Die Typologie des Unbekannten

Vom Anderen zum Fremden


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

21 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Das ‚Andere‘ in der Antike > Michael Krämer
Israel
Griechenland
Rom

III. Das ‚Andere‘ im Mittelalter > Franz Martin Wimmer
Der Barbar
Der Exote
Der Heide
Kurze Bilanz

IV. Vom ‚Anderen‘ zum ‚Fremden‘ > Ralf Schlechtweg-Jahn
authentischer Zugang > Objektivität
systematisch-wissenschaftliche Teil > Methodik
Kurze Bilanz

V. Entdeckung der ‚Fremdheit‘ > Descartes, Kant und Hegel

VI. Vollendung der ‚Fremdheit‘ > Waldenfels

VII. Resümee

VIII. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Jede Gesellschaft, die ihren Teilnehmern als komplex, unübersichtlich und diffus erscheint, muss in ihren Fundamenten stets bedroht sein, da sie nicht verstanden, sondern in ihrer Struktur nur erahnt werden kann. Sicherlich, das Erahnen kann zur scheinbaren Sicherheit ‚aufgeplustert‘ und stetig verinnerlicht werden, - dies geschieht dann mittels Weltanschauungen, Ideologien oder Religionen, die mit ihrem normativen Absolutheitsanspruch nicht hinterfragbare Wahrheiten verkünden und damit eine ebenso nicht hinterfragte Gültigkeit aufweisen. Problematisch aber wird es, wenn Weltanschauungen wegfallen oder einfach nur kritische Fragen nach Wesensart und Gültigkeit scheinbar bekannter Sachverhalte gestellt werden – dann nämlich wird der Mangel an objektiver Klarheit einsichtig. Man frage etwa nach dem unbeschränkten Fundament einer zivilisatorischen Gesellschaft:

‚Warum darf ich nicht morden? ‘

Pragmatisch kann diese Frage ohne weiteres geklärt werden – ein Pragmatismus, der jedoch nicht aus einer systematischen Grundlagen-Ethik resultiert, sondern eben nur aus einem Ethik-Konsens, der sich mit wandelnden Zeiten, Voraussetzungen und Mentalitäten schneller ändern könnte, als uns lieb ist. Und aus diesem latenten Gefühl schwammiger Ethik- und Zivilisationsfundamente resultiert ein ebenso latentes Gefühl ständiger Bedrohung. Darum auch versucht jede Gesellschaft aus der Abgrenzung zu anderen Gesellschaftsformen ihre eigene Identität zu gewinnen[1], und zwar derart, dass sie die ‚Anderen‘ offen oder verdeckt diskreditiert, um dadurch die eigene Lebens- und Organisationsform als gut und erfolgreich zu beschreiben . [2] Interessant ist nun, dass die philosophische Perspektive eine Verschiebung von dem „Anderen“ zu dem „Fremden“ in Philosophie, Theologie, Sozialwissenschaften, Psychologie, außerdem Anthropologie und Ethnologie ebenso Sprachwissenschaft sowie in einer ganzen Reihe anderer wissenschaftlicher Disziplinen erfahren hat. Die Seminararbeit möchte nun anhand mehrerer Aufsätze den begriff- und philosophiegeschichtlichen Weg vom ‚Anderen‘ zum ‚Fremden‘ skizzieren. Die These soll dabei sein, dass es das ‚Fremde‘ vor Descartes nicht gab – wenn es auch bereits mancherlei Tendenzen zu ihm zu verzeichnen gibt.

II. Das ‚Andere‘ in der Antike > Michael Krämer

Die These soll lauten, dass das Problem des Fremden in der Zeit der Antike und in der Zeit des Mittelalters ein nicht existentes Problem war – schon darum nicht existent, da die bedrängte Welt des Einzelnen, das selten über das nähere Dorfgelände hinauskam, gar nicht den Reichtum an Eindrücken haben konnte, dessen der Mensch des 19. oder 20. Jahrhunderts teilhaftig wurde. Geburt, Leben und Tod fanden für die meisten am Rande der Ackerscholle statt, im geregelten Ablauf der Jahreszeiten, der Hochzeitsfeste, der Kriege und der Hungersnöte. Mag nun auch der Kosmos des Einzelnen bedrängt gewesen sein – für seine Gesellschaft war er es nicht. Aber ‚die’ Gesellschaft war eine sakral dominierte Institution – und der Einzelne ebenso wie die Gesamtheit wussten immer, wohin die Reise geht. Hier zeigt sich auch, dass das Orientierungssystem ‚Mythos‘, später dann ‚Religion‘, alle unbekannten Phänomene einzuordnen verstand und das ‚Fremde‘ zu dem ‚Anderen‘ machte, mit dem man sich gerade in der Antike gut zu arrangieren verstand. Exemplarisch seien hier drei gesellschaftliche Verhaltensweisen dem ‚Anderen‘ gegenüber vorgestellt, die auch in ihrer jeweiligen Verschiedenheit eine grundlegende pragmatische Operationalität gegenüber dem ‚Anderen‘ aufzeigen.[3]

