Russland - eine defekte Demokratie?


Mémoire de Maîtrise, 2008

127 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I THEORETISCHE VORÜBERLEGUNGEN

2. Theoretischer Rahmen
2.1 Schwierigkeiten der Demokratiemessung und Verwirrung bei der Beurteilung und Einordnung Russlands in der Theorie
2.2 Definition des Begriffes Demokratie
2.3 „Defekte Demokratie“ nach Wolfgang Merkel

II RUSSLAND: UMSETZUNG DER DEMOKRATIE (1990-2008)

3. Funktionslogik der „gelenkten Demokratie“ Putins (1999-2008)
3.1 Historischer Hintergrund: Die Ära Boris Jelzins (1990-1999)
3.2 Verfassungsrechtliche Grundlagen des heutigen Systems und ihre Mängel
3.3 Politische, rechtliche und gesellschaftliche Praxis Russlands
3.3.1 Informelle institutionelle Strukturen als wahre Machtzentren
3.3.2 Defizite der Gewaltenteilung im politischen System
3.3.2.1 Entmachtung des Parlaments
3.3.2.2 Aushöhlung des Föderalismus
3.3.2.3 Gängelung der Judikative und Defizite der Rechtspraxis
3.3.3 Defizite der Wahlpraxis anhand der Dumawahlen 2007
3.3.4 Beschneidung des Pluralismus durch Schwächung des Parteiensystems, der Medien und Zivilgesellschaft (NGO`s)
3.3.5 Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft und Militär

III RUSSLAND - EINE DEFEKTE DEMOKRATIE?

4. Analyse Russlands anhand der vorgestellten Theorien
4.1 Zusammenfassende Charakterisierung des „System Putins“ vor der Frage der defekten Demokratie nach Merkel
4.2 Die Stabilität des russischen Systems mit Auswirkungen auf die demokratischen Konsolidierungschancen

5. Resümee und Ausblick in die Zukunft Russlands

Literaturverzeichnis

Anhang

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Als ein Mensch, der selbst in Freiheit und Frieden sowie unter demokratischen Bedingungen aufwachsen durfte, wertschätze ich persönlich ein solch freies, selbstbestimmtes Leben auf das Äußerste. Mir fällt die Vorstellung schwer, dass die Lebensumstände andere sein könnten und dass es Menschen gibt, die unter repressiven politischen Bedingungen, gesellschaftlichen und persönlichen Einschränkungen leben müssen - unter Entbehrung all der Dinge, die uns in einem demokratischen, freiheitlichen Staat nur allzu oft als selbstverständlich erscheinen.

Vor diesem Hintergrund der eigenen Empfindungen fasziniert mich der weltweite Siegeszug der Demokratie, in deren Rahmen sich seit rund zwei Jahrhunderten immer mehr Staaten auf der Welt von monarchischen, autokratischen und totalitären politischen und gesellschaftlichen Systemen zu demokratischen und freiheitlichen Gemeinwesen entwickelt haben. In dem Bewusstsein, dass selbst in Deutschland vor gerade mal rund 80 Jahren die zarten Anfänge einer Demokratisierung in der Weimarer Republik durch das Nationalsozialistische Regime im Dritten Reich unterlaufen und auf menschenverachtende Weise durch die Etablierung eines brutalen, totalitären Systems niedergerissen wurde, stärkt mein persönliches Interesse an dem demokratischen Wandlungsprozess von Staaten. Das Glück, nach einer solch furchtbaren historischen, totalitären Vergangenheit Deutschlands dank der wohlwollenden Besatzungsmächte nach dem 2. Weltkrieg, welche die Demokratie in Deutschland ganz wesentlich fördern und etablieren halfen, selbst in einen demokratischen und freiheitlichen Staat hineingeboren zu werden, nährt die Hoffnung, dass auch in anderen Teilen der Welt immer mehr Menschen künftig unter freiheitlichen Bedingungen werden leben können und die Zahl repressiver Regime in der Welt abnimmt.

Die historisch enge Verbindung Deutschlands mit Russland durch die Erfahrungen des 2. Weltkrieges, der Teilung Deutschlands und dem jahrzehntelangen Kalten Krieg zwischen Ost und West kennzeichnen die welthistorische Bedeutung Russlands. Gerade im Rahmen der demokratischen Entwicklung westlicher Staaten bestand zu Russland immer ein großer Gegensatz. Der Ost-West-Konflikt mit dem Gegensatz westlicher Demokratie gegen östlichen Kommunismus und der Gefahr gegenseitiger atomarer Vernichtung hat die europäische Geschichte und die Völker jahrzehntelang in zentraler Weise geprägt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991 verkündete Fukuyama bereits das „Ende der Geschichte“ mit dem historischen Sieg der Demokratie über alle anderen Staatsideologien und -systeme (Fukuyama 1992). Mit dem Ende des repressiven kommunistischen Regimes in Osteuropa schien die Entwicklung der ehemals sowjetischen Staaten in Richtung freier Gesellschaften mit demokratischen und marktwirtschaftlichen Verhältnissen vorgezeichnet. Eine Reihe osteuropäischer Staaten und ehemalige Sowjetrepubliken gehören seit den Erweiterungsrunden der Europäischen Union (EU) in den Jahren 2004 und 2007 der EU an1 und haben den Wandel zur Demokratie mit wenigen Einschränkungen geschafft (Alber/Merkel 2006).

Aber wie steht es mit Russland? Die Russische Föderation ging als der größte Staat aus dem Verband der ehemaligen Sowjetunion hervor und spielt bis heute eine wichtige weltpolitische Rolle mit großem Einfluss auf die politischen Geschehnisse in der Welt. Als rüstungsstarker Staat mit zahlreichen Bodenschätzen wie Erdöl und Erdgas gilt er für die meisten westlichen Staaten als bedeutender Partner zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Russland besitzt in (friedens-) politischer und wirtschaftlicher Hinsicht angesichts der globalen Herausforderungen für die Weltgemeinschaft durch internationale Konflikte, internationalen Terrorismus bis hin zur globalen Erderwärmung große Bedeutung bei der gemeinsamen Lösung dieser Probleme.

Ausgehend von der empirisch bestätigten Annahme, dass die Politik und das Staatshandeln in demokratischen Systemen durch Recht und Verfassung eingehegt, für die Bevölkerung im Staat kontrollierbar und somit auch für andere Staaten bis zu einem gewissen Grad berechenbar ist (vgl. Schmidt 2003:490f.), weist auf die Bedeutung hin, die Russlands künftige politische Entwicklung für die Menschen in Russland und die Weltgemeinschaft haben wird. Die Frage, ob sich in Russland die Demokratie tatsächlich konsolidiert hat oder zumindest Hoffnung auf ihre künftige Konsolidierung besteht, ist somit von hohem politischem Interesse für die staatliche Gemeinschaft. Eine gute und friedvolle Zusammenarbeit mit einem demokratischen Russland scheint für einen Großteil der Staaten in ihrem politischen und wirtschaftlichen Eigeninteresse und vor dem Hintergrund der modernen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Demokratie auch im Interesse der russischen Bevölkerung als erstrebenswert.

Konnten sich die freiheitlichen und demokratischen Werte im Bewusstsein der Menschen und der politischen Praxis der Machthaber etablieren? Die heutige Russische Föderation war in den Zeiten der Sowjetunion das ideologische Zentrum des Kommunismus, der mit einem repressiven Machtstaat unter der Führung der kommunistischen Staatspartei KpdSU einherging. Was ist heute von diesen früheren (gesellschafts-) politischen Vorstellungen in Russland übrig geblieben?

Die Projekte „Perestroijka“ und „Glasnost“ unter dem KpdSU-Generalsekretär (1985-1991) und kurzzeitigen Präsidenten der UdSSR (1990-1991) Michail Gorbatschow legten den Grundstein für den langsamen Umbau, die Parlamentarisierung und Öffnung des politischen Systems und der Gesellschaft in Richtung Freiheit und Demokratie, die schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Untergang des kommunistischen Systems beitrugen. Das Monopol der Kommunistischen Partei wurde erstmals in Frage gestellt. Die Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten im Frühjahr 1989 stellten auch jenseits strenger demokratischer Prinzipien den Durchbruch zu einer demokratischen Entwicklung dar (vgl. Schröder 2003). Nach dieser historischen Wende trug die Politik des ersten Staatspräsidenten Russlands, Boris Jelzin (1991-1999), dazu bei, dass die Reformkräfte und Demokraten in Russland die Entwicklung des eigenen Staates auf einem guten und verheißungsvollen Weg gen Demokratie wähnten - trotz der teilweise nicht unerheblichen Defizite, die später noch ausführlich beleuchtet werden. Die Verfassung des russischen Staates von 1993 legt - mit diversen Einschränkungen - eine gute Grundlage für eine moderne Demokratie, denn die Konstitution baut auf klaren, demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien auf (vgl. Mommsen 2002:359). Artikel 1 der Russischen Verfassung bezeichnet die Russische Föderation als einen „demokratischen föderativen Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform“ (zit. nach Mommsen 2002:359). Inwieweit diese normativen Prinzipien in der Verfassungswirklichkeit Realisierung finden, bleibt zu untersuchen.

Seit dem Jahr 1999 ist Jelzins Nachfolger Wladimir Putin nun russischer Staatspräsident. Wie hat sich Russland unter seiner politischen Führung bis heute entwickelt? Kann man tatsächlich von einer Demokratie sprechen? Sind demokratische Defizite zu verzeichnen? Oder stellt die Existenz und der Umfang der Defizite die Bezeichnung „Demokratie“ sogar insgesamt in Frage? Befindet sich das heutige Russland auf dem Rückweg zu einem autoritären und repressiven politischen System?

