Sozialisationsprozesse laufen in der arbeitsteiligen Gesellschaft zumeist in Institutionen ab. Eine zentrale Sozialisationsinstanz neben der Familie ist die Schule, die jeder Mensch einige Jahre durchlaufen muss und die ihn auf bestimmte Weise prägt. Die Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) und Talcott Parsons (1902-1979) haben sich zeit ihres Lebens intensiv mit dieser Thematik beschäftigt und die unterschiedlichen Funktionen der Schule für die Gesellschaft und die Entwicklung des Individuums beleuchtet. Parsons' Sozialisationstheorie wurde von den Arbeiten Durkheims stark beeinflusst. In der vorliegenden Arbeit soll die Bedeutung aufgezeigt werden, die Durkheim und Parsons der Schule als Sozialisationsinstanz zuschreiben.
Zunächst wird eine allgemeine Einführung in die Sozialisationstheorie der beiden Soziologen gegeben, wobei auffällige Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden sollen. Ein längerer Abschnitt beschäftigt sich mit den Grundzügen von Parsons' Systemtheorie, die ein Verständnis seiner Gedanken zum Sozialisationsprozess erleichtert. Der Hauptteil der Arbeit behandelt die sozialisierende Funktion von Schule, wobei wieder die Annahmen von Parsons und Durkheim miteinander kontrastiert werden sollen. Unter anderem geht es um die Unterschiede zwischen Familie und Schule sowie um die Funktion des Lehrers und seinen Einfluss auf die Schüler.
Die Soziologen setzen in ihren Arbeiten unterschiedliche Schwerpunkte, auf die jeweils detailliert eingegangen wird. Für Parsons spielt die Selektions- und Allokationsfunktion der Schule eine entscheidende Rolle, wohingegen Durkheim eher den erzieherischen Charakter der Institution in den Vordergrund stellt. Grundlegend für die Betrachtung ist zunächst Durkheims bekannte Vorlesung "Erziehung, Moral und Gesellschaft", die der französische Soziologe im Semester 1902/1903 an der Pariser Sorbonne hielt. Zudem bildet Parsons' berühmter Aufsatz "Die Schulklasse als soziales System: Einige ihrer Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft" aus dem Jahr 1968 eine wichtige Grundlage der vorliegenden Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Der Sozialisationsbegriff bei Durkheim und Parsons
2.1 Emile Durkheim: Sozialisation als verinnerlichte Moral
2.2 Der Sozialisationsbegriff bei Talcott Parsons
2.2.1 Bezug zur strukturfunktionalen Systemtheorie
2.2.2 Sozialisation als Identifikation mit sozialen Rollen
3 Schulische Sozialisation bei Emile Durkheim
3.1 Erziehung, Moralität und Schuldisziplin
3.2 Die Rolle des Lehrers
3.3 Familiale versus schulische Sozialisation
4 Schulische Sozialisation bei Talcott Parsons
4.1 Der Unterschied zwischen Familie und Schule
4.2 Die Schulklasse als soziales System
4.3 Die Rolle des Lehrers
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Schon nach wenigen Jahren des Aufwachsens lösen sich Kinder und Jugendliche in unseren Ge- sellschaften partiell aus dem Interaktionsbereich der Familie und bewegen sich im spezifischen so- zialen Interaktionsbereich der Schule, der anders strukturiert ist und andere Rollenerwartungen
kennt als die Familie“ (Hurrelmann 1973: 147).
Sozialisationsprozesse laufen in der arbeitsteiligen Gesellschaft zumeist in Institutionen ab (vgl. Tillmann 1997: 104). Eine zentrale Sozialisationsinstanz neben der Familie ist die Schule, die jeder Mensch einige Jahre durchlaufen muss und die ihn auf bestimmte Weise prägt. Die Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) und Talcott Parsons (1902-1979) haben sich zeit ihres Lebens intensiv mit dieser Thematik beschäftigt und die unterschiedlichen Funktionen der Schule für die Gesellschaft und die Entwicklung des Individuums beleuchtet. Parsons` Sozialisationstheorie wurde von den Arbeiten Durkheims stark beeinflusst (vgl. ebd.: 35 ff.) In der vorliegenden Hausarbeit soll die Bedeutung aufgezeigt werden, die Durkheim und Parsons der Schule als Sozialisationsinstanz zuschreiben.
