Wie Hunde die Resilienz von Kindern und Jugendlichen fördern können. Die besondere Eignung des Hundes für die tiergestützte Pädagogik


Textbook, 2021

61 Pages


Excerpt


Inhalt

1 Einleitung

2 Resilienz
2.1 Definition des Begriffs
2.2 Die Kauai-Längsschnittstudie
2.3 Die Mannheimer Risikokinderstudie
2.4 Resilienz in der Entwicklung von Kindern
2.5 Lebensphasen und Entwicklungsaufgaben
2.6 Interdisziplinärer Zugang zur Resilienz
2.7 Zwischenfazit

3 Mensch-Hund-Beziehung
3.1 Biophilie-Hypothese
3.2 Du-Evidenz
3.3 Domestizierung des Hundes
3.4 Anthropomorphisierung des Hundes
3.5 Bindungstheorie nach Bowlby
3.6 Zwischenfazit

4 Tiergestützte Pädagogik
4.1 Definition des Begriffs
4.2 Besondere pädagogische Eignung des Hundes
4.3 Wirkung des Hundes auf den Menschen
4.4 Zwischenfazit

5 Kinder- und Jugendhilfe
5.1 Historische Entwicklung
5.2 Leitbild und Handlungsprinzipien
5.3 Gesetzliche Grundlagen
5.4 Hilfe zur Erziehung
5.5 Zwischenfazit

6 Grenzen der tiergestützten Pädagogik in der Sozialen Arbeit

7 Fazit

Literaturverzeichnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

Copyright © Science Factory 2021

Ein Imprint der GRIN Publishing GmbH, München

Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany

Covergestaltung: GRIN Publishing GmbH

1 Einleitung

„It is easier to build strong children than to repair broken men” (children`s trust o. J., online). Genau an diesem Punkt soll das Thema meiner Bachelor­arbeit ansetzen. Es soll dafür gesorgt werden, dass in unserer Gesellschaft „starke“ Kinder heranwachsen können. Es gibt viele Minderjährige in Deutschland, die keinen einfachen Start ins Leben haben. Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich.

In meiner Bachelorarbeit möchte ich auf die Kinder- und Jugendhilfe eingehen. Der Fokus soll auf Kinder und Jugendliche gelegt werden, die aufgrund einer Inobhutnahme oder einer Heimunterbringung mit einer negativen Bindungs­erfahrung konfrontiert sind und die sich aufgrund dessen schwer tun, ihr Le­ben aus eigener Kraft heraus zu meistern. In meinem Praxissemester habe ich in der Kinder- und Jugendhilfe, in Form der Sozial­pädagogischen Familienhilfe, gearbeitet. Hier eröffneten sich mir unter ande­rem viele Einblicke in die Arbeit des Jugendamtes. Ich erkannte, wie viele Kinder unter den widrigen Einflüssen ihrer aktuellen Lebenssituation leiden und aufgrund dessen vom Jugendamt in Obhut genommen werden. Auf der einen Seite wurde mir bewusst, wie ein­schneidend die Trennung von der Familie für ein Kind sein kann. Auf der anderen Seite habe ich aber auch erfah­ren dürfen, wie wirksam die Arbeit mit meinem Hund ist, da ich ihn im Praxis­semester bei meiner Arbeit dabei haben durfte.

Ich selber bin seit meinem 13. Lebensjahr Hundebesitzerin und habe selbst in meinen schwierigen Lebens­situationen erfahren dürfen, welchen positiven Einfluss die Anwesenheit mei­nes Hundes auf mich hat. Des Weiteren ist mein Hund bei meiner Nebentätig­keit in der Behindertenhilfe an meiner Seite. Auch hier kann ich immer wieder die positiven Reaktionen seitens meiner Klienten auf die Anwesenheit meines Hundes feststellen. Aus dieser Konstellation ist die Idee für das Thema meiner Bachelorarbeit entstanden. Ich möchte mit diesem Thema eine Verbindung zwischen der Kinder- und Jugendhilfe, der pädagogischen Arbeit mit dem Hund und den daraus resultierenden positiven Effekten herstellen. Die grund­legende Fragestellung meiner Bachelorarbeit soll daher lauten: Inwieweit kann die tiergestützte Pädagogik einem Kind helfen, Resilienz zu entwickeln, wenn es von einer negativen Bindungser­fahrung betroffen ist. Meine Bachelor­arbeit soll ihren Beitrag dazu leisten, dass der Einsatz von Hunden in der Kinder- und Jugendhilfe sowie generell in der Sozialen Arbeit einen höhe­ren Stellenwert gewinnt. Die Gesellschaft soll sich meines Erachtens weiter für die tiergestützte Pädagogik öffnen, so dass „die Kleinsten“ unserer Gesell­schaft mit Hilfe der pädagogischen Arbeit eines Hundes ihre anfänglichen Startschwierigkeiten im Leben überwinden können und als „starke“ Kinder hervorgehen. Meines Erachtens bietet die tier­gestützte Pädagogik in der Kin­der- und Jugendhilfe ein großes Potenzial.

Neben der Einleitung und dem Fazit lässt sich die vorliegende Bachelorarbeit in fünf weitere Kapitel unterteilen.

