Digitale Technologien in der Politik. Das vTaiwan-Projekt für mehr demokratische Mitbestimmung

Eine empirische Kurzanalyse


Hausarbeit, 2020

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsklarung
2.1 Digitale Demokratie
2.2 E-Partizipation

3. Partizipatorische Demokratietheorie
3.1 Theorie der starken Demokratie („strong democracy“) nach Benjamin Barber
3.2 Kritik an der partizipatorischen Demokratietheorie

4. vTaiwan-Projekt
4.1 Hintergrund
4.2 Prozess
4.3 UT&erX -Fallstudie

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„In Taiwan, digital technology is boosting civic dialogue and infusing government with the spirit of social innovation. By giving everyone a voice, Taiwan is strengthening its democracy for the future.“ (Tang 2019: 1)

Mit diesen Worten pointiert Audrey Tang, Digitalministern von Taiwan, einen zentralen Aspekt in Bezug auf die Verwendung digitaler Technologien in der Politik: Informations- und Kom- munikationstechnologien (IKT) produzieren neue Formen der politischen Partizipation an po- litischen Entscheidungen, die unabhangig von Standort und Zeitpunkt funktionieren. Dadurch soll die Demokratie transparenter, integrativer und partizipativer gestaltet werden (vgl. Tas- kiran 2020: 1). Taiwan gilt mit digitalen Projekten wie vTaiwan (2014), Join (2015) oder Par­ticipatory Budgeting (2016) als Vorreiter in Fragen digitaler Demokratie (vgl. Hsiao et al. 2018: 1; Kuenzi 2019). Mit den demokratischen Reformen und dem Aufkommen moderner techno­logischer Informations- und Kommunikationskanale in den 1990er Jahren wurden Diskussio- nen über E-Government und der Transparenz des politischen Systems in Debatten um Bürger- aufsicht und politischer Partizipation immer popularer (vgl. Hsiao et al. 2018: 1). E-Govern- ment bezeichnet die Umgestaltung von Regierungs- und Verwaltungsprozessen zwischen staat- lichen Institutionen, der Wirtschaft und Bürgerinnen und Bürgern durch den verstarkten Einsatz von modernen IKT (vgl. Grimme-Institut 2011: 2). Korruptionsaffaren wahrend der Ma Ying- jeou Regierung (2008-2016) haben sich in einem gesteigerten Informations-, Transparenz- und Teilhabebedürfnis vieler, vor allem junger Bürgerinnen und Bürger ausgewirkt (vgl. Hsiao et al. 2018: 1). Indikator für die Entwicklung ist die Sonnenblumen-Bewegung im Jahre 2014, die in der Besetzung des nationalen Parlaments in Taipeh gipfelte (vgl. Kuenzi 2019: 1). Sie führte in der darauffolgenden Zeit zu der Entwicklung vieler Projekte von Regierungs- und zivilge- sellschaftlichen Organisationen, die Bürgerinnen und Bürger starker in politische Entschei- dungsprozesse einbeziehen (vgl. Hsiao et al. 2018: 1). Die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage, inwiefern digitale Technologien in Taiwan zu neuen Formen der demokratischen Mit- bestimmung führen. Es wird die Hypothese verfolgt, dass digitale Technologien politische Par- tizipation am politischen Diskurs fördern und damit insgesamt die taiwanesische Demokratie starken. Zunachst werden in Kapitel 2 die grundlegenden Begriffe Digitale Demokratie und E- Partizipation in ihren Grundzügen erlautert. In Kapitel 3 wird sich den demokratischen Poten- zialen des Internets auf theoretischer Ebene angenahert. Dazu wird das demokratietheoretische Konzept der starken Demokratie (strong democracy) von Benjamin Barbers herangezogen, die der Partizipationstheorie zugeordnet werden kann. Kapitel 4 widmet sich der empirischen Ana­lyse von vTaiwan, indem zunachst die Entstehung und die Prozessstrukturen des Experiments erlautert werden. AnschlieBend wird die UberX -Fallstudie untersucht, die zu den am haufigsten diskutierten Erfolgen von vTaiwan gehört und die Eigenschaften des vTaiwan -Prozesses noch mal hervorhebt. In dieser Arbeit kann nur auf das vTaiwan -Projekt eingegangen werden, da die Analyse aller genannten digitalen Projekte den Rahmen überschreiten würde. AbschlieBend werden die Ergebnisse im Fazit zusammengefasst und ein Bogen zu den ursprünglichen theo- retischen Überlegungen gezogen. AuBerdem wird es einen kurzen Ausblick geben. Die Unter- suchung von digitaler Demokratie ist von kontinuierlicher Relevanz für die Politikwissenschaft, da viele westliche reprasentative Demokratien vielfaltige Symptome eines demokratischen Kri- senzustands aufweisen, die beispielsweise mit Politikverdrossenheit, mangelndem Engagement und Ansehensverlust politischer Eliten begründet werden (vgl. Kleinert 2012: 18). Infolge der zunehmenden Entfremdung zwischen politischen Eliten und der Bürgerschaft hat die Sehnsucht der Bürgerinnen und Bürger nach neuen Formen der Partizipation und der Demokratie zuge- nommen (vgl. ebd.).