In der wissenschaftlichen Forschung herrscht keine einheitliche Meinung und Einschätzung darüber, welche Staaten als funktionstüchtige Demokratien zu bezeichnen sind. Ab wann von defekten, defizitären Demokratien zu sprechen ist und wann die Schwelle zu autoritären Systemen überschritten ist, ist ebenso unklar. Nicht nur in der Transformationsforschung kämpft man mit solchen Problemen um einheitliche Definitionen und Einordnungen politischer Systeme; auch im Forschungszweig der Demokratiemessung herrscht eine solche Uneinheitlichkeit und Verwirrung.

Übersicht der Arbeit

Diese Schwierigkeiten weisen auf die Komplexität der Idee der Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform hin und die daraus entstehenden Schwierigkeiten ihrer Messung, die Gegenstand des 2. Kapitels dieser Arbeit sind. In einem 2. Schritt werde ich versuchen, mich auf der Basis lexikalischer Demokratiedefinitionen an ein umfassendes Konzept der Demokratie heranzutasten, das als solide Grundlage für die Beschäftigung mit Russland dienen soll. Meines Erachtens nach vereinigt das Konzept der „embedded democracy“ von Transformations- und Demokratieforscher Professor Dr. Wolfgang Merkel2 verschiedene Ansätze aus der Forschung gut und fügt sie zu einer umfassenden Demokratiedefinition zusammen. In Merkels Demokratiekonzept sind die wesentlichen Elemente einer modernen, lexikalischen Definition vorhanden, was mich dazu veranlasst hat, sein Konzept als Basis für die spätere Beurteilung Russlands heranzuziehen. Ausgehend von seiner idealtypischen Demokratiedefinition entwickelt Merkel in Abgrenzung zu dieser das Konzept der „defekten Demokratie“, welches ich in Kapitel 3 vorstelle und als Grundlage für meine Beurteilung Russlands im weiteren Verlauf meiner Arbeit heranziehe. Außerdem differenziert Merkel den Prozess der demokratischen Konsolidierung in mehrere Ebenen und Phasen. Dies ist ebenfalls hilfreich dabei, einen Staat wir Russland, der mit seinen demokratischen als auch nicht- demokratischen Elementen regimetypologisch irgendwo zwischen (konsolidierter) „Demokratie“ und „autoritärem/autokratischem System“ zu verorten ist, einzuschätzen und mögliche Konsolidierungshindernisse aufzuzeigen.

Dieser theoretische Teil meiner Arbeit dient mir im Folgenden zur Untersuchung der Entwicklung des russischen Staates und der Gesellschaft ab Kapitel 4, wobei der Schwerpunkt auf den aktuellen Gegebenheiten liegt, die sich im Laufe der bald 8-jährigen Amtszeit des Staatspräsidenten Wladimir Putins entwickelt haben. Die Ära Jelzins werde ich zu Beginn des 4. Kapitels in soweit erörtern, als dass sie Erklärung für die Entwicklung und den Zustand des heutigen Russlands bietet. Putins Konzept der „gelenkten Demokratie“ oder auch „souveränen Demokratie“ bildet die Grundlage und den Hintergrund für die aktuellen Gegebenheiten in Russland, die mittels zahlreicher Zustandsbeschreibungen des politischen Systems und der Gesellschaft in Kapitel 4 erläutert werden.

Im Anschluss daran werde ich die Frage nach der Stabilität Russlands stellen, dessen vielfach undemokratische Züge seit den 1990er Jahren in unterschiedlicher Intensität Bestand haben, und sich seit der Ära Boris Jelzins bis zum bevorstehenden Ende der zweiten Amtszeit Putins allmählich entwickelten und verstärkten. Präsident Putin scheint es gelungen zu sein, ein undemokratisches System in Russland zu installieren, welches derzeit von keinen innerstaatlichen Kräften in Frage gestellt wird. Dieses Phänomen eines stabilen, nicht demokratischen Systems stellt eine Herausforderung für die Demokratie- und Transformationsforschung dar. Diese Frage nach der Systemstabilität rekurriert auf verschiedene Erklärungsansätze, im Besonderen auf das Dasein der russischen Bevölkerung als postkommunistische Gesellschaft. Wie erfolgsversprechend erscheinen die Voraussetzungen und Gegebenheiten im heutigen Russland für eine demokratische Entwicklung, wo liegen Konsolidierungshindernisse? Welche Nachwirkungen zeigt die in etwa 70jährige Phase des Kommunismus3 im heutigen Russland, gibt es heute noch Elemente im Staatssystem und Herrschaftsverständnis, die sich aktuell fortsetzen? Die Legitimität des politischen Systems in den Augen des russischen Volkes und der Eliten stellt in dieser Frage der Systemstabilität eine wichtige Grundvoraussetzung und Bedingung für den Bestand des russischen Systems dar.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse rund um die Dumawahl im Dezember 2007 sowie die bevorstehende Präsidentschaftswahl am 02. März 2008 gewinnt die Frage nach der künftigen Stabilität Russlands neue Brisanz, die Frage „Was kommt nach Putin?“ beschäftigt nicht nur die Beobachter im Ausland. Die aktuellen Wahlen werden an verschiedenen Stellen Gegenstand der Arbeit sein und die Basis für einen Ausblick in eine mögliche Zukunft Russlands bilden.

THEORETISCHE VORÜBERLEGUNGEN

2. Theoretischer Rahmen

2.1 Schwierigkeiten der Demokratiemessung und Verwirrung bei der Beurteilung und Einordnung Russlands in der Theorie

Um zu beurteilen, welchem politischen System Russland zuzuordnen ist, ob es sich um eine funktionierende, eine defizitäre oder aber überhaupt um eine Demokratie handelt, muss man sich zunächst klar darüber sein, was unter dem Begriff „Demokratie“ zu verstehen ist. Das Ergebnis einer solchen Untersuchung des Demokratiegehaltes eines politischen Staatssystems beziehungsweise die Beurteilung der Demokratiequalität hängt im Wesentlichen von der eigenen Demokratiedefinition ab, sowie von den Maßstäben und Indikatoren, die man der Messung eines politischen Systems zugrunde legt. Das Demokratiekonzept der Forscher entscheidet maßgeblich über die Einordnung des Staates als Demokratie oder Nicht- Demokratie. In der Literatur finden sich viele verschiedene Demokratiebegriffe und Konzepte. Diese reichen von minimalen Konzepten mit wenigen zentralen Indikatoren zu reichhaltigen Demokratieverständnissen mit anspruchsvollen Maßstäben und Voraussetzungen. Somit differieren zum einen die Demokratiedefinitionen und darüber hinaus ebenso die Methoden der Operationalisierung, um diese Demokratiekonzepte messbar zu machen.

Einer der Pioniere auf dem Gebiet der Demokratiemessung, Vanhanen, beschreibt die daraus entstehende Vielfalt und Uneinheitlichkeit in den Ergebnissen verschiedener Demokratiemessungen wie folgt:

„It has been much more difficult to find suitable measures of democracy and to measure the varition in the level of democracy than to formulate definitions of democracy. In fact, nearly all researchers who have attempted to measure democracy have used different indicators. The situation is confusing.” (Vanhanen 1997:31).

Vanhanen (1997) selbst orientiert sich in seinen Arbeiten an einem anderen Vorreiter der Forschung zu der Frage der Demokratiequalität und der Abgrenzung zwischen autoritären Regimen und Polyarchien4, Robert A. Dahl. Dessen Studie zur „Polyarchy“ aus dem Jahr 1971 (Dahl 1971) gilt heute als richtungsweisend für die Anfänge dieses Forschungszweiges (Lauth 2004:238). Vanhanen greift die beiden Dahlschen Dimensionen der Demokratie „Wettbewerb“ und „Inklusion/Partizipation“ auf und operationalisiert sie lediglich auf alternative Weise. Dahl sieht diese beiden zentralen Dimensionen der Demokratie im Besonderen durch sieben Kriterien beziehungsweise institutionelle Garantien präzisiert und gesichert5, primär betont er dabei das Wahlrecht. Kritiker Dahls bemängeln neben dem Außerachtlassen anderer demokratischer Verfahren und Institutionen jenseits der Wahl auch das Fehlen jeglicher rechtsstaatlichen Kontrolle des politischen Geschehens und der Einforderung von Verantwortlichkeit des Regierungshandelns (vgl. Lauth 2004:243).

Vanhanen vereinfacht das Konzept Dahls, indem er lediglich einen Indikator heranzieht, um die beiden Dimensionen der Demokratie Dahls zu messen: das Ausmaß der Partizipation wird an der Wahlbeteiligung gemessen. Die Wahlbeteiligung stellt jedoch nur einen kleinen Teil der tatsächlich wahrgenommenen Beteiligungsrechte dar und sagt nichts über die konstitutionell und faktisch gegebenen Rechte selbst aus (vgl. Schmidt 2003:401). Den Wettbewerbsgrad in einem politischen System misst Vanhanen mittels des Sitzanteils, der auf die stärkste Partei bei Wahlen entfällt. Mit steigendem Stimmenanteil der stärksten Partei sinkt der Wettbewerbsgrad des Systems und damit die Chance, in Vanhanens Augen als demokratisch zu gelten. Er schließt von einer starken Partei automatisch auf eine „unzulässige Machtkonzentration“ (vgl. Lauth 2004:245f.).

