Praxistheoretische Ansätze in "Kunst des Handelns" von Michel de Certeau


Dossier / Travail, 2016

16 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Das Konzept von Taktiken, Strategien und Konsum

3. Raumtheoretische Überlegungen
3.1 Erklärung der zentralen Begriffe von Räumlichkeit
3.2 Lübeck im 15. und 16. Jahrhundert als Beispiel für die Anwendung der raumtheoretischen Ansichten

4. Allgemeine Anwendung der Theorie von Michel de Certeau im wissenschaftlichen Diskurs

5. Fazit

1. Einleitung

Bevor die wichtigsten praxistheoretischen Konzepte von Michel de Certeau in seinem Buch ,,Kunst des Handelns“ vorgestellt werden, soll zunächst ein kurzer Einblick in seinen Lebenslauf gewährt sein, um die Entstehung seiner Ideen nachvollziehen zu können. Michel de Certeau wurde im Jahr 1925 in der französischen Stadt Chambéry geboren und seine Familie zählte zu dem niedrigen Landadel. Er besuchte das regionale Gymnasium, auf dem er unter anderem seine schulische Ausbildung in Philosophie absolvierte. Ab 1944 nahm er an mehreren Priesterseminaren teil, von denen er zum Schluss in Lyon ein Seminar auswählte, in dem er seine universitären Studien abschloss. Im Jahr 1950 wurde er mit dem Titel des Unterdiakons geehrt und im gleichen Jahr erklärte er seinen Beitritt als Mitglied in den Jesuitenorden. De Certeaus Entscheidung als Jesuit zu leben, wurde von dem Wunsch geprägt, als Missionar einmal nach China zu reisen. Dies bestätigt, dass er schon im jugendlichen Alter an anderen Realitäten der Welt starkes Interesse zeigte. Im Jesuitenorden beendete er bis 1953 sein Studium in Philosophie und Theologie. Zugleich beobachtete Michel de Certeau die Geisteshaltung des Christentums und kam zu dem Entschluss, dass sich die analytischen Hilfsmittel und die Sprache der christlichen Kirche zunehmend von den Einstellungen der modernen Gesellschaft entfernt hatten.1 Diese Erkenntnis führte zu Skepsis gegenüber seiner Position als Jesuit im Jesuitenorden im Jahr 1974.2 Ferner sammelte er dank zahlreicher Reisen nach Lateinamerika, USA und Europa, viele nachhaltige Erfahrungen über andere kulturelle und soziale Realitäten, die sein wissenschaftliches Arbeiten beeinflusst haben.3 Schließlich verstarb Michel de Certeau im Jahr 1986 auf Grund einer schweren Krankheit.4 De Certeaus Vielfältigkeit in seinen praxistheoretischen Konzepten liegt darin, dass seine Einstellung als Geisteswissenschaftler von verschiedenen Fachgebieten, wie Geschichtswissenschaft, Sprachwissenschaft, Soziologie, Semiotik, Ethnographie und Anthropologie zum Ausdruck gebracht wird.5

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit sollen die wesentlichen praxistheoretischen Ansätze von Michel de Certeau in seinem Buch ,,Kunst des Handelns“ vorgestellt und erklärt werden. Zuerst wird auf das Konzept von Taktiken, Strategien und Konsum genauer eingegangen und definiert. Als nächster Punkt sollen De Certeaus raumtheoretische Überlegungen aufgegriffen werden, bei denen die zentralen Begriffe von Räumlichkeit erläutert werden. Um seine Ansicht über den Raum besser nachvollziehen zu können und die Anwendung zu verstehen, wird ein kurzes Beispiel von religiösen Räumen in Lübeck im 15. und 16. Jahrhundert gegeben. Zum Schluss wird der Fokus auf die allgemeine Anwendung dieser Konzepte in den heute aktuellen wissenschaftlichen Diskurs gesetzt, was ein abschließendes Fazit ermöglicht.

