"Eine Frage der Glaubwürdigkeit" - Die Darstellung sexuellen Missbrauchs in den Printmedien am Beispiel des Kinderarztes F. Wurst


Diplomarbeit, 2005

153 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Definition

3 Die Fakten: Wie viele Kinder werden sexuell missbraucht?
3.1 Der Streit um Daten
3.2 Wer sind die Opfer ?
3.3 Alter der Opfer

4 Wer sind die Täter?
4.1 Alter der Täter
4.2 Innerfamiliärer und außerfamiliärer sexueller Missbrauch
4.3 Psychosoziale Merkmale
4.4 Strategien und Vorgehensweisen der Täter

5 Die Umstände
5.1 Soziale und familiäre Hintergründe
5.2 Häufigkeit und Dauer
5.3 Die Folgen
5.3.1 Körperliche Verletzungen
5.3.2 Körperliche und psychosomatische Folgen
5.3.3 Emotionale Reaktion/Selbstwahrnehmung
5.3.4 Autoaggression
5.4 Folgen für das soziale Verhalten
5.5 Folgen für die Sexualität

6 Sexueller Missbrauch im Diskurs
6.1 Die öffentliche Diskussion – auch ein Medienereignis
6.1.1 Der Feministische Ansatz
6.1.2 Machtstrukturen und Klischees werden mit Hilfe der Medien aufgedeckt
6.1.3 Der sexuelle Missbrauch als Sensation
6.1.4 Kritik an der feministischen Theorie
6.1.5 Missbrauch mit dem Missbrauch
6.2 Der Familiendynamische Ansatz
6.2.1 Kritik am Familiendynamischen Ansatz
6.2.2 Feministischer contra familiendynamischer Ansatz
6.3 Der Survivor-Diskurs
6.3.1 Das Geständnis und der Experte
6.3.2 Theoretikerinnen ihrer eigenen Erfahrungen
6.3.3 Den Opfern glauben?

7 Der Fall Franz Wurst
7.1 Schuldbekenntnisse
7.2 Das Motiv
7.3 Das Verhältnis zwischen Thomas H. und Franz Wurst
7.4 Franz Wurst wird des sexuellen Missbrauchs und der Anstiftung zum Mord beschuldigt
7.5 mutmaßliche Missbrauchsopfer melden sich
7.6 Aussagen von mutmaßlichen Missbrauchsopfern und Mitarbeitern
7.7 Deutscher Sachverständiger belastet Wurst schwer
7.8 Plädoyers und Urteil

8 Diskursanalyse von Medienberichten über den Fall Franz Wurst
8.1 Methodischer Zugang
8.1.1 Forschungsziel
8.1.2 Zur Methode der Diskursanalyse
8.1.3 Vorgehen bei der Untersuchung
8.2 Institutioneller Rahmen
8.2.1 Das General-Interest-Magazin „News“
8.2.2 Das Konzept
8.2.3 Leserschaft
8.2.4 Zur Heftausgabe des zu analysierenden Artikels
8.3 Das Nachrichtenmagazin „Profil“
8.3.1 Das Konzept
8.3.2 Die Leserschaft
8.3.3 Zur Heftausgabe des zu analysierenden Artikels
8.4 Zur Textoberfläche des News-Artikels
8.4.1 Text und Bildgestaltung des Artikels
8.4.2 Inhaltliche Gliederung
8.4.3 Zusammenfassung
8.4.4 Sprachliche Analyse
8.5 Zur Textoberfläche des Profil-Artikels
8.5.1 Text und Bildgestaltung
8.5.2 Inhaltliche Gliederung
8.5.3 Zusammenfassung
8.5.4 Sprachliche Analyse

9 Zusammenfassende Interpretation

10 Diskussion

Literatur

Anhang

1 Einleitung

Über sexuellen Missbrauch an Kindern lesen wir fast täglich in der Zeitung. Sexuelle Gewalt ist ein Thema, das wohl leider nie an Aktualität verlieren wird, denn wir alle können betroffen sein. Bei manchen Familien entsteht die Sorge, das Kind könnte zum Opfer werden, überlässt man es nur eine Stunde dem Babysitter.

In dieser Arbeit möchte ich untersuchen, wie sexueller Missbrauch in den Medien dargestellt wird. Schließlich unterlag die Diskussion über sexuellen Missbrauch einem großen Wandel.

Seitdem Freud seine Verführungstheorie widerrufen hat und natürlich auch schon in der Zeit davor, machte man Kinder, die von ihrem Missbrauchserlebnissen berichtet haben, oft selbst verantwortlich für die Misere. Schließlich würden sich Kinder nach körperlicher Zuwendung sehnen. Einfach war es natürlich, die Erzählungen ins Reich der Phantasie zu verbannen. Jungen Mädchen wurde schon einmal die Schuld in die Schuhe geschoben, war doch der Rock zu kurz und der Ausschnitt zu üppig.

Ende der Sechziger wollte man alle Sexualtabus brechen und Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern wurde zunehmend als positive Erfahrung gewertet. Die spießige Moral und die Triebunterdrückung wurden aufs Schärfste kritisiert. Man wertete die Unterdrückung von Sexualität als Fundament von Herrschaft und Kommunen wurden gegründet. Solche Tumulte waren natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien.

Damals wurde sexueller Missbrauch als Einzelfall angesehen. Das sollte sich bald ändern. In den 70er und 80er Jahren machten zuerst die Frauenbewegungen sexuellen Missbrauch zum Thema. Dabei spielten die Medien in punkto Aufklärungsarbeit eine große Rolle. Sie sprangen ein, wenn es darum ging, Machstrukturen, die sexuellen Missbrauch begünstigen, aufzuzeigen, oder Klischees, die kleinen Mädchen die Schuld am Missbrauch in die Schuhe schob, zu demontieren. Auch mit dem Mythos vom unbekannten, geistig abnormen Triebtäter wurde aufgeräumt. Natürlich waren den Medien Frauen, die ihr Schweigen über ihre schrecklichen Erlebnisse in der Kindheit brachen, auch sehr willkommen.

In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Thema viel diskutiert. Den Frauenbewegungen wurde oft vorgehalten, das Thema grundlos aufzubauschen und die Dunkelziffer der Opfer kräftig in die Höhe zu treiben. Außerdem würden sie dazu neigen, den Täter zu dämonisieren und sie hätten das Thema nur aufgegriffen, um die Frauenfrage am Leben zu erhalten und einen weiteren Trumpf im Kampf gegen die Männerwelt auszuspielen.

Heute wissen die Leser weitgehend über die Fakten zum Thema bescheid. Aufklärungsarbeit gibt es für die Medien also fast keine mehr zu leisten. Im Vordergrund steht heute genauso wie in den siebziger und achtziger Jahren die etwas sensationalistische Berichterstattung. Aber wie wird mit dem Thema heute umgegangen? Wird der Täter immer noch dämonisiert? Oder wie geht man mit einem Täter um, der ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft ist? Werden die Erzählungen von Kindern immer noch ins Reich der Phantasie verbannt, oder glaubt man ihnen ohne wenn und aber? Diese Fragen sollen anhand eines aktuellen Beispiels, das auch in den Medien breit diskutiert wurde, untersucht werden.

Zu Beginn meiner Arbeit gebe ich einen Überblick über die wichtigsten Fakten über sexuellen Missbrauch. Anschließend skizziere ich die wichtigsten Diskurse zum Thema. Darauf folgt meine Analyse von zwei Artikeln, die den Fall des Kinderarztes Franz Wurst auf unterschiedliche Weise beleuchten.

2 Definition

Um über ein Forschungsgebiet wissenschaftlich kommunizieren zu können und mögliche Missverständnisse zu vermeiden, ist es notwendig, Ausdrücke genau zu präzisieren. Definitionen sind beim Forschungs- und Arbeitsbereich und natürlich auch in juristischer Hinsicht von großer Bedeutung, da durch sie dieser Bereich genau umrissen wird. Ergebnisse von wissenschaftlichen Arbeiten und epidemiologischen Ergebnissen, also z.B. Ergebnisse einer Erhebung von Missbrauchsfällen, Ursachen und Folgen, werden erst verständlich und aussagekräftig, wenn man weiß, auf welche Definition die Daten zurückzuführen sind.

