Kann Öffentlichkeit Vernunft schaffen?

Öffentlichkeit als repräsentatives Teilsystem - dargestellt an ausgewählten Texten von und über Jürgen Habermas


Term Paper, 2006

23 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. HINTERGRÜNDE

3. DER BEGRIFF DER ÖFFENTLICHKEIT BEI HABERMAS

4. DIE GESCHICHTE DER ÖFFENTLICHKEIT
1. Das liberale Modell der Öffentlichkeit
2. Die Öffentlichkeit in den sozialstaatlichen Massendemokratien

5. ROLLE DER ÖFFENTLICHKEIT IN EINER DEMOKRATIE

6. KRITIK VON BERNHARD PETERS
1. Probleme mit dem Zusammenhang Deliberation und Legitimation
2. Probleme mit den Konsenserwartungen
3. Probleme mit den Gleichheitsforderungen

7. KANN ÖFFENTLICHKEIT VERNUNFT SCHAFFEN?

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Charakteristisch für die Kritische Theorie ist der Versuch, den Vernunftsbegiff auf komplette Gesellschaften zu übertragen. Dieser Versuch setzt voraus, dass ein Vernunftsbegriff überhaupt besteht. An einer bestimmten Stelle innerhalb der Gesellschaft muss demnach eine Position besetzt sein, welche über Vernunft entscheiden kann. Diese Position bezeichnet die kritische Theorie als das „repräsentative Teilsystem“. Wer oder was kann diese Position einnehmen?

Die Gründerväter der kritischen Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno beantworten diese Frage aus bestimmten Gründen nicht eindeutig. Erst ein späterer berühmter Vertreter der Theorie, Jürgen Habermas, konstruiert den Gedanken weiter. Er besetzt die Stelle des repräsentativen Teilsystems mit dem, was wir heute „Öffentlichkeit“ nennen.

In dieser Hausarbeit erläutere ich Habermas Öffentlichkeitsbegriff als repräsentatives Teilsystem. Dieser Öffentlichkeitsbegriff läßt Raum für Kritik, welcher sich Habermas Schüler Peter Bernhards in einer Gedenkschrift für Jürgen Habermas angenommen hat.

Zunächst stelle ich vor, welche Hintergründe dazu geführt haben, dass Habermas den Begriff der Öffentlichkeit an die Position des repräsentativen Teilsystems gesetzt hat. Anschließend erläutere ich, was Habermas in diesem Kontext unter Öffentlichkeit versteht. Dabei gehe ich auf die in diesem Zusammenhang wichtigen Werke „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, sowie auf Teile von „Faktizität und Geltung“ ein. In einem weiteren Teil erläutere ich die Schwierigkeiten des Modells an Hand Bernhard Peters Ausführungen. Zum Schluß betrachte ich Habermas Handlungstheorie als den Ausweg aus den Schwierigkeiten und versuche diesen Weg zu skizzieren.

2. Hintergründe

Der rote Faden, welcher sich durch die gesamte Kritische Theorie zieht, ist der Versuch, den Vernunftsbegriff auf komplette Gesellschaften zu beziehen.[1] Die Kritische Theorie überlegt, wie eine vernünftige Gesellschaft aussehen könnte, und kritisiert den tatsächlichen Zustand. Für diese Überlegungen benötigt die Kritische

Theorie einen Vernunftsbegriff, welcher innerhalb der Gesellschaft formuliert werden und gleichzeitig Aussagen über sie machen können.[2]

Es stellt sich die Frage, an welchem Punkt innerhalb einer Gesellschaft die Positionen oder Sprecher zu finden sind, welche über Vernunft entscheiden können. Dies ist gleichzeitig die Frage nach einem repräsentativen Teilsystem oder einer universellen Klasse.[3]