Zunächst wird eine allgemeine Einführung in die Sozialisationstheorie der beiden Soziologen gegeben, wobei auffällige Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden sollen. Ein längerer Abschnitt beschäftigt sich mit den Grundzügen von Parsons` Systemtheorie, die ein Verständnis seiner Gedanken zum Sozialisationsprozess erleichtert. Der Hauptteil der Arbeit behandelt die sozialisierende Funktion von Schule, wobei wieder die Annahmen von Parsons und Durkheim miteinander kontrastiert werden sollen. Unter anderem geht es um die Unterschiede zwischen Familie und Schule sowie um die Funktion des Lehrers und seinen Einfluss auf die Schüler.
Die Soziologen setzen in ihren Arbeiten unterschiedliche Schwerpunkte, auf die jeweils detailliert eingegangen wird. Für Parsons spielt die Selektions- und Allokationsfunktion der Schule eine entscheidende Rolle, wohingegen Durkheim eher den erzieherischen Charakter der Institution in den Vordergrund stellt. Grundlegend für die Betrachtung ist zunächst Durkheims bekannte Vorlesung Erziehung, Moral und Gesellschaft, die der französische Soziologe im Semester 1902/1903 an der Pariser Sorbonne hielt. Zudem bildet Parsons` berühmter Aufsatz Die Schulklasse als soziales System: Einige ihrer Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft aus dem Jahr 1968 eine wichtige Grundlage der vorliegenden Arbeit.
2 Der Sozialisationsbegriff bei Durkheim und Parsons
2.1 Emile Durkheim: Sozialisation als verinnerlichte Moral
„Wenn unser Gewissen spricht, spricht die Gesellschaft“ (zit. nach Veith 1996: 117). Emile Durkheim gilt als Begründer der Sozialisationstheorie, obwohl sie nie im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit stand. Für ihn sind vor allem die Auswirkungen der gesellschaftlichen Umwandlungen auf das Moralbewusstsein der Individuen von Interesse. Er beschäftigt sich damit, warum trotz allgemeiner Individualisierungstendenzen auch in arbeitsteilig differenzierten Gesellschaften zwischen den Einzelnen Solidarität möglich ist (vgl. ebd.: 114 ff.).
Warum befolgen Menschen soziale Regeln? Im Zusammenhang mit Durkheims Untersuchung des Übergangs von einfachen zu arbeitsteilig organisierten Industriegesellschaften steht diese Frage im Mittelpunkt seines sozialisationstheoretischen Werkes (vgl. Hurrelmann 2006: 11). Er ist der Ansicht, dass Menschen sich nur deshalb an soziale Regeln halten, weil diese gesellschaftlicher Natur sind. Durkheim geht zunächst davon aus, dass der Mensch als egoistisches und asoziales Wesen zur Welt kommt und bei seiner Geburt nichts als seine individuelle Natur mitbringt (vgl. Durkheim 1972: 46). Die Gesellschaft forme ihn dann im Laufe des Sozialisationsprozesses so, dass er in der Lage sei, ein soziales und moralisches Leben zu führen. Nur auf diesem Wege entwickele sich der Einzelne zu einer sozialen Persönlichkeit. Ohne die Zivilisation wäre der Mensch nach Durkheim nur ein Tier. Sein Verhalten sei ihm durch Gefühle vorgeschrieben, die ihm die Gesellschaft eingepflanzt habe (vgl. Durkheim 1984: 8 f.). Die Aufgabe der Erziehung, definiert als planmäßige Sozialisation, liege hierbei darin, das Kind – wie Durkheim es ausdrückt – zum Menschen zu machen (vgl. Veith 1996: 120).