Im zweiten Kapitel wird auf den Begriff der Resilienz detaillierter einge­gangen. Beginnend mit der Definition des Begriffs werden anschließend zwei Studien der Resilienzforschung erläutert. Des Wei­teren soll dieses Kapitel Auf­schluss über die kindliche Entwicklung der Resilienz geben. Abschließend wird ein interdisziplinärer Zugang als Unter­stützung des Resilienzbegriffs herange­zogen.

Das dritte Kapitel widmet sich der Beziehung zwischen Mensch und Hund. Es wird dargelegt, wie sich eine enge Beziehung zwischen Mensch und Hund entwickeln kann. Auch soll die Bindungstheorie nach Bowlby in diesem Kapitel eine unterstützende Rolle spielen. Es werden Aspekte aufgezeigt, wie eine negative Bindungserfahrung bei Minderjährigen entsteht und mit welchen Folgen diese verbunden ist.

Das Konzept der tiergestützten Pädagogik ist Inhalt des vierten Kapitels. Zu Be­ginn wird der Begriff der tiergestützten Pädagogik definiert. Des Weiteren wird auf die besonderen Eigenschaften des Hundes eingegangen. Es wird auf­gezeigt, warum der Hund für den pädagogischen Einsatz in der Sozialen Arbeit geeignet ist.

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Kinder- und Jugend­hilfe. Die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen werden dargelegt. Weiterhin wird ein Bezug auf die Hilfe zur Erziehung genommen.

Die Grenzen, die mit der tiergestützten Pädagogik einhergehen, werden im sechsten Kapitel er­läutert.

Im Fazit werden die herausgearbeiteten Ergebnisse der vorange­gangenen Kapitel in einen Zusammenhang gesetzt und die anfangs gestellte Fragestel­lung wird beantwortet. Abschließend wird ein Ausblick gegeben, wie diese Ergebnisse in einem erweiterten Rahmen für die Soziale Arbeit genutzt werden können.

Grundlegend soll meine Bachelorarbeit auf der Literaturrecherche basieren, wobei ich auch englische Literatur mit einfließen lasse. Im Sinne der kom­for­tableren Lesbarkeit wird im weiteren Verlauf der Bachelorarbeit das männ­liche Geschlecht stellvertretend für alle Geschlechter benutzt.

2 Resilienz

Nach dem heutigen Forschungsstand wird die Resilienz als ein flexibles, kon­text­abhängiges Konstrukt verstanden. In diesem Sinne wird die Fähigkeit zur Resilienz als ein multidimensionales und prozessorientiertes Phänomen definiert. Das wachsende Interesse an der Resilienzforschung ist weitest­gehend auf einen Paradigmenwechsel in den Human- und Sozialwissen­schaften zurückzuführen. Anfangs liegt der Fokus auf einem krankheits­orien­tierten, pathogenetischen Modell. Im Laufe der Zeit ändert sich diese Ansicht und es kommt einem ressourcenorientierten, salutogenetischen Mo­dell mehr Bedeutung zu. Aus diesem Grund betrachtet sich die Resilienz­forschung als Gegenbewegung zu der Entwicklungspsychopathologie. In der Resilienz­forschung wird der Schwerpunkt auf die Schutzfaktoren und indivi­duellen Ressourcen des Individuums gelegt. Die Resilienz wird im Licht der Mehr­perspektivität betrachtet. Es wird untersucht, inwieweit psychosoziale, neu­robiologische und/ oder soziale Faktoren Einfluss auf die Entwicklung der Resilienz nehmen können (vgl. Wustmann 2018, S. 30 - 33). Nachfolgend wird in diesem Kapitel zuerst der Begriff der Resilienz definiert. Im weiteren Verlauf werden exemplarisch zwei Studien und ihre Ergebnisse skizziert. Neben einem interdisziplinären Zugang zur Resilienz wird ein Fokus auf die kindliche Ent­wicklung der Resilienz sowie die Lebensphasen und Entwicklungsaufgaben gelegt.

2.1 Definition des Begriffs

In der Fachsprache ist es schwer, eine einheitliche Definition von Resilienz zu finden. Resilienz wird interdisziplinär verwendet. „This shift from risk to resilience, from pathology to health, and from definciency to asset can be seen throughout psychology and related disciplines“ (Noam et. al. o.J., S. 207). Je nach Ausrichtung der Disziplin ändert sich die schwerpunktmäßige Defi­nition von Resilienz. „Der Begriff ‚Resilienz‘ leitet sich vom englischen Wort ‚resilience‘ bzw. von dem lateinischen ‚resilire‘ (abprallen) ab und be­zeichnet in den Naturwissenschaften die Fähigkeit, sich unter Druck zu biegen ohne zu brechen und anschließend die ursprüngliche Form wieder anzu­nehmen (Elastizität, Spannkraft)“ (Schubert - Rakowski 2014, S. 31). Eine all­gemeinge­haltene Definition von Resilienz lautet: „the capacity of a system, enterprise, or a person to maintain its core purpose and integrity in the face of dramatically changed circumstances“ (Zolli/ Healy 2012, S. 7). In den Humanwis­senschaften hingegen wird Resilienz oft als ein Prozess betrachtet. „Resilienz ist kein Charaktermerkmal, sondern das Endprodukt von Pufferungs­prozessen, welche Risiken und belastende Ereignisse zwar nicht ausschließen, es aber dem Einzelnen ermöglichen, mit ihnen erfolgreich um­zugehen“ (Werner 2011, S. 33). So verschieden die einzelnen Disziplinen sind, in denen der Begriff der Resilienz verwendet wird, so gehen sie dennoch alle denselben Fragen nach: „What causes one system to break and another to change? How much change can a system absorb and still retain its integrity and purpose? What characteristics make a system adaptive to change?“ (Zolli/ Healy 2012, S. 5). Grundlegend zu diesen Fragen werden die Annahmen heran­gezogen, dass jedes System (in diesem Falle der Mensch) genügend Reserven hat, auf die es zurückgreifen kann, genügend Alternativen besitzt, um ein Problem zu lösen und sich Schutzmechanismen aufbaut, die bei Gefahr nicht das ganze System zusammenbrechen lassen (vgl. Zolli/ Healy 2012, S. 5 - 7). Aus entwicklungs­psychologischer Sicht wird Resilienz als „die Fähigkeit von Menschen ver­standen, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen“ (Welter - Enderlin/ Hildenbrand 2016, S. 13). Diese Definition soll als Grundlage der vorliegenden Bachelorarbeit dienen, wenn im weiteren Verlauf von Resilienz gesprochen wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass alle zuvor genannten Annahmen auf zwei wesentliche Merkmale zurück­zuführen sind: „continuity and recovery in the face of change“ (Zolli/ Healy 2012, S. 6).