Besonders bei der Erhebung der Anzahl der Missbrauchsfälle ist die Definition bedeutend. Hier können wesentliche Unterschiede bei den Ergebnissen auftreten. Ohnehin ist die Anzahl der Missbrauchsfälle sehr umstritten.

In der deutschen Diskussion um sexuellen Missbrauch standen körperliche Verletzungen lange Zeit im Mittelpunkt. Sexueller Missbrauch als eine Form der körperlichen Misshandlung wurde dort zum Thema, wo er mit massiver körperlicher Verletzung, Tötung oder Schwängerung von Kindern verbunden war. Erst in den letzten zwanzig Jahren hat man das Verständnis von Kindesmisshandlung erweitert und es wurde schließlich auch sexueller Missbrauch als Kindesmisshandlung verstanden.[1]

Bagley erklärt den Begriff des „Missbrauchs“ wie folgt: „Sexueller Kindesmissbrauch, ... , ist zumindest ein körperlicher Kontakt mit dem unbekleideten Genital- oder Brustbereich des Kindes (eingeschlossen ist ein Kontakt unter der Kleidung), der vom Kind oder Jugendlichen nicht gewollt ist. Ein Kind oder ein Jugendlicher wird definiert als jemand, der den 17. Geburtstag noch nicht erreicht hat.“[2]

Hier sind wir schon bei einem Streitpunkt angelangt: Kann man kein Nein des Kindes als Einverständnis zu sexuellen Handlungen werten? Und kann man eine Zustimmung eines Kindes zu sexuellen Handlungen als vollwertig ansehen, obwohl es die Situation nicht einschätzen kann?

Engfer erklärt den Begriff des Missbrauchs damit, dass meist ein männlicher, mit dem Kind bekannter oder verwandter Erwachsener dieses zur eigenen sexuellen Stimulierung und zu dessen Schaden – unter Ausnutzung des vorhandenen Macht- und Kompetenzgefälles – missbrauche. Das Kind oder der Jugendliche könne sexuellen Aktivitäten nicht verantwortlich zustimmen, weil die Tragweite, für es bzw. ihn/sie nicht zu übersehen sei.[3]

In neueren Definitionen steht der Machtmissbrauch des Erwachsenen, die Ausnutzung des Autoritätsverhältnisses, die Manipulation des Kindes im Mittelpunkt.

„Bestimmt man den Kindesmissbrauch aus psychosozialer Sicht, so ist jede Handlung, die an einem Kind vollzogen wird und der sexuellen Erregung des Täter oder der Täterin dient, als sexueller Missbrauch anzusehen – gleichgültig, ob jemand einem Kind pornographisches Material zeigt, sich exhibitioniert, um seine sexuelle Erregung zu demonstrieren, oder unzüchtige Berührungen an einem Kind durchführt bzw. an sich selbst durchführen lässt. Missbrauch liegt also vor, wenn das Kind zu einem ,Objekt´ der Machtbegierde des Täters gemacht wird, einschließlich der Tatsache, dass es sich aufgrund seiner körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Entwicklung sich noch nicht gegen Übergriffe von Erwachsenen wehren kann und auch nicht in der Lage ist, die Tragweite von Handlungen zu erfassen oder ihnen vollbewusst zuzustimmen. Sexualmissbrauch ist Machtmissbrauch. Die „Tateinheit“, ist daher häufig mit der Ausnutzung des Autoritätsverhältnisses verknüpft. Die Machtstrukturen und die Abhängigkeitsverhältnisse, unter denen das Kind aufwächst, sind also in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung.“[4]

3 Die Fakten: Wie viele Kinder werden sexuell missbraucht?

Große Uneinigkeit herrscht, wenn man sich verschiedene Statistiken über die Verbreitung sexuellen Missbrauchs von Kindern ansieht. Die Ergebnisse von Studien, die die Anzahl von Opfern sexueller Gewalt erhoben haben, sind massiv umstritten. Seit den 80er Jahren belegen Studien die dramatischen Ausmaße des sexuellen Missbrauchs. Jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge wird im Schnitt als Opfer sexueller Misshandlungen gesehen. Andererseits wird von einer Missbrauchspanik, mangelhaften Studien, fehlerhaften Auswertungen und oberflächlicher Forschung gesprochen. In den Vereinigten Staaten diskutiert man seit Mitte der 80iger Jahre heftig über das Ausmaß sexuellen Kindesmissbrauchs.

Über das Ausmaß sexuellen Missbrauchs gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen. Bereits sehr früh wurden Studien über Kindesmissbrauch gemacht (z.B. Hamilton, 1929; Landis et al. 1940). Einer breiteren Öffentlichkeit wurden diese Studien aber nicht bekannt. Ende der siebziger Jahre interessierte man sich wieder dafür, da in den USA vermehrt Fälle sexueller Ausbeutung von Kindern im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen.

Verschiedene Studien und Institutionen liefern höchst unterschiedliche Ergebnisse. Ein Blick auf derzeit vorliegende Studien ist daher nötiger denn je.

3.1 Der Streit um Daten

Dirk Bange befragte mittels Fragebogen 518 Studentinnen und 343 Studenten der Universität Dortmund nach sexuellen Missbrauchserfahrungen. Als sexueller Missbrauch wurden alle sexuellen Kontakte bewertet, die vor dem 16. Lebensjahr gegen den Willen der Befragten geschahen oder bei denen kein wissentliches Einverständnis möglich war. 130 der befragten Frauen (25 %) und 28 der Männer (8 %) gaben an, zumindest einen solchen Übergriff erlebt zu haben. Bange rechnet jährlich mit einer Anzahl von 300 000 missbrauchten Kindern.[5]

Deutlich höhere Ergebnisse erbrachten die Studien von Bagley und Ramsay (1986), Bagley (1990), Russel (1983) und Wyatt (1985). Sie hatten Interviews mit Frauen aus kanadischen bzw. US-amerikanischen Großstädten durchgeführt. Sie verwendeten für die Städte repräsentative Stichproben, die nach dem Zufallsprinzip ausgesucht wurden. 32 % der Frauen aus Calgary, 54 % der Frauen aus San Francisco und 62 % der Frauen aus Los Angeles berichteten, das sie sexuellen Missbrauch erlebt hatten.

Bagley und Ramsay setzten bei ihrer kanadischen Untersuchung voraus, dass ein Altersunterschied von mindestens drei Jahren zwischen Opfer und Täter bestand oder Drohungen bzw. Gewalt angewendet wurden. Weitere Kriterien waren, dass die Handlungen vom Opfer ungewollt waren. Wyatt setzte entweder einen Altersunterschied von fünf Jahren voraus oder setzte das Kriterium, dass die sexuellen Handlungen ungewollt und mit Gewalt durchgesetzt worden waren. Die hohen Ergebnisse lassen sich also nicht auf zu weit gefasste oder ungenaue Definitionen zurückführen.[6]

Diese außergewöhnlich hohen Ergebnisse, lassen darauf schließen, dass Kindesmissbrauch epidemische Ausmaße angenommen hat. Ulrike Brochhaus und Maren Kolshorn schließen sich diesen Ergebnissen an.

„Betrachtet man die Ergebnisse der Untersuchungen, so zeigen selbst die niedrigsten Zahlen, dass sexuelle Übergriffe auf Mädchen weit verbreitet sind. Wir kommen zu dem Schluss, dass (entsprechend einer engen bzw. weiten Definition) 30 % bis 50 % aller Mädchen vor Erreichen der Volljährigkeit sexuell missbraucht werden“, erklären Ulrike Brockhaus und Maren Kolshorn im Jahr 1993.“[7]

Sie beziehen sich auf Studien von Russell (1984, 1986), Wyatt (1985) und Draijer (1988). Denn diese Studien bewerten sie als sehr sorgfältig und umfassend angelegt.