Israel

Kennzeichnend für das Volk Israel ist das Geschenk Gottes, das aus dem Alten Bund resultierte: Kanaan – das gelobte Land. Ein verheißenes, nicht aber unbewohntes Land, bevölkert von unbekannten Volksstämmen mit eigenen Kulturen, Religionen und Lebensweisen. Die Folgen der Besiedlung waren Abgrenzungserscheinungen konflikthafter Natur: Die anderen Völker wurden zum ‚Gräuel’ vor dem Angesicht Jahwes stilisiert und damit zur Folie, vor der ein eigenes Volksbewusstsein entsteht. Zugleich machten jedoch kleine aber einflussreiche Volksgruppen die Erfahrung des babylonischen Exils, was zu einem modifizierten Umgang mit den ‚Anderen‘ führte – schließlich hatte man am eigenen Leib erfahren, was Ausgrenzung und Diskriminierung bedeuten, was dann zu einem veränderten Umgang mit den Anderen führte.[4]

Griechenland

Die Topographie Griechenlands (geöffnete Täler und schroffe Gebirgsketten) begünstigte die Ausbildung einzelner Polis und verhinderte damit indirekt die Erschaffung einer vorklassischen oder klassischen Nation. Umso wichtiger wurden die diplomatischen Kontakte (und ihre zunehmende Ritualisierung) mit den unmittelbaren Nachbarn (z.B. die Olympischen Spiele); man war sich darum der ‚Anderen‘ stets bewusst und der ‚Xenos‘ war in Griechenland gleichermaßen der ‚Andere’ als auch der Gastfreund. Neben den Spielen war das gemeinsame Band die Sprache – und die nicht griechisch Sprechenden galten „(…) zumindest seit der Zeit der griechischen Klassik als ‚Barbaroi‘ also als Menschen, die lautmalerisch eine Sprache sprachen, die sich für die Griechen nach ‚Rhabarber‘ anhörte.“[5] Der Begriff des ‚Barbaren’ allerdings war anfangs noch nicht negativ konnotiert.[6] Interessant ist der Wandel, der dann im 4. Jahrhundert einsetzte. Der Barbar wurde zum Sinnbild des Schlechten, des Abartigen. Auch bei Aristoteles und Platon ist die feindliche Haltung zu spüren[7] ; eine Haltung, die sich aber wieder ändern sollte: „Die Entwicklung des Hellenentums zum Hellenismus hat im aber Umgang mit dem Anderen insofern Veränderungen mit sich gebracht, als das Andere zur Selbstverständlichkeit wurde. Die Nachfolger Alexanders herrschten mit den Mitteln anderer Völker über ihr Besitztum: ägyptische, orientalische Herrschaftsformen standen neben den Errungenschaften des alten Griechenland, Athens oder Lakedaimons.“[8]

Rom

Rom scheint von seinen Ursprüngen her eine eher monolithische Gesellschaft gewesen zu sein Die Kriege in den Zeiten des Erstarkens römischer Macht wirkten naturgemäß identitätsstiftend, selbst wenn sie auch bisweilen in Niederlagen endeten. Erst in einer späteren Zeit des großen Imperiums kamen wirkliche Fragen des Andersseins auf die Römer zu. Und hier zeigt sich eine eher pragmatische Umgangsweise mit dem ‚Anderen‘ als eine theoretische. Die eigene Götterwelt wurde ständig erweitert – im Pantheon war schließlich genug Platz. Auf diese Weise wurde, was ‚anders‘ schien, unmittelbar und problemlos integriert.