2.2 Die Kauai-Längsschnittstudie

Die Psychologin Emmy Werner beginnt ihre professionelle Arbeit zur Resilienz­forschung mit der Dokumentation von Risikofaktoren, die Kinder verwundbar machen. Sie untersucht diese Einflüsse über kurze wie auch längere Zeit­räume. Durch ihre Arbeit auf diversen Kontinenten mit den unterschied­lichsten Ethnien kann sich Werner davon überzeugen, dass es auch Kinder gibt, die sich unter widrigen Lebensumständen normal entwickeln und keine Defizite in ihrer Persönlichkeitsentwicklung aufweisen. Daher fordert sie die Bereitschaft der Resilienzforschung, die Lebenswege der Kinder von der Ge­burt an bis ins Erwachsenenalter zu begleiten, um herausfinden zu können, warum sich manche Kinder ohne Defizite entwickeln und warum andere Kinder unter ihren widrigen Lebensumständen „untergehen“. „Resilient children posses certain qualities and/ or ways of viewing themselves and the world that are not apparent in youngsters who have not been successful in meeting challenges“ (Brooks 2005, S. 445). Vor diesem Hintergrund veröf­fentlicht Werner im Jahr 1977 ihre Pionierstudie, die Kauai Längsschnittstudie (vgl. Werner 2011, S. 32 - 33). Aus Sicht der Forscher ist die Insel Kauai und die Kohorte, die untersucht wird, prädestiniert für eine Längsschnittstudie. „One wonders if any other generation among Kauai`s children had been exposed to so many and such rapid changes“ (Werner/ Smith 1977, S. 19). Durch ihre natür­lichen Gegebenheiten und ökonomischen Ressourcen, aber auch durch die vielen Ereignisse, die die Kinder im Laufe ihres Lebens ertragen müssen, bietet Kauai viel Potenzial für die Studie.

Die Menschen auf Kauai betreiben einen florierenden Zucker- und Ananas­handel, bis dieser im Jahre 1973 einem großen Tourismusboom weichen muss. Die Probanden erfahren zu diesem Zeitpunkt, wie sich durch den Wegfall der landwirtschaftlichen Einnahmen eine chronische Armut auf der Insel ver­brei­tet. Mit dem Tourismus und der Armut, beginnen viele der jungen Probanden Drogen zu nehmen. Vor diesem großen Wandel erlebten die Probanden in ihrer Kindheit, wie Hawaii zum 50. Bundesstaat der USA wird, und darüber hinaus die Ermor­dungen von John F. und Robert Kennedy sowie die von Martin Luther King. Dazu kommt, dass im Jahr 1982 die Insel von dem Hurrikan „Iwa" verwüstet wird. Zehn Jahre später wird die Insel von dem Hurrikan „Inki" noch schwerer verwüstet als zuvor. Zum Zeitpunkt des Endes der Studie, als die Pro­banden 40 Jahre alt sind, muss die letzte übriggebliebene Zuckerplantage endgültig schließen. Neben den vielen negativen Ereignissen, die sich für die Probanden während der Studie ereignen, sind aber auch positive Ent­wicklungen für die damaligen Kinder zu verzeichnen. Das Schul­system wird stark verbessert und das erste College wird im Jahr 1968 auf Kauai eröffnet. Als die Probanden ein Viertel Jahrhundert alt sind, wird das Abtreibungsverbot beendet. Weiterhin wird kurz danach das Schuldprinzip bei Scheidungen auf­gehoben. Für die Probanden ergeben sich durch diese Änderungen völlig neue Entwicklungsmöglichkeiten, die sich von der Gene­ration ihrer Eltern deutlich unterscheiden (vgl. Werner/ Smith 1977, S. 15 - 19).