2. Das Konzept von Taktiken, Strategien und Konsum

Michel de Certeau gilt neben Pierre Bourdieu und Michel Foucault als einer der effizientesten Theoretiker des Poststrukturalismus.6 Doch anders als bei Bourdieus Konzept des sozialen Raumes7, versucht De Certeau die Kreativität und die Entstehungsvielfalt bei Alltagspraktiken hervorzuheben. Somit widmet er sein Interesse den Taktiken, diese die ,,Kunst des Handelns“ ausmachen. Alltägliche Prozesse können stets wiedererlernt werden, was keinen abgeschlossenen Raum erzeugt. Im Gegenteil können diverse Wege eingeschlagen werden, wodurch sich unterschiedliche Orte überschneiden.8 Praktiken unterliegen einer gewissen Heterogenität, die aber von einer sozialen Logik abhängen, welche wiederum verschiedene Handlungsarten kombiniert.9

Taktiken, die von bestimmten Bedingungen abhängen, können Grenzen überschreiten, sind aber nicht an einem Ort lokalisiert. Gegenüber den Taktiken stehen die Strategien, die Orte erzeugen möchten. Beide Begriffe unterscheiden sich in den ,,Typen des Handelns“. Denn im Gegensatz zu den Taktiken, die die ,,Typen des Handelns“ benutzen und umformen, werden die Handlungstypen von den Strategien erzeugt und vorgeschrieben. Die Spezifizierung von Handlungsformen, welche die Art und Weise etwas zu tun beinhalten, steht im Vordergrund. Die Handlungsformen folgen gewissen Regelhaftigkeiten, bauen jedoch gleichzeitig auch auf Erfahrung auf. Beispielsweise spricht ein Nordafrikaner, der in Paris wohnt in derselben Manier, wie es in seinem Ursprungsland üblich ist. Obwohl er den Ort nicht verlassen kann, löst er durch seine Erfahrung Kreativität an seinem jetzigen Ort aus.10 Strategien und Taktiken charakterisieren Kräfteverhältnissen, denen überall in der Gesellschaft begegnet werden kann.11 Diese Kräfteverhältnisse, die in einem Zeitpunkt umsetzbar sind, soweit ein mächtiges und entschlossenes Individuum (was unter anderem ein Unternehmen oder eine Institution sein kann) vorherrscht, werden von Strategien manipuliert und berechnet. Die Voraussetzung einer Strategie ist ein eigener Ort, an dem Richtlinien, wie zum Beispiel das Treffen von Kunden oder Feinden, organisiert werden können. Das Ziel einer Strategie ist es, den mit Willen und Macht geformten eigenen Ort, vom restlichen Umfeld abzutrennen. Dies ist erwähnenswert, da es erhebliche Unterschiede zwischen dem eigenen und dem abgegrenzten anderen Ort gibt. Der eigene Ort ist mithilfe von angeeigneter Überlegenheit fähig, Gewinne abzuschöpfen, mit denen er die Zeit beherrscht und somit Ausdehnungen in der Zukunft planen kann. Zudem ist es möglich, den eigenen Ort mit dem Sehsinn zu organisieren, da der Raum mithilfe von Blicken Objekte gliedert, strukturiert und kontrolliert, wodurch eine eigene Perspektive entsteht. Es ist ein spezieller Typ von Wissen notwendig, der die Macht, sich einen eigenen Ort aneignen zu können, unterstützt. Macht ist eine Reproduktion von Wissen.12 Im Gegensatz zu den Strategien, die einen eigenen Ort besitzen, ist bei der Taktik das Eigene keine Voraussetzung. Es gibt keine Grenze, die das Andere als Ganzes abtrennt und die Macht ist zeitlich begrenzt.13 Eine Taktik ist durch berechenbares Handeln charakterisiert und kann nur das vorgegebene Umfeld benutzen. Ein Rückzugsort zum Pläne arrangieren, fehlt, da der Raum vom ,,Feind“ kontrolliert wird. Die bereits erwähnten Vorteile eines angeeigneten Raums, wie zum Beispiel sich einen Überblick verschaffen zu können, fallen weg. Der Gewinn und die Abhängigkeit einer Taktik sind vom Zufall gekennzeichnet. Hinzukommend sind erworbene Gewinne nicht erweiterbar und haltbar. Dadurch dass die Taktik keinen eigenen Ort besitzt, unterscheidet sie sich von der Strategie in der Mobilität. Der Zwang der Mobilität unterliegt der Abhängigkeit von den zeitlichen Umständen. Da die Taktik die Möglichkeit besitzt immer dann auftreten zu können, wenn und wo sie keiner erwartet, kann sie als ,,List“ bezeichnet werden. Umso stärker die Macht des jeweils anderen ist, desto schwächer ist die Funktion und das Täuschungsmanöver der Taktik. Aus diesem Grund ist die Taktik eine Methode für Schwache. Ein entscheidender Faktor der Taktik ist das kontinuierliche Fehlen einer zentralen Macht. Strategien sind Handlungsakte, die an einem eigenen Ort der Macht viele Orte der Theorie (z.B. Diskurse) erzeugen, die wiederum physischen Plätzen Ausdruck verschaffen können.14 Währenddessen richten sich Taktiken auf die Verwendung der Zeit aus.15 Neben der Erklärung für die Begriffe Taktik und Strategie soll noch auf die Bedeutung des Konsums eingegangen werden. Kulturelle Güter sind nicht lediglich existierende Tatsachen, sondern können als ein Bestand gesehen werden, der eine Hilfe für die Konsumenten bietet, selbstständige Handlungen zu verwirklichen. Waren dienen somit als Repertoire für menschliche Praktiken. Daher geht es um die Frage, was Konsumenten mit ihren Waren machen und welchen Nutzen diese Waren mit sich bringen. Ferner werden Konsumenten mithilfe der Produktion von Medien, des Handelns und der Stadt modelliert. Die Herstellung von Konsum gilt als unsichtbar, da sie sich nicht durch eigene Produkte charakterisiert, aber ihr der Gebrauch von Produkten diktiert wird.16

