende hinaus die Eliteschule für das alte Bildungsbürgertum und behielt seinen Selbstrekrutierungscharakter. Auf der anderen Seite waren Realgymnasium und Oberrealschule eher neubürgerlich geprägt und dienten dem aufsteigenden gewerblichen Mittelstand als Tor zu höherer Bildung. Das Gymnasium, das seine Monopolstellung nicht ohne Weiteres aufgeben wollte, war naturgemäß versucht, sich vor der neuen Konkurrenz zu schützen und sich gegenüber den nachdrängenden Gesellschaftsgruppen abzugrenzen. Nur ungern wurden Kinder der Mittelschicht von den Gymnasiasten neben sich auf der Schulbank akzeptiert und von diesen als Frühabgänger diskriminiert; andererseits wollte man sie auch nicht in die niederen Schulen verbannen, wo man die ‚Saat’ der Sozialdemokratie und eine Kooperation mit derselben befürchtete – geradezu ein soziales Dilemma des höheren Schulwesens.

1.2.1.2 Niederes Schulwesen

Auch die andere Seite der ‚Bildungsgrenze’ erfuhr im Zuge des gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsschubs seit der zweiten Jahrhunderthälfte weitreichende Veränderungen. Das Misstrauen, das der Volksschule, ihren Lehrzielen und Lehrern in den Kämpfen von 1848/49 entgegengebracht wurde, deutete voraus, wie das Volksschulwesen zum Austragungsort sozialer wie politischer Kämpfe des Jahrhunderts werden sollte. Nach den Revolutionsjahren reduzierten die Konservativen das von den preußischen Bildungsreformern ins Leben gerufene Volksschulwesen durch die ‚Stiehlsche Regulative’ von 1854 auf ein Mindestmaß elementarer Kenntnisse, das heißt Lesen, Schreiben, Rechnen, den Gesangs- und Religionsunterricht[36]. Die ursprünglich aufgeklärte Bildungsidee der preußischen Minister, dem Menschen in erster Linie das zum klaren und selbstständigen Denken nötige Wissen zu vermitteln, schien verloren. Am Anfang der 70er Jahre trat mit einer neuen Ordnung für die Volksschulen eine Verbesserung der Lage ein: Es wurde bestimmt, die Realien mit entsprechender Stundenzahl wieder in den Lehrplan aufzunehmen; auch lehrmethodische Fragen fanden Raum in den Bestimmungen für die Volksschule. Fortan sollte der Lehrplan die Vermittlung der für ein bürgerliches Leben nötigen allgemeinen Kenntnisse und Fähigkeiten umfassen.

Die Verzweigung des höheren Schulwesens in Folge von wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen ist dabei im niederen Schulwesen ebenso beobachtbar. Aufgrund der gesteigerten Bedürfnisse des Gewerbes und der Industrie, aber auch infolge sozialer und religiöser Reaktionen entstanden neben den Volksschulen unterschiedliche Fach- und Fortbildungsschulen sowie Sonder- und Hilfsschulen. Ein neu gewachsener Schultyp, der sich dabei zwischen Realschule dritter Ordnung und Volksschule schob, war die so genannte Mittelschule. Zwar ging sie im Lehrplan mit dem Unterricht von Fremdsprachen über die Volksschulbildung hinaus, die Mittelschule berechtigte hingegen zu keiner weiteren Beamtenlaufbahn und verblieb daher in der Nachbarschaft des niederen Schulwesens. Ein solcher Ausbau des niederen Schulsystems wurde einer erhöhten sozialen Dynamik gerecht, die einen verstärkten Zustrom auf die Volksschulen bewirkte. Grund war die zunehmende Zahl der arbeitenden Bevölkerung, das heißt der sich ausdifferenzierenden Unterschicht. Für begabte und finanziell emporstrebende Schüler erhöhte sich zwar die Chance zum Aufstieg, jedoch beschränkte sich ihre Abwanderung zumeist auf die Mittelschulen, kaum aber auf die sozial abgegrenzten höheren Schulen. Die Unterschichtenschüler selbst betrachteten ihre Schule wenig wohlwollend, konnte sie ihnen unter den geschilderten Umständen doch keine Aussicht auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage versprechen. Das Kriterium der Schulbildung blieb für sie somit in beruflicher Beziehung schlichtweg eine Nebensächlichkeit.