Zusammen mit ihrer Kollegin Ruth Smith führt Emmy Werner ihre Studie über 40 Jahre hinweg durch. Untersucht werden 698 Probanden aus der Kohorte von 1955 auf der hawaiianischen Insel Kauai. Kernstück dieser Studie ist der Vergleich von resilienten mit nicht resilienten Lebensläufen der Probanden. Mit der Geburt sowie im Alter von ein, zwei, zehn, achtzehn, zweiunddreißig und vierzig Jahren werden die Probanden stichprobenartig untersucht. Werner und Smith kommen zu dem Ergebnis, dass 30% der untersuchten Pro­banden ein hohes persönliches Entwicklungsrisiko mit vier oder mehr Risiko­faktoren aufweisen. Festzustellende Risikofaktoren sind unter anderem: chro­nische Armut oder psychische Erkrankungen der Eltern. Bereits im Schulalter entwickeln 129 dieser Kinder akute Lernprobleme und/ oder schwere Verhaltens­auffälligkeiten. Bei den restlichen Kindern dieser Risikogruppe sind keine Anzeichen von Entwicklungsdefiziten zu bemerken. Im Alter von 40 Jah­ren sind aus ihnen optimistische, leistungsfähige und selbstbewusste Erwach­sene geworden. Diese Probanden weisen auf diversen Ebenen schützende Faktoren auf. Sie haben vertraute Bindungspersonen, ein stabiles soziales Umfeld und ausgeprägte Bewältigungsmechanismen. Keiner dieser Pro­ban­den wird im Laufe der Studie straffällig oder ist auf die Hilfe von Sozial­diensten angewiesen. Das Forscherteam nimmt diese Entwicklung zum Anlass, die schützenden Faktoren zu kategorisieren, sie nach Geschlechter­merkmalen zu unterscheiden und sie auf verschiedene Entwicklungsabschnitte hin zu unter­suchen. Bestätigungen dieser Annahmen erhalten Werner und ihr Team durch ergänzende Studien, die weltweit durchgeführt werden. Es wird vali­diert, dass die auf Kauai dokumentierten Schutzfaktoren über geographische und ethnische Grenzen hinweg zu finden sind und dass diese einen gewich­tigeren Einfluss auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung haben als spezi­fische Risikofaktoren oder stresserzeugende Lebensumstände. Weiterhin kommen die Forscher um Werner zu der Erkenntnis, dass Resilienz nicht direkt messbar ist. Sie benötigt die Berücksichtigung zweier Komponenten: Die Risi­ken und derer positiver Bewältigung (vgl. Rönnau - Böse/ Fröhlich - Gildhoff 2015, S. 9 - 11).

2.3 Die Mannheimer Risikokinderstudie

In der deutschen Resilienzforschung kommt der Mannheimer Risikokinder­studie eine wichtige Bedeutung zu. Für den deutschsprachigen Raum hat diese Studie eine äquivalente Bedeutsamkeit wie die Kauai Längsschnittstudie für den englischsprachigen Raum. Die Mannheimer Risikokinderstudie basiert auf der Kurpfalzerhebung, die 1977 von dem „Zentralinstitut für seelische Ge­sundheit“ in Mannheim durchgeführt wird. Ziel der ursprünglichen Kurpfalzer­hebung ist es, Daten über die „psychische Entwicklung und ihrer Störungen bei Kindern mit unterschiedlich ausgeprägten Risikokonstellationen, die Identi­fikation der die Entwicklung besonders negativ beeinflussenden Einzel­risiken sowie die Identifikation von Schutz- und kompensatorischen Faktoren im Sinne von individuellen und Umweltressourcen“ (Esser et. al. 2000, online) zu erheben. Während der Mannheimer Risikokinderstudie wird diese Zielsetzung „um biologische und neurowissenschaftliche Ansätze ergänzt, die sowohl molekulargenetische als auch bildgebende Verfahren umfassten“ (Esser et. al. 2000, online). Weiterhin wollen die Forscher anhand der Er­gebnisse Konzepte entwickeln, die präventiv für Entwicklungs- und Verhaltens­störungen bei Kindern wirken können. In bisher vorhandenen Risiko­forschungen wird keine Unterscheidung der Risikofaktoren vorgenom­men. An dieser Stelle nimmt die Mannheimer Risikokinderstudie eine Pionier­stellung ein. Aufgrund der bisher mangelnden Ergebnisse unterteilen die For­scher die Risikofaktoren in biologische und psychosoziale Belastungen. Die ersten Daten erheben die Forscher bei der Geburt der Kinder. Danach folgen zehn weitere Erhebungszeitpunkte „(drei Monate, zwei Jahre, viereinhalb Jahre, acht Jahre, 11 Jahre, 15 Jahre, 19 Jahre, 22 Jahre, 23 Jahre, 24-25 Jahre)" (Esser et. al. 2000, online). Aufgrund dieser intensiven Erhebungsintervalle kann die Mannheimer Risikokinderstudie ihren „Dropout“ bei unter einem Prozent pro Jahr halten. Probanden der Mannheimer Risikokinderstudie sind eine Stichprobe von N = 384 Kinder. Die Kohorte wird zwischen Dezember 1986 und Februar 1988 geboren. Säuglinge, bei denen biologische Risiko­faktoren - wie prä- und perinatale sowie neonatale Komplikationen - auf­treten, werden in die Stichprobe inkludiert. Darüber hinaus müssen weitere Kriterien erfüllt sein: „erstgeborenes Kind, aufgewachsen bei mindestens einem leib­lichen Elternteil, deutschsprachige Familie (wegen der stark sprachlastigen Untersuchungsbatterie), keine schweren angeborenen Er­krankungen, Sinnes­behinderungen oder Missbildungen, keine Mehrlingsge­burt“ (Esser et. al. 2000, online). Zu den psychosozialen Risikofaktoren der Säuglinge werden die Eltern anhand eines Interviews befragt. Von vor­rangigem Interesse der For­scher sind die familiären Lebensbedingungen. Es werden Daten zu dem Bildungs­stand der Eltern, ihrer wohnlichen Situation, vorhandenen psy­chischen Erkrankungen sowie den sozialen Kontakten der Eltern erfasst. Mit der Erhebungswelle ab dem 15. Lebensjahr der Probanden beginnen die For­scher ihre Datengewinnung mit Hilfe der Molekulargenetik zu erweitern. Mit Einwilligung wird den Probanden Blut entnommen. Die Forscher versprechen sich mit Hilfe dieser Untersuchung, einen Zusammen­hang zwischen der gene­tischen Vulnerabilität und den psychosozialen Risiken herstellen zu können. Ab dem 25. Lebensjahr der Probanden erweitern die Forscher ihre Daten­gewinnung mit Hilfe der bildgebenden Verfahren, wie MRT oder EEG. Pro­banden, die ein aggressives und dissoziales Verhalten zeigen sowie an Auf­merksamkeitsstörungen leiden, zeigen im MRT und EEG eine Ver­änderung der Hirnareale, die für die emotionale Verarbeitung zuständig sind (vgl. Esser et. al. 2000, online).