Sozialisation ist für den französischen Soziologen ein Vorgang der Vergesellschaftung der menschlichen Natur und damit als sozialer Vereinnahmungsprozess der Persönlichkeit zu verstehen. Die Gesellschaft durchdringe den Menschen von allen Seiten, so dass ein großer Teil seiner Natur mit ihr identisch sei. Zentral erscheint in diesem Zusammenhang der von Durkheim geprägte Begriff des sozialen Zwangs. Er geht davon aus, dass der normative Zwang der Gesellschaft auf jedem einzelnen Mitglied lastet. Das Pflichtbewusstsein bildet sich danach ausschließlich unter diesem permanenten Zwang des Sozialen aus, dessen wesentliche Funktion in der Einschränkung der natürlichen menschlichen Triebe liegt. Die Gesellschaft, deren Ergebnis der Mensch nach dieser Auffassung im Wesentlichen ist, wirkt also disziplinierend. Durkheim nimmt an, dass normative Anforderungen in den Menschen Gefühle auslösen, welche die Bereitschaft zur Unterordnung unter die Autorität des Kollektivs hervorrufen. Daraus schließt er, dass die sozialen Regeln nicht wirklich repressiv wirken (vgl. ebd: 119 ff.). „Einem individuellen Bedürfnis folgen heißt nicht, aus eigenem Antrieb handeln, sondern sich nach sozialen Regeln zu verhalten und unter dem verinnerlichten Zwang der übergeordneten Kollektive zu agieren“ (ebd.: 166 f.).
Indem die Gesellschaft dem Menschen die Arten des Denkens, Fühlens und Handelns vorschreibt, verpflichte sie ihn folglich zur Einhaltung der sozialen Regeln. Sie regt in ihren Mitgliedern nach Durkheim die Ausbildung eines sozialen Ichs an, dessen Aufgabe es ist, aus dem Einzelwesen einen integrierten Teil des Ganzen zu machen. Durch die soziale Überformung der Triebkonstitution bilde sich beim Menschen das System der individuellen Moral heraus, das – ähnlich wie die Gesellschaft – mit Autorität und Zwangsgewalt ausgestattet sei und daher zur Basis sozialer Solidarität werden könne. Die Moralität ermögliche es dem Menschen, in sich einen Willen auszubilden, der über das bloße Verlangen hinaus geht. Dieser psychische Prozess ergänze den äußeren sozialen Zwang nach und nach, bis er ihn schließlich ersetze (vgl. ebd.: 120 f.). Wenn alle Gesellschaftsmitglieder die Normen und Zwangsmechanismen internalisiert hätten und die Gesellschaft ihre Persönlichkeit von innen her organisiere, könne es gelingen, den Bestand moderner Industriegesellschaften zu sichern (vgl. Hurrelmann 2006: 12).
Der Sozialisationsvorgang ist Durkheims Auffassung nach in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft komplizierter geworden. Auf Grund der von ihm konstatierten Entwertung der Traditionssubstanz sei der Einzelne dort gezwungen, sich an überpersönlichen Normen zu orientieren. Anders als in der historisch früheren segmentären herrschten in der funktional differenzierten organischen Gesellschaft ein heterogenes Kollektivbewusstsein und eine weniger rigide Form des sozialen Zwangs vor. Damit erweiterten sich zwar einerseits die individuellen Handlungsspielräume, andererseits fehle es jedoch an kollektiven Deutungsmustern, die eine verbindliche Orientierung geben. Nach Durk-heim besteht die Aufgabe des modernen Individuums nun darin, nach einer solchen verallgemeinerbaren Orientierung zu suchen. Um die Risiken einer komplizierter gewordenen Sozialisation abzufangen, gewännen dabei Erziehungseinrichtungen – insbesondere die Schule – eine immer größere Bedeutung (vgl. Veith 1996: 126 ff.).