Ein entscheidendes Werk für die kritische Theorie war „Geschichte und Klassenbewußtsein“ von Georg Lukács. An diesem orientierte sich Theodor W. Adorno seit seiner Studentenzeit stark. Lukács ging nicht davon aus, dass die Philosophie jemals einen Vernunftsbegriff formulieren kann, der auf die Realität im ganzen passt. Das wäre aus dem Grund nicht möglich, da die Philosophen aus dem Bürgertum kommen und für das Bürgertum sprechen. Die Interessen des Bürgertums stimmten aber nicht mit den Interessen der gesamten Menschheit überein. Lukács zog folgende Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen. Wenn die Arbeiterklasse mit Hilfe einer Revolution die Planwirtschaft durchsetzt, werde die Gesellschaft vernünftig. Und dann könne auch ein widerspruchsloser Vernunftsbegriff gebildet werden. [4]

Zum Teil stimmte Adorno mit Lukács Argumentation überein. Adornos geflügelter Satz, „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, zeigt dies deutlich. In einer Gesellschaft, welche in sich unvernünftig ist, gäbe es keine Vernunft und somit auch keinen Vernunftsbegriff. Es gäbe zwar viele verschiedene Rationalitäten, diese Rationalitäten seien allerdings in sich und zueinander unschlüssig.

Da Adorno im Gegensatz zu Lukács nicht an eine Revolution der Arbeiter glaubte, mußte er die Theorie aufgeben, nach welcher eine bestimmte Klasse, in Lukács Fall die Arbeiterklasse, das repräsentative Teilsystem besetzen und so für die ganze Gesellschaft sprechen könne. Adorno sah in allen Klassen nur „Räuberbanden“, welche sich um die Verteilung der knappen Ressourcen stritten. Keine davon sei besser als die andere.[5]

Mit diesen Erkenntnissen geriet die Kritische Theorie in Schwierigkeiten. Schließlich bliebe demnach das repräsentative Teilsystem unbesetzt, was aber der kritischen Theorie einen Teil ihres Fundaments berauben würde. Adorno und Horkheimer gingen trotzdem nicht weiter darauf ein. Sie hatten den Glauben an eine Vernunft in der Gesellschaft aufgegeben.

Dieses negative Weltbild läßt sich durch die Erfahrung von Horkheimer und Adorno mit dem Nationalsozialismus erklären. Beide emigrierten während des Nazi-Regimes in die USA, wo Horkheimer ein neues Institut für Sozialforschung gründete. Dort schrieben sie gemeinsam ein Hauptwerk der Kritischen Theorie, die „Dialektik der Aufklärung“. Das Buch beginnt mit den folgenden Sätzen: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Adorno stellte in Zweifel, ob nach dem Holocaust die Philosophie und damit auch die Suche nach einer Vernunft noch Sinn machen könne.[6]

Jürgen Habermas, Vertreter der jüngeren Kritischen Theorie, entwickelte den Gedanken des repräsentativen Teilsystems weiter. Er besetzte die Position mit der öffentlichen Meinung. Vernünftig sei, was in öffentlichen Diskussionen als öffentliche Meinung herauskomme.[7]

Mit diesem Gedanken ergreift Habermas die Chance, nicht mehr von vornherein ausschließen zu müssen, dass eine Gesellschaft vernünftig sein könnte. Er kann nun zeigen, wie die Öffentlichkeit als repräsentatives Teilsystem aussehen muss, damit eine ideale Gesellschaft bestehen kann.

3. Der Begriff der Öffentlichkeit bei Habermas

In seiner Habilitationsschrift machte Habermas den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zum Thema. Es ist in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu einem Standartwerk geworden, „weil es scharf geschnittene theoriegeschichtliche Interpretationen zu Thomas Hobbes, John Locke, zu Geothes Wilhelm Meister, zu Kant, Hegel, Tocqeville und Marx mit soizalgeschichtlichen Hintergrundanalysen in einer Weise verbindet, die bei aller Weiterentwicklung der Diskussion in einzelnen Aspekten auch methodisch über Jahrzehnte und bis heute vorbildlich wirkt.“[8] Viele Elemente aus diesem Werk nimmt Habermas in der Theorie der deliberativen Demokratie und der Zivilgesellschaft wieder auf, welche später noch vorgestellt werden.

Zu Beginn des Werks untersucht Habermas intensiv den Begriff „Öffentlichkeit“. Unter Öffentlichkeit versteht Habermas einen Bereich des gesellschaftlichen Lebens, welcher grundsätzlich allen Bürgern offen steht. Sie ist eine vermittelnde Instanz zwischen dem Staat und der Privatsphäre. Die Öffentlichkeit hat eine politische Funktion, besteht aber aus Privatleuten. Wenn sich diese versammeln und frei ihre Meinung bezüglich Angelegenheiten allgemeinen Interesses äußern, werden sie zum Publikum.