Die Ergebnisse der Mannheimer Risikokinderstudie postulieren, dass es einen Zusammenhang zwischen frühkindlichen Risikofaktoren und späteren Ent­wicklungsstörungen gibt. Signifikant zu beobachten ist, dass sich die nega­tiven Folgen der organisch belasteten Kinder im Grundschulalter sehr stark manifestieren und dass eine Vielzahl der Kinder nicht in der Lage ist, in einer Regelschule beschult zu werden. Die Ergebnisse zeigen weiterhin auf, dass bei allen Erhebungszeitpunkten das kognitive Leistungsniveau der belasteten Kinder deutlich unter dem ihrem Alter entsprechenden Durchschnitt liegt. Generell halten die Forscher fest, dass sich alle Entwicklungsrückstände, egal ob biologisch oder psychosozial, bereits im Säuglingsalter der Kinder zeigen und sich im Alter von acht Jahren am meisten manifestieren. Kinder, die unter multiplen Risikobelastungen leiden, bekommen für ihre soziale - emotionale Entwicklung die ungünstigste Prognose. Anknüpfend an bereits vorliegende Studien unterstreichen die Ergebnisse der Mannheimer Risikokinderstudie, dass eine langfristige Korrelation zwischen frühkindlichen Belastungen und dem Auftreten von Entwicklungsstörungen vorhanden ist. Je mehr Kompli­kationen die Kinder bei der Geburt ausgesetzt sind und je mehr diese mit so­zialen widrigen Lebensumständen kumulieren, desto größer wird die Wahr­scheinlichkeit, dass bei diesem Kind eine Entwicklungsstörung auftritt. An dieser Stelle wird die Mannheimer Risikokinderstudie seitens der Resilienz­forschung kritisiert. Die Forscher sind der Ansicht, dass es eine Vielzahl wei­terer Faktoren benötigt, die eine Manifestation von Entwicklungsstörungen begünstigen bzw. verhindern können. An der Mannheimer Risikokinderstudie wird bemängelt, dass die resilienten Faktoren, die ein Kind von Natur aus mit sich bringt, keine Beachtung finden. Im Sinne der Resilienzforschung kann ein Risikokind bis zu einem bestimmten Maß Einfluss auf seine Umwelt nehmen und dadurch seine soziale - emotionale Entwicklung selber beeinflussen (vgl. Esser et. al. 2000, online).

2.4 Resilienz in der Entwicklung von Kindern

„Resilience may be understood as the capacity of child to deal effectively with stress and pressure, to cope with everyday challenges, to rebound from disappointments, mistakes, trauma, and adversity, to develop clear and rea­listic goals, to solve problems, to interact comfortably with others, and to treat oneself and others with respect and dignity“ (Brooks 2005, S. 443). Aktuelle Resilienzforschungen mit Schwerpunkt in der Entwicklung der Resilienz im Kindesalter werden weltweit durchgeführt. Obwohl sich in den diversen Forschungssettings viele kulturelle Unterschiede erkennen lassen, beschäfti­gen sich dennoch alle Forschungen mit der gleichen Fragestellung: „Wie sich Kinder trotz widrigster Lebensumstände so integrieren, dass es ihnen gelingt, ihren Aufgaben und Zielen gut nachzukommen“ (Schubert - Rakowski 2014, S. 32). Auch Wustmann weist darauf hin, dass für die kindliche Entwicklung von Resilienz zwei Faktoren entscheidend sind. Die Entwicklung eines Kindes muss durch eine signifi­kante Bedrohung gefährdet sein und diese belastenden Lebensumstände müssen erfolgreich gemeistert werden. Wenn ein Kind von sich aus „ein hohes Maß an Selbstvertrauen, Sozialkompetenz und Lernbereitschaft [zeigt], kann [dies] nicht per se als Ausdruck von Resilienz gewertet werden“ (Wustmann 2018, S. 18). Demnach muss ein Kind eine besondere Bewältigungsleistung gegenüber widrigen Lebensereignissen erbringen, um als resilient zu gelten (vgl. Wustmann 2018, S. 18 - 20). Kinder, die Resilienz entwickelt haben, sind in der Lage, ihre „Entwicklungsrisiken weitestgehend zu vermindern oder zu kompensieren, negative Einflüsse aus­zugleichen und sich gleichzeitig gesund­heitsfördernde Kompetenzen anzu­eignen“ (Wustmann 2018, S. 20). Wustmann ist ebenfalls der Meinung, dass sich der Begriff der Resilienz nicht allein auf die Abwesenheit psychischer Störungen bezieht, sondern dass Resilienz das Erlernen von „altersangemes­senen Fähigkeiten und Kompetenzen ist [und] die erfolgreiche Bewältigung von alterspezifischen Entwicklungsauf­gaben [mit einschließt]“ (Wustmann 2018, S. 20).