Einen Überblick über Studien über das Ausmaß von sexuellem Missbrauch an Frauen bietet die Tabelle 1. Sie zeigt die wichtigsten Studien von 1983 bis 1992. Dabei werden die unterschiedlichen Ergebnisse deutlich. Das Ausmaß von sexuellem Missbrauch bewegt sich laut diesen Studien von 8 % bis 62 %. Der Großteil der Ergebnisse liegt unter 25%. Das niedrigste Ergebnis von 8% ergab die Studie von Fritz u.a. 1981. Befragt wurden 540 Studentinnen in Washington. Die Definitionskriterien werden leider nicht erörtert. Das höchste Ergebnis erbrachte die Studie von Wyatt im Jahre 1985. 248 Frauen aus Los Angeles wurden befragt. Die Altersbegrenzung war mit 18 Jahren angesetzt, hingegen zog der Großteil der anderen Studien im alter von 16 Jahren eine Grenze. Gewertet wurden sexuelle Übergriffe, die von einem fünf Jahre älteren Täter durchgeführt wurden, Übergriffe die ungewollt und von Zwang geprägt waren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Ausmaßuntersuchungen im Vergleich: Frauen[8]

Auf die polizeiliche Kriminalstatistik stützt sich eine Untersuchung von Barbara Kavemann und Ingrid Lohstöter. Sie gehen von einer polizeilichen Kriminalstatistik aus die 10 000 und 15 000 Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder angibt. Diese Zahl multiplizierten sie mit eine Hell-Dunkelfeld-Schätzung von 1:18 bis 1:20. Das Ergebnis: Sie schätzten in ihrem Buch „Väter als Täter“, das 1984 erschienen ist, dass in den alten Bundesländern Deutschlands jährlich 300 000 Kinder sexueller Gewalt zum Opfer fallen.[9]

Diese Schätzung wurde jedoch Ende der 80er in Frage gestellt. Michael Baurmann kritisiert, dass die Zahl 300.000 auf Rechenfehler zurückzuführen sei. Man hätte nämlich exhibitionistische Kontakte fälschlicherweise mit einberechnet, außerdem seien die Dunkelfeldzahlen viel zu hoch angesetzt. Er berechnet, dass jährlich rund 50 000 bis 60000 Kinder missbraucht werden.[10]

Seitdem ist ein heftiger Streit entbrannt. Je nach Standpunkt werden willkürlich immer wieder andere Zahlen genannt. Rutschky kritisiert das „Zaubern mit Zahlen“.

„Die jüngste Zahl stammt vom Deutschen Kinderschutzbund und fällt völlig aus dem Rahmen. Er gibt die Zahl von Kindern, die im Bundesgebiet im Jahr 1991 voraussichtlich von Eltern, Bekannten, Verwandten oder Freunden sexuell bedrängt oder genötigt werden, mit geschätzten 80 000 an. Die Angabe einer so niedrigen Zahl grenzt fast an Selbstschädigung, wenn man bedenkt, dass die Größe einer Organisation sich an der Größe ihrer Aufgabe misst. Dazu kommt, dass andere seit Jahren höhere Zahlen bieten und selbst die Bundesregierung unter dem Druck der Kampagne oder von neuen Einsichten, die uns noch vorenthalten werden, von ihren konservativeren Schätzungen im Jahr 1985 abgerückt ist, und zum Zeichen des Guten Willens nachgebessert hat.“[11]

Um der Thematik des sexuellen Missbrauchs also die nötige Gewichtung zu geben, habe man laut Rutschky die Situation einfach drastischer dargestellt als sie wirklich ist. Dazu habe man einfach mit den Dunkelziffern jongliert.

„1987 hatte sich, jedenfalls für das Bundesministerium für Gesundheit, nicht die Zahl der statistisch erfassten Opfer, wohl aber die Hell-/Dunkelfeldrelation nicht bloß vereindeutigt, sondern auch erhöht, auf eins zu zwanzig. Damit war man bei der Zahl 210 000 angelangt.“[12]

Nun fehlen für Rutschky aber immer noch 90 000 Missbrauchsfälle um auf 300 000 zu kommen, jene Zahl, die eine Metapher für den sexuellen Missbrauch geworden ist.

„Wie je gezählt wurde, ist schleierhaft; dass jede Zahl mit einer ebenso rätselhaften Dunkelziffer unterlegt und damit wieder ungenau, andererseits aber auch höher und bedrohlicher gemacht wurde, weist diese Methode als magisch aus.“[13]

Das plötzliche Interesse für sexuellen Kindesmissbrauch ist nicht auf die auffallende Zunahme von Verbrechen zurückzuführen. Auf den ersten Blick könnte es auch so aussehen, als ob das Gegenteil der Fall gewesen wäre.

„Von 1973 bis 1984 hat die Zahl der polizeistatistisch erfassten Verstöße gegen Paragraph § 179 StGB (sexueller Missbrauch von Kindern unter 14 Jahren) von 15 566 auf 10 589 ganz kontinuierlich abgenommen.“[14]

Hierbei ist anzumerken, dass die polizeiliche Kriminalstatistik kein repräsentatives Bild liefert, da die Täter nur selten angezeigt werden, und wenn, sind es vorwiegend Fremdtäter. In der Familie nimmt man wesentlich häufiger Abstand von einer Anzeige. Es ist also mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen.

Rutschky verweist u.a. auf Berl Kutchinsky und Neil Gilbert, die ebenfalls massive Kritik am angenommenen Ausmaß des sexuellen Missbrauchs äußern.

Berl Kutchinsky spricht von einer Missbrauchspanik. Das Problem des Missbrauchs würde sowohl qualitativ als auch quantitativ überbewertet werden und es nehme irrationale Züge an.[15] Er beschäftigte sich eingehend mit diversen Studien über die Verbreitung sexueller Gewalt und Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs.

Einer der bekanntesten und sehr sorgfältig dokumentierten Fälle trug sich in Middlesbrough im englischen Cleveland zu. Im Jahr 1997 diagnostizierten Kinderärzte bei 121 Kindern Anzeichen von sexuellem Missbrauch, wahrscheinlich durch die eigenen Eltern. Die Kinder wurden ins Krankenhaus eingewiesen und für Monate von ihren Familien getrennt. Der Fall erregte so großes Aufsehen, dass eine öffentliche Untersuchung durchgeführt wurde. Sie zeigte zahlreiche mögliche Fehler und Irrtümer der Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und Beamten auf.

Kutchinsky prüfte die Materialien zur Cleveland Affaire und kam zu dem Schluss:

„...,dass es wohl nur in etwa zehn bis 20 Einzelfällen zum Missbrauch gekommen ist, die Anschuldigungen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aber nicht zutreffen.“[16]

Kutschinsky war der Meinung, die Richterin Elizabeth Buler-Sloss, die die Untersuchung führte, wäre über die Häufigkeit und die Ernsthaftigkeit sexuellen Kindesmissbrauchs, von den Experten, die sexuellen Missbrauch als weit verbreitetes Phänomen ansahen, falsch informiert worden. Außerdem sei die relativ hohe Zahl von Missbrauchsfällen von 121 Opfern dennoch zu gering, wenn man sie mit der Zahl der Kinder, die vermutlich Opfer sexuellen Missbrauchs werden, vergleicht.

„Wenn, wie in jüngsten Veröffentlichungen behauptet, sexueller Missbrauch an Kindern tatsächlich so häufig geschieht, wären die in einigen Wochen diagnostizierten Fälle nicht außergewöhnlich viele. Immerhin ist Middlesbrough eine mittlere Provinzstadt, in der rund 40 000 Kinder leben. Würden nur zehn Prozent davon wiederholt oder ständig missbraucht, wäre von einer Anzahl von etwa 4000 Opfern auszugehen.“[17]

Kutchinsky wirft den Beteiligten an der Untersuchung vor, fehlerhaft und oberflächlich gearbeitet zu haben.