3. Raumtheoretische Überlegungen

Im folgenden Kapitel sollen die wichtigsten Definitionen von Michel de Certeaus raumtheoretischen Überlegungen aus dem dritten Teil ,,Praktiken im Raum“ in seinem Buch ,,Kunst des Handelns“ erklärt werden. Um die Theorien über den Raum rekonstruieren und ihre Anwendung besser verstehen zu können, wird ein kurzes Beispiel von religiösen Räumen in Lübeck im 15. und 16. Jahrhundert gezeigt.

3.1 Erklärung der zentralen Begriffe von Räumlichkeit

,,Von der 110. Etage des World Trade Centers sehe man auf Manhattan. Unter dem vom Wind aufgewirbelten Dunst liegt die Stadt-Insel. […] Die gigantische Masse wird unter den Augen unbeweglich.“17

Der Zugang zu dem Geschehen in der Stadt wird mit dem Zeitpunkt des Stehens auf der gleichen Ebene mit dem World Trade Center verwehrt. Diese erhöhte Position ist nach Michel de Certeau das Kennzeichen eines ,,Voyeurs“ (Beobachter), der eine Distanz zur Stadt pflegt. Die Distanzstellung ermöglicht es, die Welt in einen lesbaren Text zu verändern. Der getätigte Blick kann mit dem ,,Blick eines Gottes“ verglichen werden, jedoch ist aus diesem Blickwinkel nur eine ,,Fiktion des Wissens“ möglich.18 Das heißt, dass das Wissen in dieser Position als etwas Erdachtes gesehen werden kann und somit nicht real ist. Trotz allem ist der langfristige Zukunftstraum des Panorama-Blicks von oben kein Wunschbild mehr, sondern verwirklicht sich jetzt in Bauwerken (z.B. hohe Türme). Michel de Certeau argumentiert, dass ,,die Panorama-Stadt ein theoretisches Trugbild sei“19, in dem praktische Phänomene vergessen werden, was eine strikte Abgrenzung zu dem alltäglichen Handeln der Stadt zur Folge hat. Die normalen Bewohner der Stadt leben nämlich unterhalb der distanzierten Position, wo die Wahrnehmung des Voyeurs endet. Solche Bewohner sind die Fußgänger, die den eigentlichen Text der Stadt verfassen, aber selbst nicht lesen können.20 Michel de Certeaus Interesse richtet sich auf eine Stadtanalyse, die die Bewegungsabläufe und die Sichtweise der Fußgänger untersucht, ohne eine erhöhte Stellung einzunehmen.21 Eine optimale Stadt kann anhand drei Kriterien näher definiert werden. Als erste Voraussetzung muss eine rationale Sauberkeit von politischen, geistigen und physischen Unreinlichkeiten vorhanden sein. Zudem wird die Tradition von der Zeitlosigkeit abgelöst und als letztes steht die Entstehung einer Anonymität der Stadt im Fokus.22 Die Aufgaben, die vorher den Gruppen, Individuen und Vereinigungen zuteil gewesen sind, werden von der Stadt übernommen. Prinzipiell ist die Stadt ein Element, das durch Veränderungen, Vereinnahmungen und Erfindungen geprägt ist, was die Moderne beschleunigt. Zudem geht die Kontrolle über die Stadt verloren, da es Organisationen von Autoritäten gibt, die keine greifbare Identität und Rationalität besitzen. Deshalb müssen die Praktiken, die für den Aufbau oder den Zerfall eines städtischen Systems verantwortlich sind, auf einer Mikroebene untersucht werden.23