Beziehen sich die unter den oben genannten Voraussetzungen stattfindenden Diskussionen auf den Staat, handelt es sich um politische Öffentlichkeit. Die Staatsgewalt ist Gegenspieler der politischen Öffentlichkeit. In einer demokratischen Gesellschaft muss die Staatsgewalt bestimmten Öffentlichkeitsgeboten unterstellt sein. Sind diese Gebote erfüllt, kann die politische Öffentlichkeit einen Einfluss auf die Regierung ausüben.[9]

Der Begriff „öffentliche Meinung“ beschreibt die Kritik- und Kontrollfunktion des Publikums gegenüber dem Staat: „Der Öffentlichkeit als einer zwischen Gesellschaft und Staat vermittelnden Sphäre, in der sich das Publikum als Träger öffentlicher Meinung bildet, entspricht das Prinzip der Öffentlichkeit.“[10]

4. Die Geschichte der Öffentlichkeit

Im Europa des hohen Mittelalters existiert noch keine Öffentlichkeit, wie sie weiter oben beschrieben wurde. Damals verkörperten einzelne Personen, meist Feudalherren, ihre Macht durch ihre Person. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von repräsentativer Öffentlichkeit. Die heutigen Staatsoberhäupter gehen auf diese vorbürgerliche Gesellschaftsstruktur zurück.[11]

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sind die feudalen Gewalten wie Kirche, Fürstentum und Herrenstand in private und öffentliche Elemente zerfallen. Ein Beispiel dafür ist die Religionfreiheit. Religion wurde zur Privatsache und die Kirche stieg zur öffentlich-rechtlichen Körperschaft ab. Ebenfalls bezeichnend für diese Entwicklung ist die Trennung des privaten Budgets der Fürsten und dem öffentlichen Haushalt. Zur gleichen Zeit entwickeln sich ehemals ständische Strukturen zu Organen der öffentlichen Gewalt, wie Parlamente und Gerichte. Die berufsständischen Strukturen

hingegen entwickeln sich zur Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, welche als privater, autonomer Bereich dem Staat gegenüber steht.[12]

Privatleute, welche kein Amt hielten, sind Adressaten der öffentlichen Gewalt und bilden als Publikum die „Bürgerliche Öffentlichkeit“. Die Entwicklung der bürgerlichen Öffentlichkeit, wozu die Arbeit und die Marktwirtschaft gehört, ist zwar privaten Charakters, steht aber im öffentlichen Interesse. Die Bürgerliche Öffentlichkeit muss sich gegen Eingriffe in ihre privatisierte Sphäre wehren. Dazu bedient sie sich schon früh der Zeitungen und kritischen Wochenschriften.[13]

1. Das liberale Modell der Öffentlichkeit

Die Grundrechte der ersten modernen Verfassungen, geschrieben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bilden das liberale Modell der Öffentlichkeit ab. Auf der einen Seite soll die Gesellschaft als Sphäre privater Autonomie garantiert sein. Ihr gegenüber soll die öffentliche Gewalt auf nötigste Funktionen limitiert sein. Dazwischen vermitteln zum Publikum versammelten Privatleute die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft. Letztere Instanz hat die Funktion, politische Autorität in „rationale“ Autorität zu überführen. Diese Rationalität ist dann garantiert, wenn die Marktwirtschaft von sozialen Gewalten und das Privatleben von politischem Zwang emanzipiert ist.[14]

Eine wichtige Rolle in diesem Gefüge übernimmt zur gleichen Zeit die politische Tagespresse. Während die Zeitungen vorher nur Nachrichten vermittelten, werden sie nun zum Kampfmittel der Politik. Die Redaktion übernimmt eine inhaltliche Funktion, wo vorher nur das Sammeln und Weitergeben von Neuigkeiten zum Tagesgeschäft gehört. Die Verleger sorgen für die Vermarktung ihrer Zeitung, ohne jedoch die Redaktionen zu kommerzialisieren. So bleibt die Presse „eine Einrichtung des Publikums, wirksam in der Art eines Vermittlers und Verstärkers öffentlicher Diskussion“.[15]