2. Begriffsklarung

2.1 Digitale Demokratie

Digitale Demokratie bezeichnet den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnolo- gien (IKT, eng. ICT) und computervermittelnder Kommunikation (CvK, eng. CMC) in vielfal- tigen Medienarten (z. B. Internet, Interaktives Broadcasting, IP-Telefonie) zur Starkung politi- scher Partizipation und der Demokratie. Mit diesen Prinzipien definieren Kenneth L. Hacker und Jan van Dijk digitale Demokratie wie folgt: [...] as a collection of attempts to practice democracy without the limits of time, space and other physical conditions, using ICT or CMC instead, as an addition, not a replacement analog political practices (Hacker/Dijk 2000: 1). Di­gitale Demokratie ist eine Frage der wissenschaftlichen Erforschung und des Experimentierens, indem sie versucht, traditionelle Normen und Praktiken in Politik und Verwaltung zu verandern bzw. in eine andere Richtung zu lenken (vgl. Hacker/van Dijk 2000: 1). Sie hat das Potenzial die gegenwartige Kultur der Politik, eine praktisch-organisatorische und verbal-intellektuelle Routine in Form von Sitzungen und persönlicher Kommunikation mit Rednern und Organisa­toren, wesentlich zu verandern. Digitale Demokratie kann dies zu einer Routine technischer und symbolisch-intellektueller Fahigkeiten verwandeln, in der Menschen in erster Linie als In­dividuen an Bildschirmen arbeiten, Internetseiten anklicken, Informationen filtern und analy- sieren, Fragen stellen und/oder beantworten und Kommentare verfassen können (vgl. van Dijk 2000: 31). Dadurch werden neue Formen der politischen Partizipation ermöglicht, die kosten- günstig und unkompliziert von zu Hause durchführbar ist (vgl. Siedschlag et al. 2002: 12). Die Nutzung von IKT in der alltaglichen Politik erlaubt die Barrieren von Ort, Zeit und anderen organischen Bedingungen zu überwinden, wodurch sich die Prozesse der Meinungsbildung, der Reprasentation und der Entscheidungsfindung beschleunigen lassen und die Entfremdung zwi- schen Politik und Gesellschaft behoben werden kann (vgl. ebd.; van Dijk 2000: 31).