Die Schritte der Fußgänger sind unzählbar, zumal jeder Schritt über seine eigene Qualität verfügt. Mit Schritten können Räume strukturiert werden, wobei sie das Grundmuster von Orten bilden. Weil die Schritte den Raum erst gestalten müssen, sind sie nicht lokalisierbar.24 Das Gehen kann als eine Art der Einnahme des Stadtraums gesehen werden, da die Position an dem verbleibenden Ort realisierbar und bestimmbar wird. Der Prozess des Gehens ist nur flüchtig und besteht nur einen kurzen Augenblick, was dazu führt Wegstrecken auf Karten aufzuzeichnen, damit Wege lesbar werden. Es entsteht eine Konstruktion der Lesbarkeit, die das eigentliche Geschehen verdeckt.25 Durch das Verzeichnen von Wegstrecken verschwinden die Tätigkeiten der Fußgänger. Somit wird zum Beispiel die Praktik des Schaufensterbummels lediglich als Punkte auf einer Karte wiedergegeben. Der eingezeichnete Weg ist ein Ersatz für die praktischen Abläufe und Handlungsvorgänge geraten in Vergessenheit. Der Raum bietet eine gewisse Anzahl an Alternativen und Verboten, wie das Bewegen auf einen bestimmten Platz oder die Mauer als ein Hindernis des Gehens, die vom Fußgänger wahrgenommen werden können. Der Gehende kann unter anderem auch neue Alternativen erfinden. Dies können zum Beispiel Improvisationen, Umwege oder Abkürzungen sein. Infolgedessen steigt die Zahl der Alternativen und Verbote an, welche dem Fußgänger verschiedene Wahlmöglichkeiten öffnen.26 Die Aufzeichnung eines Weges auf einer Karte berücksichtigt nicht die Mitteilung der spezifischen Praktik des Gehens und stellt nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Die Ausdrucksform des Gangs (z.B. bei der Sportart Parkour) kann nicht erfasst werden.27 Das Verhalten des Gehens agiert mit der Aufteilung des Raumes. In den Raum werden kulturelle Traditionen, persönliche Umstände und gesellschaftliche Muster einbezogen. Der Raum kann durch Praktiken verändert werden.28 Fernerhin bedeutet der Ablauf des Gehens den Ort bewusst nicht zu erreichen, da das Gehen ein Prozess der Abwesenheit darstellt, der versucht etwas Eigenes zu finden, wie es beim Herumirren der Fall ist.29 Anhand von Erinnerungen werden Orten gewisse Werte und Wichtigkeit zugesprochen, die die Bewohner dazu veranlasst in dieser Stadt wohnen zu bleiben. Dieses Ereignis kann von anderen Personen nicht gesehen werden.30 Mithilfe von Namen können sich die Bewohner einer Stadt an Orten festlegen. Bestimmte Straßennamen haben zum Beispiel eine wichtige Bedeutung für Bewohner. Dabei werden die Namen nicht ursprünglich bestimmt, sondern ihnen werden mittels gewissen Mustern, wie Erinnerungen, Ursprüngen oder Legenden, ein Sinn zugeschrieben. Wenn sich ein Bewohner mit seinem Wohnort nicht mehr identifizieren kann, liegt es an dem Verlust der eigenen Geschichte zu diesem Ort. Erst durch das Reisen können neue Geschichten entstehen. Demnach sind Erinnerungen nicht lokal geprägt und folglich bleibt den Beobachtern aus der Distanz die unsichtbare Geschichte verschlossen.31