Dieses Beispiel illustriert zum einen die Willkür der Indikatorensetzung und zum anderen die damit einhergehende unterschiedliche Verständnistiefe von Demokratie. Vanhanen fragt nicht nach den Gründen für eine hohe oder niedrige Wahlbeteiligung, geschweige denn nach anderen Formen und Möglichkeiten der Partizipation für die Bevölkerung. Ebenso wenig stellt Vanhanen die Gründe für ein herausragendes Ergebnis einer Partei in Rechnung. Es macht jedoch einen großen Unterschied, ob eine ausgeprägte Mehrheit für eine Partei aufgrund des freien Willens der Bevölkerung zustande kommt oder aber aufgrund von Manipulationen des bürgerlichen Willens oder auch der gezielten Einschränkung der Opposition und des Pluralismus der Meinungen. Natürlich ist es denkbar, dass eine auffallend erfolgreiche Partei mit geringem Wettbewerb und einer hochgradigen Vermachtung des Parteiensystems einhergeht, so dass Wahlen zu reinen Akklamationswahlen in faktischen Einparteienstaaten verkommen (vgl. Schmidt 2003:399). Ein hoher Sieg einer Partei lässt jedoch ohne weitere Prüfung der politischen Praxis keinen zwangsläufigen Schluss auf fehlende demokratische Qualität eines Staates zu - ein solcher Schluss könnte sich als Kurzschluss erweisen.

Schmidt weist darauf hin, dass die Variablen von Vanhanen lediglich einen Teil des freien Wettstreits erfassen. Die Erfassung der Meinungsfreiheit findet ebenso wenig Beachtung wie die Organisations- und Kooperationsfreiheit zur Gründung von Interessenorganisationen und politischen Parteien (vgl. Schmidt 2003:401).

Damit basieren die Ansätze von Dahl und Vanhanen auf quantitativen Indikatoren6. Diese sind zwar besser überprüfbar als qualitative Indikatoren7, der aus ihnen gebildete Index ist jedoch vollständig von der Quantifizierbarkeit des untersuchten Sachverhaltes abhängig (vgl. Lauth 2004:239ff). So zieht Vanhanen zum Beispiel lediglich die quantitative Wahlbeteiligung zur Bestimmung der Partizipation in einem politischen System heran. Die Qualität der Wahlen wird hingegen nicht berücksichtigt, Fairness und Freiheit der Wahlen bleiben ebenso unterbelichtet wie auch die Zufriedenheit oder Apathie der Wähler. Diese Aspekte finden keinen Ausdruck in quantitativen Zahlen der Wahlbeteiligung, solche Differenzierungen verlangen nach qualitativen Messmethoden. Schmidt nennt Vanhanens Messungen „kontextblind“: Partizipation zählt in den verschiedenen Staaten grundsätzlich gleichviel, ungeachtet des Umstandes, ob es sich um Wahlen in etablierten Demokratien, „illiberalen Demokratien“ (Zakaria 1997), „Fassadendemokratien“ oder autoritären Staaten handelt (vgl. Schmidt 2003:401).

Internationale Demokratie-Rankings wie das von Freedom House8 oder der Bertelsmann Transformations-Index (BTI) der deutschen Bertelsmann-Stiftung9 basieren hingegen auf qualitativen Einschätzungen von Experten etwa zu Fragen der Meinungs-, Glaubens- und Vereinigungsfreiheit, zur Rechtsstaatlichkeit und Freiheit der Individuen eines Staates. Der BTI differenziert im Vergleich zu den Untersuchungen von Freedom House sogar noch zwischen den Strukturmerkmalen der Staaten und der politischen Gestaltungsleistung der Eliten (vgl. BTI 2006:102). So versuchen beide Untersuchungsansätze auf verschiedene Weise zumindest Elemente der Demokratie in den Ländern der Welt zu messen und somit einen Überblick über Entwicklungsfort- und Rückschritte einzelner Länder im Laufe der Zeit zu geben.

Freedom House liefert heute die mitunter meist zitierten Datenreihen, wenn es um den Vergleich der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten zwischen verschiedenen Ländern geht. Die so ermittelte Freiheit der Bürger eines Staates ist jene „im Sinn des demokratischen Verfassungsstaates“ (Schmidt 2003:408). Dennoch erhebt Freedom House nicht den Anspruch auf eine explizite Demokratiemessung, sondern weist vielmehr selbst auf eine gewisse Diskrepanz zwischen Demokratie und den drei Freiheitsstufen10 hin, in welche sie Länder als Ergebnis ihrer Untersuchungen einordnet. Auch Schmidt weist darauf hin, dass der „additive Freiheitsindex“ von Freedom House (bürgerliche und politische Rechte) zwar auf einen tiefgreifenden Begriff des Rechts- und Verfassungsstaates verweist, dieser jedoch „weder begrifflich noch empirisch deckungsgleich“ mit Demokratie ist. „Nicht jeder Verfassungsstaat ist eine etablierte Demokratie, und nicht jede ausgebaute Demokratie ist ein starker Verfassungsstaat“ (Schmidt 2003:412).

Trotz dem eigentlichen Untersuchungsziel der Freiheit in einem Land gleichen viele Testfragen von Freedom House den in anderen Demokratiemessungen herangezogenen Variablen (vgl. Lauth 2004:268ff). Die Daten von Freedom House können somit als Handwerkszeug einer umfassenderen Demokratiemessung genutzt werden. Auf Basis der ‘Minimaldefinition’ von Demokratie „At a minimum, a democracy is a political system in which people choose their authoritive leaders freely from among competing groups and individuals who were not chosen by the government” (Ryan 1995:672)

erachtet Freedom House politische Rechte wie Wahlrecht, Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit als die Voraussetzung für die freie Beteiligung am politischen Prozess, bürgerliche Rechte wie Menschenrechte und Rechtsschutz, personale Autonomie und ökonomische Rechte als Grundlage für die selbstbestimmte Verwirklichung eines jeden Bürgers samt seiner persönlichen Ziele jenseits des Staates. Der Schwerpunkt des Demokratieverständnisses von Freedom House führt zu einer Kategorisierung von Wahldemokratien, was nach komplexen Demokratiedefinitionen jedoch zu kurz greift, wie an späterer Stelle erläutert wird. Daneben messen die Untersuchungen von Freedom House außerdem zahlreiche Variablen wie Religionsfreiheit, Gleichberechtigung oder Bewegungsfreiheit, die in keinem direkten Zusammenhang mit Demokratie stehen, allenfalls als demokratieförderliche Bedingungen erachtet werden können (vgl. Lauth 2004:273). Dennoch gelangt Lauth zu dem Urteil, dass die „empirischen Befunde“ von Freedom House „einen durchaus akzeptablen Überblick zum Stand der Freiheitsrechte in einem Land“ liefern und welcher durchaus „als erste Sichtung, wenn auch weniger als differenzierte Einschätzung dienen kann“ (Lauth 2004:274). Freedom House bescheinigt Russland Ende des Jahres 2006 einen klaren „downward trend“ in Bezug auf die politische und bürgerliche Freiheit im Land, erstmals wurde das Land in die Kategorie „not free“ eingeordnet (vgl. Freedom House 2007). Bei der Punktevergabe, bei der 1 den höchst möglichen Freiheitsgrad, 7 hingegen den niedrigsten Grad kennzeichnet, erreicht Russland bezüglich der politischen Rechte gerade mal 6 Punkte, die Bewertung der bürgerlichen Freiheiten fällt mit der Punktezahl 5 ein wenig besser aus. Angesichts der Dumawahlen11 im Jahr 2003 sowie den Präsidentschaftswahlen 2004 urteilt der Onlinebericht von Freedom House 2007: „Russia is not even an electoral democracy“ (vgl. Freedom House 2007). Mit diesem Urteil wird Russland das Kriterium abgesprochen, was in der Literatur als Minimalvoraussetzung gilt, um ein Land als Demokratie, in Abgrenzung zur Autokratie12 einzustufen. Im Mai 2007 veröffentlicht Freedom House auf seiner Internetseite einen Bericht mit dem Titel „The Slide toward Authoritarianism in Russia continues“, in welchem der zweite Absatz mit der Feststellung beginnt „Without a doubt, Russia represents the most strategic and alarming case of democratic deterioration during the time period“ (Freedom House, 30.05.2007).

Merkel erachtet den Bertelsmann Transformations-Index (BTI) unter den internationalen Demokratie-Rankings als die Untersuchung mit den „verlässlichsten, transparentesten und ausdifferenziertesten Daten“ (Merkel 2007:417f.). Der BTI misst im Wesentlichen solche Merkmale und Ausprägungen eines Staates, die mit dem „Modell der demokratischen Konsolidierung“ (Abbildung 1, Seite 120) nach Merkel konform gehen13. Mit der Konsolidierung einer Demokratie ist ihre zunehmende Stabilisierung, Verankerung und somit Legitimität im Bewusstsein und Handeln der Akteure gemeint, die sich im Laufe des Transformationsprozesses eines Staates von einem autokratischen oder totalitären System zu einer Demokratie vollzieht14. Merkels Konzept der demokratischen Konsolidierung wird in den Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung aufgegriffen, die Elemente des Konzeptes sind zentrale Untersuchungsfelder des BTI.

Für den Bereich der konstitutionellen Konsolidierung in Form effizienter Entscheidungen in den politischen Institutionen und daraus erwachsender politischer Stabilität, institutioneller Transparenz sowie die Förderung der politischen und sozialen Integration und Partizipation durch die Institutionen kommt der BTI im Jahr 200615 zu dem Urteil, dass in Russland die demokratischen Institutionen bislang wenig konsolidiert sind, und Russland somit in der Gruppe von 18 osteuropäischen Ländern den drittletzten Platz belegt (vgl. Bertelsmann Stiftung 2006).

Die Ergebniswerte der Untersuchung repräsentativer Konsolidierung liegen eindeutig unter dem Konsolidierungsgrad der Verfassungsinstitutionen, so dass die Interessenrepräsentation nicht nur als „nicht konsolidiert“ gelten muss, sondern gar „instabil und autoritär durchsetzt“ ist (Merkel 2007:419). Auch hier belegt Russland den drittletzten Platz des Rankings (vgl. Bertelsmann Stiftung 2006).