2.2 E-Partizipation

Der Begriff der E-Partizipation bezeichnet Formen politischer Teilhabe, bei denen sich natür- liche und juristische Personen elektronischer Informations- und Kommunikationstechnik be­dienen, um mit staatlichen Institutionen und untereinander an allen möglichen Stellen politi- scher Prozesse in Verbindung zu treten (vgl. Grimme-Institut 2011: 2; Bundesministeriums des Innern 2008: 5). E-Partizipation dient dazu Politik transparent und zuganglich zu machen (vgl. Grimme-Institut 2011: 2). AuBerdem sollen bessere Entscheidungsprozesse und eine gröBere Bürgerbeteiligung erzielt werden (vgl. Bundesministeriums des Innern 2008: 5). Das bezieht sich auf verschiedene Sektoren der politischen Kommunikation: Beim Government-to-Citizen Kommunikationsweg werden Informations- und Konsultationsangebote seitens der staatlichen Organe an ihre Bürgerschaft betrachtet. Dazu gehören beispielsweise Websites, soziale Medien, Onlinedialoge oder E-Konsultationen, die gröBtenteils über Feedback-Funktionen verfügen (vgl. Grimme-Institut 2011: 3). Beim Kommunikationsweg Citizen-to-Government möchten Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen an die Politikerinnen und Politiker herantragen. Dies ist unter anderem realisierbar durch E-Petitionen oder über überparteiliche und institutionell un- abhangige Internetplattformen (z. B. abgeordnetenwatch.de) (vgl. ebd.: 3f.). Über solche Platt- formen kann die Bevölkerung direkt mit Reprasentantinnen und Reprasentanten online in Kon- takt treten (vgl. ebd.: 4). Unter dem Citizen-to-Citizen Kommunikationsweg wird eine Mög- lichkeit verstanden, dass sich Bürgerinnen und Bürger im Internet auch untereinander informie- ren und sozial vernetzen, um politisch aktiv zu werden. Diese Formen der E-Partizipation rei- chen von der Bürgerinitiative auf lokaler Ebene bis hin zu internationalen Protestbewegungen. Auch das Crowdsourcing zahlt dazu (vgl. ebd.: 4). Crowdsourcing bezeichnet die Auslagerung von Aufgaben an eine Community von freiwilligen Internetusern, die gemeinsam an einem Projekt (z. B. vTaiwan) arbeiten (vgl. ebd.: 5). In dieser Arbeit werden die Begriffe der E- Partizipation, (Bürger-)Beteiligung, (politische) Partizipation abwechselnd und in synonymer Bedeutung verwendet.

3. Partizipatorische Demokratietheorie

3.1 Theorie der starken Demokratie (strong democracy) nach Benjamin Barber

Vertreterinnen und Vertreter der Partizipationstheorie sind im Vergleich zu anderen modernen Klassikern der Demokratietheorie insofern bevorteilt, dass sie die Entwicklungen des Internets miterlebten (bzw. noch miterleben) und partiell in ihre theoretischen Überlegungen mit eingebunden haben (vgl. MeiBelbach 2009: 86). Zu den prominentesten Vertretern der partizi- patorischen Demokratietheorie und zu den entschiedensten Verfechtern einer umfassenden und fortwahrenden Bürgerbeteiligung zahlt der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber mit seiner Theorie der starken Demokratie. Er entwarf das Modell der starken Demo­kratie als ein Gegenmodell zur liberalen Demokratie. Sie soll die negativen Eigenschaften der liberalen Demokratie (z. B. Output orientierte Gebilde, Vernachlassigung des Gemeinschafts- gedanken, zu hohe Betonung des Individuums) durch positive ersetzen (vgl. Bevc 2012: 278). Barber definiert die starke Demokratie wie folgt:

„[...] als partizipatorische Politik, wobei Uneinigkeit bei Fehlen eines unabhangigen Grundes durch Teilhabe an einem Prozess fortlaufender, direkter Selbstgesetzgebung und durch die Schaffung einer politischen Gemeinschaft aufgelöst wird, die es vermag, abhangige, private Individuen in freie Bürger und partikulare wie private Interessen in öffentliche Güter zu verwandeln“ (Barber 1994: 120).