Um einen Ortswandel näher beschreiben und erklären zu können, müssen die Begriffe ,,Raum“ und ,,Ort“ genauer erläutert werden. Raum und Ort unterliegen einer starken Differenzierung. Insofern ist der Ort ,,die Ordnung, nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden.“32 Dementsprechend können zwei Objekte nicht an dem gleichen Platz bestehen. Der Faktor des ,,Eigenen“ steht hier besonders im Fokus, da sich jedes Bestandteil in einem abgeschlossenen und ,,eigenen“ Umfeld aufhält, was den Ort stabil macht. Im Gegensatz dazu stellt der Raum eine Verbindung von dynamischen Elementen dar, der ,,von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt“33 ist, die im Raum entstehen. Der Raum ist das Ergebnis von Tätigkeiten, bei denen Richtung, Geschwindigkeit und Zeit miteinander in Verbindung treten. Darüber hinaus kann der Raum als ein Vorgang der Zeit gesehen werden, weil er anders als beim Ort, keine Bestimmtheit und Beständigkeit von etwas Eigenem besitzt, denn er beschreibt ein Phänomen, in dem etwas gemacht wird. Als Beispiel kann die Straße genannt werden, die durch den Gang der Fußgänger in einen Raum umgeformt wird.34 Das Merkmal eines Ortes sind Objekte, die über die Existenz von etwas Leblosem verfügen. Gemeint sind damit beliebige und unbewegliche Dinge, wie ein Kieselstein oder ein Leichnam. Hingegen wird der Raum mit Handlungen geformt, die die leblosen Dinge für die Gestaltung benutzen. Bis dahin regungslose Objekte (z.B. Kieselsteine) können den Ort durch das Ausbrechen ihrer Standfestigkeit verändern. Das bedeutet, dass eine Verwandlung des Ortes in einen Raum und umgekehrt jederzeit erfolgen kann.