Im Bereich der Verhaltenskonsolidierung potenzieller politischer Vetoakteure16 bescheinigt der BTI Russland lediglich die Existenz eines antidemokratischen Potenzials durch demokratieschädliche, weil staatsdestabilisierende Vetoambitionen seitens der Exekutive, der Oligarchen (Wirtschaftsmächte) und einer mit dem Staatsapparat verflochtenen organisierten Kriminalität. Demokratieförderliche Vetoakteure und Gegenmächte, die im Rahmen der bestehenden politischen Ordnung und unter Achtung der in ihr gültigen demokratischen Verfassungsprinzipien agieren und so zu einem demokratischen politischen Pluralismus17 beitragen, sind in Russland hingegen ‚Mangelware’. Zumindest belegt Russland in dieser Messung lediglich den fünftletzten Platz der osteuropäischen Staaten.

Die politische Kultur der Menschen in Russland kann laut der Bertelsmann Stiftung weder als demokratiekompatibel noch als unterentwickelt gelten, sie weist vielmehr deutliche Züge einer semi-autoritären politischen Kultur auf, die dem niedrigen demokratischen Verhaltensstandard der politischen Eliten entspricht. Damit nimmt Russland in diesem Bereich erneut den drittletzten Platz im Ranking ein.

Bildet man den Durchschnitt aller vier Konsolidierungsebenen, begründet der drittletzte Platz Russlands in der Gesamtkonsolidierung das Urteil der Bertelsmann-Stiftung, bei Russland handele es sich um ein „semi-autoritäres Regime mit leidlich demokratischen Wahlen“. In der Klassifizierung der demokratischen Qualität der politischen Regime Osteuropas wird Russland letztendlich dennoch als „stark defekte Demokratie“ eingeordnet (vgl. Bertelsmann Stiftung 2005)18.

Merkel betont im Besonderen die Mängel der Rechtsstaatlichkeit, die nicht nur in Russland, sondern in nahezu „allen neuen Demokratien“ vorhanden sind (Merkel 2007:425). Dies bestätigt auch der BTI 2006, der als Folge in der Praxis fehlende Rechtsgarantien für die Bürger, fehlende institutionelle Kontrollen der Herrschaftsträger und geregelte Gesetzgebungsverfahren kritisiert. Diese Mängel werden sowohl als Resultat „abweichender Rechtstraditionen“ wie auch „Machtanmaßung“ der Herrschenden, Entscheidungsnotlagen und fehlende Möglichkeiten der Durchsetzung des Rechtsstaates gesehen (BTI 2006:47). Jüngere Forschungen haben gezeigt, dass „gerade die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in Verbindung mit der fehlenden ‚horizontal accountability’“ der „schleichenden Reautoritarisierung“ demokratischer Systeme Vorschub leiste. Ein defekter Rechtsstaat gepaart mit einer rudimentären horizontalen Gewaltenteilung bildet die Grundlage für die allmähliche Erosion des demokratischen Systems, so dass schließlich selbst demokratische Wahlen in ihrer Konsequenz für das politische System politisch unbedeutend werden (vgl. Merkel 2007:426). So kommt Merkel zu dem Schluss, dass Russland unter Putin zu einem „Grenzfall zwischen einer hochgradig defekten Demokratie und einem offenen autoritären Regime geworden“ ist (Merkel 2007:426).

Die Ergebnisse der Untersuchungen von Freedom House und der Bertelsmann Stiftung kommen aufgrund des ähnlichen zugrunde liegenden Demokratieverständnisses19 auf ein gleichgerichtetes, skeptisches Urteil bezüglich Russland. Ebenso stufen im Gegensatz dazu viele Demokratieskalen die westeuropäischen und nordamerikanischen Verfassungsstaaten als Kerngruppe der weltweit führenden Demokratien ein (vgl. Schmidt 2003:414). Eine Ausnahme stellt hier der Index von Vanhanen dar. Die Einstufung Russlands im Jahr 1993, „einem zwischen Diktatur und Demokratisierung oszillierenden Staatswesen“ (Schmidt 2003:400) noch vor den etablierten Demokratien USA und Schweiz lassen Vanhanens Messungen in den Augen Schmidts äußerst fragwürdig erscheinen.

Ein Problem vieler Demokratieskalen sieht Schmidt darin gegeben, dass der notwendigen Differenzierung zwischen der Verfassung und der Verfassungswirklichkeit zu wenig Beachtung geschenkt wird, der Abstand zwischen beiden ist nicht in allen Ländern gleich. „Vielmehr wird der Abstand zwischen formellen Institutionen und Verfassungswirklichkeit mit zunehmender Fragilität der Demokratie und zunehmendem Autoritarismusgrad der Staatsorganisation größer“ (Schmidt 2003:415). Dieses Problem wird später bei der Betrachtung Russlands zu Tage treten.

Auch Merkel übt Kritik an einer Reihe von Demokratiemessungen. So führt etwa das minimalistische Demokratiekonzept der Untersuchung des Polity IV Project 200720 dazu, dass Russland im Rahmen der Demokratiemessung einen Wert von +7 erreicht (+10 der höchste, - 10 der niedrigste Wert des Rankings) - „eine Einschätzung, die schwerlich von irgendeinem Osteuropa-Forscher beglaubigt werden würde“ (Merkel 2007:424)21.

Ein weiteres zentrales Problem vieler Demokratiemessungen ist es, aufgrund der spezifischen, oftmals eingeschränkten Demokratiekonzepte sowie der sich hieraus ergebenden Auswahl weniger Messungsindikatoren den Blick auf handlungs-, struktur- oder kulturtheoretische Erklärungen22 zu verengen und die Demokratiemessungen somit von vorneherein nicht umfassend genug anzulegen. Dadurch handelt es sich bei den Ergebnissen oftmals um unrealistische Messung, die der Wirklichkeit zu selten gerecht werden. In Folge weist Merkel darauf hin, dass sich „ohne eine Synthese von handlungs-, struktur- und kulturtheoretischen Theorieelementen“ (...) „bestenfalls Partialwahrheiten“ erfassen lassen, ohne dass diese jedoch Anspruch auf Vollständigkeit erheben könnten (vgl. Merkel 2007:431). Denn zur Erklärung der Entwicklung und Ausprägung einer Demokratie müssen neben den formalen, institutionalisierten Strukturen eines politischen Systems ebenso die Handlungsweisen der Akteure in Staat und Gesellschaft, der politische Spielraum der Machthaber sowie die politische Kultur der Gesellschaft mit ihren Werten und Überzeugungen, politischen Vorstellungen und Idealbildern herangezogen werden. So können solch kulturelle Voraussetzungen ebenso wie das durch sie geprägte Verhalten der Akteure im Alltag die demokratischen Strukturen in einem Staat stützen - oder auch torpedieren und langfristig unterlaufen, indem sie diesen zuwiderlaufen und ihnen den Boden für ihre normative Rechtfertigung entziehen. Zahlreiche endogene und exogene systemische, aber auch verhaltensprägende kulturelle Faktoren tragen zu der letztendlichen Erscheinungsform und Entwicklung von Demokratien bei, sie prägen den realpolitischen Handlungskorridor der formellen und informellen politischen Akteure (vgl. Kaußen 2003; Schmidt 2003: 460ff.).

2.2. Definition des Begriffes Demokratie

Zieht man im Anschluss an die Feststellung, dass sich in der politikwissenschaftlichen Literatur viele verschiedene, in ihrer Reichweite und Komplexität differierende Definitionen und Konzepte von Demokratie finden lassen, Politiklexika zu Rate, lassen sich verschiedene Elemente des modernen Demokratiebegriffs ausmachen.

Der Begriff Demokratie bedeutet mit Bezug auf das Griechische „Volksherrschaft“ (vgl. Schulze 2001). Die demokratische Grundlage von Staatsverfassungen gewährt einen verhältnismäßig großen Spielraum für verschiedene Ausprägungen politischer Ordnungen. In der demokratischen, westlichen Welt finden sich neben präsidialen, semi-präsidialen und parlamentarischen demokratischen Systemen sowohl solche mit starker direktdemokratischer Beteiligung des Volkes oder stark repräsentativer Herrschaft, als auch mit der Ausrichtung als Konkurrenz- oder Konkordanzdemokratien, Mehrheits- oder Konsensusdemokratien (vgl. Schmidt 2003).

Alle Demokratieformen haben jedoch gemeinsame Kennzeichen: Die Volkssouveränität23 ist das grundlegendste Prinzip der Demokratie, aus der sich die rechtlich gesicherten Teilhabeverfahren für das Volk (Minimum: Wahlen) sowie die Beschränkung und Kontrolle politischer Herrschaft in den meist repräsentativen Demokratien ableitet. Die Beschränkung politischer Herrschaft erfolgt zum einen über das Rechtsstaatsprinzip, in dessen Vollzug sowohl die Grund- und Menschenrechte als auch die Organisation und Kompetenzverteilung im Zuge der politischen Herrschaft in der Staatsverfassung festgelegt werden. Diese Rechte und Garantien sind für jeden Bürger einklagbar, schützen diesen in erster Linie vor übermäßigen Eingriffen des Staates in die Privatsphäre und Freiheit des Bürgers, und bewahren die Gesellschaft vor willkürlicher Machtausübung der Herrschenden. Die unmittelbare Kontrolle der politischen Herrschaft erfolgt durch die horizontale und vertikale Gewaltenteilung und damit verbundene Abhängigkeit zwischen den Staatsorganen sowie der nationalen und subnationalen Herrschaftsebenen und tritt somit einer übermäßigen Machtkonzentration in den Händen eines Einzelnen oder weniger Machthaber entgegen. Aus dem Bereich der Gesellschaft erfolgt die Kontrolle durch freie Medien, die auch die „Vierte Gewalt“ (Schubert/Klein 2005:72) genannt werden, sowie einer starken Zivilgesellschaft, die sich zu politischem Engagement in Parteien, Verbänden, Interessengruppen und Bürgerinitiativen zusammenschließt und ihren Anliegen direkt und eigenständig Ausdruck verleiht (vgl. Schubert/Klein 2005:71f.).

