Geschlechtergerechtigkeit im Physikunterricht der Sekundarstufe 2. Wahrnehmung und Interpretation der Geschlechtergerechtigkeit aus Schülerinnenperspektive


Masterarbeit, 2020

113 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

DANKSAGUN

ABSTRACT

1. EINLEITUNG
1.1. Zielsetzung
1.2. Erkenntnisinteresse

2 THEORETISCHER HINTERGRUND UND FORSCHUNGSSTAND
2.1. Vorbilder und fehlende Vorbilder
2.1.1. Theorie der Vorbil
2.2. Geschlecht als soziales Konstrukt
2.2.1. Vorbilder und Geschlec
2.2.2. Geschlecht oder Gender
2.2.3. Genderrolle
2.2.3.1. Reproduktion von Genderrollen gesamthaft
2.2.3.2. Reproduktion von Genderrollen im MINT-Bereich
2.2.4. Genderdisparitäten
2.2.4.1. Geschlechtsbezogene Disparitäten in der Schule gesamthaft
2.2.4.2. Geschlechtsbezogene Disparitäten in der Schule im MINT- Bereich
2.2.4.3. Geschlechtsbezogene Disparitäten im schulischem Unterricht
2.2.5. Horizontale Geschlechtersegregation am Ausbildungs- und Arbeitsmark
2.2.6. Geschlechtergerechtigk
2.3. Berufswahltheorie
2.3.1. Vorbilder und Berufswahlprozess
2.3.2. Forschungsstand Vorbilder und fehlende Vorbilder im Berufswahlprozes
2.3.3. Sozial-kognitiver Ansatz
2.3.3.1. Theorie
2.3.3.2. Forschungsstand
2.3.4. Persönlichkeitstheoretischer Ansatz
2.3.4.1. Theorie
2.3.4.2. Forschungsstand
2.3.5. Sozialisationstheoretischer Ansa
2.3.5.1. Theorie
2.3.5.2. Forschungsstand
2.4. Zwischenfa
2.5. Schulbuchforschung
2.5.1. Einführung in die Schulbuchforschun
2.5.2. Forschungsstand Schulbuchforschun
2.5.3. Produktorientierte Schulbuchforsch
2.5.3.1. Naturwissenschaftliche Lehrmittel
2.5.3.2. Physiklehrbücher

3.. LEHRMITTELANALYSE
3.1. GESBI Gesamtprojektbeschreibung
3.1.1. Projektphase
3.1.2. Projektphase
3.2. Einbettung der Masterarbeit

4.. FORSCHUNGSMETHODISCHES VORGEHEN
4.1 Qualitative Sozialforschung
4.1.1. Begründung der Forschungsmethod
4.1.2. Gütekriterie
4.2. Datenerhebung mittels Interviews
4.2.1. Begründung der Methodenw
4.2.2. Das fokussierte Leitfadeninterv
4.3. T ranskriptionsregeln
4.4. Verwendete Software
4.5. Datenauswertung mittels Qualitativer Inhaltsanalyse
4.5.1. Einführung in die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring

5. DESIGN DER STUDIE
5.1. Sampling
5.1.1. Stichprobenziehun
5.1.1.1. Auswahl der Klassen
5.1.1.2. Auswahlliste der Schülerinnen und Schüler
5.2. Entwicklung des Leitfadens
5.3. Vorgehen bei der Befragung
5.3.1. Prete
5.3.2. Haupterhebu
5.4. Beschreibung der interviewten Schülerinnen
5.5. Transkription der Daten
5.6. Technische Aufbereitung zur Inhaltsanalyse

6. KATEGORISIERUNG
6.1. Vorgehen bei der Kategorisierung der Daten
6.2. Hauptthemen und Oberkategorien
6.3. Unterkategorie „Berufliche Vorbilder" und Ankerbeispiele
6.4. Unterkategorie „Weibliche Vorbilder ergänzen" und Ankerbeispiele

7. DARSTELLUNG DER ERGEBNISSE
7.1. Vorbilder für Schülerinnen: Quantitativer überblick
7.1.1. Überblick Oberkategor
7.1.1.1. Überblick „Berufliche Vorbilder"
7.1.1.2. Überblick „Weibliche Vorbilder ergänzen"
7.1.2. Überblick Unterkategorien „Berufliche Vorbild
7.1.2.1. Frauen in der Naturwissenschaft
7.1.2.2. Männer in der Naturwissenschaft
7.1.2.3. Mangel an Vorbildern in der Naturwissenschaft
7.1.2.4. LP ergänzt weibliche Vorbilder in Naturwissenschaften
7.1.2.5. Weitere Vorbilder
7.1.3. Überblick Unterkategorien „Weibliche Vorbilder ergänzen“
7.1.3.1. Funktionalität der Ergänzung im Lehrmittel und Unterricht
7.1.3.2. Attraktivität der Ergänzung im Lehrmittel und Unterricht
7.1.3.3. Wirkung auf die MINT-Berufs-/Studienwahl
7.2. Vorbilder für Schülerinnen: Qualitative Inhaltsanalyse
7.2.1. Berufliche Vorbilder
7.2.1.1. Frauen in der Naturwissenschaft
7.2.1.2 Männer in der Naturwissenschaft
7.2.1.3. Mangel an Vorbildern in der Naturwissenschaft
7.2.1.4. LP ergänzt weibliche Vorbilder in Naturwissenschaften
7.2.1.5. Weitere Vorbilder
7.2.2. Weibliche Vorbilder ergänzen (Ursula Kell
7.2.2.1. Funktionalität der Ergänzung im Lehrmittel und Unterricht
7.2.2.2. Attraktivität der Ergänzung im Lehrmittel und Unterricht
7.2.2.3. Wirkung auf die MINT-Berufs-/Studienwahl

8. DISKUSSION
8.1. Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
8.2. Diskussion der Ergebnisse zu Vorbildern
8.3. Diskussion der Ergebnisse unter.. Einbezug der Berufswahltheorien
8.4. Diskussion der Ergebnisse unter. Einbezug der Schulbuchforschung
8.5. Diskussion der Ergebnisse unter... Einbezug des aktuellen Forschungsstands
8.6. Zusammenfassende Schlussfolgerung
8.7. Kritische Reflexion der Resultate

9. FAZIT UND AUSBLICK

10. LITERATURVERZEICHNIS

11. ABBILDUNGSVERZEICHNI

12. TABELLENVERZEICHNIS

13. ANHÄNGE
13.1. Transkriptionsregeln
13.2. Codierregeln

Danksagung

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei allen bedanken, die mich bei der Erstellung meiner Masterarbeit unterstützt haben.

An erster Stelle gebührt mein Dank Frau Prof. Dr. Elena Makarova. Sie ist als Inhaberin der Professur für Bildungswissenschaften und Direktorin des Instituts für Bildungswissenschaften an der Universität Basel meine Erstbetreuerin und begutachtete die vorliegende Masterarbeit. Für ihr Engagement, die Vielzahl von persönlichen Treffen und Telefonaten, ihre wertvollen Hinweise und Anregungen sowie schnellen Rückmeldungen möchte ich Frau Prof. Makarova ganz herzlich danken. Mit ihrer Unterstützung konnte diese Masterarbeit im Rahmen der von ihr geleiteten Wirksamkeitsstudie Form annehmen und einen eigenständigen Fo­kus auf die untersuchte Thematik werfen.

Auch Dr. Martin Schmid gilt als Ko-Referent meiner Masterarbeit mein grosser Dank. Als Dozent im Masterstudiengang Educational Sciences an der PH FHNW und der Universität Basel hat er vor allem mit seinem Wissen in empirischer So­zialforschung unterstützend zum Gelingen der Arbeit beigetragen.

Ein weiteres Dankeschön möchte ich an das Team des Instituts für Bildungswis­senschaften und den Mitarbeiterinnen der Studie richten, in deren Rahmen diese Masterarbeit entstanden ist. Ich bedanke mich herzlich bei Nadine Wenger, Belinda von Freymann, Nathalie Pfiffner und Olivia de Graaf, die mich in zahlrei­chen Gesprächen und Anregungen unterstützt haben. Besonderer Dank geht an Jana Lindner und Marlene Labude für das Korrekturlesen der Arbeit.

Weiter geht mein Dank an die Schülerinnen der angefragten Gymnasien für ihre Teilnahme an der Studie. Ohne ihr Mitwirken wäre diese Masterarbeit nicht zu Stande gekommen.

Zu guter Letzt möchte ich mich bei meiner Familie, meinen Freunden und Freun­dinnen sowie meinen Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen bedanken für ihre Unterstützung jeglicher Art während meines Studiums und der Fertigstellung der Masterarbeit sowie ihren steten Glauben an mich.

Abstract

Diese Masterarbeit entstand im Rahmen des Projektes «Naturwissenschaft ist (auch) Frauensache! Geschlechtergerechtigkeit von Lehrmitteln auf der Sekun­darstufe II». Ziel des Projektes war, Kriterien der Gendergerechtigkeit aufzustel­len, ein Physik-Schulbuch in Bezug auf diese und nach eben diesen Kriterien der Gendergerechtigkeit zu überarbeiten, sowie eine Handreichung für Lehrperso­nen zu schaffen, um Unterricht im Hinblick auf Gendergerechtigkeit gezielter und fairer zu gestalten. Die Disparität der Geschlechter in naturwissenschaftlichen Fächern, besonders im Fach Physik, ist nach wie vor persistent. Es entscheiden sich immer noch deutlich mehr Männer für ein MINT-Studium als Frauen. Gen­derrollen werden reproduziert, somit auch stereotypisierte Männer- und Frauen­berufe.

Anknüpfend an die Forschung zur Geschlechtergerechtigkeit und mithilfe eines Leitfadeninterviews, basierend auf einer Analyse des Physik-Schulbuches „Phy­sik für Mittelschulen“ und auf daraus abgeleiteten Kriterien der Gendergerechtig­keit, wurde die Wahrnehmung und Interpretation von Schülerinnen hinsichtlich dieser Disparität im Physiklehrmittel mittels einer qualitativer Herangehensweise untersucht: Der Fokus der Analyse lag auf der Wirksamkeit von (fehlenden) be­ruflichen Vorbildern für junge Frauen als Erklärungsansatz der Geschlechterseg- regation in der Berufs- und Studienwahl. Um die Forschungsfragen beantworten zu können, wurde unter Einbezug der Berufswahltheorie das Konzept der (feh­lenden) weiblichen Vorbilder in geschlechtsuntypischen Berufsfeldern betrachtet.

Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die Disparität in der Darstellung der Ge­schlechter in Physiklehrmitteln auf der Sekundarstufe II von Schülerinnen durch­aus wahrgenommen wird. Der Mangel an weiblichen beruflichen Vorbildern fällt auf. Darüber hinaus wünschen sich die Schülerinnen mehrheitlich Ergänzungen weiblicher Vorbilder, um sich mehr mit dem Fach Physik identifizieren zu können und sich angesprochen zu fühlen.

Auch Ausnahmen kommen vor: So bewerten einige Schülerinnen die weiblichen Vorbilder sowie deren Geschlecht als unwichtig, da sie im Berufswahlprozess eher an ihren eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten orientierten. Diese Schüle­rinnen definierten ihre Berufspassung anhand der eigenen Leistung.

Die Bedeutung von gleichgeschlechtlichen Vorbildern oder wenigstens von Pro­totypen von Vorbildern - insbesondere in geschlechtsuntypischen Studiengängen und Berufsfeldern - kann mittels der vorgestellten Berufswahltheorien ansatz­weise erklären, warum Frauen in den MINT- Studiengängen und Berufen unter­repräsentiert sind.

1. Einleitung

Geschlecht wird in Schulen gesellschaftlich konstruiert, auf diese Weise ist das Erlernen und die Reproduktion von Stereotypen vorprogrammiert. Das Ergebnis sind gefestigte Geschlechterrollen, die kaum zu verändern sind. Neben dem Lehrplan 21 wird auch „der heimliche Lehrplan“ gelehrt, der den Schülerinnen und Schülern mithilfe von Lehrmitteln Einstellungen, Haltungen sowie Verhal­tensweisen vermittelt. Diese werden jedoch nicht bloss übernommen, ihre Wirk­samkeit ist von diversen Faktoren wie der Darstellung der Geschlechter in Text und Bild abhängig. Demzufolge sind Assoziationen zu den Geschlechtern persis­tent. Die Reproduktion stereotyper Geschlechterrollen in der Schule bewirkt, dass die Chancenungleichheit der Schülerinnen besonders im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) aufrechterhalten wird. Diese Disparität kann durch unterschiedliche Konzepte erklärt werden, beispiels­weise durch die Interessen und Haltungen der Schülerinnen, als auch durch eine patriarchale, von Männern dominierte Welt. Auch die Wirksamkeit von Unter­richtsgestaltung und Lehrmitteln ist bedeutend (Makarova, Herzog, & Aeschlimann, 2016). Gleichzeitig spielt das Selbstbild der Lernenden eine grosse Rolle bei der Berufswahl. So stellt die OECD in ihrer PISA-Studie (2008), welche die Kompetenzen in unterschiedlichen Fächern bei 15-Jährigen misst, deutlich dar, welche tragende Rolle das Selbstbild einer Schülerin oder eines Schülers spielt. Die Langzeitstudie liefert Ergebnisse, die einerseits auf der Motivation und auf den Lernstrategien, andererseits auf dem Selbstkonzept basieren. In den Na­turwissenschaften sind wichtige Problemlösefähigkeiten gefragt, wie auch sol­che, Kenntnisse anwenden und Schlussfolgerungen ziehen, sowie reflektieren zu können. Die Fähigkeit, sich anspruchsvolle Aufgaben zuzutrauen und diese anzugehen, ist ein bedeutender Faktor, um das Selbstkonzept zu entfalten (OECD, 2008).

Der Bildungsbericht Schweiz (2018) macht deutlich, dass die Haltung der Schü­lerinnen gegenüber den Naturwissenschaften, insbesondere zur Mathematik und zur Physik, im Vergleich zu anderen Fächern negativ ausfällt. Auffallend wenige Schülerinnen belegen bereits im Gymnasium ein naturwissenschaftliches Schwerpunktfach in Mathematik oder Physik. Hier ist die immense Untervertre­tung der Frauen deutlich sichtbar. Diese Untervertretung wirkt sich später auf das Studium aus, spiegelt sich im Beruf wieder. So lässt sich bereits ein niedriger Anteil von Studentinnen im MINT Bereich erahnen. Die folgende Abbildung 1 be­schreibt die Anzahl der Maturitätszeugnisse in den diversen Schwerpunktgrup­pen in Gymnasien sowie deren Verteilung auf die zwei Geschlechter. Diese ge­wählten Schwerpunkte beeinflussen die spätere Studienwahl enorm. Die Abbil­dung der SKBF (2018) zeigt sehr deutlich, wie unausgeglichen die Verteilung der Maturitätszeugnisse zwischen den Geschlechtern ist, besonders in den männlich konnotierten Schulfächern wie Mathematik und Physik. Weniger als ein Viertel aller Maturanden in diesem Schwerpunktfach sind Frauen. In den anderen MINT- Fächern wie Biologie und Chemie ist die Verteilung ausgeglichener (SKBF, 2018, p. 159f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Anzahl Maturitätszeugnisse nach Schwerpunktgruppen und Geschlecht (SKBF, 2018, p. 159)

Mit Abbildung 2 stellt der Bildungsbericht Schweiz ebenfalls klar, dass auch in der Schweiz der Anteil der Studierenden im MINT-Bereich unter 25% liegt. In der Tabelle fällt unschwer auf, dass nicht nur der MINT-Bereich allgemein sehr klein ausfällt, sondern dass auch eine Diskrepanz zwischen Frauen und Männern exis­tiert. Abbildung 2 illustriert, wie die Verteilung der MINT-Abschlüsse im Tertiär­bereich auf die unterschiedlichen Länder und auf die zwei Geschlechter ausfällt. Die Schweiz liegt im Vergleich zu den hier dargestellten europäischen Ländern prozentual gesehen im durchschnittlichen Bereich. Die aktuelle Entwicklung weist durchaus eine steigende Tendenz seit 2010 auf. Im Vergleich mit anderen Ländern wie Spanien oder Italien, die ebenfalls in diesen prozentualen Bereich fallen, ist der Anteil an weiblichen Abgängerinnen in der Schweiz sehr gering. Hier ist die horizontale Geschlechtersegregation, die ungleiche Verteilung der Geschlechter bei der Wahl der Studienfächer, deutlich wahrzunehmen (SKBF, 2018, p. 199). Nicht nur in der analogen Welt ist dies der Fall. So bestätigt eine internationale Studie über Online-Kurse in Naturwissenschaften, Technologie, In­genieurswesen und Mathematik das Fehlen von Frauen in diesen Bereichen (Jiang, Schenke, Eccles, Xu, & Warschauer, 2018).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Anteil MINT-Abschlüsse (SKBF, 2018, p. 199)

Die aufgezeigten Diskrepanzen und Ungleichgewichte hinsichtlich der Ge- schlechterverteilung im MINT-Bereich werden auch im Forschungsprojekt GESBI aufgegriffen. In dieses Projekt ist auch meine Masterarbeit eingebettet. Das GESBI-Projekt mit dem Titel „gender equality school book index - Naturwissen­schaft ist (auch) Frauensache!“ analysiert das Physiklehrmittel „Physik für Mittel­schulen“ auf die Thematik der Geschlechtergerechtigkeit von Lehrmitteln der Se­kundarstufe II. Diese produktorientierte Lehrmittelanalyse zeigt klar eine Über­vertretung männlicher Protagonisten in aktiver Darstellung. Frauen kommen sel­ten und meistens in passiven Rollen vor, dies sowohl im Text als auch im Bild­material (Wenger et al., 2019a). Die Masterarbeit wird mit Hilfe dieser Daten­grundlage und mit Unterstützung des GESBI-Projekts des Instituts für Bildungs­wissenschaften der Universität Basel am erstellt.

Zu Beginn sollen in der Masterarbeit die Theorie und der Forschungsstand zu der Thematik der Vorbilder und der fehlenden Vorbilder vorgestellt werden. Die Wirkung dieser soll in Physiklehrmitteln und im Unterricht untersucht werden und jeweils mit den Begriffen der Genderthematik, der Berufswahltheorien und der Schulbuchforschung in Zusammenhang gesetzt werden. Des Weiteren werden die Begrifflichkeiten Gender, Genderrollen, Disparitäten, horizontale Geschlech- tersegregation und Geschlechtergerechtigkeit vorgestellt. Unterschiedliche An­sätze der Berufswahltheorie werden als nachfolgender Schritt eingeführt, um diese mit der Thematik der beruflichen Vorbilder zu verflechten. Banduras Lern­theorie, Hollands Persönlichkeitstheorie und die Sozialisationstheorien sollen umrissen werden. Unter anderem wird hier auf Gottfredson (2005) und Hannover und Kessels (2004) Bezug genommen, die aufzeigen, wie wichtig eine Passung zwischen einem Individuum und einem Beruf beziehungsweise einer Berufs­gruppe ist, um eine klare Entscheidung für die Zukunft zu treffen. In beiden An­sätzen sind Vorbilder oder fehlende Vorbilder wichtige Aspekte bei der ge- schlechteruntypischen Berufswahl (Gottfredson, 2005; Hannover & Kessels, 2004).

Insgesamt werden in der vorliegenden Arbeit neben dem Studiendesign und - ergebnissen theoretischen Konzepte vorgestellt, die die Geschlechtersegrega- tion in der Berufswahl und der Studienwahl von Mädchen und Jungen zu erklären versuchen. Die fehlenden gleichgeschlechtlichen Vorbilder werden immer wieder als Erklärungsansatz für die Diskrepanz sichtbar.

1.1. Zielsetzung

Die Masterarbeit soll die Wahrnehmung und Interpretation eines Physiklehrmit­tels und der gendergerechten Sprache von Schülerinnen auf der Sekundarstufe II untersuchen. Schülerinnen und Schüler in der gesamten Deutschschweiz wer­den zu der Geschlechtergerechtigkeit in Physiklehrmitteln und im Unterricht mit Hilfe eines leitfadengestützten Interviews befragt, um ausführliche Informationen über die Wahrnehmung der Jugendlichen zu gewinnen sowie die Wirksamkeit der Lehrmittel zu erforschen. Die Untersuchung der Schülerinneninterviews ge­schieht basierend auf der qualitativen Inhaltsanalyse des Lehrmittels, wobei auf ein bereits erarbeitetes Kategoriensystem zurückgegriffen werden kann. Das Ziel der Arbeit ist es, mithilfe von Berufswahltheorien, dem Forschungsstand zu den (fehlenden) Vorbildern und der Schulbuchforschung in den Naturwissenschaften aufzuzeigen, ob einerseits die Schülerinnen die Disparität in der Darstellung der Geschlechter wahrnehmen und inwiefern die (fehlenden) Vorbilder auf die Stu­dien- und Berufswahl der Schülerinnen wirken. Die Aussagen der Schülerinnen zu den Aspekten der Vorbilder in Hinblick auf die Berufswahl werden qualitativ aufbereitet, die Befunde diskutiert und eventuelle Zusammenhänge erörtert. Fol­genden Fragen sollen mit der Theorie ergründet werden.