Es werden weitere Begrifflichkeiten benötigt, um eine genaue Identifikation von Orten und eine Aktualisierung von Räumen erzielen zu können. Als Hilfsmittel dazu eignen sich mündliche Beschreibungen über Orte, Geschichten von Wohnräumen und Schilderungen über Straßen.35 Die bereits erwähnte Verwandlung eines Raumes in einen Ort oder eines Ortes in einen Raum erfolgt durch Erzählungen. Diesbezüglich gibt es zwei Kategorien, die Michel de Certeau als ,,Wegstrecke“ und ,,Karte“ bezeichnet.36 Die Besonderheiten der Karte sind zum einen die Vorgabe eines Bildes und zum anderen das Sehen, das die Konstellation eines Ortes erfasst. Demgegenüber sind die Haupteigenschaften des Weges das Gehen und Handlungen, die den Raum erzeugen. Bei dem Typus Weg werden Handlungen miteinander verbunden, während bei der Karte Beobachtungen beabsichtigt sind. Trotzdem gibt es auch Fälle, bei dem der Weg und die Karte vorausgesetzt werden: ,,Wenn du geradeaus gehst, siehst du …“37. Das Gehen und das Sehen sind hier impliziert. Des Weiteren deutet bei dem gerade erwähnten Beispiel die Karte auf eine Konsequenz hin, die durch den Weg erst zu Stande kommt. Die Karte kann aber auch auf eine Situation hinweisen, die eine Möglichkeit oder eine Grenze (z.B. eine Tür oder eine Mauer) in Aussicht stellt. Im Laufe der Zeit haben sich die Attribute der Karte zunehmend verändert.38 Vor dem 15. Jahrhundert beinhalteten Karten geradlinige Anhaltspunkte der Wege, die die Handlungen für Pilger vorgaben. Zusätzlich wurden diese Aufzeichnungen mit möglichen Aufenthaltsorten und Zeitplänen erweitert. Die eigentliche Aufgabe dieser Notizen beschränkte sich auf das Zurücklegen des Weges und ähnelte mehr einem Geschichtsbericht als einer geographischen Weltkarte. Ab dem 15. bis zum 17. Jahrhundert verändert sich die Karte zu einem Konzept mit beziehungslosen Orten, da sie nichts anderes als geographische Einblicke wiedergibt. Wichtige Handlungsbeschreibungen und Schilderungen von Wegen gehen ausnahmslos verloren. Die Modelle Karte und Weg unterscheiden sich nicht in den fehlenden Praktiken, allerdings reproduzieren Karten das Wissen als lesbares Bild. Im Vergleich dazu betont der Weg die Praktiken mithilfe von Berichten über den Raum. Dieser Vorgang erlaubt den Raum an einen Ort, der einen nicht gehört, zu verändern. An dieser Stelle ist der Rückbezug auf die Eigenschaften der Taktiken deutlich zu erkennen.39 Ein weiterer wichtiger Aspekt, der betrachtet werden muss, ist die Grenzziehung. Grenzen werden auf Grundlagen von Erzählungen gezogen, wobei Grundstücke mit Handlungen und Körperbewegungen aufgeteilt und abgegrenzt werden. Zum Beispiel kann ein angepflanzter Apfelbaum zum Symbol einer Grundstücksgrenze werden. Die Praktik der Grenzziehung produziert und strukturiert Räume. Durch vorhandene Erzählungen über Handlungen werden Grenzen anerkannt, gebildet und verlegt.40 Mit Unterschieden - wie Mauern, Zäune oder symbolische Zeichen in Berichten – werden Räume erschaffen. Das Fenster in einem Schiff bietet dem Reisenden die Möglichkeit hindurchzusehen und zeitgleich grenzt es den Reisenden von seiner restlichen Umwelt nach außen ab. Somit agiert eine Grenze parallel als Verbindung und Trennung, bei der es Berührungs- und Differenzpunkte gibt.41 Jede einzelne Räumlichkeit wird durch Grenzziehungen gestaltet.42 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Raum zum einen durch das reale körperliche Gehen und zum anderen mithilfe von Raumbeschreibungen der Bewohner produziert wird. Denn es sind die Einwohner, die einen leblosen Ort in einen Raum mit Sinngehalt verwandeln.43 Vorerst aber muss eine Erzählung konstituiert werden. Damit ist gemeint, dass es eine Basis, wie einen speziellen Platz oder Zeitraum (z.B. ein Ritual, dass Handlungen legitimiert), für das Erzählte geben muss. Zugleich können Erzählungen auch aufgelöst oder delegitimiert werden, indem Orte, die von bestimmten Erzählungen abhängig waren, durch die steigende Vielfalt der Gesellschaft verändert werden, womit wiederum neue Grenzen entstehen. Ein Fernseher überträgt jedem die gleiche Erzählung, sodass ein Glaube eines einheitlichen Raumes geschaffen wird.44 Demnach haben Erzählungen in Gestalt von unwahren Informationen, die zum Teil Rassenauseinandersetzungen hervorbringen, einen enormen Einfluss, wenn es um Abgrenzungen zum Fremden geht.45

[...]