Die starke Demokratie betrachtet Demokratie als eine Lebensform, in der die Bürgerinnen und Bürger selbst in einigen öffentlichen Bereichen über einen gewissen Zeitraum regieren (vgl. Barber 1994: 14 und 99f.). Diese Lebensform wird erreicht, indem vielfaltige Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung etabliert werden (vgl. Barber 1994: 23). Für Barber erfolgt durch politi- sche Partizipation eine Erhöhung der sozialen Verantwortung und kulturellen Identitat, eine staatsbürgerliche Erziehung sowie eine Intensivierung der Gesprache unter den Bürgerinnen und Bürgern (vgl. ebd.: 23). Diese Forderungen könnten in der Sprache der Netzwerkgesell- schaft übersetzt bedeuten, dass in sozialen Netzwerken jeder Bürgerin und jedem Bürger meh- rere starke und vor allem aktive Vernetzungsbeziehungen zu politischen Akteuren bestehen sollten (vgl. MeiBelbach 2009: 87). AuBerdem bedarf es einer Form von Fernsehbürgerver- sammlungen und eine Kommunikationsgenossenschaft der Bürgerinnen und Bürger, also eine Art Teledemokratie (vgl. Barber 1994: 247ff.). Mit der Einführung von rückkanalfahigen Ka- belfernsehen in den siebziger Jahren entwickelten sich erste theoretische Ansatze zur E-Demo­kratie, die die Entfernung zwischen politischen Entscheidungstragern und der Bevölkerung ver- ringern sollten. Die Möglichkeit der Übertragung von Inhalten sowie die Möglichkeit zu Be- fragungen und Abstimmungen über den Rückkanal sollten Partizipation und echte Diskussio- nen und Debatten über gröBere Entfernungen ermöglichen (vgl. Barber 1994: 247ff.). Solche Kommunikationswege sind heute über das Internet in vielfaltiger Form opportunitatskostenarm gegeben. Websites, soziale Medien, Onlinedialoge oder E-Konsultationen mit Feedback-Funk- tion bieten mögliche Plattformen, auf denen mit aktiven Bürgerinnen und Bürgern über allge- meine Leitlinien der Politik und politisch-administrative Entscheidungen beraten werden kann (vgl. Grimme-Institut 2011: 3; MeiBelbach 2009: 87). Ein weiteres wichtiges Element der star- ken Demokratie ist die Übertragung direkter Entscheidungsgewalt über politische Sachfragen an die Staatsbürgerschaft, wodurch die Politisierung der Gesellschaft vorangetrieben werden soll. Dafür schlagt Barber zahlreiche plebiszitare Elemente wie Volksbegehren und Volksab- stimmungsverfahren vor, die auf nationaler und regionaler Ebene etabliert und über das Internet realisiert werden sollen (vgl. Barber 1994: 257ff.) Auch elektronische Sofortabstimmungen zu vielen Themen würden den öffentlichen Diskurs über Sachfragen (Issues) aktueller Politik star- ken (vgl. Barber 1994: 268ff.; MeiBelbach 2009: 88). Darüber hinaus sind konsultative Online- Bürgerinformationsdienste, die einen allgemeinen Zugang zu wichtigen Informationen bieten sollen für Barber unverzichtbar. Informationen werden benötigt, damit Bürgerinnen und Bürger ein fundiertes Verstandnis für politische Sach-, Personal- und Richtungsentscheidungen entwi- ckeln, an denen sie partizipieren können (vgl. ebd.: 254f.; MeiBelbach 2009: 88). Zu guter Letzt soll politische Willensbildung und Konversationen über öffentliche Angelegenheiten auch un- ter den vernetzten Bürgerinnen und Bürgern aktiv mitgestaltet werden. Um dies zu erreichen schlagt Barber eine Einführung von nationalen Nachbarschaftsvereinigungen vor (vgl. Barber 1994: 242ff.). In diesen Vereinen sollen Foren und Versammlungen organisiert werden, in de­nen Sachprobleme debattiert und Rechenschaftsberichte an die Bevölkerung abgehalten werden (vgl. ebd.). AuBerdem dienen die lokalen Debatten zur Behandlung von Beschwerden und In- teressenkonflikten (vgl. ebd.). In der heutigen Netzwerkgesellschaft ist dies über Online-Bür- gerversammlungen und Online-Gemeinschaften realisierbar (vgl. MeiBelbach 2009: 88). Auch soziale Medien bieten diesbezüglich ein hohes Potenzial, da diese durch ihre multimedialen, spezialisierten Formen von Chats über fortgeschrittene Interaktionsmöglichkeiten von internet- basierter Konversation verfügen (vgl. ebd.). Generell verortet Barber groBes Potenzial politi- scher Partizipation insbesondere auf regionaler und kommunaler Ebene, denn dort können Bür- gerinnen und Bürger direkt über öffentliche Angelegenheiten deliberieren, die sie unmittelbar betreffen. Die Kombination aus gröBtmöglicher Interaktivitat in kommunalen Zusammenhan- gen und die mannigfaltigen und geringfügig aufwendigen Konsultations-, Konversations- und Registrationsmöglichkeiten des Internets stellt partizipationstheoretisch ein besonders demo- kratisierendes Potenzial auf kommunaler Ebene dar, welches durch die Bereitstellung entspre- chender (bürgerlicher) Infrastrukturen durch politische Eliten urbar gemacht werden muss (vgl. MeiBelbach 2009: 89; Barber 1994: 21, 242ff., 285ff.).