2.4.1 Schutzfaktoren

Die risikoreduzierenden Faktoren stehen als Gegenpol zu den risikoerhöhen­den Faktoren. Wichtig für die Definition eines Schutzfaktors ist das Vor­han­densein einer risikoreichen Störung. Entfällt diese, ist nicht von einem Schutz­faktor im eigentlichen Sinne zu sprechen. Ein Schutzfaktor muss dazu bei­tragen, einen vorhandenen Risikofaktor zu neutralisieren oder diesen zu­min­dest zu mildern. In der Bewältigung von Risikosituationen nehmen die Schutz­faktoren eine bedeutende Rolle ein. Sie dienen dazu, „die Anpassung eines Individuums an seine Umwelt [zu fördern] bzw. erschweren die Mani­festation einer Störung“ (Wustmann 2018, S. 46). Weiterhin wirken die Schutzfaktoren auf drei wesentlichen Ebenen: der des Kindes, der Familie und der sozialen Umwelt. Hierbei gilt es zu beachten, dass keine dieser Ebenen iso­liert be­trachtet werden kann, sondern dass es sich um eine ständige Inter­aktion die­ser drei Ebenen handelt. Vor diesem Hintergrund findet die For­schung eine Erklärung dafür, dass manche Kinder eine Vielzahl an persönlichen Ressourcen entwickeln, wohingegen andere Kinder nicht über diese Kom­petenzen ver­fügen (vgl. Wustmann 2018, S. 44 - 48). Auch Werner kommt wäh­rend der Kauai Längsschnittstudie zu dem Ergebnis, dass Schutzfaktoren bei einigen Kin­dern vorhanden sind. Sie unterteilt diese Schutzfaktoren in drei ver­schiedene Gruppen: „three clusters of protective factors differentiated this ‚resilient‘ group who had successfully overcome the odds from the other ‚high risk‘ youths who developed serious and persistent coping problems in childhood and/ or adolescence [...]“ (Werner 2001, S. 185).

Der erste Cluster beinhaltet Merkmale, die selber im Kind immanent sind. Kinder mit diesen entsprechen­den Merkmalen werden kurz nach der Geburt und bis zu ihrem zweiten Lebens­jahr von ihren Eltern wie auch von fremden Personen als „aktiv, liebevoll, schmusig, gutmütig und umgänglich [sowie] liebenswürdig, fröhlich, freundlich, mitteilsam und gesellig“ (Werner 2011, S. 37) beschrieben. Im Ge­gensatz zu den Probanden, die später Probleme ent­wickeln, haben die als resilient bezeichneten Kinder von Anfang an mehr motorische Fähigkeiten, eine bessere Sprachentwicklung und sie sind in der Lage, sich selber zu helfen. Im Alter von zehn Jahren zeigen die Probanden wesentlich bessere schulische Leistungen als ihre benachteiligten Gleich­altrigen. Weiterhin stellen die For­scher um Werner fest, dass die Kinder mit Anpassungsproblemen keine kon­krete Vorstellung von ihrer beruflichen Zukunft haben und zusätzlich ein man­gelndes Selbstvertrauen aufweisen. Die resilienten Kinder hingegen glauben an ihre eigenen Fähigkeiten und sind davon überzeugt, dass sie ihre Probleme aus eigener Kraft lösen können.

Die zweite Gruppe der schützenden Faktoren bezieht sich auf die Familien der Kinder. In Familien, die resiliente Kinder her­vorbringen, gibt es von Anfang an eine enge Bindungs- und Vertrauensperson, auf die sich die Kinder jederzeit verlassen können. Dies gibt den Kindern die Möglichkeit, von Geburt an eine positive Bindungserfahrung zu machen. Jun­gen, die sich selber gegen ihre widrigen Lebensumstände behaupten können, haben in ihrer Kindheit einen Mann als Identifikationsperson in ihrer Nähe. Diese Jungen sind es gewohnt, dass sie von Strukturen und Regeln umgeben sind, die ihnen die nötige emo­tionale Stabilität vermitteln. Bei den resilienten Mädchen sind in ähnlicher Weise verlässliche, weibliche Vertrauenspersonen vorhanden. In Familien mit emotional starken Mädchen wird viel Wert auf die Unabhängigkeit des weib­lichen Nachwuchses gelegt.