Vorbilder

- Welchen Einfluss haben Vorbilder, besonders berufliche Vorbilder, damit sich Schülerinnen für ein MINT-Studium/Beruf im MINT Bereich entschei­den?
- Sind berufliche Vorbilder in Lehrmitteln und im Unterricht relevant?
- Sind berufliche Vorbilder im privaten Umfeld relevant?
- Ist das Geschlecht der beruflichen Vorbilder relevant? Stereotypen
- Wie entstehen Geschlechterstereotypen in unserer Gesellschaft?
- Wie werden Genderrollen reproduziert? Studien- und Berufswahl
- Welche Berufswahltheorien erklären die Geschlechtersegregation bei der Studien- und Berufswahl?

1.2. Erkenntnisinteresse

Mein Erkenntnisinteresse ist es, mit der wirksamkeitsorientierten Interviewstudie herauszufinden, ob und wie Schülerinnen beziehungsweise junge Frauen in der Sekundarstufe II Physiklehrmittel wahrnehmen und welche Wirkungen gezeigt werden. Aus diesem Grund stelle ich die zwei Forschungsfragen vor:

1. Nehmen Frauen die Disparitäten in der Darstellung der Geschlechter im Physiklehrmittel wahr?
2. Welche Wirkungen von Vorbildern und fehlenden Vorbildern lassen sich aufgrund der Aussagen der Schülerinnen interpretieren?

Die Aussagen der Schülerinnen und ihre Interpretation über die Wirksamkeit des Lehrmittels und die (fehlenden) Vorbilder betreffend sollen kritisch betrachtet und mit den vorgestellten Berufswahltheorien in Bezug gesetzt werden. Die Ergeb­nisse werden quantitativ und qualitativ zusammengefasst dargestellt und in der Diskussion mit Theorien und dem aktuellen Forschungsstand verknüpft. Auch eine kritische Reflexion der angewandten Methode sowie die Durchführungen der Studie soll zum Abschluss der Arbeit erfolgen.

Zuerst wird die Bedeutung der Vorbilder sowie der fehlenden Vorbilder vorge­stellt.

2. Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand

2.1. Vorbilder und fehlende Vorbilder

2.1.1. Theorie der Vorbilder

Die Pädagogik befasst sich in der Erziehung seit jeher mit Vorbildern. Herzog (2002) beschreibt, dass Individuen erwachsen und mündig werden, indem sie sich an Mitmenschen orientieren und andere als gutes Beispiel, also als Vorbild nehmen. Wichtig zu erwähnen sei zudem, dass die Nachahmung der Selbstwer- dung des Individuums im Weg stehe, seien die gewählten Vorbilder noch so wirk­sam (Herzog, 2002, p. 32). Aus diesem Grund sollten einzelne Personen bloss eine Zeit lang als Vorbilder dienen. Als Vorbilder im Unterricht werden besonders Lehrpersonen vorgeschlagen, die offen, frisch und lebendig auftreten. Um ein Vorbild zu sein, bedarf es bestimmter Werte und Einstellungen, nur dann könne die Vorbildlichkeit erreicht werden. Diese Werte und Einstellungen machen eine Person aus und lassen sie lebendig und wiedererkennbar wirken. Sie ist im Ge­gensatz zu Beispielen nicht konstruiert. Das Zurückgreifen auf Vorbilder ge­schieht nicht als Mittel der Erziehung, Vorbilder werden freiwillig gewählt. Die aus dem Christentum vertiefte Diskussion sieht Götter als Vorbilder, auch die Päda­gogik bezieht sich auf diesen christlichen Bildungsbegriff von Vorbildern. Die Pä­dagogen und Pädagoginnen beschreiben Lernen als eine Handlung der Imitation, wodurch sich eine Person reinigt und ein Abbild des verehrten Gottes wird. So entstehen als erstrebenswert betrachtete Urbilder (Herzog, 2002, p. 35).

Ebendieser (2002) veranschaulicht den Wandel des Bildungssystems in einem historischen Abriss, woraus an dieser Stelle einige Veränderungen dokumentiert werden sollen: Der kulturelle Wandel, der im 18. Jahrhundert einsetzt, sorgt da­für, dass neue, moderne, fortschrittliche Anforderungen an Kinder gestellt wer­den. Veranschaulichung und Abbildungen verlieren gegenüber dem aufgeklärten Denken ihren einstigen Wert. Nicht mehr die Vorfahren, sondern Gleichaltrige, die Peers, werden zum Massstab ihrer eigenen Generation. Die Gesellschaft wandelt sich somit von einer präfigurativen zu einer kofigurativen Kultur. Die mo- derne Gesellschaft toleriert nach dem Wandel des Bildungssystems keine Vor­bilder mehr, die alten Ansichten sind nicht mehr stimmig. In den 60er Jahren er­fährt die Pädagogik ein Umdenken ihrer Disziplin sowie deren Verständnis. Die pädagogische Fachsprache verändert sich in den 70er Jahren und der Vorbild­Begriff verschwindet, da der Begriff manipulativ, imitierend und suggerierend sein soll und sich somit der Vernunft widersetzt (Herzog, 2002).

Der Vorbild-Begriff ist auch hinsichtlich der Eltern und ihren Umgang mit ihren Kindern bedeutend. Basis für den Beitrag von Makarova und Herzog im späteren Kapitel 2.2.5. ist zum einen der OECD Bericht (2013), der die Segregation der Geschlechter bei der Studien- und Berufswahl näher betrachtet. Verlangt werden politische Massnahmen von der Regierung, um die Genderlücke zwischen Frauen und Männern zu schliessen. Folgende Kernaussagen des Berichts der Gleichstellung der Geschlechter sollen im Folgenden dargestellt werden:

Eine Reform der formellen und informellen Rechtssysteme und Harmonisierung der Gesetze, um die Gleichstellung von Frauen und Männern zu gewährleisten sowie diskriminierende und schädliche Praktiken zu verbieten. Beispiele hierfür sind u.a. eine Reform des Familienrechts zur Förderung der Gleichstellung bei Eheschlie­ßung und Erbschaft sowie Gesetzesbestimmungen, die häusliche Gewalt strafrecht­lich verfolgen.

Wirtschaftliche Unterstützung und Anreize für Personen, Familien und Gemein­schaften, um die Verhaltensweisen zu ändern und das Problem diskriminierender Verhaltensweisen anzugehen - z.B. Unterstützung von Eltern, um sie zu ermutigen, in die Bildung ihrer Töchter und ihrer Söhne gleichermaßen zu investieren. Mobilisierung auf Gemeinschaftsebene, Initiativen zur Sensibilisierung und Stärkung mit dem Ziel, diskriminierende Verhaltensweisen, gesellschaftliche Nor­men und Praktiken zu ändern - z.B. durch Medienkampagnen -, um die Wertschät­zung von Töchtern zu erhöhen. (OECD, 2013, S. 37)

Diese Kernaussagen, besonders der dritte Punkt, zeigen deutlich auf, dass drin­gend Massnahmen notwendig sind, um die Verhaltensweisen und gesellschaftli­che Normen sowie ihre Praktiken zu ändern. Töchtern sollen die gleichen Aus­bildungsmöglichkeiten zustehen wie Söhnen, sei dies nun durch die Stärkung des Selbstbildes oder durch die Erhöhung der Wertschätzung von Töchtern. Noch immer existiert ein diskriminierender Ton auf der Ebene der Gemeinschaft, die zwingend zu ändern ist (OECD, 2013). Des Weiteren fällt bei der Pisa-Studie aus dem Jahr 2009 auf, dass in den teilnehmenden Ländern nach wie vor Leis­tungsunterschiede zwischen den Geschlechtern herrschen und zwar in den ver­schiedensten Fächern. Mädchen weisen nach wie vor eine höhere Lesekompe­tenz auf, wohingegen Jungen stärker in der Mathematik sind. Jedoch wird bei näherer Anschauung deutlich, dass die durchschnittlichen Genderunterschiede bedeutend grösser sind, als in der Mathematik allein. Die angezeigten Unter­schiede zwischen den Geschlechtern in den Naturwissenschaften fallen eben­falls, wie in der Mathematik, geringer aus als bei der Lesekompetenz (OECD, 2013) . Dies, trotz der geringeren Selbsteinschätzung von Mädchen bei gleicher Leistung. Auf die Theorie von Eccles und Wigfield (2002) soll später in Bezug auf das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern eingegangen werden.

Gleichzeitig zeigt ebendieser OECD-Bericht (2009) die Rolle von Elternteilen in Bezug auf Vorbildlichkeit auf. Eine Elternbefragung, die zusätzlich zur PISA-Stu­die 2019 erhoben wurde, verweist auf den Aspekt, dass bei Vätern die Wahr­scheinlichkeit bedeutend geringer ist, dass sie ihren Kindern vorlesen als bei Müt­tern. Auch ist ihre Einstellung zum Lesen negativer (OECD, 2009). Zum gleichen Ergebnis kamen Anderson und Hamilton (2005) in ihrer Studie bezüglich der Rol­lenverteilung der Eltern beim Vorlesen von Bilderbüchern. Väter fehlen in der Rolle des Vorlesers und sind „unsichtbar“ (Anderson & Hamilton, 2005). Wie wichtig das Vorlesen und die elterliche Einstellung dazu sind, bestätigen Abu- Rabia und Yaari (2012) in ihrer Studie. Sie zeigen auf, dass die Einstellung beider Elternteile zum Vorlesen sowie die Umgebung die Leistung der Kinder in der ers­ten Klasse positiv beeinflusst (Abu-Rabia & Yaari, 2012). So lässt sich die Ver­mutung aufstellen, dass Jungen, denen nur Mütter vorlesen, kein besonders In­teresse an der Erweiterung ihrer Lesekompetenzen haben, da sie Lesen mit dem Attribut weiblich assoziieren. Vorbilder, besonders gleichgeschlechtliche, sind in der pädagogischen Literatur unentbehrlich, wie bereits von Herzog beschrieben wurde (Herzog, 2002).