3.2 Kritik an der partizipatorischen Demokratietheorie

Die Kritik an der Partizipationstheorie reicht weit. Haufig entzündet sich die Kritik an einem geringen Realismus und den utopischen Vorstellungen für eine Gesellschaft (vgl. Schmidt 2019: 237f.). Der Theorie wird vorgeworfen, ein überoptimistisches Bürgerbild zu vertreten, das den Menschen als Homo oeconomicus - einen individuellen Nutzenmaximierer, der nur unter bestimmten Bedingungen zur Kooperation bereit ist - auBer Acht lasst (vgl. ebd.). Dar- über hinaus überschatzt die Partizipationstheorie die politischen Kompetenzen und Ressourcen der Bürgerschaft. Die Informiertheit über politische Sachverhalte, das Zeitbudget und das Inte­resse an politischen Fragen sind meist so begrenzt, dass sie einer umfassenden Partizipation an öffentlichen Angelegenheiten gegenüberstehen (vgl. Schmidt 2019: 238). AuBerdem erzeugt eine expansive Demokratie einen Überschuss an Partizipation und Ansprüchen an das politische System, die das erforderliche Gleichgewicht zwischen Dissens und Konsens sowie zwischen Aktivismus und Apathie beeintrachtigt und schlieBlich zu einer Destabilisierung des politischen Systems führen (vgl. ebd.). Des Weiteren verteilt sich der Nutzen der Beteiligung ungleichma- Big auf die Gesellschaft, das heiBt Bürgerinnen und Bürger mit hohem politischem Engage­ment, Sprachmachtigkeit und Argumentationsgabe profitieren durch die gleiche Beteiligung mehr als schlechter ausgestattete Bürgerinnen und Bürger. Im ungünstigsten Falle könnte dies zu einem Mehrheitsdespotismus führen, in der die Interessen und Meinungen einer speziellen Parteiung der Bürgerschaft dominieren (vgl. ebd.). Zusammenfassend kann man der Partizipa- tionstheorie vorwerfen nur normativ, aber nicht praktikabel zu sein. Die praktische Umsetzung der Theorie ist institutionell überaus voraussetzungsreich, da die Sollwerte zu hoch gestuft sind (vgl. MeiBelbach 2009: 89). Auch wenn die partizipatorische Demokratietheorie haufig kriti- siert wird, gewinnen neue Formen der politischen Partizipation immer mehr an Popularitat (vgl. Whiteley 2011: 22f.). Steigende Anzahlen von unkonventionellen Partizipationsformen, wie Petitionen, Protestaktionen, Bürgerinitiativen oder gar Parlamentsbesetzungen wie in Taipeh wahrend der Sonnenblumen-Bewegung, bestatigen, dass Bürgerinnen und Bürger die aktive Beteiligung des politischen Einflusses wahrnehmen (vgl. ebd.; Kuenzi 2019: 1). Im nachsten Kapitel wird das Projekt vTaiwan in Taiwan als eine mögliche praktische Umsetzung der par- tizipatorischen Demokratietheorie vorgestellt, da es einige Elemente der hier vorgestellten The­orie aufweist.