Er kritisiert auch die Studienergebnisse von David Finkelhor und eine Studie von Diana Russel, die 1990 als erste bundesweite Umfrage unter Erwachsenen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden, angesehen wird. 2600 Männer und Frauen wurden telefonisch interviewt. Das Ergebnis: 27 % der Frauen und 16% der Männer erlebten in ihrer Kindheit sexuelle Übergriffe. Diese Zahlen entsprechen auch den Ergebnissen anderer Untersuchungen und werden als „schockierende Wahrheit über die unerhört große Gefahr sexuellen Kindesmissbrauch“ präsentiert.

Kutchinsky kritisiert vage Formulierungen, die in den Fragen vorkommen, wie „sexuelle Handlungen“. Positive Antworten auf die Frage, ob man sexuelle Handlungen erfahren musste, oder ob solche versucht wurden, wurden als vollzogener Geschlechtsverkehr gewertet.

Weiterer Kritikpunkt: Der Zeitraum der Kindheit, wurde bis zum vollendeten 18. Lebensjahr festgesetzt. Es ist wohl ungewöhnlich, den Zeitraum der Kindheit so hoch anzusetzen.

Eine Frage lautete: „Können Sie sich an ein Kindheitserlebnis erinnern, das Ihrer jetzigen Auffassung nach mit sexuellem Missbrauch zu tun hat, in dem Sinne, dass Sie zuhause oder außerhalb von jemandem intim berührt, geküsst oder wie auch immer bedrängt worden sind?

Kutchinsky überrascht es nicht, dass 20 % der Frauen und 5 % der Männer diese Frage bejahten.

Er bewertet diese Studie als mangelhaft, da sich die Fragen auf Erfahrungen beziehen, die unter Kindern und Teenager nicht ungewöhnlich wären. Diese Fragen würden aber unterstellen, dass diese Erlebnisse als Missbrauchshandlungen anzusehen wären. Diese Erhebung bewertet Kutchinsky als gescheitert, denn die Fragen sind nicht sensibel genug um echten Sexualdelikten auf die Spur zu kommen.[18]

Er kommt zu dem Schluss:

„Aus den mir bekannten Studien über die Häufigkeit sexuellen Kindesmissbrauchs (einige datieren auf die Zeit der 30iger Jahre zurück), ziehe ich den Schluss, das die Häufigkeit einzelner, episodischer Missbrauchsfälle vergleichsweise ernsten Ausmaßes auf rund ein Prozent zu veranschlagen ist und das typische, über einen längeren Zeitraum verübte Inzestvergehen an Kleinkindern in Promillezahlen zu beziffern ist.“[19]

Kritik an den von Kinderschützern und feministischen Gruppen propagierten Behauptungen, dass jedes dritte oder vierte schulpflichtige Mädchen sexuell belästigt wird, kommt auch von Neil Gilbert. Die offizielle Jahresstatistik in den USA über nachgewiesene Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch zeigt eine weit geringere Quote. 1992 wurden den Kinderschutzdiensten 499 120 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch gemeldet, davon waren fast 40 Prozent faktisch nachgewiesen.

„Hinter dieser Jahresquote von 199 648 nachgewiesenen Fällen (rund 3 von 1000 Kindern) steckt ein immenses Ausmaß an Leid; dennoch kommt diese Zahl nicht annähernd an die behauptete 25- bis 33-prozentige Häufigkeitsrate heran, auch wenn diese den Zeitraum der gesamten Kindheit abdeckt“.[20]

Zugeben, es wird nur ein ganz geringer Teil der Missbrauchsfäller zur Anzeige gebracht.

Dennoch weisen viele Studien erhebliche Mängel auf.

Ein erschreckendes Ergebnis liefert eine Studie von Diana Russel im Jahr 1984. 54 % der befragten Frauen sollen sexuell missbraucht worden sein. Dieses Ergebnis ist auf eine sehr weit gefasste Definition zurückzuführen, denn sie stuft auch Kinder als Opfer ein, die gegen ihren Willen umarmt oder geküsst wurden, oder einem Exhibitionisten begegneten.

„Durch das Zusammenwürfeln relativ harmloser Verhaltensweisen und schlimmster Vergehen haben Schätzungen über die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch kritische Ausmaße erreicht.“[21]

3.2 Wer sind die Opfer ?

Lange Zeit wurde angenommen, dass nur Mädchen Opfer von sexuellen Übergriffen werden. Zahlreiche Studien belegen jedoch, dass auch Jungen betroffen sind. Zugegeben, Mädchen werden weit häufiger Opfer als Jungen. Zwei- bis viermal so viele Mädchen erfahren sexuelle Gewalt als Jungen.

Zu diesem Ergebnis kommen auch Zufallsstichproben aus der Allgemeinbevölkerung. Dort werden durchschnittlich 70 % weibliche und 30 % männliche Opfer angegeben (Badgley u.a. 1984, Finkelhor 1979, 1984 und 1990, Finkelhor & Baron 1986)[22]

Nach Bange wird jedes vierte Mädchen und jeder zwölfte Junge sexuell missbraucht.[23] Elisabeth Trube-Becker spricht von noch einem größeren Anteil der weiblichen Opfer bei inzestuösen Übergriffen: In 80 % bis 90 % der Fälle seien Mädchen betroffen.[24]

Die Dunkelziffer ist bei Knaben wahrscheinlich noch höher, weil sie nicht gewohnt sind, als Opfer aufzutreten. Außerdem war sexuelle Gewalt gegen Jungen kaum im Bewusstsein der Menschen. Der Missbrauch an Jungen wird bisher von den Opfern auch deshalb häufig verschwiegen, weil sie nach öffentlich werden des Falls oft gegen das Vorurteil homosexuell zu sein kämpfen müssen.

3.3 Alter der Opfer

Häufig wurde angenommen, dass besonders Kinder in der Pubertät Opfer sexueller Übergriffe werden. Der Mythos, dass das Mädchen oder der Junge durch seine verführerische Art den Erwachsenen reizt und somit auch einen Teil der Schuld trägt, wenn es zum sexuellen Missbrauch kommt, war durchaus verbreitet. Man spricht von der verführerischen Lolita, ein Begriff der eng mit dem Roman „Lolita“ von Vladimir Nabukov verbunden ist. Kleine Mädchen werden darin als verführerisch beschrieben. Es werden ihnen dämonische Hexenkräfte zugeschrieben, welche die Männer entlasten, die sich von ihnen angezogen fühlen. Es wird auch von körperlichen Merkmalen der Reife auf die geistige Reife geschlossen und die Mädchen als sexuell interessiert dargestellt.

Zahlreiche Studien belegen jedoch, dass sexueller Missbrauch vor der Pubertät beginnt. Eine Studie von Bange zeigt, dass der Missbrauch im Durchschnitt mit etwa elf Jahren beginnt. Bei den betroffenen Männern liegt das durchschnittliche Alter bei 11,5 Jahren. Insgesamt erlebten nur etwa 30 Prozent den sexuellen Missbrauch im Alter von 13 bis 16 Jahren.[25] Dieser Altersdurchschnitt entspricht etwa den anderen Studien.

Abbildung

Tabelle 2: Alter der Betroffenen[26]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Rund 60% der Kinder werden vor der Pubertät missbraucht. Signifikanten Altersunterschied zwischen Mädchen und Jungen gibt es keinen.

Ob diese Studien das volle Ausmaß von sexuellen Übergriffen auf Kleinkinder erfassen, ist fraglich. Wahrscheinlich ist die Ausbeutung von Kleinkindern wegen fehlender Erinnerung, Verdrängung oder weil sexueller Missbrauch von Kleinkindern nicht als solcher erkannt wird, unterrepräsentiert.

4 Wer sind die Täter?

Sexueller Missbrauch wird nach Bange und fast allen anderen Studien hauptsächlich durch Männer ausgeübt. Auch in den ausländischen Studien liegt der Anteil von Frauen als Täterinnen bei den Mädchen meist deutlich unter 10 Prozent.