1.2.2 ‚Untertanenerziehung’

Das Schulwesen der deutschen Einzelstaaten und später des Kaiserreichs präsentierte sich als ein von vornherein hierarchisch durchgliederter Verwaltungsapparat. Ein solcher Apparat diente dem Staat zur Lenkung und Kontrolle des Schulwesens. Auch gegenüber den Interessenvertretern der Gemeinden und später aufkommenden Parteien behielt der Staat deutlich die Oberhand – lediglich mit den Kirchen musste er sich in seinem Anspruch auf die Schule verstärkt auseinandersetzen. Das hierarchische Prinzip setzte sich schließlich für die schulinterne Dimension fort. Der zeitgenössische Schüler war ein Wesen weitestgehend ohne Rechte: „Von dem Tag ihres Schuleintritts an waren sie [die Schüler] völlig der ‚schulischen Anstaltsgewalt’ unterworfen, hatten sie den ‚Anstaltsgesetzen’ und den Anordnungen der Lehrer widerspruchslos Folge zu leisten.“[37] Disziplin und Gehorsam galten dabei sowohl für den Gymnasiasten als auch für den einfachen Volksschüler. Der allgemeine Tugendkatalog, den die Schüler ohnehin schon von zu Hause her kannten, wurde in der Schule nicht minder betont – und sei es mit der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Strafen, die einen Schüler erwarteten, der die Gebote von Ordnung, Ruhe und Sittsamkeit nicht einhielt, reichten vom Eintrag ins Klassenbuch, über körperliche Züchtigung bis zum Schulverweis. Vor allem in der Volksschule erfreute sich die Prügelstrafe einer großen Popularität, allerdings nicht zur grundsätzlichen Freude des Lehrers, der unter den widrigen Unterrichtsbedingungen – auf dem Lande konnte eine Schulklasse durchaus 80 und mehr Kinder umfassen – oftmals den auf ihm lastenden Druck an die Schüler weitergab. Ob der Lehrer schließlich äußere Zwänge auf die Schüler übertrug oder aber sich mithilfe des Rohrstocks als selbstgerechter, machtsüchtiger Tyrann gegenüber der wehrlosen Schülerschaft gebärdete, machte für das in jedem Fall gepeinigte Kind keinen Unterschied.

Das seinerzeitige Schulwesen legte endlich Wert darauf, dass die in der Schule geformten und herangebildeten Zöglinge keinen ‚schädigenden’ Einflüssen von außen ausgesetzt wurden, um das an ihnen vollzogene ‚Erziehungswerk’ nicht zu gefährden. Diese Bestimmungen dokumentieren ein unumstößliches Verhältnis von Autorität und Untertan, das Eigeninitiative und selbstverantwortliche Mitgestaltung des Schülers von vornherein ausschloss. Sie führen zugleich vor Augen, wie sehr die wilhelminische Schule ein Austragungsort staatsobrigkeitlicher Politik war. Insbesondere das niedere Schulwesen wurde dabei gegen staatsfeindliche Kräfte vereinnahmt. So hieß die Anordnung schon vor der Reichsschulkonferenz von 1890, die als potentieller Hort zukünftiger sozialistischer Machtzusammenschlüsse empfundenen Volksschulen gegen die mutmaßliche Bedrohung der Sozialisten in Dienst zu nehmen. Auf der von Wilhelm II. initiierten Schulkonferenz von 1890 wurde schließlich angeordnet, die religiöse und vaterländische Gesinnung in Schule und Unterricht zu fördern. Im Sinne dieser militant-nationalen Neuorientierung im Schulwesen sollte der Deutschunterricht sowie die neuere und neueste deutsche Geschichte eine Verstärkung erfahren. In der Umsetzung solcher Anordnungen in Aufsatzthemen wie ‚Auch der Krieg hat sein Gutes’, ‚Mein Lieblingsheld aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte’ oder in unterrichtlich vorgeschriebenen Zeremonien anlässlich nationaler Gedenkfeiertage wurde diese für die wilhelminische Politik gängige Kriegs- und Obrigkeitsverherrlichung sichtbar[38].