III. Das ‚Andere‘ im Mittelalter > Franz Martin Wimmer

Alle drei vorgestellten Verhaltensweisen gegenüber dem ‚Anderen’ zeugen von einer situationsbedingten Pragmatik. Kanaan musste besiedelt werden – also wurden die bisherigen Siedler vertrieben. Griechenland war sowieso nie eine Nation – also konnte man auch mit ‚Barbaren‘ gut Handel treiben. Und die Größe des Imperiums Romanum und sein unbedingter Wille zum Pax Romana ließ eben das Pantheon, sowie die Steuerlisten des Fiskus wachsen, ohne dass man sich vor weltanschauliche Probleme gestellt sah. Als jedoch das identitätsstiftende Christentum eine allgemeine und verbindliche Kultur im nachrömischen europäischen Ländergemisch begründete, stiftete dies auch eine Verschiebung der Perspektive auf den ‚Anderen’.[9]

So am Beispiel der Entdeckung Amerikas, denn für die Europäer der frühen Neuzeit sind die Einwohner der Neuen Welt, sobald man sich im Klaren war, nicht Indien oder die Ostküste Asiens vor sich zu haben, das ‚Andere’ par excellence, dem man aber mittels eines altbewährten ‚Wahrnehmungskataloges‘[10] souverän begegnen konnte: „Denn schon für eine ganze Reihe von unbekannten Völkerschaften des Ostens und des Südens hatte die mediterran-antike, und später die europäisch-christliche Kultur eine Typologie zur Verfügung (…).Diese Typologie war im übrigen recht fantastisch, doch hatte man sich eben daran gewöhnt, und so war die Vorstellung von den Kopflosen (die Augen, Nase, Mund auf der Brust haben), den Leuten mit rückwärtsgewandten Füßen, den Einäugigen, Hundsköpfigen, Sechsarmigen usf. ganz geläufig.“[11]

Solche Veränderungen oder Varianten der menschlichen Spezies dachte man sich auch in den noch unbekannten Weltteilen, von denen undeutliche Kunde schon da war und als erkannt wurde, dass die Neue Welt nicht ein abgelegener schon von Marco Polo bereister Teil der Alten Welt war, fanden: „(…) häufig jene alten Kategorien der Fabelwesen wieder Eingang in die Beschreibungen und Darstellungen, zumindest dort, wo es sich um noch nicht eroberte Gebiete handelte.“[12]

[...]


[1] So ließe sich etwa auf Huntingtons großen Wurf hinweisen: den „Kampf der Kulturen“.

[2] Vgl. Lofland, L.: A world of strangers: Order and action in urban public space. New York 1973. S. 17 f..

[3] Vgl. ab hier Krämer M.: Angst vor dem anderen ? Anmerkungen zum Fremden, zum Anderen und vielleicht auch zum „ganz Anderen“. In: http://www.drmkraemer.de/FREMD.HTM. Als Internetquelle ist dementsprechend auch keine Seitenzahl zu eruieren.

[4] Siehe ebda.: „Die Anderen sind Gäste des Volkes Israel. Sie werden, jedenfalls der Gesetzgebung nach, ähnlich behandelt wie die unmittelbaren Mitglieder dieser Gesellschaft. Allerdings steckt hinter vielen dieser Maßgaben der Wunsch, daß die Religion Israels zur einzigen Religion werden möge.“

[5] Siehe Ebda.

[6] Vgl. Dihle, A.: Die Griechen und die Fremden. München 1994. S. 37: „(…) dieses ungebrochene, positive Interesse an der fremden Welt.“

[7] Bei Aristoteles z.B. die Behauptung, Sklave und Barbar seien dasselbe (Politik 1252b 9). Platon verteidigt den athenischen Staat: „Daher ist der Stadt ein ganz reiner Haß eingegossen gegen fremde Natur.“ (Menexenos, 245 c-d).

[8] Siehe Krämer.

[9] Vgl. ab hier Wimmer, F. M.: Barbaren, Exoten und Heiden - zur Wahrnehmung der Anderen. In: Vorlesung zur interkulturellen Philosophie http://homepage.univie.ac.at/franz.martin.wimmer/1985Barbaren.html.

[10] Man denke etwa an Conrad von Megenbergs „Puech der Natur“ oder an die „Weltchronik“ des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel, die beide zur Zeit der Fahrten von Columbus recht verbreitet waren. Aber auch die Reiseberichte des Ibn Battuta, des Marco Polo oder Wilhelms von Roebroek haben viel dazu beigetragen.

[11] Siehe ebda.

[12] Siehe ebda.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Typologie des Unbekannten
Untertitel
Vom Anderen zum Fremden
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Husserl-Archiev Freiburg)
Veranstaltung
Interdisziplinäres HS Die Figur des Fremden und der Prozess des Übersetzens
Note
2
Autor
Jahr
2007
Seiten
21
Katalognummer
V90597
ISBN (eBook)
9783638048071
ISBN (Buch)
9783638956635
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Typologie, Unbekannten, Interdisziplinäres, Figur, Fremden, Prozess
Arbeit zitieren
David Liebelt (Autor:in), 2007, Die Typologie des Unbekannten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90597

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