4. Projekt Taiwan

4.1 Hintergrund

Die Sonnenblumen-Bewegung war eine landesweite Protestbewegung getragen von studenti- schen Gruppen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, die am 18. Marz 2014 in der Besetzung des Parlamentsgebaudes des Legislative Yuan in Taipeh gipfelte (vgl. Fell 2018: 218). Damals hatte die taiwanische Regierung ein sehr umstrittenes Handelsabkommen mit China geschlos- sen, welches vor seiner geplanten Verabschiedung im Parlament nicht öffentlich debattiert wurde. Die Regierungspartei Kuomintang (KMT), die die Mehrheit im Parlament hatte, wollte das Abkommen ad hoc ratifizieren. Um die Verabschiedung des Abkommens zu verhindern und ein Gesetz zur Überwachung künftiger Handelsabkommen einzufordern, besetzten Hun- derte Aktivistinnen und Aktivisten das Parlamentsgebaude sowie umliegende StraBen (vgl. ebd.). Die Absicht der Demonstrierenden war es, die Regierung zu mehr Transparenz und Re- chenschaftspflicht mit Formen von Open Government zu bewegen (vgl. Kuenzi 2019: 1). Die Geschehnisse im Inneren des Gebaudes wurden per Livestream mithilfe eines Projektors auf die AuBenwande des Parlaments übertragen. Die Besetzung endete nach drei Wochen, nachdem der Parlamentsprasident Wang Jin-pyng öffentlich verkündete, die Ratifizierung des Abkom- mens auszusetzen, bis das von den Demonstrierenden geforderte Gesetz verabschiedet sei (vgl. Fell 2018: 218). Die Verabschiedung dieses Gesetzes steht bis heute noch aus (Stand Oktober 2019) (vgl. Tang 2019: 1). Die Proteste illustrieren den Höhepunkt der Unzufriedenheit und Vertrauenskrise der Bevölkerung gegenüber der KMT und Prasident Ma Ying-jeou. Eine nach der Parlamentsbesetzung veröffentlichte Umfrage bestatigt das: 76 Prozent der taiwanesischen Bürgerinnen und Bürger haben dort angegeben mit der Kuomintang -Regierung unzufrieden zu sein (vgl. Tang 2019: 1). Um das Vertrauen als auch die Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Regierung zu fördern, wendete sich die Regierung an eine dezentrale Civic Tech-Community namens G0V, ausgesprochen gov-zero (vgl. ebd.). Die Organisation erlang Aufmerksamkeit bei der Regierung, weil diese wahrend der Sonnenblumen-Bewegung eng mit den Demonstrierenden zusammengearbeitet haben (vgl. ebd.). Die Gruppe, bestehend aus Ko- diererinnen und Kodierern, Designerinnen und Designern, NGO-Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Bürgerinnen und Bürgern, hat sich zur Aufgabe gemacht Informationsplattformen und Open-Source-Instrumente zu entwickeln. Sie sollen die Transparenz der Regierung erhöhen sowie Partizipation an öffentlichen Angelegenheiten fördern (vgl. Apolitical 2018: 1; g0v.asia 2020: 1). Das Team von G0V bereitet dabei die Daten aller Websites der Regierungsbehörden so auf, dass Bürgerinnen und Bürger sie leichter verstehen und nutzen können (vgl. g0v.asia 2020: 1; Alle Internetze - Arte 2016: 1). In allem was G0V entwickelt werden Open Source Lizenzen verwendet, das heiBt auch der Staat kann auf die Arbeiten zurückgreifen. Die Regie­rung hat bereits das interaktive System der Budgetvisualisierung übernommen, das Taiwans öffentliche Haushaltsausgaben klar visualisiert, sowie das digitale Tool vTaiwan. (vgl. Apoliti­cal 2018: 1; Alle Internetze - Arte 2016: 1). Im Dezember 2014 besuchte die damalige, auf digitale Technologie spezialisierte, Ministerin Jaclyn Tsai ein Hackathon - eine kollaborative Soft- und Hardwareentwicklungsveranstaltung - von G0V, die seit Dezember 2012 regelmaBig stattfinden (vgl. Tang 2019: 1). Beeindruckt von deren Arbeiten lud Tsai G0V ein, direkt mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Das von Regierung und Zivilgesellschaft gemeinsam ent- wickelte Produkt ist vTaiwan. Hierbei handelt es sich um eine neutrale digitale Bürgerbeteiligungsplattform „that would allow the entire Taiwan society to engage in rational discussion of public matters at a national scale“ (Hsiao et al. 2018: 2) (im ahnlichen Sinne vgl. Apolitical 2018: 1). Das „v“ in vTaiwan steht dabei für vision, voice, vote und virtual, und betont das Selbstverstandnis von