2.2. Geschlecht als soziales Konstrukt

2.2.1. Vorbilder und Geschlecht

Faulstich-Wieland (2006) spricht davon, wie Mechanismen in der Gesellschaft dafür sorgen, dass Geschlechterdifferenzen gesichert und erkennbar werden, nämlich durch Praktiken im Alltag. Sie nennt dies die Vergeschlechtlichung eines Menschen (Faulstich-Wieland, 2006, p. 121). Andresen (2006) zeigt auf, wie ne­ben dem Lernen in der Schule eine Geschlechterstereotypisierung vermittelt wird und somit auch ein geschlechtsspezifischer Umgang mit Schülerinnen und Schü­lern erfolgt. Die Sozialisation von Jungen und Mädchen sowie auch die Rollen­verteilung werden von den Vorbildern angeleitet. Dies findet in der Schule im Unterricht oder in Lehrmitteln, aber auch innerhalb der Familie und der Erziehung statt. Vorbilder beeinflussen somit stark, wie Geschlecht gelebt wird (Andresen & Rendtorff, 2006).

2.2.2. Geschlecht oder Gender

Christine Hauskeller (2018) erklärt, wie im deutschen Sprachraum der Begriff Ge­schlecht für sex und auch für gender verwendet wird. Somit meint der Begriff Geschlecht in der deutschen Sprache das biologische, das sexuelle sowie das soziale, kulturelle Geschlecht. Bei Textübersetzungen aus dem englischen Sprachraum wird oft sex mit Geschlecht und gender mit Geschlechtsidentität übersetzt. Diese Unterscheidung konnte sich in der deutschen Sprache nicht durchsetzen (Gildemeister, 2008; Hauskeller, 2018, p. 2). West und Zimmerman (1987) zeigen auf, wie noch zu Beginn der 60er Jahre diese zwei Begriffe klar voneinander getrennt waren. Geschlecht wurde auf Biologie und Körperlichkeit, die Physiognomie, zurückgeführt und wurde als etwas Statisches betrachtet. Eine Frau kann beispielsweise als unweiblich definiert werden, bleibt biologisch gesehen dennoch eine Frau. Gender hingegen wurde als der Status betrachtet, den man aufgrund bestimmter Handlungen und Aktivitäten durch Bestätigung so­ziologischer und kultureller Normen erreicht hat - eine kulturelle Prägung. Beide Begriffe fokussieren jedoch das Verhalten der unterschiedlichen Geschlechter von Frau oder Mann (Gildemeister, 2008; West & Zimmerman, 1987, p. 125ff.). Auch Penkwitt (2006) hebt hervor, dass Gender konstruiert wird, indem eine Per­formanz gezeigt wird (Penkwitt, 2006).

2.2.3. Genderrollen

Stereotypen sind allgegenwärtig und sie zeigen klare, von der Gesellschaft er­wartete Klischees in Bezug auf Frauen und Männer auf. Diese Genderrollen exis­tieren innerhalb der Familie wie auch in der Schule und im Berufsleben. Im Kon­text der Familie ist hier von geschlechtsabhängiger Kleidung und Spielzeug die Rede, von Filmen mit männlichen Protagonisten und weiblichen Protagonistin­nen; es werden klar differenzierte Geschlechtsbilder vermittelt. So auch in der Schule, wo das Verhalten von Kindern als „typisch Mädchen“ oder als „typisch Junge“ abgestempelt wird (Rendtorff, 2006).

Im Verlauf der Geschichte hat laut Beck-Gernsheim (2008) seit dem 19. Jahr­hundert eine Wandlung der Geschlechterrollen stattgefunden, somit veränderte sich auch die Rolle der Frau, wobei soziale Ungleichheiten immer noch vertreten sind. Die Stellung der Frau, die lange in ihrer traditionellen Rolle als Mittelpunkt der Familie galt und ohne Erwerb von dem Mann abhängig war, befindet sich noch immer in einer Entwicklungsphase. Die Frauenbewegung hat jedoch in vie­len Schritten Fortschritte in den Bereichen der Bildung, hier insbesondere durch die Bildungsexpansion in den 60er Jahren sowie des Berufes und der Familie erreicht. Die Frau hat unterdessen ein Anrecht auf ihr eigenes Leben, sie ist nicht mehr nur für andere da, sie wird unabhängig und spielt auch in der Wirtschaft eine immer bedeutendere Rolle. Aufgrund dieser Entwicklungen veränderten sich die Ordnung und Strukturen der Gesellschaft, wie auch die Rolle der Ge­schlechter (Beck-Gernsheim, 2008).

2.2.3.1. Reproduktion von Genderrollen gesamthaft

Wilz (2008) vertritt den Standpunkt, dass Männer und Frauen unterschiedlich sind, auch wenn die heutige Gesellschaft eine Gleichheit der Geschlechter errei­chen möchte. Die zwei Geschlechter sind nicht nur biologisch gesehen different, sie weisen auch unterschiedliche Verhaltensweisen und Handlungen auf, die häufig durch soziale Strukturen vorgegeben sind. Die Differenzen sind also grundsätzlich sozial gemacht, sie entstehen in einem Prozess. Typisch weibliche und männliche Handlungen und Sachverhalte begründen Ungleichheiten und konstituieren weibliche und männliche Rollenbilder (Wilz, 2008).

Der weiterführender Begriff des Doing Gender bezieht sich auf das bewusste Kreieren von Differenzen zwischen den Geschlechtern, die weder natürlich, noch essentiell, noch biologisch sind (West & Zimmerman, 1987). Gildemeister (2008) sieht Doing Gender, die soziale Konstruktion von Geschlecht, beziehungsweise in diesem Zusammenhang Geschlechtsidentität gemeint, ebenfalls als einen Pro­zess an, bei dem mit Absicht Unterscheidungen produziert und Genderrollen re­produziert werden (Gildemeister, 2008). Hierbei sprechen Gildemeister und Ro­bert (2008) von Typen von Akteuren in einem sozialen Konstrukt, die festgelegt werden, wie beispielsweise die Rolle von Frauen und Männern im Konstrukt der Familie. Dies Einteilung in Typen von Akteuren betrifft die Arbeitsverteilung in­nerhalb und auch ausserhalb der Familie; die Rede ist von institutionalisierten Geschlechterrollen und somit eine Institutionalisierung der Familie. So werden Genderrollen an die Kinder weitergegeben und Stereotype reproduziert (Gildemeister & Robert, 2008, p. 20). Stahr (1989) sieht hier die Identifizierung der Mädchen mit ihren Müttern und der Jungen mit ihren Vätern, und somit eine klare gleichgeschlechtliche Orientierung bei der Sozialisation (Stahr, 1989). Auch das Nationale Forschungsprojekt NFP 60 „Gleichstellung der Geschlechter“ be­stätigt die bedeutende Rolle der Familie, aber auch die der Schule und von Lehr­personen bei der Stereotypisierung von Geschlechtern, um später die in der Ge­sellschaft verankerten „typischen“ Erwartungen und Normen zu erfüllen. Wer sich für einen anderen Weg entscheidet, muss mit grossem Druck und Aufwand rech­nen. Die Gleichstellungspolitik muss überarbeitet werden und genug Unterstüt­zung bieten, um den Geschlechterstereotypisierung entfliehen zu können (SNF, 2014).

Um den traditionellen und stereotypisierten Genderrollen zu entkommen, Neues kennenzulernen und die Identität frei von einengenden Erwartungen entwickeln zu können, sind (gleichgeschlechtliche) Vorbilder auch in der Berufs- und Arbeits­welt von grösster Bedeutung. Diese fehlen, besonders bei Frauen, häufig in ge- schlechteruntypischen Berufen, wie den MINT-Berufen.

2.2.3.2. Reproduktion von Genderrollen im MINT-Bereich

Wie bereits in der Einleitung beschrieben, ist die Kluft im MINT-Bereich zwischen den Geschlechtern bedeutend und setzt sich kontinuierlich fort, trotz der Bil­dungsexpansion im Tertiärbereich. Im Prozess der Berufswahl tritt zusätzlich zu anderen Aspekten die Geschlechterfrage auf: Berufsgruppen und Berufe werden jeweils einem Geschlecht zugeordnet, die Jugendliche auf der Suche nach einem Studium oder Ausbildung als Kriterium in ihre Entscheidung mit einfliessen las­sen. Der Aspekt des Geschlechts ist infolge der Sozialisierung durch die Gesell­schaft in die Erziehung mit eingebettet und spielt eine wichtige Rolle. Diese Ein­schätzung ist mehrfach durch Studien belegt worden (Makarova & Herzog, 2015).

Einige dieser Studien beziehen sich auf den DAST-Test (Draw-A-Scientist Test). In ihrem Artikel beschreiben Scherz und Oren (2006) unter anderem, wie wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche bereits früh mit Naturwissenschaften in Be­rührung kommen, um ihre Haltung gegenüber naturwissenschaftlichen Fächern und Berufen zu stärken. Je älter Kinder werden, desto mehr verfallen ihre Ein­stellungen und Haltungen den gesellschaftlich vorgelebten Stereotypen. Auf­grund der Studie sollte herausgefunden werden, welche stereotypischen Wahr­nehmungen Schülerinnen und Schüler in Bezug auf Naturwissenschaften haben.

Sie wurden in einem Teil der Untersuchung gebeten, eine Zeichnung zu Wissen­schaftlern sowie zu deren Arbeitsplätzen zu zeichnen (Scherz & Oren, 2006). Dieser von Chambers (1983) entwickelter Test sollte nicht die Intelligenz messen, sondern den Zugang zu den Konzepten von Kindern vereinfachen. Der Autor be­hauptet, dass zwischen naturwissenschaftlichen und künstlerischen Konzepten die Art, Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten auszudrücken, ähnlich sind. So kann die Kunst helfen, naturwissenschaftliche Konzepte zu begreifen. Die Analyse der Zeichnungen zu den Wissenschaftlern zeigte auf, dass diesem Beruf nach wie vor nach hauptsächlich männliche Personen zugeschrieben wurden. Bei Zeichnungen von älteren Schülerinnen und Schülern in den Mittelschulen waren diese männliche Personen zudem in Laborkitteln und mit wirren Haaren, oft mit Brille, auf Einstein bezugnehmend dargestellt worden (Chambers, 1983).

Zu den gleichen Ergebnissen wie Scherz und Oren (2006) kamen Samaras, Bo- noti und Christidou (2012) in einem ähnlichen Experiment, in dem die Einstellung von Schülerinnen und Schülern zu naturwissenschaftlichen Berufen und ihrem Image untersucht wurde. Die Zeichnungen zeigten Wissenschaftlerinnen bei der Arbeit. Bei den mündlichen Schilderungen der Zeichnungen durch die Schülerin­nen und Schüler wurden jedoch vielmals nur Männer erwähnt. Gleichzeitig mach­ten die Kinder im Gespräch klar, dass sie sich Männer und Frauen in der Wis­senschaft zu gleichen Teilen vorstellen können, trotz der Überrepräsentation von Männern (Samaras, Bonoti, & Christidou, 2012). Diese oberflächlichen Einstel­lungen und die falschen Bilder müssen korrigiert werden, um die Haltung gegen­über den Naturwissenschaften in eine positive Richtung zu verändern und um die Reproduktion von Genderrollen im MINT-Bereich zu stoppen (Scherz & Oren, 2006).