Bei Bange (1992) wurden 7% der männlichen Opfer von Frauen missbraucht. Die Zahlen der US-amerikanischen Studien liegen in diesem Bereich zum Teil wesentlich höher (Fromuth/Burkhart 1987; Fritz et al. 1981; Petrovitch at al. 1984; Allen 1991). Hier schwanken die Zahlen zwischen 17 % bei Finkelhor (1990) und 75 % bei Fromuth/Burkart (1987).[27]

Bei der Diskussion um die Anteile der Täterschaft wird oft vergessen, dass Frauen eher selten den Missbrauch alleine betreiben. Meist wird er zusammen mit dem Ehepartner oder Freund begangen. Oft stehen diese Täterinnen unter der Macht des Partners und sind sogar bereit, ihm das Kind zuzuführen. Das heißt, sie zwingen das Kind zu sexuellen Handlungen mit dem Vater oder dem Freund der Mutter.

Andererseits wird vermutet, dass die Dunkelziffer bei den Täterinnen sehr hoch ist. Frauen können ihre Übergriffe besser tarnen als Männer. Frauen handeln weniger brutal als Männer. Sie wenden kaum Drohungen oder Erpressungen an. Missbrauch durch Frauen ist subtiler und deswegen schwieriger aufzudecken. Waschungen im Genitalbereich, die weit über das Übliche hinausgehen und sexualisierte Körperpflege im Rahmen der Familie ist wahrscheinlich nicht so schnell als sexueller Missbrauch zu enttarnen.

Täter sind aber auch Kinder. Laut Bange sind 14 Prozent der weiblichen und sieben Prozent der männlichen Opfer sind als Kinder von anderen Kindern oder Jugendlichen ausgebeutet worden.[28]

4.1 Alter der Täter

Nach Studien von Bange und Deegner (1996) sowie Finkelhor (1979) liegt das Durchschnittsalter der Täter bei 30 Jahren. Der Mythos vom alten schmutzigen Mann, der am Spielplatz kleinen Mädchen auflauert, hat somit ausgedient. Vielmehr ist es so, dass laut Bange und Deegner Männer über 50 Jahren nur ein Zehntel der Täter ausmacht. Etwa ein Drittel der Täter sind selbst noch Kinder oder Jugendliche. 50 % aller Täter sind zwischen 19 und 50 Jahre alt.[29]

4.2 Innerfamiliärer und außerfamiliärer sexueller Missbrauch

Nach Bange und Deegener ist die Mehrzahl der Täter den Opfern vorher bekannt gewesen. Nach der Studie von Bange sind 22 % der weiblichen Opfer von Familienmitgliedern, 50 % von Bekannten oder Freunden und 28 % von Fremden sexuell missbraucht worden. Ähnlich sieht das Ergebnis von Deegener aus. 23 % sind von Familienmitgliedern, 33 % von Bekannten und 44 % von Fremden missbraucht worden. Im Vergleich zu den Frauen werden die Männer etwas seltener von Angehörigen ausgebeutet. Dafür ist der Anteil der Täter aus dem Nahraum der Familie etwas höher.[30]

Einige der Täter aus dem Bekanntenkreis sind für die Kinder Vaterfiguren. Die Machtverhältnisse und emotionalen Abhängigkeiten gleichen in solchen Fällen den Familienangehörigen. Das ist insbesondere bei Erziehern, Ärzten, Lehrern und Therapeuten der Fall.

Der Mythos, dass Kinder vom bösen fremden Mann mit Süßigkeiten gekidnappt werden, stimmt also nur zu einem geringen Teil. Vermehrt geraten Familienmitglieder und Bekannte, Freunde und Verwandte ins Blickfeld. Sie stellen nämlich den Großteil der Täter dar.

Die Täter beuten meist nicht nur ein Kind aus, in der Regel fallen ihnen mehrere Kinder zum Opfer. Ein Teil der Männer vergewaltigt zudem auch Frauen.

4.3 Psychosoziale Merkmale

Missbrauchstäter werden häufig als in irgendeiner Weise psychisch beeinträchtigt oder auffällig beschrieben. Sie werden als psychopatisch, minderbegabt, sexuell frustriert, alkoholabhängig und senil bezeichnet. Oft ist die Meinung vorherrschend, dass Gewalttaten meist von Menschen verübt werden, die krankhaft veranlagt, geistig zurückgeblieben, dem Altersschwachsinn verfallen, noch jung und in Verwahrlosung aufgewachsen, der Hemmungslosigkeit verfallen sind. Häufig wird auch die Ansicht vertreten, die Täter wären, wenn nicht psychisch krank, dann Außenseiter der Gesellschaft, sozial inkompetent, beruflich erfolglos und mit einem niedrigen Selbstwertgefühl ausgestattet. Diese Beschreibung scheint den Vorstellungen der Allgemeinbevölkerung zum Teil immer noch zu entsprechen.

Wer kann sich auch vorstellen, dass der nette Lehrer, der freundliche Nachbar oder ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft zu sexuellen Übergriffen neigt? Es ist aber vermehrt von Tätern zu lesen, die sozial bestens integriert sind. Sie sind gut angepasst, beruflich erfolgreich, sympathisch und attraktiv. Solche Personen sind natürlich zunächst über jeden Verdacht erhaben und das schützt sie. Ein gutes Beispiel dafür ist der Kinderarzt Franz Wurst. Den Kindern, die von den schrecklichen Erlebnissen mit ihm erzählt haben, wurde zunächst nicht geglaubt. Außerdem ist es für Eltern sicherlich nicht einfach, gegen ein so angesehenes Mitglied der Gesellschaft gerichtlich vorzugehen.

Zugegeben, einen Menschen, der Kinder missbraucht, als „normal“ anzusehen ist schwierig. Allein die Tat müsste schon beweisen, dass so ein Mensch krank ist. Die Tatsache, dass jeder aus dem alltäglichen Umfeld ein Täter sein kann, ist außerdem sehr bedrohlich. Viel sicherer wäre es, wenn man wüsste, vor wem man sich in Acht nehmen soll. Das zeigt auch ein Bericht des Psychotherapeuten Richard Snowdon. Er hat mit Männern gearbeitet, die sich an ihren Töchtern vergangen haben:

„Als sie anfingen zu sprechen, konnte ich nicht genug darüber staunen, dass sie ganz normale berufstätige Männer waren, durchschnittliche Mitglieder der Gesellschaft. Sie erinnerten mich an Männer, die ich aus meinem Leben kannte. (...) Und am schlimmsten war, dass Dave, den ich auf Anhieb mochte, mich an mich selbst erinnerte. (...) Was sie sagten, erschien mir abwechselnd verrückt und ärgerlich oder krank und pathetisch. Aber immer klang es vertraut. (...) Ich wollte, dass sie sich von mir unterschieden, so verschieden wie möglich. Doch wenn ich hörte, wie sie von ihrer Kindheit sprachen oder von ihrer Zeit als Teenager, konnte ich immer weniger leugnen, dass wir viel gemeinsam hatten.“[31]

Ein krankhafter Sexualtrieb treibt den Täter also nicht zu seiner Tat. Viel mehr handelt es sich dabei um ein planmäßiges Vorgehen.

„Sexuelle Gewalt wird inszeniert. Mit der Formulierung „inszeniert“ möchte ich die Planmäßigkeit betonen, denn es ist ein Mythos, wenn „erklärt“ wird, es läge ein „Triebdurchbruch“ vor – wie in diesbezüglichen Strafprozessen gerne (...) suggeriert wird: es gebe so triebstarke Männer, die sich nicht zurückhalten konnten, oder können, weil die „Natur“ mit ihnen durchgeht, wenn ihnen ein weibliches Wesen, egal. Ob es zwei Monate alt ist, zwei Jahre oder zwölf ... oder zwanzig... oder zweiundsiebzig ... unter die Hände oder vor den Hosenlatz kommt.“[32]

Es handelt sich vorwiegend weder um psychisch kranke noch „hormongesteuerte“ Monster, sondern es sind vielmehr Männer, die Gewalt als legitimes Mittel zur Bedürfnisbefriedigung ansehen. Die Macht, die ein Mann in unserer Gesellschaft hat, wird eingesetzt, um Töchter auf ein Eigentum zu reduzieren, mit dem Mann machen kann was man möchte.