vTaiwan als ein anpassungsfahiger und reproduzierbarer vir- tueller Prototyp des offenen Konsultationsprozesses für die gesamte Gesellschaft (vgl. Hsiao et al. 2018: 2; vTaiwan 2020: 1). Genauer ausgedrückt handelt es sich um einen offenen Crowd- sourcing-Prozess, der Ministerien, gewahlte Reprasentantinnen und Reprasentanten, Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler, Expertinnen und Experten, (privat-)wirtschaftliche und zi- vilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure sowie Bürgerinnen und Bürger in Online- und Offline-Raumen zusammenbringt, um über politische Lösungen für öffentliche Angelegenhei- ten zu debattieren, die in erster Linie die digitale Wirtschaft betreffen (vgl. vTaiwan 2020: 1; vNetwork 2018: 1; Tang 2019: 1). Über die Software wird Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht online Kommentare abzugeben, was sie sich zukünftig von der Regierung wünschen. Um un- erwünschten Konflikten vorzubeugen und eine konstruktive Beteiligung zu fördern, können Nutzerinnen und Nutzer nicht auf bestehende Kommentare antworten, sondern sie lediglich Up- bzw. downvoten (vgl. Apolitical 2018: 1). Mit der Verwendung von kollaborativen Methoden und Open-Source-Instrumenten wird eine interaktive Umgebung gestaltet, die Partizipation von unterschiedlichen Interessengruppen fördert und konstruktive Debatten ermöglicht (vgl. Hsiao et al. 2018: 2; Nesta 2020: 1; vNetwork 2018: 1; vTaiwan 2020: 1). AuBerdem wird ein grober Konsens unter den verschiedenen Interessengruppen erzielt, der der Gesetzgebung hilft, Ent- scheidungen mit einem höheren MaB an Legitimitat umzusetzen (vgl. Hsiao et al. 2018: 2; vTaiwan 2020: 1). vTaiwan verfügt über verschiedene Kontaktpunkte wie eine eigene Website (vtaiwan.tw) sowie einer Kombination aus Sitzungen und Hackathons entlang des flexiblen und transparenten Konsultationsprozesses (vgl. vTaiwan 2020: 1). Bei der Entwicklung der vTai- wan -Prozessstrukturen wurden die Leistungen weltweiter Partnerprojekte bei der Erprobung moderner digitaler Technologien und des Internets zur Erleichterung der Bürgerbeteiligung un- terstützend herangezogen (vgl. Hsiao et al. 2018: 2). Eins dieser Projekte ist das von Cornell eRulemaking Initiative (CeRI) entworfene und betriebene Pilotprojekt Regulation Room (RegR). RegR bietet Bürgerinnen und Bürgern eine Online-Umgebung an, in der sie sich über vorgeschlagene Bundesregeln informieren und öffentlich diskutieren können (vgl. ebd.; So- livan/Farina 2013: 58). vTaiwan baut auf der Arbeit von Regulation Room auf, konzipiert sich aber weiter als sogenannte Rekursive Öffentlichkeit, dass offen für Transformationen und Neu- formulierungen ist und die Öffentlichkeit ermachtigt das Diskussionsthema, die Agenda und die Instrumente für die Bearbeitung eines Themas festzulegen (vgl. Hsiao et al. 2018: 2). Bisher haben über 200.000 Menschen an diesem offenen politischen Entscheidungsprozess teilgenom- men und mehr als 80 Prozent der eingeleiteten Prozesse führten zu entschlossenen Regierungs- handeln. Durch vTaiwan wurden in den letzten fünf Jahren 26 nationale Gesetze formuliert (vgl. GOVLAB 2020a: 2). Ein konkretes Beispiel ist die Regulierung von UberX im Jahre 2015, worauf im weiteren Verlauf der Arbeit intensiver eingegangen wird (vgl. ebd.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Digitale Technologien in der Politik. Das vTaiwan-Projekt für mehr demokratische Mitbestimmung
Untertitel
Eine empirische Kurzanalyse
Hochschule
Universität Trier  (Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Vergleichende Regierungslehre - Aufbaumodul
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
19
Katalognummer
V912280
ISBN (eBook)
9783346228697
ISBN (Buch)
9783346228703
Sprache
Deutsch
Schlagworte
digitale, technologien, politik, mitbestimmung, eine, kurzanalyse
Arbeit zitieren
Jana Gerhards (Autor:in), 2020, Digitale Technologien in der Politik. Das vTaiwan-Projekt für mehr demokratische Mitbestimmung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/912280

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