2.2.4. Genderdisparitäten

Die Bildungsbeteiligung von Mädchen und Jungen ist laut Böhme und Roppelt (2012) immer noch ein bedeutender Faktor für geschlechtsbezogene Disparitä- ten, was die schulische Benachteiligung betrifft. Auffallende Kompetenzdifferen­zen, wie beispielsweise Kompetenzen im sprachlichen Bereich (Lesekompeten­zen, Zuhören und Orthographie) sind die Folge unterschiedlicher Bildungsab­schlüsse. Die Erklärungsansätze für diese Disparitäten zwischen den Geschlech­tern reichen von biologischen Merkmalen bis hin zu Sozialisationsprozessen (Böhme & Roppelt, 2012, p. 173).

2.2.4.1. Geschlechtsbezogene Disparitäten in der Schule gesamthaft

Eine Studie von Vervecken und Hannover (2015) beschreibt den Fakt, dass Kin­der bereits im Primarschulalter klare Vorstellungen davon haben, welche berufli­che Richtung sie später einschlagen. Die Wahl fällt mehrheitlich nicht auf das MINT-Berufsfeld. Die Selbstwirksamkeit der Kinder für MINT-Berufe ist niedrig. Diese stereotypisch den Männern zugeschriebenen Berufe werden mit hohem Status und hohem Schwierigkeitsgrad in Verbindung gebracht. So lernen Kinder, dass Berufe, die einen hohen Status und einen hohe Prestigegehalt mit sich brin­gen, männlich sein müssen. Tätigkeiten jedoch mit niedrigerem Status und somit einfacherem Schwierigkeitsgrad werden mit typisch weiblichen Berufsfeldern konnotiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Kinder nicht auf­grund ihrer Wahrnehmung des Schwierigkeitsgrads oder des Status abschre­cken lassen, sondern sich einzig und alleine aufgrund der Stereotypisierung der Geschlechter beeinflussen lassen. So lässt sich in der Studie von Vervecken und Hannover aufzeigen, wie die Wahrnehmung von Kindern ist, was weibliche und männliche Personen in diversen Berufsfeldern betrifft. Hierbei ging es um die sprachliche Verwendung der Berufsbezeichnung. Dabei wurden Kinder zwischen 6 und 12 Jahren befragt. Bereits in diesem Alter werden Geschlechterstereotype verinnerlicht. Einer Befragtengruppe wurden Berufsbezeichnungen in männlicher und weiblicher Form vorgelesen, einer zweiten Gruppe, der Kontrollgruppe, aus­schliesslich in Form des generischen Maskulinums, also der rein männlichen Form. Die Berufe sollten Männern und Frauen zugeordnet werden. Die Absicht war, allen Kindern den Zugang für typisch männlichen Berufen zu eröffnen und somit ihre Wahrnehmung diesen Berufen gegenüber zu verändern. Die Studie zeigte auf, dass Jungen eine höhere Möglichkeit für das Erreichen eines typi­schen männlichen Berufes wahrnehmen, wenn das generische Maskulinum ver­wendet wurde. Eine weibliche Form der Berufsbezeichnung schwächte ihr Inte­resse. Bei den Mädchen zeigte sich diesbezüglich keine Signifikanz (Vervecken & Hannover, 2015).

Auch Rabhi-Sidler, Müller und Lanfranconi (2017) von der Hochschule Luzern bestätigen die geschlechtstypische Berufswahl von Schülerinnen und Schülern. Zwar gibt es vereinzelt Bereiche wie den Bereich der Wirtschaft, in denen das Verhältnis der Geschlechter ausgeglichen ist, die meisten weisen trotzdem eben­falls eine horizontale Geschlechtersegregation auf. Die Mädchen entscheiden sich eher für Berufe in der Pflege oder in der Sozialarbeit, die Jungen in der Technik und in der Elektronik. Die Autoren erklären die starke Segregation in der Schweiz mit dem Schweizer Bildungssystem. Das Entscheidungsalter von Schü­lerinnen und Schülern befindet sich bei Ausbildungen bei knapp 15 Jahren, bei der Tertiärstufe etwas höher. In diesem Alter orientieren sich Jugendliche stark an Genderstereotypen und lassen sich von Vorbildern in der Familie sowie von Vorbildern in der Peer Group beeinflussen (Rabhi-Sidler, Müller, & Lanfranconi, 2017).

2.2.4.2. Geschlechtsbezogene Disparitäten in der Schule im MINT- Bereich

Im MINT-Bereich zeigen Langzeitstudien wie die TIMMS-Studie (2015) und die Pisa-Studie (2018) mittlerweile bedeutende positive Veränderungen, was das Interesse von Frauen in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaf­ten und Technik angeht. Geschlechterunterschiede bleiben dennoch persistent, besonders bei der Einstellung gegenüber mathematikintensiver Fächer und Stu­diengängen. Bei Promotionen sind Frauen sogar klar unterrepräsentiert, es feh­len Vorbilder (Nürnberger & Nerb, 2019). Auch zeigt sich, dass Jungen im Ge­gensatz zu Mädchen eine überdurchschnittliche Selbstwirksamkeit im MINT-Be­reich haben. Unterschiede sind auch in der Motivation zu erkennen, in vielen As­pekten sind die Mädchen benachteiligt (Strahl, Spillner, Gralfs, & Müller, 2012).

Makarova und Herzog (2015) bestätigen, dass Jungen wie auch Mädchen Na­turwissenschaften eher mit dem männlichen als mit dem weiblichen Geschlecht assoziieren. In ihrer Studie untersuchten sie die unterschiedlichen Attribute bei­der Geschlechter, die mit der Wissenschaft oder diesen wissenschaftlichen Fä­chern, auch in der Schule, in Verbindung gebracht werden. Näher betrachtet wur­den die Fächer Chemie, Mathematik und Physik einer Sekundarstufe II. Bestätigt wurde in der Studie die Geschlechterstereotypisierung in den Fächern Mathema­tik und Physik, das Fach Chemie wies keine klaren Assoziationen mit Geschlech­tern und somit keine Stereotypisierung auf. In einem zweiten Teil der Studie wur­den dieselben drei Fächer auf ihr Image bei den Geschlechtern untersucht. Die Studie von Makarova und Herzog (2015) zeigt in ihrer Untersuchung von der As­soziation der Attribute zu einem bestimmten Geschlecht, dass Schülerinnen dem Fach Physik klar Attribute zuordnen, die dem weiblichen Geschlecht komplemen­tär sind. Die Schüler bestätigten dies, da sie diesem Fach ebenfalls hauptsäch­lich männliche Attribute zuordnen. Jedoch ist diese Wahrnehmung im Wandel. Mathematik und Physik haben unter den Schülerinnen ein schlechteres Image als vorher, sie können sich laut eigenen Aussagen mit diesen Fächern immer weniger identifizieren. Diesen wissenschaftlichen Fächern werden unter ande­rem Adjektive wie ernst, hart, streng, nüchtern und robust zugeordnet, die laut der Wahrnehmung der Schülerinnen eher dem männlichen als dem weiblichen Naturell entsprechen. Ganz im Gegensatz zu den stereotypisch weiblichen Ei­genschaften wie beispielsweise sanft, verträumt und spielerisch. Solche Wahr­nehmungen und Interpretationen von Schülerinnen, Schülern, wie auch von männlichen Lehrpersonen vorgelebte Wissenschaft in der Schule bestätigen, dass Geschlechterstereotype im MINT-Bereich nach wie vor persistent sind (Makarova & Herzog, 2015).

2.2.4.3. Geschlechtsbezogene Disparitäten im schulischem Unterricht

Sozialisation findet auch in der Schule, folglich auch im Unterricht statt. Faulstich­Wieland (2002) definiert Sozialisation als einen Prozess, der Individuen hilft, sich einzubringen, zu interagieren und zu einem Angehörigen seiner Peers zu wer­den, sei dies im kulturellen oder im gesellschaftlichen Rahmen. Dieser Prozess erfordert von einem Individuum, dass es sich mit der Umwelt auseinandersetzt. Das Individuum entwickelt so seine eigene Persönlichkeit. Dies kann in seltenen Fällen reflektiert und bewusst geschehen, jedoch verläuft der Sozialisationspro­zess meistens unbewusst. So auch im schulischen Unterricht, wo jedoch nicht nur die Leistung von Schülerinnen und Schülern, sondern auch die Lehrpersonen und ihre Entscheide eine bedeutende Rolle spielen. Dies zeigt eine Schulanalyse für die Empfehlung ins Gymnasium einer Hamburger Grundschule, bei der sich unterschiedliche Faktoren beobachten lassen (Faulstich-Wieland, 2002).

Auch Hofer (2016) belegt mit ihrer Online-Studie, wie der Unterricht beziehungs­weise der Umgang von weiblichen und männlichen Lehrpersonen aus den Län­dern Deutschland, Österreich und der Schweiz von Statten geht, und ob Schüle­rinnen und Schüler bei Benotungen im Physikunterricht auf der Sekundarstufe II unterschiedlich behandelt werden. Die Autorin liess Lehrpersonen Prüfungen von fiktiven Schülerinnen und Schülern benoten um herauszufinden, inwiefern eine Verzerrung zugunsten der Jungen im Physikunterricht im Gymnasium stattfindet. Unklare Antworten, gespickt mit diversen Interpretationsmöglichkeiten, wie auch korrekte Aussagen sollten bewertet werden. Das Geschlecht der Prüflinge war den Lehrpersonen zudem bekannt. Es zeigte sich ein Gender-Bias, also die Ver­zerrung der Ergebnisse aufgrund der Genderangehörigkeit, wonach insbeson­dere Lehrpersonen beiden Geschlechtes, die weniger als 5 Jahre unterrichteten, Schülerinnen trotz gleicher Antworten viel schlechter bewerteten als Schüler. Die Noten variierten von 0.7-0.9 Notenunterschied. Dies allein hat Auswirkungen und bewirkt eine geringere Motivation der Mädchen für das Fach Physik (Hofer, 2016). Dies bestätigt eine weitere Studie von Hofer und Stern (2016), die ver­deutlicht, wie die Noten, die Leistung und das Selbstkonzept zusammenhängen und Minderleister, sogenannte Underachiever, hervorbringen können (Hofer & Stern, 2016, p. 2).

Gendergerechtes Lernen ist bedeutsam, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen beider Geschlechter müssen durch das soziale Umfeld wahrgenom­men werden. Bedeutende Einflussfaktoren sind Lehrmittel und Schulbücher, die bei der Reproduktion gängiger Geschlechterstereotypen mitwirken. Auf diese soll im Kapitel 2.4. eingegangen werden.