„Einen Besitzanspruch glauben Männer auf alle Frauen ihrer Familie zu haben. ,Ich habe dich gemacht, und du gehörst mir’; ,Sie ist meine Tochter, und das gibt mir das Recht mit ihr zu machen was ich will’; ,Meine Familie ist meine Sache.’[33]

So äußerten sich Männer in der Therapiegruppe des Psychologen Rich Snowdon. Im männlichen Denken sind sexuelle Bedürfnisse oft getrennt von Gefühlen wie Liebe, Freundschaft oder Respekt. Es handelt sich um Männer, die sich nicht die Mühe machen, Unterschiede zwischen kindlichen Verhaltensweisen und ihren sexuellen Regungen zu unterscheiden. Das Verhalten der Mädchen wird den männlichen Wünschen entsprechend interpretiert. Diese Männer sind unfähig zu gegenseitigem Respekt in einem gleichberechtigten Zusammenleben.

„Sie wollte, dass ich zärtlich zu ihr bin, und kletterte mir immer auf meinen Schoß. Sie sagte nein, als ich zum Sex überging, aber ich glaubte ihr nicht, denn warum wollte sie sonst alles andere“, zitiert Rich Snowdon einen Vater.[34]

Männliche Sexualität kann grausam sein. Rücksichtslosigkeit gebart mit Verachtung und Gleichgültigkeit degradiert den weiblichen Körper zum Sexualobjekt, der nicht viel mehr wert ist als eine Gummipuppe. Eindrucksvoll schildert das ein Gespräch mit Trube-Becker, die einen amerikanischen Gynäkologen zitiert, der vor dem „Nationalen Ausschuss für Prostitution und Obszönität“ einen Bericht gegeben hatte:

„Ich habe in der letzten Zeit in der Gynäkologie gearbeitet. Was sich dort abspielt ist erschreckend. Die Stationen sind voller kleiner Mädchen. Sie sind innerlich zerfetzt. Die Reparaturarbeit, die wir leisten, spottet jeder Beschreibung. Es sind Folgen aller erdenklichen Arten des sexuellen Missbrauchs.“[35]

4.4 Strategien und Vorgehensweisen der Täter

Stereotype Darstellungen vermitteln das Bild vom ungezügelten Triebtäter, der durch sexuell stimulierende Reize, fehlende sexuelle Befriedigung oder mangelnde Impulskontrolle durch psychische Krankheit, nicht anders kann, als z.B. über ein Mädchen herzufallen.

Täter sind aber keineswegs Opfer ihrer Hormone, die willenlos von ihrem Sexualtrieb gesteuert werden. Sexuelle Gewalthandlungen geschehen nicht im Affekt und sind selten „Ausrutscher“ wie sie harmlos bezeichnet werden können, um die Tat zu schmälern. Die Täter halten den Missbrauch meist über längere Zeit geheim, wie z.B. im Fall des Kinderarztes Franz Wurst. Ohne sorgfältige Planung und Tarnung wäre es wohl kaum möglich, den Missbrauch von mehreren Kindern zu vertuschen.

Zudem wählen die Täter ihre Opfer sorgfältig aus. Häufig nähern sie sich Kindern bei denen sie besonders leichtes Spiel haben, z.B. dem eigenen Nachwuchs. Bei ihnen haben sie die leichtesten Zugriffsmöglichkeiten und die wirkungsvollsten Drohmittel. Andererseits wählen sie häufig vernachlässigte, einsame Kinder aus desolaten Familienverhältnissen aus. Diese Kinder sind meist leicht zugänglich, weil sie ein vermehrtes Bedürfnis an Zuwendung haben. Außerdem haben sie wenig Ressource sich zur Wehr zu setzten, weil ihnen der Rückhalt der Eltern fehlt. Es sind aber nicht ausschließlich emotional bedürftige Kinder, die zu Opfern werden. Die Täter beschreiben, dass sie sich auch Mädchen und Jungen zuwenden, die einen offenen Eindruck machen und vertrauensvoll auf Erwachsene zugehen.

Aus Berichten betroffener Kinder und Jugendlicher lässt sich ablesen, dass Täter in der Regel zunächst die „Tauglichkeit des Objektes“ testen. Sie beginnen die Ausbeutung, abgesehen von Ausnahmefällen, nicht mit einer Vergewaltigung, sondern mit besonderer Zuwendung:

Sehr schön schildert das Ursula Enders:

„Dem Opa rutscht z.B. bei der Lieblingsenkelin wie zufällig die Hand in das Höschen. Protestiert das Kind lauthals oder weigert sie sich, nochmals auf den Schoß des Mannes zu sitzen, und wird der Widerstand von Dritten unterstützt, so wird Opa vielleicht etwas vorsichtiger sein und sich einem anderen Enkelkind zuwenden. Hat das Kind jedoch nicht die Kraft zum lauten Widerstand und findet sie in ihrer Umgebung kein Verständnis, so hat der Täter vermutlich ein leichtes Spiel.“[36]

Viele Täter beschreiben, wie sie zunächst das Kind umwerben und langsam eine Beziehung aufbauen. Dabei nützen sie ihre Bedürftigkeit und Offenheit aus. Väter nutzen außerdem oft das Abhängigkeitsverhältnis aus. Mit Geld, Geschenken oder besonderen Privilegien wird das Opfer geködert. Dahinter versteckt sich auch der Gedanke, das Kind in die Falle der Mitschuld zu locken, oder es zu erpressen. Väter vermitteln dem Kind außerdem, dass das Geschehen ganz normal sei und jeder Vater so mit seiner Tochter umgehe. Auf solche Weise wird das Kind in die fremde Welt der Erwachsenen hineingestoßen, die Generationsgrenzen werden überschritten.

Vielfach geschieht der Einsteg zum Missbrauch über das Spiel. Täter beschreiben die Übergriffe als kraulen, kitzeln, krabbeln oder toben. Es folgen scheinbar zufällige Berührungen, bis der Täter schließlich massive Übergriffe startet. Oft versteht das Kind zuerst gar nicht, dass es missbraucht wird. Begreifen Kinder schließlich, woher ihr komisches Gefühl kommt, fühlen sie sich oft mitschuldig, weil sie ja so lange mitgemacht haben. Die Schuldgefühle werden von den Tätern massiv gestärkt. Sie vermitteln den Opfern, dass sie sich frei entschieden haben, mitzumachen. Nicht selten „bezahlen“ oder bestechen die Täter die Kinder mit Geschenken, Geld besonderen Privilegien und besonderer Zuwendung. Die Isolation des Mädchen oder Jungen wird vom Täter forciert. So wird das
Opfer abhängiger und hat noch weniger Ansprechpartner, an die es sich wenden könnte. Das wird besonders am Beispiel eines Vaters deutlich, der eine Tochter zum persönlichen Liebling erklärt und den andern vorzieht und ihr besondere Privilegien zugesteht. Das Kind erntet den Neid der anderen, die sich in Folge abwenden. [37]

„Sexuell missbrauchte Kinder finden sich manchmal in einem Netz von Angst und Zuneigung wieder, das sie von der Außenwelt abschneidet. Findet der Missbrauch innerhalb der Familie statt, besitzt das Kind oft gar keine andere liebevolle Beziehung und der Missbraucher hat es emotional hervorragend im Griff.“[38]

Auch zwischen Mutter und Sohn/Tochter treibt der Täter einen Keil. Er fördert bewusst das Konkurrenzverhältnis indem er das Kind aufwertet und die Mutter abwertet. Verletzende Bemerkungen, ungerechtfertigte Kritik und Schikanen von Seiten des Missbrauchers werten die Frau in ihrer Rolle als Mutter und Partnerin ab. Der Missbraucher forciert ein Konkurrenzverhältnis zwischen Mutter und Tochter und spielt beide gegeneinander aus. So hat die Tochter auch ihren zweiten Elternteil als Vertrauensperson verloren.