1 Vgl. Maj 2012: 424f.

2 Vgl. Maj 2012: 429.

3 Vgl. Maj 2012: 426.

4 Vgl. Maj 2012: 423.

5 Vgl. Maj 2012: 431.

6 Vgl. Krönert 2009: 48.

7 Der soziale Raum bei Bourdieu darf nicht als geographisches Element betrachtet werden. Im Vordergrund steht die Gesellschaft und die soziale Welt. Bei dem sozialen Raum handelt es sich um unterschiedliche soziale Positionierungen, die durch Distanz und Kontakt definiert sind. Das Distanz- bzw. Kontaktverhältnis ist von verschiedenen Kapitalsorten abhängig, mit denen es möglich oder unmöglich ist, den sozialen Raum zu gestalten. Es wird zwischen ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital unterschieden. [Vgl. Lippuner 2012: 130.]

8 Vgl. Lippuner 2007: 272f.

9 Vgl. Füssel 2013: 28.

10 Vgl. De Certeau 1988: 78f.

11 Vgl. Füssel 2013: 29.

12 Vgl. De Certeau 1988: 87f.

13 Vgl. Füssel 2013: 28f.

14 Vgl. De Certeau 1988: 89ff.

15 Vgl. De Certeau 1988: 92.

16 Vgl. De Certeau 1988: 79ff.

17 De Certeau 1988: 179.

18 Vgl. De Certeau 1988: 180.

19 De Certeau 1988: 181.

20 Vgl. De Certeau 1988: 180ff.

21 Vgl. Lippuner 2007: 273f.

22 Vgl. Füssel 2013: 29.

23 Vgl. De Certeau 1988: 184ff.

24 Vgl. De Certeau 1988: 188.

25 Vgl. Füssel 2013: 30.

26 Vgl. De Certeau 1988: 188ff.

27 Vgl. Füssel 2013: 30.

28 Vgl. De Certeau 1988: 194f.

29 Vgl. De Certeau 1988: 197.

30 Vgl. De Certeau 1988: 205f.

31 Vgl. Füssel 2013: 31f.

32 De Certeau 1988: 217f.

33 De Certeau 1988: 218.

34 Vgl. De Certeau 1988: 216ff.

35 Vgl. De Certeau 1988: 219f.

36 Vgl. Füssel 2013: 34.

37 De Certeau 1988: 222.

38 Vgl. De Certeau 1988: 221ff.

39 Vgl. De Certeau 1988: 223ff.

40 Vgl. De Certeau 1988: 226f.

41 Vgl. Füssel 2013: 34f.

42 Vgl. De Certeau 1988: 228.

43 Vgl. Füssel 2013: 35.

44 Vgl. De Certeau 1988: 228ff.

45 Vgl. De Certeau 1988: 231.

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Praxistheoretische Ansätze in "Kunst des Handelns" von Michel de Certeau
Université
University of Bayreuth
Note
1,7
Auteur
Année
2016
Pages
16
N° de catalogue
V902825
ISBN (ebook)
9783346228383
ISBN (Livre)
9783346228390
Langue
allemand
Mots clés
praxistheoretische, ansätze, kunst, handelns, michel, certeau
Citation du texte
Lena Scharnagl (Auteur), 2016, Praxistheoretische Ansätze in "Kunst des Handelns" von Michel de Certeau, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/902825

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