2.2.5. Horizontale Geschlechtersegregation am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt

Da Frauen historisch gesehen in den unterschiedlichsten Ländern und Städten erst spät und nicht gleichzeitig an den diversen Universitäten zugelassen wurden, stieg die Anzahl der weiblichen Studentinnen ungleichmässig. Erst im Laufe der Bildungsexpansion in den 60er Jahren stieg die weibliche Beteiligung an der Bil­dung. Eine der beliebtesten Erklärungsansätze ist die Humankapitaltheorie von Becker. Aus ökonomischen Gründen sollte ein Studiengang gewählt werden, bei der die Zuteilung im Arbeitsmarkt von Vorteil ist und der einen hohen Lohn und hohes Prestige mit sich bringt. Da Frauen eher in der Familien- und später in der Teilzeitarbeit tätig waren, war für sie ein Beruf mit flachem Einkommensprofil zu empfehlen. Diese Berufe zeichnen sich durch ein gutes Einstiegsgehalt aus so­wie durch bessere Wiedereinstiegschancen nach einer Unterbrechung in der Er­werbstätigkeit, da das Kapital nicht entwertet wird. Soziologische Ansätze gehen jedoch eher davon aus, dass die Sozialisation von Individuen für die Wahl von Studienfächern und Berufe entscheidend ist. Das Segregationsmodell von Schel­ling, ein weiterer Ansatz, geht davon aus, dass Frauen sich eher zu Studiengän­gen und Berufen hingezogen fühlen, in denen sich bereits ein bestimmter Anteil weiblicher Studierende und Mitarbeitende befinden (Franzen, Hecken, & Kopp, 2004).

Makarova und Teuscher (2018) beschreiben die Geschlechtersegregation, die Aufteilung wie auch im OECD Bericht von 2013 aufgezeigt, als nach wie vor per­sistent und auch in der Schweiz deutlich nachzuweisen. Die Autorinnen beleuch­ten in ihrer Studie, dass, sei es in der beruflichen Grundbildung oder auch im tertiären Bildungsbereich, die Wahl der Frauen mehrheitlich auf einen Beruf des gesundheits-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereichs fällt, während die Männer sich für technische und naturwissenschaftliche Berufe und Studien­gänge, wie auch für Informatik interessieren. Die Rede ist von der sogenannten horizontalen Geschlechtersegregation, die Frauen und Männer aufgrund ihrer Ei­genschaften für bestimmte Berufsgruppen beziehungsweise Berufe prädestinie­ren (Franzen et al., 2004; OECD, 2013, p. 126). Die Studie zeigt die Berufswahl als Übergangsprozess auf und beschreibt die Trajektorie, also den Entwicklungs­verlauf im Berufswahlprozess, besonders auch im Hinblick auf die Geschlechts- typik der Jugendlichen. Makarova und Teuscher sehen diesen Aspekt als grund­legenden Baustein. Frauen und Männer sind mit ihren weiblichen beziehungs­weise männlichen Geschlechterrollen aufgewachsen und identifizieren sich da­mit. Diese gesellschaftlich und soziologisch verankerten Rollenbilder sind verant­wortlich für die Persistenz der Segregation. Die Forschung zeigt, dass die Ge- schlechtstypik im Beruf ein bedeutendes Kriterium im Berufswahlprozess ist (Makarova & Teuscher, 2018).

Es gibt sie also, die typischen Frauenberufe und Männerberufe, die anhand ihres jeweiligen Frauenanteils bestimmt werden. Dieser Frauenanteil ist jedoch je nach Quelle unterschiedlich. So lässt sich die Geschlechtstypik bestimmen und eben­falls, ob eine Berufsgruppe beziehungsweise ein Beruf beispielsweise als frau­enuntypisch bezeichnet wird. Die horizontale Geschlechtersegregation geht mit einer Aufteilung von Berufen einher, mit ihr erfolgt auch die Reproduktion von Geschlechterrollen. Makarova und Herzog (2013) zeigen auf, wie die Disparitä­ten zwischen den Geschlechtern im Studium wie auch später in der Berufswelt produziert und reproduziert werden. Aufgrund der Bildungsexpansion sind mehr Frauen in der Lage, eine Ausbildung auf Tertiärschulstufe abzuschliessen. Die Quoten von Männern und Frauen haben sich angeglichen, jedoch lassen sich die Frauen kaum in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Studiengängen fin­den. Im MINT-Bereich sind Frauen auch jetzt, 25 Jahre nach dem Ausbau des Bildungswesens, stark untervertreten. Und nicht nur im Studium, auch in der Be­rufsbildung wählen Frauen typische Frauenberufe im Sozial- und Gesundheits­wesen. Die Orientierung der Frauen im Berufswahlprozess an Berufen in diesen Bereichen, wie auch an Berufen in der Dienstleistung, ist von der Vereinbarkeit im Zusammenhang mit Familie geprägt, da sie ein Teilzeitpensum zulassen. Die Lebensplanung spielt also eine bedeutende Rolle bei der Berufsfindung. Solange die Rollenverteilung der Geschlechter sich innerhalb der familiären Situation nicht verändert, wird aus der der ökologischen und auch gesellschaftlichen Sicht die Reproduktion der Genderrollen und die horizontale Geschlechtersegregation weiter begünstigt (Makarova & Herzog, 2013).

2.2.6. Geschlechtergerechtigkeit

Eine Gleichstellung der Geschlechter fördert laut Gildemeister und Hericks (2012) zum einen gleiche Bildungschancen von Mädchen und Jungen während der obligatorischen Schulzeit von der Primar- bis zur Sekundarstufe, zum ande­ren die gleichen Zugangsmöglichkeiten und Chancen zu allen Berufen im Er­werbsleben (Gildemeister & Hericks, 2012, p. 50). Faulstich-Wieland und Horst­kemper (2012) erwähnen zusätzlich zur geforderter Gleichstellung insbesondere die Benachteiligung von Frauen, und dass diese ungleichen Bildungschancen und somit die Differenz zwischen Frauen und Männern dringend abgebaut wer­den müssen (Faulstich-Wieland & Horstkemper, 2012).

Um gegen diese Geschlechterungerechtigkeit überhaupt vorgehen zu können, sind, wie Erlemann (2018) behauptet, die Erkenntnis und das Bewusstsein nötig, dass die Geschlechtergerechtigkeit tatsächlich nach wie vor inexistent ist. Erst dann machen Massnahmen für das Erreichen der Gleichstellung der Geschlech­ter Sinn. Universitäten sollen ihrer Meinung nach mehr Förderprogramme star­ten, um an der Universität den Frauenanteil besonders in den höheren Rängen zu erhöhen. Nur so könne eine Geschlechtergerechtigkeit angegangen werden (Erlemann, 2018).

Franzen, Hecken und Kopp (2004) halten die Teilung des Arbeitsmarktes an sich nicht für das grösste Problem. Die horizontale Segregation, wie in Kapitel 2.2.5. beschrieben, ist die geschlechtsspezifische Segregation. Ist diese jedoch mit der vertikalen Segregation gekoppelt, die die Hierarchieebenen von Berufsgruppen beschreibt, kommt es schneller zu Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Ungleichheitsforschung wird somit bedeutend, da besonders bei der Wirtschaft der westlichen Welt, so auch in der Schweiz, nicht nur Unterschiede im Einkom­men bis zu 7%, beobachten lassen, sondern diesbezüglich auch Unterschiede bei dem Prestige und somit Macht und Ansehen von Männern und Frauen. Die Autorin und die Autoren sehen die Häufung der Geschlechter in bestimmten Be­rufsbranchen als mögliche Ursache für die Unterschiede im Einkommen. Mögli­che Erklärungsansätze wie die Humankapitaltheorie sowie die Sozialisation von Individuen und das Segregationsmodell wurden bereits aufgeführt (Franzen et al., 2004).

Berufliche Vorbilder spielen im Berufswahlprozess als Orientierungshilfe eben­falls eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund sollen diese im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit Berufswahltheorien näher betrachtet werden. Auch sollen gleichgeschlechtliche Vorbilder, besonders auch in geschlechtsuntypischen Be­reichen wie dem MINT-Bereich, näher betrachtet werden.

2.3. Berufswahltheorie

2.3.1. Vorbilder und Berufswahlprozess

Um auf die Vorbilder in der Ausrichtung von Berufswünschen einzugehen, soll die Theorie von Gibson (2004) vorgestellt werden. Er unterscheidet zwischen Verhaltensmodellen, Vorbildern und Mentoren und erklärt, dass Verhaltensmo­delle sowie Mentoren durch Handlungen gestärkt werden. Anders ist dies mit Vorbildern. Diese wirken auf die Individuen und entfalten sich aufgrund ihrer Wirksamkeit. Sie sind zudem nicht an Kontexte und Personen gebunden, wie es beispielsweise bei Mentoren der Fall ist. Die Vorbilder zeigen Ziele auf, die zu erreichen als erstrebenswert gilt. Hier kommen auch erste Berufswünsche auf. Dies geschieht in einem Sozialisationsprozess, der Individuen langfristig im Le­ben begleitet, um die persönlichen Fähigkeiten zu entfalten und zu bestärken. Der Autor zeigt wichtige Eigenschaften positiver Vorbilder auf, hierbei handelt es sich erstens um Ähnlichkeit auf unterschiedlichen Ebenen, wie auch der Ethnizi­tät und des Geschlechts. Des Weiteren nennt Gibson Ähnlichkeiten bei den Zie­len sowie der erwünschten erfolgreichen beruflichen Position (Gibson, 2004, p. 142). Auch Gibson sieht hier infolgedessen die Wichtigkeit von gleichgeschlecht­lichen Vorbildern, denen es nachzueifern gilt.

Gendersensible Vorbilder sind für die Persönlichkeitsentfaltung von Individuen unabdingbar. Wie auch in diesem Kapitel über die Berufswahltheorien aufge­zeigt, sind gleichgeschlechtliche Vorbilder immens wichtig für die Selbstwirksam­keit und die Passung für einen Beruf, besonders in einem geschlechtsuntypi­schen Berufsfeld. Makarova, Aeschlimann und Herzog (2016) nehmen an, dass Vorbilder, insbesondere gendersensible Vorbilder, kontextgebunden gewählt werden (Makarova, Aeschlimann, & Herzog, 2016). Es gibt aber auch Vertreter und Vertreterinnen anderer Meinungen. Drury kam (2011) durch seine Studie zu den Ergebnissen, dass für Frauen auch Männer als berufliche Vorbilder sehr wohl in Frage kommen können, wie auch bei geschlechtsuntypischen Berufsfel­dern im MINT-Bereich (Drury, Siy, & Cheryan, 2011, p. 265ff.).