Es gehört zur Strategie, nicht nur die sozialen Kontakte des Opfers sondern auch die der Ehefrau zu beschneiden. Vor Dritten wird die Ehefrau heruntergemacht: „Ich mache mir zurzeit Sorgen um meine Frau, sie ist psychisch sehr belastet und krankhaft eifersüchtig auf unsere Tochter.“ Die Mutter wird als zickig und gefühlskalt abgestempelt. Auf der anderen Seite stilisiert der Täter das Mädchen zur Frau und Geliebten und wälzt die Verantwortung für den Missbrauch auf die Ehefrau und das Kind, die angebliche Verführerin, ab.[39]

Die Täter schieben die Schuld für das Geschehene dem Kind zu und sorgen für ausreichend Schuldgefühle. „Du wolltest das doch“ oder „Du hast mich dazu gebracht“, sind häufige Floskeln. Fühlt sich das Kind an dem, was geschieht mit schuldig, wiegt sich der Täter über längere Zeit in Sicherheit.

Die Täter arbeiten auch mit Drohungen, wenn es darum geht, ein Kind gefügig zu machen oder wenn die Gefahr besteht, der Missbrauch könne publik werden. Gedroht wird beispielsweise mit der Krankheit oder dem Tod der Mutter, mit Heimeinweisung und dem Ruin der Familie, falls der Vater ins Gefängnis kommt. Bange nimmt an, dass in mehr als 50 % der Missbrauchsfälle direkte Gewalt durch Drohungen oder körperliche Gewalt angewendet wird.[40]

Damit sexueller Missbrauch sich fortsetzten kann, muss er geheim gehalten werden. Geschieht der Missbrauch innerhalb der Familie erachtet der Täter es zumeist nicht für notwendig, dem Kind ein Schweigegebot aufzuerlegen. Mit der Rückendeckung, dass das Häusliche und seine Abgrenzung nach außen die Geheimhaltung auch der schlimmsten Vergehen gewährleistet, scheinen sich die meisten Inzesttäter des Schweigens der Kinder absolut sicher zu sein.

Ein Mensch, der Kinder sexuell missbraucht, verletzt die normativen Erwartungen unserer Kultur schwer. Zu den möglichen Konsequenzen gehören Strafverfolgung, der Zusammenbruch der Ehe und Familie und der Ausschluss aus der Gesellschaft. Um im Falle einer Abweichung von der Norm als normal gelten zu können, ist Stigmamanagement, damit „täuschen“ und eine Fülle von Strategien erforderlich, die mit Vorsicht oder Informationskontrolle zu tun haben. Die Täter leben oft ein Doppelleben. Sie bewegen sich zwischen zwei Identitäten. Einerseits unterstützen sie die Normen der Gesellschaft und identifizieren sich mit ihnen. Andererseits werden sie ihnen durch ihre Andersartigkeit nicht gerecht. Als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fällt es ihnen also leicht über ihre pädophile Neigung hinwegzutäuschen. In vielen Fällen sind es die Ehefrauen, die den Tätern helfen, und verhindern, dass der Missbrauch aufgedeckt wird. Es sind aber auch die Kinder, die Angst vor den Konsequenzen für die Familie haben und den Täter decken.[41]

5 Die Umstände

In diesem Kapitel werden die sozialen und familiären Umstände beleuchtet, unter denen sexueller Missbrauch stattfindet. Das Vergehen bleibt meist nicht ohne Folgen für das Opfer. Nicht nur der Körper, sondern auch die seelische Gesundheit leidet oft langfristig unter dem Erlebten.

5.1 Soziale und familiäre Hintergründe

Viele Menschen glauben noch immer, dass sexueller Missbrauch ein Problem der unteren sozialen Schichten ist. Nach einer Studie von Bange kommt die Hälfte der missbrauchten Studentinnen aus der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. Etwa ein Drittel gehört zur unteren Mittelschicht und nur ein Zehntel ist der Unterschicht zuzuordnen.[42]

Allerdings wundert mich dieses Ergebnis kaum, denn befragt wurden Dortmunder StudentInnen, die wie ich glaube, vermehrt aus gut situierten Familien kommen. Denn noch heute haben Kinder aus unteren sozialen Schichten nicht die gleichen Ausbildungsmöglichkeiten wie Kinder aus der Unterschicht. Sei es, dass die finanziellen Mittel fehlen, oder dass solche Familien ehrlicher Handarbeit mehr Wert beimessen.

Ob sexueller Missbrauch an Kindern über alle Schichten gleichmäßig verteilt ist, ist eine heiß umstrittene Frage. Auch ausländische Studien geben darauf keine eindeutige Antwort. Es findet sich meist kein Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Häufigkeit (Russell 1986, 106; Peters u.a. 1986, 28), aber bei einigen Studien sind Kinder aus sozial schlechter gestellten Familien überrepräsentiert.[43]

Nach dem familiendynamischen Ansatz sind Familien, in denen es zu sexueller Gewalt kommt, desorganisiert, dysfunktional und zerrüttet. Sexueller Missbrauch ist ein Überlebensmechanismus für die Familie. Spannungen werde dadurch abgebaut und man muss sich den eigentlichen Konflikten in der Familie nicht stellen. Der Missbrauch dient also als Bindemittel zwischen den Familienmitgliedern. Herbert Maisch ist einer der ersten Vertreter dieser Sichtweise in Deutschland.

„Die meisten Familien, in denen es zu inzestuösen Beziehungen kommt, sind bereits vor Tatbeginn gestört. Insofern ist das inzestuöse Geschehen in der Regel nicht Ursache sondern Symptom einer gestörten Familienverfassung.“[44]

Der familiendynamische Ansatz achtet also vermehrt auf die Kommunikation und die Beziehungen unter den Familienmitgliedern. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass die Schuldfrage und die Machtverhältnisse ganz außer acht gelassen werden.

Von Bange befragte Studentinnen, die missbraucht worden waren, erlebten die Ehe ihrer Eltern als deutlich unglücklicher, als die nicht missbrauchten Frauen.[45]

Man schließt daraus, dass Kinder, die aus unglücklichen Familien kommen, bzw. unglücklich in ihrer Familie sind, nach Zuwendung, Geborgenheit und Anerkennung suchen. Solche Kinder sind außerdem meist weniger gut beaufsichtigt und haben Verlassenheitsängste. Zu einem verunsicherten Kind, das nach Geborgenheit sucht, hat ein Täter besonders leicht Zugang.

In Familien, wo es zu sexuellem Missbrauch kommt, sind die Rollen nicht adäquat verteilt. Daher werden die Bedürfnissen nach Unterstützung, Pflege und Annahme nicht ausreichend beachtet. „Statt dessen hat sich eine Konfusion ergeben, die Kontakte werden sexualisiert, was eine zusätzliche Belastung für die Familie ist. Durch die sexualisierten Beziehungen, Geheimnistuereien und Schulddruck werden die Konflikte verschärft. Typisch in solche Familien ist,

- dass die Versorgung von Kindern oft minimal und tendenziell vernachlässigt ist,
- dass, die Pflege des Kindes oft sexualisiert ist,
- dass das Erziehungskonzept und die Sozialisationspraktiken nicht selten deviant bzw. pradioxal sind, ganz abgesehen davon, dass auch von perversen Beziehungspraktiken berichtet wird.“[46]

Ausgehend von den feministischen Überlegungen zu den Ursachen sexueller Gewalt gegen Frauen wird häufig die patriarchalische Gesellschaftsstruktur als förderlich für sexuelle Gewalt angesehen. In einer Familie, die nach dem Vorbild der patriarchalischen Gesellschaft lebt, ist der Mann das Oberhaupt der Familie. Während der Mann berufstätig ist, für das Einkommen sorgt, widmet sich die Frau unbezahlter Arbeit, also dem Haushalt und der Kindererziehung. Daher verfügt sie auch über weniger finanzielle Ressourcen und begibt sich meist in eine Abhängigkeit. Dem Mann wird also Macht, Dominanz und Aggressivität zugesprochen. Die Frau wird als schwach und abhängig angesehen. Der Mann ist ihr übergeordnet, sie ist also nicht gleichberechtigt. Gute Vorraussetzungen also, um Macht über andere Familienmitglieder auszuüben und sie für die eigenen Bedürfnisse zu missbrauchen. Sexuelle Untergebenheit wird oft als Pflicht der Frau bzw. als Ware gesehen.