Der dritte Cluster der protektiven Faktoren beinhaltet das soziale Umfeld der resilienten Kinder. Werner und ihr Team berichten, dass für die resilienten Kinder eine Peergroup von großer Bedeutung ist. Die Kinder, die sich gegen ihre negativen Einflüsse behaupten, holen sich nicht nur bei ihren Eltern, sondern auch bei ihrem Ge­meinwesen emotionale Unterstützung. Viele der resilienten Probanden finden in ihrem sozialen Umfeld weitere positive Rol­lenmodelle, auf die sie sich ver­lassen können und die ihnen Halt und Unter­stützung geben (vgl. Werner 2011, S. 36-38).

2.4.2 Risiko- und Vulnerabilitätsfaktoren

Ein Merkmal, „das bei einer Gruppe von Individuen, auf die dieses Merkmal zutrifft, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Störung im Vergleich zu einer unbelasteten Kontrollgruppe erhöht“, wird als ein Risikofaktor definiert (Laucht 1999, S. 303). Der Teil der Resilienzforschung, der sich mit den risikoer­höhenden Faktoren beschäftigt, legt den Fokus auf die Lebensbedingungen, die die kindliche Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen. Die heutige For­schung separiert diese Faktoren in zwei wesentliche Gruppen der Ent­wicklungsgefährdung. Auf der einen Seite die Vulnerabilitätsfaktoren. Denen gegenüber stehen die Risikofaktoren. Als Vulnerabilitätsfaktoren gelten Be­dingungen, die biologische oder psychologische Merkmale des Kindes auf­weisen. Weiterhin lassen sich die Vulnerabilitätsfaktoren in primäre und se­kundäre Elemente unterteilen. Alle Beeinträchtigungen, die von Geburt an bei einem Kind vorhanden sind, werden als primäre Vulnerabilitätsfaktoren de­finiert. Als sekundäre Vulnerabilitätsfaktoren oder auch Risikofaktoren wer­den alle Defizite bezeichnet, die ein Kind während der Auseinandersetzung mit seiner psychosozialen Umwelt ‚erwirbt‘. Treten die Risikofaktoren nur zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben eines Kindes auf, bezeichnet man diese als diskrete Faktoren. Bestehen die Risikobedingungen über den gesamten Entwicklungsverlauf, so wird von kontinuierlichen Faktoren gesprochen. Die heutige Resilienzforschung geht davon aus, dass primäre Vulnerabilitäts­faktoren mit heranwachsendem Alter an Bedeutung verlieren wohingegen die sekundären Vulnerabilitätsfaktoren an Gewichtung zunehmen. Ein we­sent­licher Bestandteil der Risikofaktoren ist, dass diese in den meisten Fällen nicht isoliert auftreten. Es handelt sich vielmehr um eine Kumulation und um ein sich gegenseitiges Verstärken der Risikofaktoren. Neben der Kumulation der risikoerhöhenden Bedingungen ist ebenfalls der Zeitpunkt des Auftretens von Bedeutung. Je früher im Leben eines Kindes die Risikofaktoren auftreten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die weitere Entwicklung des Kin­des durch erneut auftretende Risikofaktoren beeinträchtigt ist. Nicht nur der zeitliche Aspekt des Auftretens der Risikofaktoren ist ausschlaggebend für eine Entwicklungs­störung des Kindes, sondern auch, wie lange ein Kind unter den schädigenden Einflüssen leben muss. Je länger ein Kind den negativen Faktoren ausgesetzt ist und je häufiger sich diese wiederholen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Kind zu einer ‚Risikopersönlichkeit‘ entwickelt. Nicht zuletzt kommt der subjektiven Bedeutung, die ein Kind den ihm widerfahrenden Risikofaktoren beimisst, eine bedeutende Rolle zu (vgl. Wustmann 2018, S. 36 - 44).

2.5 Lebensphasen und Entwicklungsaufgaben

Wissenschaftlich betrachtet herrscht ein Konsens darüber, den menschlichen Lebenslauf in vier Phasen zu unterteilen: die Kindheit, die Jugend, das Er­wachsenen- und das Seniorenalter. Jede dieser Phasen stellt für die biogra­fische Gestaltung des Lebens ihre eigenen Anforderungen an das Individuum (vgl. Hurrelmann/ Bauer 2018, S. 106). Nachfolgend sollen nur die Lebens­phasen Kindheit und Jugend genauer beleuchtet werden, da diese für die Kin­der- und Jugendhilfe von primärer Bedeutung sind. Aufgrund der Tatsache, dass die Anforderungen der jeweiligen Lebensphasen eng mit den zu be­wälti­genden Entwicklungsaufgaben einhergehen, wird in diesem Kapitel ebenfalls auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben zurückgegriffen.

2.5.1 Entwicklungsaufgaben

„Im Lebenslauf kommt es zu einer ständigen Konfrontation mit neuen Situationen, die jeweils mit angemessenen Formen des Handelns bewältigt werden müssen“ (Hurrelman/ Bauer 2018, S. 106). Das Konzept der Entwicklungsaufgaben bietet hier ein nützliches Orientierungsmuster, um die sozialen Anforderungen und die individuellen Entwicklungsverläufe gegen­überzustellen. Eine Entwicklungs­aufgabe charakterisiert sich durch das Erlangen von individuellen Handlungs­fähigkeiten. Das Individuum soll in der entsprechen­den Entwicklungsphase lernen, wie es mit seinem Körper, seiner Psyche und seiner Umwelt umzugehen hat. Aufgrund der menschlichen Evo­lution sind die biologischen und psychologischen Voraussetzungen bei den meisten Menschen identisch. Unterschiede sind in den kulturellen und so­zialen Gege­benheiten vorhanden (vgl. Hurrelmann/ Bauer 2018, S. 106-107). Grundsätzlich bauen die diversen Entwicklungsaufgaben der einzelnen Lebens­phasen auf­einander auf. Unterschiede bestehen nur in den Anfor­derungen, die in jeder Lebensphase an das Individuum gestellt werden. Diese Anforderungen bringen eine stetige Neuorganisation von persönlichen und sozialen Res­sourcen mit sich. Hurrelmann unterteilt die Entwicklungsaufgaben der Lebensphasen in vier Gruppen.