In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickeln sich etwa gleichzeitig in Frankreich, England und den USA die ersten Zeitungen, welche nicht vordergründig einem politische Gesinnungsdruck unterliegen. Diese Zeitungen sind also keine politischen Kampfblätter, sondern in erster Linie wirtschaftlichen Regeln folgende Unternehmen. Dadurch verändert sich die Öffentlichkeit, da nun bestimmte private

Interessen ein Forum bekommen. Es beginnt die Tendenz, Meinungen mit finanziellen Mitteln steuern zu können.[16]

2. Die Öffentlichkeit in den sozialstaatlichen Massendemokratien

Das Modell der liberalen Öffentlichkeit passt nicht auf die sozialstaatlichen Massendemokratien, wie Sie mit Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Das Publikum vergrößert sich über das Bürgertum hinaus. Eine hohe Bildung beispielsweise ist keine Voraussetzung mehr zur Teilnahme an Öffentlichkeit. Gruppen, welche in der freien Marktwirtschaft keinen Platz finden, wünschen sich einen regulierenden Staat zurück. Diese Interessen sind aber nicht die Interessen der bürgerlichen Öffentlichkeit, wie sie im vorausgegangen Kapitel beschrieben wurde. Vielmehr handelt es sich nun um Kompromisse, welche im Streit um Privatinteressen entstehen. Ausgetragen werden diese Auseinandersetzungen von gesellschaftlichen Organisationen, im besten Fall vermittelt durch Parteien, im Zweifel aber auch direkt mit der öffentlichen Verwaltung. Dies weicht die Trennung zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich auf. Politische Instanzen übernehmen Funktionen in der Marktwirtschaft und gesellschaftliche Mächte übernehmen politische Funktionen. Dies führe zu einer „Refeudalisierung“ der Öffentlichkeit.[17]

Im Sozialstaat verliert die politische Öffentlichkeit ihre kritische Funktion und läßt sich sogar von undurchsichtigen, organisierter Interessen instrumentalisieren. Wenn Personen oder Sachverhalte in den Massenmedien hochgespielt werden und dies vom Publikum nicht reflektiert sondern einfach akzeptiert wird, werden diese Personen in „einem Klima nicht öffentlicher Meinung akklamationsfähig“.[18]

Da das Publikum zu groß und heterogen geworden ist, müssen die autonomen Privatleute durch ein Publikum „organisierter Privatleute“ ersetzt werden. Nur dieses Modell, allerdings unter bestimmten Voraussetzungen richtig umgesetzt, kann genügend Kraft aufbringen, um im System der Massenmedien gehört zu werden. Diese Öffentlichkeit eines Publikums organisierter Privatleute ist nun neue legitimierende Instanz für die Bildung politischer Kompromisse.

[...]


[1] (Kieserling, 2006)

[2] (Kieserling, 2006)

[3] (Kieserling, 2006)

[4] (Kieserling, 2006)

[5] (Kieserling, 2006)

[6] (wikipedia, 2006)

[7] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[8] (Reese-Schäfer, 2001)

[9] (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1979)

[10] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[11] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[12] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[13] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[14] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[15] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[16] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[17] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

[18] (Habermas, Öffentlichkeit (Ein Lexikonartikel), 1973)

Excerpt out of 23 pages

Details

Title
Kann Öffentlichkeit Vernunft schaffen?
Subtitle
Öffentlichkeit als repräsentatives Teilsystem - dargestellt an ausgewählten Texten von und über Jürgen Habermas
College
Bielefeld University  (Fakultät für Soziologie)
Course
Theorien der Soziologie
Grade
1,3
Author
Year
2006
Pages
23
Catalog Number
V90386
ISBN (eBook)
9783638042741
ISBN (Book)
9783638939850
File size
508 KB
Language
German
Keywords
Kann, Vernunft, Theorien, Soziologie
Quote paper
Karl Musiol (Author), 2006, Kann Öffentlichkeit Vernunft schaffen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90386

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