1.3 Schule in der Krise und Reformpädagogik

1.3.1 Bildungs- und Gesellschaftskrise

Dass die Institution Schule und der von ihr vermittelte Inhalte- und Wertekanon am Ausgang des 19. Jahrhunderts zunehmend in eine Krise geriet, war für manchen modernen Zeitgenossen unübersehbar. Postulierer schulkritischer Stellungnahmen, die um die Jahrhundertwende zunehmend das Gehör der Öffentlichkeit fanden, sahen konkrete Ursachen für die Unzeitgemäßheit der wilhelminischen Schule in erster Linie in deren bürokratischen und entmündigenden Geist: „So wurden die Gegenstände, an denen sich Bildung vollziehen soll, in die feste Form schulischen Lernstoffs gegossen und den Schülern nach Maßgabe von Lehrplänen und Verordnungen, ohne jede Rücksicht auf ihre Neigungen und Bedürfnisse, in nicht gering bemessenen Dosen verabreicht.“[39] Das zum Teil unmöglich zu bewältigende Lernpensum und die stupide Methode des ‚Einpaukens’ respektierten weder den Schüler in seiner individuellen Lernfähigkeit noch das Thema in seiner wissenschaftlichen Komplexität; allenfalls wurde die Gedächtnisleistung geschult, wenn das Gelernte für eine Prüfung ‚wiedergekäut’ werden musste. Insbesondere an den Gymnasien, die dem Schüler mit ihrer einseitigen und abstrakten Schwerpunktsetzung in den alten Sprachen nur wenig Bezug zur eigenen Lebenswelt boten, musste jener schnell abstumpfen und das Interesse verlieren. Kritiker sahen diese schülerunfreundliche Lernsituation noch durch den Umstand gefördert, dass die Schüler, anstatt einen Gegenstand selbst zu erarbeiten, stets mit fertigen Erkenntnissen konfrontiert wurden. Neugierde und Entdeckerfreude, auch die Entfaltung musischer, körperlicher und praktischer Fähigkeiten wurde folglich in dieser „Buch-, Lern- und Wissensschule“[40] von vornherein untergraben. Überlagert wurde die Klage über jenen indoktrinären und zu blindem Gehorsam dressierenden Unterrichtsstil schließlich durch die Kritik an den bis ins Pathetische gesteigerten Nationalismus, der mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. Einzug in die Klassenzimmer hielt.

Das Problembewusstsein, das einige Aufmerksame und pädagogisch Interessierte mit diesen Beobachtungen an den Tag legten, muss in Zusammenhang gesetzt werden mit einer grundsätzlicheren Krisenerscheinung. Schon unter den Vorzeichen Nietzsches nämlich verbreitete sich im jüngst gegründeten deutschen Reich „[e]in tiefes Unbehagen an den herrschenden Tendenzen der Zeit“[41]. Der Geist von blindem Fortschrittsglauben und leichtfertiger Technikbegeisterung, das Denken in den Kategorien von Machtzuwachs, Eigennutz und Genusshingabe lautete der Vorwurf, den Beobachter der Zeit erhoben. Einen regelrechten Zerfall von Geist und Kultur wähnend, konnten sie sich auf Nietzsche berufen, der in der ersten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873) gegen Rationalismus und Intellektualismus, gegen ein selbstherrliches ‚Bildungsphilistertum’ schrieb. Mit dem Machtantritt Wilhelms II. wurden die krisenbewussten Stimmen lauter und vermehrten sich zu einer geistigen Strömung, die heute unter dem Begriff ‚Kulturkritik’ zusammengefasst wird. Sowohl Absender als auch Adressaten dieser kulturkritischen Klage gehörten dem gebildeten Bürgertum an, das seine eigenen geistig-kulturellen Werte und damit seine gesellschaftliche Stellung an Bedeutung verlieren sah. Ansätze zu einer Reformierung des Zeitgeistes reichten von lebensreformerischen Gedanken, wie der Veränderung alltäglicher Lebensgewohnheiten, über sozialreformerische Umgestaltungsideen bis hin zu kulturerneuernden Überlegungen, die den Kunst- und Kultursinn des Menschen ansprechen sollten.[42]

[...]


[1] Carl Busse, in: Velhagen und Klasings Monatshefte 20 (1905/06), Heft 4, S. 485, zitiert nach Martin, Ariane: Die modernen Leiden der Knabenseele. Schule und Schüler in der Literatur um 1900, in: Der Deutschunterricht, Jg. 52 (2000), Heft 2, S. 27. An dieser Stelle soll auch der Hinweis erfolgen, dass ich alle Zitate dieser Arbeit entsprechend ihrer Rechtschreibung übernehme.

[2] Friedrich Paulsen: Schuljammer und Jugend von heute, in: Ders. Gesammelte Pädagogische Abhandlungen, hrsg. von Eduard Spranger, Stuttgart; Berlin 1912, S. 471, zitiert nach Mix, York-Gotthart: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne, Stuttgart; Weimar 1995, S. 13.

[3] Vgl. Berg, Christa: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4, 1870-1918: Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 192 f.

[4] Nitschke, August (Hrsg.) u. a. : Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 9 f.

[5] Ebenda, S. 10.

[6] Ebenda.

[7] Ebenda, S. 9.

[8] Koopmann, Helmut: Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920. Eine Einführung, Darmstadt 1997, S. 7.

[9] Vgl. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890-1933, Lehrbuch Germanistik, Stuttgart; Weimar 1998, S. 3.