Somit beruht Demokratie auf drei Prinzipien: Freiheit, Gleichheit und Kontrolle. Die politische Gleichheit aller Bürger begründet die fundamentaldemokratischen Partizipationsrechte und -chancen aller Bürger, eigene Präferenzen frei zu formulieren und für diese einzutreten, in den Entscheidungsprozess einzubringen und auf eine grundsätzliche Chancengleichheit bei der Interessendurchsetzung vertrauen zu können. Elementar für den Bereich der Partizipation sind intermediäre Organisationen wie demokratische, freie Parteien sowie Nichtregierungsorganisationen, die den politischen Austausch zwischen der politischen und zivilgesellschaftlichen Sphäre gewährleisten, eine breite Legitimationsbasis für politische Entscheidungen und ein hohes Maß an Responsivität der politischen Sphäre gegenüber der Gesellschaft gewährleisten. Eine pluralistische Gesellschaft, eine aufgeklärte Öffentlichkeit sowie freie Entfaltungsmöglichkeiten für die politische und außerparlamentarische Opposition sind zentrale Wesenselemente der Demokratie, die die Freiheit des Einzelnen und die Kontrolle der Machthaber durch die Bürger garantieren (vgl. Schultze 2001:52f.).

Das Prinzip der Volkssouveränität lässt sich zusammen mit den drei Dimensionen der Demokratie Freiheit, Gleichheit und Kontrolle, auf die sich auch Merkel in seinem Demokratiekonzept bezieht, als die historische und logische Kernbedeutung der Demokratie definieren (vgl. Sartori 1997: 263). Volkssouveränität, die unter anderem in repräsentativen Demokratien in der Verantwortlichkeit der politischen Machthaber gegenüber dem Volk Ausdruck findet, gilt als demokratisches Kernprinzip und ist in ihrem funktionsnotwendigen Sinn nach mit den Prinzipien der politischen Freiheit, Gleichheit und Kontrolle unweigerlich verbunden. Soll die Volkssouveränität als oberstes Prinzip des staatlichen Handelns Ausdruck in den staatlichen Institutionen und politischen Verfahren finden, ist die Freiheit zur gleichen politischen Teilhabe und Mitwirkung aller Bürger ebenso unerlässlich wie die Kontrollmöglichkeiten des Volkes gegenüber dem Staat mit Hilfe der unabhängigen Justiz sowie der pluralistischen Zivilgesellschaft und Medien. Die politischen Freiheitsrechte der Bürger wie die Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs-, Informations- und Kommunikationsfreiheit bilden die Voraussetzung dafür, dass die Bürger von ihrem demokratischen Recht, Einfluss auf öffentliche Angelegenheiten auszuüben sowie Kontrolle über Entscheidungsprozessen zu erlangen, Gebrauch machen können. Auch wenn es unterschiedliche Ansichten sowohl über die inhaltliche Reichweite der demokratisch zu entscheidenden Materie, als auch über die Reichweite der rechtsstaatlichen Kontrolle der politischen Machthaber gibt, konvergieren alle Demokratietraditionen in der Begrenzung staatlicher (exekutiver) Macht durch die zentralen Elemente des Rechtsstaates24 (vgl. Merkel 2003:41ff.).

Die Prinzipien der Volkssouveränität und des Rechtsstaates stützen und ergänzen sich somit gegenseitig, die konstitutionelle und rechtsstaatliche Begrenzung sowohl der Volkssouveränität als auch der politischen Herrschaft sind als demokratisch zu rechtfertigen, da sie helfen, die Voraussetzungen der Demokratie zu sichern. Die konstitutionelle Selbstbindung der Demokratie bietet die notwendigen Sicherungsmechanismen sowohl gegen die unbegrenzte Herrschaft der Mehrheit, als auch gegen die despotische Herrschaft demokratisch legitimierter Herrschaftsträger (vgl. Sejersted 1993:133). Außerdem wird auf diese Weise die prinzipielle Gültigkeit und Sicherstellung der politischen Grundrechte gewährleistet und damit offene und faire demokratische Prozesse garantiert, die für den demokratischen Charakter der Politik unverzichtbar sind (vgl. Arthur 1996:62, zitiert nach Merkel 2003:43). Die rechtsstaatlichen Garantien sorgen für die notwendige interne Einhegung also auch solcher Machtquellen (Volkssouveränität) und Entscheidungsmodi (Mehrheitsentscheid), welche die Demokratie erst konstituieren. Diese anspruchsvollen Voraussetzungen der Demokratie in Form der weitgehenden freiwilligen Selbstbindung der staatlichen Gewalten, die informellen Kontrollmechanismen einer starken Zivilgesellschaft und kritischen Öffentlichkeit sowie eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit sind in jungen Demokratien ohne tief verwurzelte demokratische Traditionen äußerst schwer zu erfüllen (vgl. Merkel 2003:44).

Zwischen den drei Demokratieprinzipien Freiheit, Gleichheit und Kontrolle besteht sowohl ein interner Zusammenhang, als auch ein potenzielles Spannungsverhältnis. Alle drei Prinzipien müssen als „konkrete Regelsysteme“ (Merkel 2003) in Form der verschiedenen staatlichen Teilregime miteinander in Balance gebracht werden. Wenn die demokratischen Prinzipien so in die politisch-institutionellen Arrangements und Teilregime der Herrschaftsordnung eingelassen sind, dass die freie Selbstbestimmung der Bürger möglich wird, ist der „Kern der demokratischen Logik“ verwirklicht (vgl. Merkel 2003:45).

Dem modernen Demokratieverständnis liegt ein pluralistisches Gesellschaftsbild zugrunde. Die vielen verschiedenen Meinungen, politischen Ansätze und Denk- und Lebensweisen einer Gesellschaft verfügen alle über die gleiche Existenzberechtigung und sind Grundlage einer flexiblen und wandlungsfähigen Politik. Eine grundsätzliche Responsivität der Politik gegenüber diesen vielfältigen gesellschaftlichen Ideen muss gewährleistet sein, die festgelegten Diskurs-, Beratungs- und Entscheidungsprozeduren der Politik betonen den ergebnisoffenen Charakter des politischen Prozesses (Berendts 2005:24). Die Möglichkeit der ungehinderten Entfaltung solch pluralistischer Interessen in der Gesellschaft, ihre freie Artikulation und grundsätzlich gleichen Durchsetzungschancen in der politischen Debatte sind zentraler Bestandteil und Voraussetzung für einen demokratischen Politikprozess. Somit ist besonderes Augenmerk nicht nur auf die verfassungsrechtlich verbrieften und vom politischen System vorgesehenen Partizipationsmöglichkeiten im politischen Prozess zu richten, sondern bereits im Vorfeld des eigentlichen politischen Prozesses auf die Bedingungen für den Pluralismus in der Gesellschaft zu achten. Denn beim Pluralismus handelt es sich um eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung der Demokratie: seine Existenz reicht nicht aus, um einen Staat als Demokratie zu kategorisieren, seine Abwesenheit reicht aber hingegen durchaus zur Qualifizierung des politischen Systems als Nicht-Demokratie (vgl. Berendts 2005:33ff).

Vor dem Hintergrund eines solch umfassenden Demokratieverständnisses können Defekte bereits außerhalb des politischen Systems in den Bedingungen für den pluralistischen Austausch in der Gesellschaft vorliegen, so dass sich gegebenenfalls ein „gap between formal and effective democracy“ auftun kann (Inglehart/Welzel 2005). Dort wo bestimmte gesellschaftliche Interessen zum Beispiel aufgrund ihrer Unterdrückung und damit Beschneidung des gesellschaftlichen Pluralismus gar nicht erst artikuliert und gehört werden können, nutzen offizielle und formale Partizipationsrechte im politischen System wenig, da die Anliegen gar nicht bis dorthin reichen. Im Falle Russlands erscheint ein gesonderter Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen ratsam, vor allem vor dem Hintergrund, dass pluralistische Interessenentfaltung in kommunistischen Systemen nahezu gar nicht vorhanden war (vgl. Engler 1992: 26ff.). Inwieweit diese Demokratievoraussetzung in der postkommunistischen russischen Gesellschaft Fuß fassen konnte, bleibt zu prüfen.

2.3 „Defekte Demokratie“ nach Wolfgang Merkel

Über eine solch grundlegende Demokratiedefinition, wie man sie in aktuellen Demokratielexika findet, besteht weitgehende Einigkeit zwischen zahlreichen Wissenschaftlern und Demokratietheoretikern. Transformationsforscher weisen jedoch zu Recht darauf hin, dass es sich bei solchen Definitionen um Idealzustände der Demokratie handelt, besonders wenn man ergänzend etwa an solch normative Forderungen der partizipatorisch-deliberativen Demokratietheorie denkt. Nach diesem Idealbild müssen politische Streitfragen mittels umfassender und freier Diskussionen und Debatten in der Gesellschaft möglichst durch Kompromisse und einstimmige Entscheide gelöst werden, die kraft des besseren Arguments für alle Beteiligten einzusehen sind (vgl. Benhabib 2002; Habermas 2006). Hinter solch anspruchsvollen Demokratiekonzepten bleiben nicht nur viele junge Demokratien zurück, sondern auch die meisten etablierten Demokratien in Westeuropa und Nordamerika (vgl. Merkel 2003:11).

Um nun aber überhaupt eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Regimeformen treffen zu können, hat man sich weitgehend auf die (Nicht-) Existenz von freien, fairen Wahlen als minimalistisches Merkmal demokratischer Staatsformen und charakteristische Trennlinie zu den klassischen Erscheinungsformen autokratischer Regime geeinigt (vgl. Brooker 2000). Trotz der steigenden Anzahl demokratischer Staaten auf der Welt fällt die Unterscheidung zwischen ‚eindeutig’ demokratischen und autokratischen Ländern jedoch zunehmend schwerer, die ‚Grauzone’ zwischen beiden Staatsformen auf der politischen Weltkarte ist größer geworden (vgl. Croissant/Thiery 2000).