2.2 Der Sozialisationsbegriff bei Talcott Parsons
2.2.1 Bezug zur strukturfunktionalen Systemtheorie
Talcott Parsons` Anspruch ist die Entwicklung einer integralen, den gesamten Lebenslauf mit einbeziehenden Sozialisationstheorie, die nicht nur die wichtigsten Theorieströmungen miteinander verbindet, sondern zugleich in eine allgemeine Systemtheorie eingebunden ist. Dabei widmet er sich vor allem Durkheims Leitfragen, wie Gesellschaft und Individuum zusammenhängen, auf welche Weise sich Persönlichkeiten im Sozialisationsprozess herausbilden und wie es komplexen Gesellschaften gelingt, soziale Stabilität zu entwickeln (vgl. Schulze/Künzler 1991: 123 ff.). Anders als der französische Soziologe, für den die Veränderungen von Gesellschaften im Mittelpunkt stehen, kümmert sich Parsons jedoch primär um die internen Bedingungen für die Stabilität von Gesellschaftssystemen (vgl. Baumgart 2004: 81).
Grundlegend für Parsons` strukturfunktionale Systemtheorie ist die Annahme, dass die Gesamtgesellschaft aus mehreren Subsystemen zusammengesetzt sei. Sowohl das Gesamtsystem als auch jedes Teilsystem strebten nach Selbsterhaltung und seien auf den Austausch mit anderen Gesellschaftssystemen angewiesen. Um die Stabilität jedes Systems zu gewährleisten, müsse diese Zusammenarbeit möglichst konfliktfrei ablaufen. Die Teilsysteme erfüllten dabei jeweils unterschiedliche Funktionen für das Gesamtsystem. Um ihren Beitrag zum Erhalt des Gesamtsystems angemessen erfüllen zu können, entwickelten die Teilsysteme spezifische Institutionen, in denen jeweils unterschiedliche Handlungsregeln herrschten: In Schulen gebe es andere Regeln als in Krankenhäusern, Fabriken oder Parlamenten. In Parsons` Terminologie werden diese Spielregeln als Rollenerwartungen bezeichnet. Die Stabilität von Gesellschaftssystemen hängt für ihn stark davon ab, dass sowohl die Interessen und Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder als auch ihre Handlungen nicht im Widerspruch mit den funktionalen Anforderungen der Gesamtgesellschaft respektive den Regeln der Teilsysteme stehen. Diese Annahme benutzt er, um die bereits von Durkheim intensiv bearbeitete Frage zu beantworten, wie es möglich sei, dass Menschen systemkonform handeln (vgl. ebd.: 81 f.).
Den Systembegriff wendet Parsons sowohl auf inhaltlich und funktional zusammenhängende gesellschaftliche Einheiten als auch auf die menschliche Persönlichkeit an. Sein zentrales Anliegen ist die Identifikation der unterschiedlichen Systeme und Subsysteme, die Analyse ihres Zusammenspiels und die Herausarbeitung ihrer Funktion für jeweils andere Systeme. Der Soziologe verbindet dabei die Makroperspektive gesellschaftlicher Sozialstrukturen mit der Mikroperspektive der individuell-psychischen Persönlichkeitsstruktur (vgl. Hurrelmann 2006: 82 f.). Mit Hilfe des sogenannten AGIL-Schemas setzt Parsons Sozialisation systematisch zur Systemdifferenzierung in Beziehung. Einfach ausgedrückt weist er dabei jedem System die vier Grundfunktionen Strukturerhaltung, Anpassung, Zielerreichung und Integration zu, wobei der Strukturerhaltung die größte Bedeutung zukommt (vgl. Schulze/Künzler 1991: 123 ff.). Nach dieser Definition trägt auch der Sozialisationsprozess zur Systemerhaltung bei und ist deshalb als funktional anzusehen (vgl. Tillmann 1997: 36): „Der Prozess der Sozialisation ist ein gleichgewichtsstabilisierender Mechanismus“ (Hurrelmann 2006: 84).
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