[10] „Obwohl Schule ein Thema ist, das uns alle angeht und zu dem wir alle etwas sagen zu können meinen, gibt es doch erstaunlich wenige Untersuchungen, die sich auf das Wagnis einer literaturgeschichtlichen Perspektive einlassen.“ heißt es entsprechend bei Luserke-Jaqui, Matthias: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 5.

[11] Vgl. Martin, Die modernen Leiden der Knabenseelen, a. a. O.

[12] Oscar A. H. Schmitz: Der Untergang einer Kindheit, Stuttgart 1907, S. 91.

[13] Vgl. aufgrund seines Grundlagen- und Referenzcharakters für das folgende Kapitel Berg, Handbuch Bildungsgeschichte, a. a. O., S. 111 ff.

[14] Schmid, K. A. (Hrsg.): Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 10, Gotha 1887, S. 670, zitiert nach Berg, Handbuch Bildungsgeschichte, a. a. O., S. 112.

[15] Berg, Handbuch Bildungsgeschichte, a. a. O., S. 116.

[16] Ebenda.

[17] Kapitel l.2 „Das deutsche Schulwesen im Kaiserreich“ dieser Arbeit widmet sich eingehender der wilhelminischen Schule.

[18] Berg, Handbuch Bildungsgeschichte, a. a. O., S. 118.

[19] Ebenda, S. 119.

[20] 1885 erschien das erste Buch der in Fortführung geschriebenen berühmt gewordenen Mädchenromane „Der Trotzkopf“, in denen der bürgerliche Lebensgang Ilse Mackets geschildert wird.

[21] Berg, Handbuch Bildungsgeschichte, a. a. O., S. 125 f.

[22] Ebenda, S. 126.

[23] Ebenda, S. 127.

[24] Davon waren wiederum 10% in konfessionellen Vereinen eingetragen.

[25] Berg, Handbuch Bildungsgeschichte, S. 133.

[26] Ebenda, S. 131.

[27] Ebenda, S. 135.

[28] Ebenda.

[29] Vgl. für das folgende Kapitel Becker, Hellmut; Kluchert, Gerhard: Die Bildung der Nation. Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Stuttgart 1993, S. 1 ff.

[30] Becker; Kluchert, Die Bildung der Nation, a. a. O., S. 1.

[31] Mädchen war allenfalls über die Elementarbildung der Volksschulen Zugang zu Bildung möglich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Zuge der Frauenbewegung der Ruf nach verbesserten Bildungschancen auch für Mädchen laut. Über das höhere Mädchenschulwesen vgl. Berg, Handbuch Bildungsgeschichte, a. a. O., S. 279 ff.

[32] Reble, Albert: Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 1989, S. 267.

[33] Ebenda, S. 255.

[34] Ebenda, S. 269.

[35] Becker; Kluchert, Die Bildung der Nation, a. a. O., S. 13.

[36] Vgl. Reble, Geschichte der Pädagogik, a. a. O., S. 272.

[37] Becker; Kluchert, Die Bildung der Nation, a. a. O., S. 38.

[38] Vgl. Berg, Handbuch Bildungsgeschichte, a. a. O., S. 154.

[39] Kluchert; Becker, Die Bildung der Nation, a. a. O., S. 124.

[40] Ebenda.

[41] Ebenda, S. 109.

[42] Vgl. ebenda, S. 108 ff.

Final del extracto de 103 páginas

Detalles

Título
Schule und Schüler in der deutschen Literatur um 1900 in Adolf Hermann Schmitz’ "Der Untergang einer Kindheit"
Subtítulo
Von der „Jämmerlichkeit des Schulelends“
Universidad
University of Potsdam
Calificación
1,0
Autor
Año
2007
Páginas
103
No. de catálogo
V90098
ISBN (Ebook)
9783638042253
ISBN (Libro)
9783638945103
Tamaño de fichero
933 KB
Idioma
Alemán
Notas
"Die sehr überzeugende, logisch gegliederte Arbeit von Frau Nethel wendet sich einer wichtigen literarischen Erscheinung der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu, der Darstellung von Schule und Schüler und die Untersuchung eines weithin unbekannten Romans. (...) Die Arbeit ist sehr angemessen formuliert und weist überzeugend die Fähigkeit der Verfasserin zum wissenschaftlichen Arbeiten aus." (Gutachten des Dozenten)
Palabras clave
Schulelends“, Schule, Schüler, Literatur, Beispiel, Oscar, Adolf, Hermann, Schmitz’, Roman, Untergang, Kindheit
Citar trabajo
Nicole Nethel (Autor), 2007, Schule und Schüler in der deutschen Literatur um 1900 in Adolf Hermann Schmitz’ "Der Untergang einer Kindheit", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90098

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