Mehr oder weniger freie Wahlen kennzeichnen viele Umbruchsysteme und junge Demokratien, ihre Regimestrukturen sind meist nach demokratischen Zielsetzungen errichtet und in demokratisch und freiheitlich anmutenden Verfassungstexten normativ abgesichert worden (vgl. Merkel 2003:21). Die Tatsache, dass die Bevölkerung „de jure“ zwar über demokratische Rechte verfügt, „de facto“ jedoch oftmals von der tatsächlichen, effektiven politischen Mitbestimmung ausgeschlossen bleibt, ihre schriftlich fixierten politischen und bürgerlichen Rechte in der Praxis folglich wirkungslos bleiben und Rechtsstaatlichkeit zu einer leeren Worthülse verkommt, mahnt zu einer Differenzierung zwischen den Regimestrukturen und formal-demokratischen Institutionen einerseits und deren faktischer Funktionsweise und Geltungskraft im politischen System andererseits (vgl. Merkel 2003:11 f.).

In der Transformationsforschung werden drei wesentliche Phasen der Transformation von autokratischen Staaten hin zu Demokratien unterschieden, deren erfolgreiches Durchlaufen die Voraussetzung dafür ist, dass von einer fest verankerten und stabilen Demokratie gesprochen werden kann. Die Phase der „Liberalisierung“ beinhaltet die Befreiung von dem alten, autoritären System, welche oftmals mit einem Elitenwechsel oder Elitenkompromiss zwischen alten und neuen Machthabern einhergeht. Diese Liberalisierung der politischen Systems stellt die Vorraussetzung für die 2. Phase der „Demokratisierung“ dar, in deren Rahmen sich eine neue demokratische Verfassungsgebung sowie die Etablierung eines neuen Regimes in Folge von Gründungswahlen (‚founding elections’) vollzieht. Diese beiden ersten Phasen der Transformation werden in der Forschung auch als „Transition“ zusammengefasst (vgl. Merkel 2003:22).

Bis hierhin ist den meisten jungen Demokratien der politische Wandel geglückt, ab diesem Punkt spricht man von formalen, elektoralen Demokratien. Ob sich diese demokratischen Strukturen und die damit intendierten Verhaltensweisen in Staat und Gesellschaft aber verfestigen und auf der Basis demokratischer Werte tatsächlich fest verankern können, zeigt sich erst in der letzten Phase, der „Konsolidierung“ demokratischer Systeme. Hier wird klar, ob die demokratische Verfassung und formale Demokratie tatsächlich hält, was sie verspricht, in der Realität auch tatsächlich verwirklicht wird und sich somit zu einer effektiven Demokratie entwickelt. Ob die weitere Entwicklung eines Staates in Richtung einer liberalen Demokratie gelingt, dieser in den anfänglich noch unweigerlich demokratisch defizitären Strukturen und Verhaltensweisen der Akteure verharrt oder aber gar in den Autoritarismus zurückfällt, hängt von vielen institutionellen, verhaltens- und handlungsbezogenen sowie kulturellen Faktoren und Bedingungen ab (vgl. Kaußen 2003). So ermöglicht die Liberalisierung und Demokratisierung eines politischen Systems zwar den Aufbau demokratischer Strukturen, garantiert jedoch keineswegs deren feste Etablierung und Stabilisierung in Staat und Gesellschaft, eben die Konsolidierung der Demokratie (vgl. Schmidt 2003:463).

Sandschneider verdeutlicht in seinem zyklischen Transformationsmodell, dass es sich bei der Transformation von Staaten um einen fließenden dynamischen Prozess der stetigen Veränderung des politischen Systems handelt, welche durch innere und äußere Anreize und Faktoren zustande kommt. Das Erreichen eines „momentanen Stabilitätsgleichgewichts“ gibt dem politischen System stets nur kurzfristige Stabilität, ihr fortwährender Bestand wird immer wieder durch interne und externe Herausforderungen und Veränderungen in Frage gestellt (vgl. Sandschneider 1995:3ff.). Somit ist kein politisches System vor einem Rückfall in autoritäre Strukturen gefeit, die Entwicklung politischer Systeme ist stets in beide Richtungen denkbar; es handelt sich bei dem Entwicklungspfad nicht um eine ‚Einbahnstraße’.

Aus dieser Perspektive erklärt sich Merkels Verständnis ‚defekter Demokratien’, in welchen der Prozess der Konsolidierung nicht (vollständig) geglückt ist, liberaldemokratische Verfahren und Institutionen nicht umfassend etabliert werden konnten und das Ergebnis vielmehr eine Aushöhlung und Pervertierung demokratischer Strukturen und Prinzipien darstellt25.

Dennoch stellen defekte Demokratien nicht bloß eine Übergangsphase auf dem Weg zur liberalen Demokratie nach westlichem Verständnis dar, sondern weisen selbst durchaus Stabilität und fortwährenden Bestand ihrer defizitären Strukturen und Verfahren auf, „nicht zuletzt, weil sie im Bewusstsein der für das Überleben des politischen Regimes relevanten Eliten und Bevölkerungsschichten ein ausreichendes Maß an Zustimmung“ und Legitimität gewinnen konnten (Merkel 2003:14). Hybride Systeme26, die sich zwischen Demokratie und Autokratie bewegen, verfügen durchaus über eine eigene, innere Logik, die das demokratisch defekte System zu stabilisieren und zu erhalten vermag. So können politische Systeme in solch defizitären Strukturen zwischen einer liberalen Demokratie und einem autoritären System „stecken bleiben“, ungewiss ob sie sich in Zukunft in die eine oder die andere Richtung weiterentwickeln. Dies wird später am Beispiel Russlands noch einmal gesondert thematisiert.

Somit handelt es sich bei der demokratischen Konsolidierung nicht lediglich um eine zeitliche Fortsetzung der Transition, sondern um einen qualitativ eigenständigen Prozess. In diesem werden die hinreichenden Minimalbedingungen der Demokratie (Verfassung und Wahlen) dauerhaft gesichert und somit die Voraussetzung für ihr effektives Funktionieren geschaffen. Nun werden die zuvor etablierten Institutionen und politischen Verfahren tatsächlich handlungsprägend wirksam und das Handeln der politischen und gesellschaftlichen Akteure somit dauerhaft an die demokratischen Normen und Regeln der neuen politischen Ordnung gebunden (vgl. Merkel 2003:22). Die Konsolidierungsstufen, die auf dem Weg zu Stabilität und Legitimität einer Demokratie durchlaufen werden müssen, umfassen die „konstitutionelle und institutionelle Konsolidierung“ samt einer demokratische Verfassung, demokratischen Institutionen und Staatsorganen, bezieht sich also auf die formalen Strukturen eines politischen Systems. Mittels normativen und sanktionierenden Vorgaben wirken diese Institutionen handlungsbegrenzend und strukturgebend für alle Vorgänge im Staat. In einem zweiten Schritt erfolgt die „repräsentative Konsolidierung“ der intermediären gesellschaftlichen Akteure, wie Parteien und Interessenverbände, deren Handlungen sowohl auf die Konsolidierung der Institutionen als auch in Verbindung mit diesen Einfluss auf das Verhalten der (in)formellen mächtigen Akteure in Staat und Gesellschaft der Stufe drei ausüben. Diese „Verhaltenskonsolidierung der mächtigen (in)formellen Akteure“ wie der politischen Eliten und Machthaber sowie auch der potenziellen politischen Vetomächte einer Gesellschaft wie das Militär, die Unternehmen, das Finanzkapital oder potenzielle Terrorgruppen ist entscheidend durch die Stabilität der ersten beiden Ebenen beeinflusst. Sie entscheidet im Wesentlichen darüber, ob die politischen Akteure ihre Interessen innerhalb oder außerhalb des staatlichen Handlungsrahmens, mit oder gegen die demokratischen Normen verfolgen. Die Konsolidierung einer „Staatsbürgerkultur“ in der Bevölkerung bildet den Abschluss des Konsolidierungsprozesses. Eine demokratische politische Kultur mit zentralen Werten und Prinzipien als soziokultureller Unterbau der Demokratie verankert diese letztendlich fest in der Gesellschaft (vgl. Merkel 2007:414 ff.).

Merkel folgt Pridham (Pridham 1995, zitiert nach Merkel 2007), wenn er ein politisches System dann als konsolidiert bezeichnet, „wenn das gesamte System nicht nur in den Augen der Eliten legitim und ohne Alternative ist, sondern wenn auch die Einstellungs-, Werte- und Verhaltensmuster der Bürger einen stabilen Legitimitätsglauben an die Demokratie reflektieren“ (Merkel 2007:416). Legitimität als der „Glaube, dass das Ensemble der existierenden politischen Institutionen und Verfahren besser ist als jede andere Systemalternative“ (Merkel 1996:52) vermag die Stabilität demokratischer Verhaltensweisen und damit auch der Institutionen plausibel zu erklären. Einer konsolidierten demokratischen politischen Kultur wird immunisierende und stabilisierende Wirkung auf die Institutionen, die intermediären Organisationen und das Verhalten der Akteure zugeschrieben. Wenn alle vier Ebenen fest verankert sind, kann eine Demokratie als weitgehend krisenresistent gelten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch die Gefahr autoritärer Rückschritte, Dekonsolidierung bis hin zur schrittweisen Erosion der Demokratie stets latent vorhanden ist (vgl. Merkel 2007:417, Bertelsmann Stiftung 2006:39). Merkel sieht somit die Erfassung der politischen Einstellungen und Werte der Bürger als notwendig für eine hinreichende Demokratiemessung an, und vertritt somit ein komplexes und umfassendes Demokratieverständnis.