Die erste Gruppe bildet das „Qualifizieren“. Das Individuum soll lernen, ein aktives Mitglied der Gesellschaft zu werden. Es muss Kompetenzen und Fähig­keiten entwickeln, die es erlauben, den gesell­schaftlichen Leistungs- und Sozial­anforderungen gerecht zu werden. Mit Ab­schluss dieser Entwicklungs­aufgabe erlangt das Individuum den schulischen sowie beruflichen Abschluss und ist in der Lage, sich selber seinen Lebens­unterhalt zu verdienen.

Das „Binden“ ist Inhalt der zweiten Entwicklungs­aufgabe. Bei dieser Entwick­lungsaufgabe geht es darum, dass sich das Indivi­duum mit seinem eigenen Geschlecht identifizieren kann. Zu Beginn soll das Individuum lernen, sich von seinen Eltern emotional zu lösen, um später selber intime Beziehungen ein­gehen zu können. Wenn das Individuum fähig und be­reit ist, eine eigene Familie zu gründen, so ist diese Entwicklungsaufgabe ab­geschlossen.

Als dritte Gruppe führt Hurrelmann das „Konsumieren“ an. Das Individuum lernt mit dieser Entwicklungsaufgabe den gesunden Umgang mit dem Kon­sum von Medien, Geld, Freizeit- und Wirtschaftsangeboten. Das Indi­viduum soll dahin geführt werden, dass es seinen Konsum zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen weiß und in der Lage ist, einen eigenen Haushalt führen zu können. Außerdem sollen die Konsumgüter dazu gebraucht werden, dass das Indivi­duum seine eigene Leistungsfähigkeit aufrechterhält bzw. wiederher­stellt.

Die letzte Gruppe der Entwicklungsaufgaben bildet das „Partizipieren“. Ziel dieser Entwicklungsaufgabe ist es, dass das Individuum ein eigenes Werte- und Normensystem entwickelt. Die eigene Moral soll dem Individuum helfen, sich eine eigene Meinung zu gesellschaftlichen oder politischen Standpunkten bilden zu können. Ist das Individuum in der Lage, seine eigenen Bedürfnisse gegenüber der Öffentlichkeit zu verteidigen, ist diese Entwicklungsaufgabe als abgeschlossen zu betrachten (vgl. Hurrelmann/ Bauer 2018, S. 108 - 109).

Für Hurrelmann „[setzt] die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben in jeder Lebens­phase eine intensive ‚Arbeit an der eigenen Person‘ voraus“ (Hurrelmann/ Bauer 2018, S. 109).

2.5.2 Lebensphase Kindheit

Die Lebensphase „Kindheit“ (als ein geschützter Raum für das Kind) gibt es bis Mitte des 19. Jahrhunderts nicht. Es wird zu diesem Zeitpunkt nicht zwischen Kind­heit, Jugend und Erwachsensein unterschieden. Kinder, die zu dieser Zeit auf­wachsen, kennen keine Kindheit im heutigen Sinn. Sie leben und arbeiten meist schon in ihren frühen Lebensjahren wie ihre Eltern. Einen Schonraum für ihre kindlichen Bedürfnisse gibt es nicht. Auf ihre emotionale und kognitive Entwicklung wird keine Rücksicht genommen. Viele Kinder müssen große kör­perliche und psychische Belastungen, die nicht selten mit Missbrauch ver­bunden sind, ertragen. Erst mit dem Fortschritt der Industrialisierung kommt der Familie und damit auch der Kindheit mehr Bedeutung zu. Die Familie ver­steht sich jetzt als Sozialisationsinstanz. Durch die Etablierung von Kinder­gärten und Schulen wird die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ernst ge­nommen. Das Kind soll auf ein Leben in der Gesellschaft vorbereitet werden. Gibt es anfangs keine ausgeprägte Kindheit, ist die heutige Kindheit zwar vor­handen, wird aber immer kürzer. In der heutigen Zeit werden Kinder immer früher geschlechtsreif und stehen so immer näher an dem Übergang zur Lebens­phase der Jugend.

[...]

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Details

Title
Wie Hunde die Resilienz von Kindern und Jugendlichen fördern können. Die besondere Eignung des Hundes für die tiergestützte Pädagogik
Author
Year
2021
Pages
61
Catalog Number
V908749
ISBN (eBook)
9783964872876
ISBN (Book)
9783964872883
Language
German
Keywords
Resilienz, tiergestützte Pädagogik, Kinder- und Jugendhilfe, Bindungstheorie, Vulnerabilität, Oxytocin, Salutogenese, Biophilie-Hypothese
Quote paper
Nadine Fischer (Author), 2021, Wie Hunde die Resilienz von Kindern und Jugendlichen fördern können. Die besondere Eignung des Hundes für die tiergestützte Pädagogik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/908749

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