„Aufgrund der in traditionellen heterosexuellen Beziehungen meist bestehenden ökonomischen Abhängigkeit von Frauen wird ihre Sexualität zur Ware, die sie zusammen mit verschiedenen Reproduktionsleistungen gegen ökonomische Lebenssicherung und Status von Seiten des Mannes tauschen.“[47]

Sexuelle Misshandlungen entwickeln sich in einem von Macht- und Autoritätsunterschieden geprägten Generationen und Geschlechterverhältnis, in dem die für den Entwicklungsprozess der Kinder jeweils notwendige Weiterentwicklung der Familie vom intensiven und liebevollen Körperkontakt im Umgang mit dem Säugling und Kind bis zur Verselbständigung des Jugendlichen in der Pubertät nicht gelungen ist.

Birgit Rommelspacher geht davon aus, dass die Moderne dem patriarchalischen Selbstverständnis ein neues Gesicht gegeben habe, eine widersprüchliche Moral. Einerseits gilt, dass alle Menschen gleich sind und ein Recht auf die Unversehrtheit ihre Körpers haben. Gleichzeitig wurde erstmals formuliert, dass jeder Anspruch auf persönliche Freiheit und Glück hat. Leider wurde damit auch ein Selbstverständnis gefördert, das ohne die Freiheiten anderer zu akzeptieren, für die eigenen Bedürfnisse andere ausnützt und missbraucht. Der eigene Zweck steht im Vordergrund und die Interessen und Eigenarten andere werden nicht akzeptiert. Auf dieser Basis funktionieren auch Sexismus und Rassismus. Auf der einen Seite steht der Gleichheitsanspruch, auf der anderen das Recht des Stärkeren.

Gefördert wird dieses Verhalten durch den Individualisierungsprozess. Jeder wird zunehmend unabhängig, keiner möchte sich wirklich binden, denn Autonomie gilt als höchstes Gut. Vereinzelung und Isolation sind der Preis dafür. Je größer jedoch die Autonomie, die Isolierung und Vereinsamung wird, desto größer wird das Bedürfnis nach Beziehungen und Intimität. Es ist also kein Wunder, dass sich sexuelle Gewalt in isolierten Familien häuft.[48]

Vermutet wird auch, dass Kindesmissbrauch in Familien, die sozial isoliert sind, häufiger vorkommt. Deshalb sollen Übergriffe in ländlichen Gegenden häufiger passieren als in Städten. Sollte Isolation zu vermehrtem sexuellen Missbrauch führen, könnte man das auf das vermehrte Bedürfnis nach Freundschaften und sozialen Kontakten zurückführen, das durch die Isolation entsteht. Ein Kind mit weniger sozialen Außenkontakten hat außerdem weniger Ressourcen, sich gegen einen Missbrauch zu wehren. Soziale Isolation kann aber auch die Folge des Missbrauchs sein. Es kommt vor, dass der Vater das Kind von der Außenwelt abschottet, um den Übergriff geheim zu halten.[49]

Begünstigt wird das Vorkommen sexuellen Missbrauchs in der Familie als auch außerhalb der Familie in jedem Fall von einer dysfunktionalen Familienstruktur. Kinder, die wenig Liebe und Aufmerksamkeit zu Hause durch die Eltern erfahren, und deren emotionale Bedürfnisse mangelhaft wahrgenommen und befriedigt werden, erfahren meist auch wenig Aufsicht und Kontrolle. Gerade Kinder, deren emotionale Bedürfnisse mangelhaft befriedigt werden, entwickeln eine Bedürfnishaltung, die sie für jede Art von Zuwendung empfänglich macht. Die emotionale Mangelhaltung wird von den Tätern ausgenutzt, zur Befriedigung eigener u.a. sexueller Bedürfnisse.

[...]


[1] Vgl. Trube-Becker, 1982, S. 104.

[2] Bagley, 1985, S.12.

[3] Vgl. Engfer, 1986, S. 30.

[4] Friedrich, 1998, S. 12.

[5] Vgl. Bange, 1992, S. 86f.

[6] Vgl . Bagley/Ramsay 1986, Bagley 1990, Russell 1983, Wyatt 1985 in: Bange, 1992, S. 29f.

[7] Brockhaus/Kolshorn, 1993, S. 50.

[8] Quelle: Bange (1992:90).

[9] Vgl. Kavemann/Lohstöter, 1984, S. 28.

[10] Vgl. Baurmann 1991, S. 230ff.

[11] Rutschky, 1992, S. 36f.

[12] ebenda, S. 37f.

[13] ebenda, S. 32.

[14] ebenda, S. 33.

[15] Vgl. Kutschinsky,1994, S. 49

[16] ebenda, S. 53.

[17] ebenda.

[18] Ebenda, S. 54ff.

[19] Ebenda, S. 53.

[20] Gilbert, 1994, S. 63.

[21] Ebenda, S.65.

[22] Vgl. Brockhaus/ Kolshorn, 1993, S. 61.

[23] Vgl. Bange, 1992, S. 86.

[24] Vgl. Trube-Becker, 1992, S. 93.

[25] Vgl. Bange/Deegener, 1996, S.143.

[26] Quelle: Brockhaus/Kolshorn (1993:63).

[27] Vgl. Bange/Deegener, 1996, S. 146f..

[28] Bange/Deegener, 1996, S. 147.

[29] ebenda, S. 144.

[30] Vgl. Bange/Deegener, 1996, S. 129.

[31] Snowdon, R., 1982, (zit. nach: Kavemann/Lohestöter, 1984, S. 96).

[32] Perner, R.: 1994, S. 83

[33] Kavemann/Lohestöter, 1984, S. 100.

[34] Snowdon, R., 1982, (zit. nach: Kavemann/Lohestöter, 1984, S. 101).

[35] Kavemann/Lohestöter, 1984, S. 102.

[36] Enders, 1995, S.95.

[37] Brockhaus/Kolshorn, 1993, S. 132.

[38] Wyre/Swift, 1991, S. 78.

[39] Vgl. Enders,1995, S. 101.

[40] Vgl. Bange, 1992, S. 106.

[41] Vgl. Goffman, 1979, S. 10.

[42] Vgl. Bange/Deegener, 1996, S. 151.

[43] Vgl. Bange, 1992, S.36.

[44] Maisch, 1968, S. 166.

[45] Vgl. Bange, 1992, S. 37f.

[46] Rutschky, 1994, S. 89.

[47] Brockhaus/Kolshorn, 1993, S. 98.

[48] Vgl. Rommelsbacher, 1994, S. 24f.

[49] Vgl. Brockhaus/Kolshorn,1993, S. 92f.

Ende der Leseprobe aus 153 Seiten

Details

Titel
"Eine Frage der Glaubwürdigkeit" - Die Darstellung sexuellen Missbrauchs in den Printmedien am Beispiel des Kinderarztes F. Wurst
Hochschule
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt  (Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft)
Note
1
Autor
Jahr
2005
Seiten
153
Katalognummer
V90682
ISBN (eBook)
9783638071499
ISBN (Buch)
9783638956000
Dateigröße
4657 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Simone Seppele bearbeitet in ihrer Diplomarbeit das Themenfeld "sexueller Missbrauch", das einen starken Niederschlag in den Medien fand und stellt sich dabei die Frage, in welcher Weise durch die Berichterstattung in den Medien spezifische Diskurse dazu konstruiert werden.
Schlagworte
Eine, Frage, Glaubwürdigkeit, Darstellung, Missbrauchs, Printmedien, Beispiel, Kinderarztes, Wurst
Arbeit zitieren
Mag. Simone Seppele (Autor:in), 2005, "Eine Frage der Glaubwürdigkeit" - Die Darstellung sexuellen Missbrauchs in den Printmedien am Beispiel des Kinderarztes F. Wurst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90682

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