2.3.2. Forschungsstand Vorbilder und fehlende Vorbilder im Berufswahlprozess

Makarova und Herzog analysierten in ihrer Studie (2014), welche Bedeutung el­terliche Vorbilder bei der Studienwahl ihrer Töchter und Söhne haben. Untersucht wurde, ob Jugendliche gleichgeschlechtliche Vorbilder wählen und welches der beiden Geschlechter sich eher für eine geschlechtsneutrale oder genderuntypi­sche Studien- beziehungsweise Berufswahl entscheidet. Gleichzeitig wurden die Berufe der Eltern berücksichtigt. Die bedeutendste Rolle der Vorbilder aus dem familiären Bereich spielte der Vater, an zweiter Stelle folgte die Mutter und da­nach männliche und als letztes weibliche Verwandte. Auch bei den Peers und dem schulischen Umfeld dominierten die Männer gegenüber den Frauen. Diese Resultate zeigten sich nicht nur bei den Schülern, sondern auch bei den Schüle­rinnen. Im Gegensatz dazu sahen junge Männer Frauen nur selten als Vorbilder (Makarova & Herzog, 2014, p. 47ff.).

Eine weitere Studie aus dem Jahr 2016 von Makarova, Aeschlimann und Herzog bestätigt die Bedeutsamkeit von Vorbildern bei der geschlechtsuntypischen Stu­dien- und Berufswahl von jungen Frauen. Die wichtigsten familiären Vorbilder waren die Eltern, besonders der Vater galt als wichtiges berufliches Vorbild. Auch bei den Geschwistern spielten die Brüder eine grössere Rolle als die Schwestern, wenn es um geschlechtsuntypische Berufe ging, sowie zusätzlich Grossväter und Onkel. Die schulischen Vorbilder beschränkten sich auf Lehrpersonen, die die geschlechtsuntypische Studien- und Berufswahl unterstützten, unabhängig vom Geschlecht der Schüler und Schülerinnen. Auch den Peers fiel eine wichtige Rolle zu, wobei häufiger männliche Kollegen Vorbildfunktionen einnahmen. Be­rühmtheiten wurden nur selten als berufliche Vorbilder beschrieben (Makarova, Aeschlimann, et al., 2016).

Diese Resultate schliessen auf die Bedeutsamkeit von gleichgeschlechtlichen Vorbildern, besonders auch bei der geschlechtsuntypischen Berufswahl von jun­gen Frauen. Sei es in der sozial-kognitiven Theorie von Bandura oder auch in der sozialisationstheoretischen Theorie von Gottfredson, die eine sehr frühe So­zialisation auch seitens der Familie für den Berufswahlprozess voraussetzt. Das Konzept der Selbstsozialisation, bei der nicht die Gesellschaft, sondern das Indi­viduum selbst sich aufgrund seines Selbstbezugs in das gesellschaftliche Sein einordnet, spielt hier eine überaus wichtige Rolle. Bedeutend sind für das Kon­zept der Selbstsozialisation Vorbilder, da sie selbst gewählt werden. Allerdings ist der Stand der Forschung, was die Wirksamkeit von Vorbildern - und beson­ders von fehlenden Vorbildern - angeht, als Erklärungsansatz der Geschlech- tersegregation in der Berufs- und Studienwahl noch zweifelhaft. Studien zeigen auf, dass geschlechterbezogene Rollenbilder und berufliche Vorbilder nicht ver­mittelbar sind. Des Weiteren müssen sie nicht nur in der Schule, sondern auch in allen Lebensbereichen vertreten sein (Makarova & Herzog, 2013).

Die freie Berufswahl bietet in der heutigen Zeit in demokratischen Gesellschaften einerseits Möglichkeiten, andererseits wird die Übernahme von Verantwortung sich selbst und seiner Familie gegenüber gefordert. Ein Beruf sollte gefunden werden, in dem die jeweiligen Bedingungen erfüllt werden können. Passend zu den beruflichen Träumen müssen eventuell Alternativen in Betracht gezogen werden (Gottfredson, 2005). Gottfredson (2002) wirft mit ihrer Theorie die Frage auf, ob Individuen für eine freie Berufswahl tatsächlich auf genügend Freiheiten zurückgreifen können und ob sie genügend Unterstützung seitens der Gesell­schaft erfahren. Laut ihr gibt es Differenzen zwischen den Geschlechtern und den sozialen Klassen, welche die Karrierechancen beeinflussen. Besonderen Wert legt sie auf die Grenzen einzelner Personen. Die Frage, weshalb Kinder sich den Ungleichheiten ihrer Familien beziehungsweise ihrer sozialen Klassen fügen und diese weiter reproduzieren, bevor sie überhaupt selbst an die Grenzen ihrer eigenen Träume stossen, soll mit den unterschiedlichen Berufswahltheorien beantwortet werden. Wie kommt es, dass Individuen, die aus gleichen oder ähn­lichen Verhältnissen stammen, es mal mehr und mal weniger schaffen, ihre Hoff­nungen und Erfolge, und davon abgeleitet, das erträumte Selbstbild umzuset­zen?

Faulstich-Wieland und Scholand (2017) zeigen auf, wie der Begriff Berufs­wahltheorie langsam von dem Begriff Berufsorientierung abgelöst wird. Die Ent­scheidung zu einem Beruf sei keine rationale Wahl, sondern mehr ein Prozess der Orientierung, indem das Individuum sich an den eigenen Wünschen, Interes­sen und Kompetenzen orientiert, um in der Berufswelt Fuss fassen zu können. Auch seien weitere Faktoren wie das Geschlecht, die Schichtzugehörigkeit und die Religion zu beachten. Nun müssen all diese Faktoren vereint werden, um dem Entwicklungs- und Orientierungsprozess eines Individuums die Möglichkeit zur Entfaltung zu geben. Die Autorinnen vergleichen den sozial-kognitiven An­satz von Albert Bandura, den persönlichkeitstheoretischen Ansatz von John L. Holland und den sozialisationstheoretischen Ansatz von Linda S. Gottfredson miteinander (Faulstich-Wieland & Scholand, 2017). Diese Theorien sollen in die­ser Arbeit ebenfalls aufgezeigt werden. Auch soll die Bedeutung der Vorbilder in die Theorien eingeflochten werden.

2.3.3. Sozial-kognitiver Ansatz

2.3.3.1. Theorie

Bandura (1986) beschreibt in seinem lerntheoretischen Ansatz, dass die Selbst­wirksamkeit von Individuen aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihren emotionalen Re­aktionen in einer anstrengenden Situation entsteht. Der Glaube an sich ist ein wichtiger Faktor, auch in Zusammenhang mit Entscheidungen, eine Über- oder Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten gilt es zu vermeiden. Eine Rolle bei der Bildung der Selbstwirksamkeit spielen auch eigene Überzeugungen (Bandura, 1986). Bandura geht laut Faulstich-Wieland und Scholand (2017) davon aus, dass Individuen sich aufgrund ihrer Selbstwirksamkeit für einen Beruf entschlies­sen, deren Bewältigung sie sich zutrauen. Sie kennen die Anforderungen und Fähigkeiten, die von ihnen erwartet werden und fassen einen Entschluss. Diese Fähigkeiten sind nach wie vor oft nach Geschlecht differenziert. Auch Vorbilder spielen in Banduras Theorie eine wichtige Rolle. Studien zufolge orientieren sich Mädchen eher an den Vätern, wenn es um geschlechtsuntypische Berufe geht. Bei der Orientierung von Jungen an den Müttern sieht das anders aus (Faulstich­Wieland & Scholand, 2017, p. 23).

Bandura und Bussey (1999) erklären, welche immense Auswirkung Vorbilder auf die Motivation, die Wertschätzung und die Gefühle haben können. Seien diese Vorbilder nun die eigenen Eltern, also Mutter und Vater, oder die Peers, mit de­nen Kinder täglich zu tun haben oder auch Darstellungen von Vorbildern in den Medien. Individuen bewerten ein Vorbild unter anderem nach seinen Erfolgen. Diese haben Auswirkungen auf die Individuen. So wird festgestellt, dass bei ähn­lichem Einsatz von Kenntnissen und der Fähigkeiten der Vorbilder folglich ähnli­che Erfolge erzielt werden können. Darüber hinaus folgern Bandura und Bussey, dass nicht nur die Erfolge der Vorbilder, sondern auch deren Ängste und die da­mit verbundenen Einschränkungen übernommen werden. Auch die grosse Be­deutung gleichgeschlechtlicher Vorbilder wird angesprochen, da Mädchen wie auch Jungen sich in ihrem Verhalten den Vorbildern des eigenen Geschlechtes anpassen (Bussey & Bandura, 1999). Laut den Autoren sind Vorbilder demnach ein sozialer Mechanismus, der nicht nur Verhaltensmuster, sondern auch Ge- schlechterrollen erklärt (Bussey & Bandura, 1999, p. 689). Dass Lerneffekte durch Beobachtungen entstehen können, aber auch Effekte der Einschränkung dank geschlechterbezogener Sozialisierung bestätigt auch Faulstich-Wieland (Faulstich-Wieland, 2000).

2.3.3.2. Forschungsstand

In zahlreichen Studien wurde aufgezeigt, dass Kinder mehrheitlich Vorbilder wäh­len, die dem eigenen Geschlecht entsprechen, um von ihnen zu lernen. So er­fahren sie auch die von einem Geschlecht ausgehenden Vorteile, aber auch Ein­schränkungen und werden auch im Feld der Berufswahl die Stereotypisierung der Geschlechter zu spüren bekommen und sich mit ihren positiven und negati­ven Erfahrungen an die vorgelebte Berufswahl anpassen. Die Autoren merken an, dass Frauen, die sich weniger oder nicht von gesellschaftlichen Rollenbildern beeinflussen lassen, eine grössere Berufswahlmöglichkeiten haben, da sie sich nicht an Traditionen orientieren und sich somit weniger einschränken lassen (Bussey & Bandura, 1999).