In einer zunehmend konsolidierten Demokratie wächst die Legitimität, welche die Bevölkerung und die politischen Akteure der demokratischen Ordnung beimessen, so dass parallel dazu die Wahrscheinlichkeit ihrer Degeneration27 oder gar ihres Zusammenbruchs28 schwindet. Linz einflussreiche Studie ‚The Breakdown of Democratic Regimes’ (1978) bestätigt, dass die Konsolidierung und Stabilität politischer (demokratischer) Systeme maßgeblich von dem Legitimitätsglauben der Eliten und Bürger abhängt, damit wird die politische Legitimität zu einer „Schlüsselkategorie der Konsolidierung“ (vgl. Schmitter 1994:68; Diamond 1996:37; Merkel 1996:51). Letztendlich kommt keine Form politischer Herrschaft ohne ein gewisses Maß an Legitimität aus, soll die Herrschaftsausübung nicht von aufwendigen und ressourcenraubenden stetigen Gewalt-, Sanktions- und Kontrollmaßnahmen begleitet sein. Langfristig führt eine solche zur Herrschaftsstabilisierung eingesetzte Unterdrückung der Bevölkerung zu dem - gerade nicht - intendierten Effekt der Destabilisierung des Regimes (vgl. Merkel 1999:59). An dieser Stelle sei schon einmal darauf hingewiesen, dass auch defekte Demokratien von den relevanten gesellschaftlichen Akteuren als leistungsfähig im Sinne der Problemlösungsfähigkeit der Regierung und somit als legitim wahrgenommen werden können, denn dies spielt in Bezug auf Russland eine bedeutende Rolle. Das Phänomen der Stabilisierung ‚hybrider Systeme’ bezeichnet Croissant als „Persistenzszenario“ (Croissant 2002:16), in dessen Rahmen sich die Einschränkungen liberal-demokratischer Prinzipien und Verfahren hinsichtlich der Problemlösungsfähigkeit einer Regierung zumindest mittelfristig als funktional erweisen können. Sie tragen somit zur Stabilisierung des „’hybriden’ Status quo“ des politischen Regimes bei (vgl. Eicher / Beichelt 2006: 297ff.). Eine längerfristige Etablierung demokratischer Defekte ist wahrscheinlich, wenn die Defekte von den machtpolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Kontexten getragen werden, und sich Defekte und Kontexte gegenseitig stützen und verstärken (vgl. Merkel 2003:68).

Des Weiteren sei darauf hingewiesen, dass die verschiedenen Phasen der Transformation von Staaten keinesfalls nur nacheinander und streng aufeinander folgend durchlaufen werden können. Bereits während der Liberalisierung und Demokratisierung in bestimmten Bereichen des politischen Systems und der Gesellschaft können in anderen „Teilregimen“ (Schmitter 1997; Merkel 2003) bereits Konsolidierungsprozesse der Demokratie einsetzen, so dass verschiedene Bereiche des politischen Systems und der Gesellschaft demokratisch unterschiedlich weit entwickelt sein können (vgl. Merkel 2003:21). Wann ein politisches System tatsächlich vollständig demokratisch konsolidiert ist, lässt sich nur mit genauem Blick auf den Einzelfall entscheiden.

Merkels Demokratiebegriff ist dreidimensional und basiert im Einklang mit anderen gängigen Demokratiekonzepten auf den Demokratiedimensionen Freiheit, Gleichheit und Kontrolle. Diese Dimensionen finden Ausdruck in den verschiedensten Institutionen, Verfahren und Normen demokratischer Systeme. Ein demokratisches Herrschaftssystem besteht aus verschiedenen konstitutiven Teilregimen, die alle voneinander abhängig sind und die sich gegenseitig stabilisieren und begrenzen. Jedes Teilregime kann nur dann angemessen funktionieren, wenn auch die anderen Teilregime ihrer vorgesehenen Funktionslogik folgen; alle Teilregime zusammen garantieren das umfassende Funktionieren der Demokratie. Somit wird die Dominanz eines Teilregimes und des in ihm verkörperten demokratischen Prinzips über die anderen erschwert, so dass „die in Spannung zueinander stehenden Prinzipien der Gleichheit, Freiheit und Kontrolle wechselseitig eingehegt“ (Merkel 2003:14) werden. Durch ihre Interdependenz untereinander wird die „Gesamtlogik“ und die umfassende Funktionsweise der rechtsstaatlichen Demokratie gesichert. Merkel spricht hier von einer ‚embedded democracy’ (Merkel 2003:14f.). Die demokratischen Teilregime des Staates sind die des Wahlregimes, der politischen Teilhaberechte der Bevölkerung, ihre bürgerlichen Freiheitsrechte, die effektive Regierungsgewalt des Staates sowie die horizontale Gewaltenkontrolle zwischen den einzelnen Staatsorganen (Merkel 2003:50). Die Dominanz eines Strukturprinzips moderner Demokratie beziehungsweise eines Teilregimes über ein anderes wird erschwert, so dass die Spannung zwischen den Prinzipien der politischen Freiheit, Gleichheit und Kontrolle gleichzeitig gemildert wird. Die wechselseitige Einbettung der einzelnen Institutionen der Demokratie in das Gesamtgeflecht der demokratischen Teilregime machen die Demokratie funktions- und widerstandsfähig gegen eine Aushöhlung der demokratischen Prinzipien, etwa durch eine übermäßige Asymmetrie der Macht zwischen den staatlichen Organen (vgl. Merkel 2003:49).

Die zentrale Position unter den Teilregimen der „embedded democracy“ nimmt das demokratische Wahlregime (Teilregime A) ein, da es sichtbarer Ausdruck der Volkssouveränität, der freien und gleichen Partizipation der Bürger sowie dem gleichen Gewicht ihrer politischen Präferenzen ist. Ein demokratisches Wahlregime ist somit auf die Existenz gleicher politischer Partizipationsrechte angewiesen. Demokratische Wahlen verkörpern somit die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Kontrolle der Machthaber. Beide Teilregime zusammen verkörpern die vertikale Herrschaftslegitimation der Demokratie (vgl. Merkel 1999).

Die politischen Teilhaberechte der Bürger (Teilregime B) binden die Machthaber an die öffentliche Arena, in deren Rahmen sich die Öffentlichkeit und pluralistische Zivilgesellschaft zu Wort meldet und mittels eigener, freier Organisationsbildung Einfluss auf die Meinungs- und Willensbildung in der Gesellschaft sowie in der Politik nimmt. Die Organisationen der Öffentlichkeit, unter ihnen auch politische Parteien, übernehmen die Vermittlungsfunktion zwischen Gesellschaft und Politik. Die Bürger bekommen auf diese Weise die Möglichkeit zu stetiger Einflussnahme und Kontrollfunktion gegenüber den politischen Machthabern - auch während der Legislaturperioden. „Erst diese gesellschaftliche Öffentlichkeit erlaubt die freie Entfaltung der politischen und zivilen Gesellschaft, die wiederum die sensitive Rückkopplung staatlicher Institutionen an die Interessen und Präferenzen der Bürger fördert“ (Merkel 2003:52).

Die bürgerlichen Freiheits- und Abwehrrechte gegenüber dem Staat (Teilregime C) bilden zusammen mit der wechselseitigen Kontrolle und Gewaltenteilung zwischen den Staatsgewalten (Teilregime D) den zentralen Baustein der Rechtsstaatsdimension der „embedded democracy“. Demnach ist der Staat an geltendes Recht gebunden und agiert auf der Basis klar definierter Kompetenzen und ausschließlich in rechtlich definierten Rahmen und Handlungsräumen. Damit fungiert Rechtsstaatlichkeit als Einhegung und Begrenzung der Herrschaftsausübung (vgl. Elster 1988:2f.; Nino 1996:3ff.). Die bürgerlichen Grundrechte zum Schutz gegen freiheitsgefährdende Übergriffe der Machthaber und Gesetzgeber werden durch das über der politischen Gestaltung durch die Machthaber stehende Recht sowie der „Garantenstellung“ (Merkel 2003:53) der unabhängigen Gerichte als Verfassungshüter und Kontrolleure der legislativen und exekutiven Machtausübung garantiert. Die moderne Demokratie ist eine konstitutionelle Demokratie, jede institutionelle Handlung besitzt eine konstitutionelle und rechtliche Grundlage. Die bürgerlichen Freiheitsrechte sind eine „elementare Grundbedingung des staatsbürgerlichen Daseins“ (vgl. Jelin 1995), ohne die etwa die politische Partizipation allzu leicht zur „Schimäre“ werden könnte (Linz/Stepan 1996:10). Durch die Institutionen der vertikalen Verantwortlichkeit (Teilregime A und B) werden die Machthaber nur punktuell über Wahlen und Referenden sowie die öffentliche Arena kontrolliert. Um die Kontrolle der (exekutiven) Gewalt zum Schutz vor deren Verselbstständigung oder Missbrauch zu vervollständigen, verfügen alle Staatsgewalten lediglich über eine relative, gegenseitig überlappende Autonomie. So handelt und entscheidet jede Macht in ihrem Aufgabenbereich weitgehend autonom, wird jedoch von den anderen Gewalten gleichzeitig in ihrem Handeln kontrolliert und begrenzt. Eine funktionsfähige Judikative, welche die Rechtmäßigkeit politischen Handelns sicherstellt, erhält hier besonderes Gewicht. Die Gewaltenverschränkung und -kontrolle (Teilregime D) sichert somit die Responsivität des exekutiven Handelns gegenüber demokratischen Prinzipien und dem Willen der Bürger zusätzlich zum Mechanismus der Wahlen (vgl. Merkel 2003:54).