Quimby und De Santis (2006) entwickelten eine Studie, um die Auswirkungen von Vorbildern, besonders die von fehlenden weiblichen Vorbildern, zu untersu­chen. Fehlende weibliche Vorbilder in für Frauen untypischen Berufen sind immer noch ein Hindernis und somit eine Einschränkung in der Berufswahl. Die Autoren bestätigen Banduras sozialkognitive Lerntheorie, dass Vorbilder die Berufswahl grundlegend beeinflussen. Einerseits durch einen direkten Einfluss, indem sie stellvertretend für Lernerfahrungen stehen, anderseits auch indirekt dadurch, dass sie die Selbstwirksamkeit der Schülerinnen stärken, auch in für Frauen un­gewohnten Berufsfeldern. Die Ergebnisse der Studie zeigten klar, dass Betreu­ungsprogramme sowie Unterstützung im eigenen sozialen Umfeld nötig sind und geschätzt werden, um die Selbstwirksamkeit zu stärken und die Aspiration der Schülerinnen für nicht traditionelle Berufe wie Berufe im MINT-Bereich zu unter­stützen. Die Wichtigkeit von weiblichen Vorbildern, die Karriere und Familie unter einen Hut bringen, ist enorm (Quimby & DeSantis, 2006; Quimby & O'Brien, 2004).

Weitere Studien mit ähnlichen Ergebnissen, die Vorbilder in geschlechtsuntypi­schen Berufsfeldern betreffen, wurden ebenfalls im Forschungsstand des Kapi­tels 2.3.2. Vorbilder aufgeführt.

2.3.4. Persönlichkeitstheoretischer Ansatz

2.3.4.I. Theorie

Ein weiterer theoretischer Erklärungsansatz, der die Berufswahl zu erklären ver­sucht, ist die Theorie von John Holland. Mosberger, Schneweiss und Steiner (2012) erklären Hollands Konzept, indem sie von Typologien von Personen und Umwelt sprechen. Dies macht es möglich, Persönlichkeitsmuster aufzuzeigen sowie Berufe in Unterteilungen zu gliedern. Wie bei Bandura und auch später bei Gottfredson geht es bei dieser Klassifizierung darum, eine Passung von Person und Beruf zu erreichen (Mosberger, Schneeweiss, & Steiner, 2012, p. 17f.). Hol­land (1997) spricht von einem passenden beruflichen Umfeld. Faktoren wie die Selbstbewertung und die Intelligenz beeinflussen während der Suche nach ei­nem Beruf die Passung an ein Niveau. Die aus der Klassifizierung resultierenden sechs Idealtypen, die aufgrund ihrer Interessen, Kompetenzen und Charakterei­genschaften definiert werden, sind die realistischen, die intellektuellen, die sozi­alen, die konventionellen, die unternehmerischen und die künstlerischen Persön­lichkeitstypen, denen jeweils eine bestimmte berufliche Orientierung, eine be­stimmte Umgebung zugewiesen wird. Diese Kategorien sind die gleichen sechs wie bei den Persönlichkeitstypen. Nun gilt, je höher die Passung ist, umso erfolg­reicher ist die Berufswahl verlaufen. Holland spricht von dem RIASEC-Modell, die aus den englischen Anfangsbuchstaben der sechs differenten Typen (realis­tic, investigative, artistic, social, enterprising, conventional) zusammengesetzt wird (Holland, 1997).

Von hier lässt sich der Begriff der Passung ableiten, der zwischen der eigenen Passungswahrnehmung und dem erwünschten Beruf die Übereinstimmung sichtbar macht. Das Selbstkonzept, insbesondere das berufliche Selbstkonzept, wird mit der eigenen Leistungsfähigkeit in Verbindung gebracht, nämlich mit der tatsächlichen und mit der erwünschten Leistung in einem bestimmten Fachbe­reich, um ein positives Selbstbild zu schaffen. Die Studie der Autorinnen bestä­tigt, dass, je geringer die Passungswahrnehmung ist, umso niedriger ist das be­rufliche Selbstkonzept, hier Fähigkeitsselbstkonzept genannt. Die Passungs­wahrnehmung ist somit ein unausweichlicher Aspekt der Berufswahl (Gerber- Schenk, Rottermann, & Neuenschwander, 2010). Wie Osborne und Jones (2011) beschreiben, werden einige Wahrnehmungen priorisiert, nämlich diejenigen, die veranlassen, sich lebendig zu fühlen und das Selbstbild kreieren. Diese sind stets durch Motivation und Interessen begleitet. Das Gebiet der Wissenschaft und das Selbstbild innerhalb der Wissenschaft soll nun näher betrachtet werden. Die Au­torinnen nehmen an, dass das Ausmass der Identität in einem wissenschaftlichen Fach von der Motivation und der Leistung abhängt. Diese bestimmen das Selbst­wertgefühl und umgekehrt. Auf diese Weise entstehen Konzepte, die von einem bestimmten Gebiet (z.B. Stolz über die Fähigkeit, in der Naturwissenschaft zu bestehen) zum anderen variieren. Die unterschiedlichsten Konzepte ergeben am Ende das Selbstbild. Nicht nur Attribute, sondern auch die eigenen Stärken und Kompetenzen werden eingeschätzt, um die Passungswahrnehmung in einem Gebiet und somit das Selbstbild zu definieren. Dieser Definition liegt jedoch nicht nur die Leistung zu Grunde, sondern auch Gefühle, die die Vorstellung über die eigene Leistung beschreiben. Ob nun eine Über- oder eine Unterschätzung in einem bestimmten Fach vorliegt, wird aufgrund des Zusammenspiels von Pas­sungswahrnehmung, Selbstkonzept und eben diesen Gefühlen statuiert (Osborne & Jones, 2011).

Eccels und Wigfield (2002) nehmen Bezug auf die Selbstwerttheorie von Coving­ton (1992). Diese Theorie besagt, dass Kinder und Jugendliche versuchen, sich selbst und andere durch akademische Leistungen nicht zu enttäuschen, um das Selbstwertgefühl und somit ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten. Das Ziel ist, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben, um sich Respekt und Anerkennung zu erarbeiten. Covingtons Selbstwerttheorie geht davon aus, dass, um schuli­sche Anerkennung zu erhalten, die Wettbewerbsfähigkeit eine immense Rolle spielt. Ob eine Person erfolgreich ist oder bei dem Versuch, etwas Grosses zu erreichen, versagt, ist nicht so bedeutend, denn das Selbstwertgefühl und das positive Selbstbild bleiben trotzdem bestehen. Die Fähigkeit zu kämpfen führt zu positiven Leistungen und diese bedingen den Selbstwert. Die fälschliche An­nahme der Schülerinnen und Schüler, dass sie nicht versagen dürfen, führt je­doch dazu, nicht zu viel Risiko einzugehen (Covington, 1992). Eccles und Wig­field beschreiben weiter, dass unterschiedliche Strategien benutzt werden, um schulische Misserfolge zu umgehen. Viele Kinder haben Ausreden, wieso ihre Fähigkeiten sich nicht weiterentwickeln oder sie zögern bei anspruchsvollen Auf­gaben. Sie bilden folglich ein geringeres Selbstbild und einen geringeren Selbst­wert aus (Eccles & Wigfield, 2002, p. 122f.).

Die Bedingungen der Passungswahrnehmung stehen Neuenschwander (2011) zufolge in Zusammenhang mit der Entwicklung der schulischen und der sozialen Kompetenzen. Je besser die schulischen Kompetenzen entwickelt sind und je besser ein Schulabschluss ist, eine desto grössere Auswahl an beruflichen Mög­lichkeiten stehen einem Individuum offen. Auch die sozialen Kompetenzen un­terstützen den schulischen Weg. Die Förderung dieser Kompetenzen kann Se­lektionsentscheide beeinflussen, wie auch das Geschlecht oder auch die Her­kunft von Schülerinnen und Schülern. Diese sind die askriptiven Merkmale von Personen. Die andere Seite der Passung betrifft den Beruf beziehungsweise den Arbeitsplatz (Neuenschwander, 2011).

Faustich-Wieland und Scholand (2017) sprechen von den Fähigkeiten und Inte­ressen aufgrund derer Hollands Persönlichkeitsmerkmale entstehen. Sie zeigen zusätzlich auf, dass durch die Passung auch die Zufriedenheit des Individuums steigt (Faulstich-Wieland & Scholand, 2017). Gerber-Schenk, Rottermann und Neuenschwander (2010) beschreiben Passung als eine «Übereinstimmung zwi­schen der Persönlichkeit und den Merkmalen des beruflichen Umfelds» (Gerber- Schenk et al., 2010, p. 121f.). Die Berufswahl wird von Herzog, Neuenschwander und Wannack (2004) als ein andauernder und veränderbarer Prozess beschrie­ben. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen und Fähigkeiten sowie die Wahl einer Berufsgruppe oder eines Berufes mit Unterstützung des sozialen Umfeldes an sich ist somit nicht punktuell. Hier spielen Eltern, Familie und Be­kanntenkreis als soziale Ressourcen eine wichtige Rolle (Herzog, Neuenschwander, & Wannack, 2004).

2.3.4.2. Forschungsstand

In diesem Kapitel sollen zwei unterschiedliche Ansätze zur Passung in der Be­rufswahl vorgestellt werden. Oft wird auch von Match und Mismatch gesprochen. Das sogenannte Match be­ziehungsweise das gegenteilige Mismatch kommen laut Bauer und Gartner (2014) zustande, wenn eine arbeitssuchende Person und eine offene Stelle zu- sammenpassen oder eben nicht. Besonders in der Arbeitsforschung wird der Be­griff des Mismatch verwendet, wenn eine unüberwindbare Diskrepanz bei der Arbeitssuche herrscht. Um jedoch die Passung überhaupt prüfen zu können, muss die individuelle Passungswahrnehmung entwickelt sein, diese Matchingef- fizienz entscheidet später über einen eventuellen Eintritt in einen Beruf (Bauer & Gartner, 2014). Mismatch kann auf unterschiedliche Art und Weise verstanden werden. Leitner, Prenner & Wagner (2008) nennen als wichtigste Elemente den Qualifikations-Mismatch und den regionalen Mismatch. Hier geht es jeweils um Angebot und Nachfrage und der jeweiligen Passung zwischen einer arbeitssu­chenden Person und einer zu besetzenden Stelle (Leitner, Prenner, & Wagner, 2008, p. 185).

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Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Geschlechtergerechtigkeit im Physikunterricht der Sekundarstufe 2. Wahrnehmung und Interpretation der Geschlechtergerechtigkeit aus Schülerinnenperspektive
Note
2
Autor
Jahr
2020
Seiten
113
Katalognummer
V905573
ISBN (eBook)
9783346251534
ISBN (Buch)
9783346251541
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geschlechtergerechtigkeit, physikunterricht, sekundarstufe, wahrnehmung, interpretation, schülerinnenperspektive
Arbeit zitieren
Erna Bojt (Autor:in), 2020, Geschlechtergerechtigkeit im Physikunterricht der Sekundarstufe 2. Wahrnehmung und Interpretation der Geschlechtergerechtigkeit aus Schülerinnenperspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/905573

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