Das letzte wichtige Teilregime des demokratischen Staates ist nach Merkel die effektive Regierungsgewalt (Teilregime E) der demokratisch gewählten Machthaber. Damit die Wahl der Machthaber durch die Bürger Sinn hat, und tatsächlich Ausdruck der Volkssouveränität ist, muss sichergestellt sein, dass ausschließlich die gewählten Machthaber über die Geschicke des Staates entscheiden. Sie müssen alleine über das Gewaltmonopol des Staates verfügen, das ihnen nicht durch undemokratisch ‚legitimierte’ Personen, Vetomächte jenseits politischer und rechtlicher Verantwortung, streitig gemacht werden darf29 (vgl. Merkel 2003:56).

Von diesem grundlegenden Demokratiekonzept („root concept“ nach Merkel 2003) der „embedded democracy“ in Form der liberalen, rechtsstaatlichen und konstitutionell eingehegten Demokratie aus definiert Merkel verschiedene Formen defekter Demokratie, je nachdem, welches der drei zentralen Prinzipien Gleichheit, Freiheit und Kontrolle in welchem Teilregime des politischen Systems verletzt ist. Diese Formen politischer Systeme stellen also Unterkategorien („diminished subtypes“ zitiert nach Merkel 2003) der liberalen Demokratie dar, gekennzeichnet durch verschiedene Defizite im Vergleich zu dem Ideal. Merkel rechnet diese defizitären Systeme zwar zu den Demokratien und eben noch nicht zu autokratischen politischen Systemen, bestimmt sie jedoch über ihre Defizite als defekte Demokratien:

„Defekte Demokratien sind Demokratien, in denen einer oder mehrere der institutionellen Mechanismen nicht hinreichend verwirklicht sind (...). Eine defekte Demokratie liegt dann vor, wenn die Logik der elektoralen Demokratie zwar in relevanten Herrschaftsbereichen wirkungsvoll umgesetzt wird, jedoch andere Teilbereiche der Herrschaftsordnung nach Mustern funktionieren, die den Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Kontrolle entgegenlaufen oder sie nicht hinreichend erfüllen. (...) Sie sind Herrschaftssysteme, die sich durch das Vorhandensein eines weitgehend funktionierenden demokratischen Wahlregimes zur Regelung des Herrschaftszugangs auszeichnen, aber durch Störungen in der Funktionslogik einer oder mehrerer Teilregime die komplementären Stützen verlieren, die in einer funktionierenden Demokratie zur Sicherung von Freiheit, Gleichheit und Kontrolle unabdingbar sind.“ (Merkel 2003:15).

Auch hier wird erneut die Bedeutung und Unerlässlichkeit der sorgfältigen Differenzierung zwischen den formalen Gegebenheiten wie der politischen Institutionen, staatlichen Strukturen und Verfassung auf der einen Seite und der Verfassungswirklichkeit, den tatsächlichen Gegebenheiten, Funktionslogiken, Handlungs- und Wirkungsweisen in der Praxis auf der anderen Seite klar. Um die Minimalkriterien einer liberalen und rechtsstaatlichen Demokratie zu erfüllen, dürfen die demokratischen Prinzipien in den Institutionen nicht nur als formale „rules of the game“ schriftlich in der Verfassung vorhanden sein, sondern müssen auch effektiv als „rules in use“ verwirklicht sein (Croissant / Thiery 2000:92).

Huntington hat bereits vor einigen Jahren angemerkt, dass die Herausforderung junger Demokratien im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht „overthrow but erosion“ sei, „the intermitted or gradual weakening of democracy by those elected to lead it“ (Hungtington 1996:9). Diese Gefahr der Selbstzerstörung von Demokratien ist dort gegeben, wo demokratisch gewählte Machthaber ihre Legitimation durch die Bürger dazu missbrauchen, eigene Kompetenzen gegenüber anderen Verfassungsorganen auszuweiten, ausschließlich ihre eigenen Interessen durchzusetzen und die demokratischen Prinzipien systematisch zu unterlaufen (vgl. Merkel 2003:16).

Merkels Demokratiekonzept verknüpft somit akteurstheoretische und institutionstheoretische Argumente, wenn es um die Ursachen für die Stagnation der demokratischen Konsolidierung geht. Institutionelle, historische, kulturelle und sozioökonomische Gegebenheiten formen als „restringierende und ermöglichende Faktoren“ den Handlungskorridor der Akteure in Politik und Gesellschaft, samt ihrer Interessen, (gesellschafts-) politischen Orientierungen und Strategien (vgl. Merkel 2003:17). Erst das Zusammenspiel von institutionellen Gegebenheiten und Möglichkeiten mit akteursspezifischen Entscheidungen und Handlungen ermöglicht umfassende Erklärungsversuche für gegenwärtige Erscheinungsformen von Staaten, politischen Systemen und Gesellschaften.

In „defekten Demokratien“ können sich die formalen Institutionen in der Regel nicht auf kongruente informelle Institutionen, Normen und Regeln in der Gesellschaft stützen, wie dies in funktionierenden liberalen Demokratien der Fall ist. Hier wird die Funktionsweise der formalen Institutionen vielmehr durch die ihnen zuwider laufenden informalen Muster und Regeln unterlaufen und in ihrer Wirksamkeit beschränkt und pervertiert. Die Machthaber beziehen ihre formale, politische Legitimität aus ihrer mehr oder weniger freien Wahl durch die Bevölkerung, reproduzieren ihre Macht im Laufe ihrer Herrschaft dann jedoch primär über extralegale und informale Arrangements. Diese informellen Regeln stehen in Widerspruch zu den Prinzipien des liberalen, demokratischen Rechtsstaates, brechen die ursprünglich intendierten, demokratischen Funktionsweisen der formalen Institutionen und verformen oder verdrängen gar in Folge die demokratischen Verfahren und Entscheidungsregeln. Die mangelhafte Implementation und Konsolidierung der konstitutionell vorgeschriebenen Regeln und Verfahren des demokratischen Rechtsstaates ermöglichen so die faktische Institutionalisierung demokratischer Defekte (vgl. Merkel 2003:28f.).

Nach außen hin handelt es sich also mit Blick auf die Verfassung und die formalstaatlichen Institutionen und Verfassungsorgane augenscheinlich um eine Demokratie, auf den zweiten Blick entpuppt diese sich jedoch als eine im Innern pervertierte und defizitäre Demokratie. Dieser Tatbestand trifft -zumindest auf den ersten Blick - auch auf Russland zu. Inwieweit das Minimalkriterium der demokratischen Wahlen in Russland gegeben ist, wird später noch zu untersuchen sein. Der hier beschriebene ist zwar nur ein möglicher Pfad der Institutionalisierung demokratischer Defekte laut Merkel, er soll aber in Hinblick auf meine spätere Untersuchung Russlands und den Rahmen dieser Arbeit genügen30. Ebenso werde ich im Folgenden auch nur auf die Formen defekter Demokratie nach Merkel eingehen, denen Russland am ehesten entspricht.

So sei noch einmal grundlegend zusammengefasst, dass defekte Demokratien für Merkel einen Subtypus von Demokratie darstellen, die sich von autokratischen Regimen und „Fassadendemokratien“ durch die allgemeinen, freien, gleichen und fairen Wahlen als Ausdruck des Prinzips der Volkssouveränität unterscheiden.

Autokratische Regime sind durch ein autoritäres Herrschaftsverständnis gekennzeichnet. Die Möglichkeiten zur demokratischen Mitwirkung sind stark eingeschränkt, öffentliche Willensbildungsprozesse sowie die öffentliche Auseinandersetzung über politische Themen und Entscheidungen etwa durch Presse- und Informationsfreiheit bis hin zu freien zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivitäten werden von den politischen Machthabern massiv behindert. Die pluralistische Interessenvielfalt sowohl in der Gesellschaft als auch in der politischen Sphäre ist stark begrenzt (vgl. Schubert/ Klein 2005:32). Der eingeschränkte Pluralismus gilt in autokratischen Systemen als ein zentrales Abgrenzungsmerkmal gegenüber Demokratien mit ihrem prinzipiell unbegrenzten Pluralismus und totalitären Regimen, in denen strenger Monismus das Ziel ist. Die Zulassung von Handlungsspielräumen für politische und gesellschaftliche Akteure hängt weitgehend von der autoritären Staatsführung ab, eine umfassende „Depolitisierung“ (Linz 2001: 26) der Gesellschaft wird in der Regel als funktional und erstrebenswert erachtet. Denn eine übermäßige Mobilisierung der Bürger gilt als Bedrohung und Destabilisierungsfaktor für das politische System. In Abgrenzung zu totalitären Regimen rekurriert die Führung in Autokratien zur Stabilisierung des Systems nicht auf fest umrissene Ideologien, sondern lediglich auf allgemeine Werte wie Patriotismus, Nationalismus sowie autoritär durchzusetzende Modernisierung und Ordnung (vgl. Linz 2001:26ff.).

Wiest (2006) bemängelt, dass die Transformationsforschung das Konzept des Autoritarismus und der autokratischen Staatsform lange Zeit vernachlässigt habe.

„Zu Beginn der 1990er Jahre dominierte vor allem in der Forschung zu postkommunistischen Ländern das Paradigma der ‚transition to democracy’, das heißt, die Annahme, dass sich die ehemals kommunistischen Länder schon irgendwie in Richtung Demokratie bewegen würden. Zwar zeichnete sich bereits Mitte der 1990er Jahre ab, dass sich die Demokratie nicht in allen Transformationsstaaten „konsolidieren“ würde, sondern dass die Demokratisierung etwa unter anderem in Russland steckenblieb oder (vorerst) gar scheiterte. Daraufhin ließ sich jedoch nicht beobachten, dass die Transformationsforschung auf die Begrifflichkeit des Autoritarismus zurückgegriffen hätte“ (Wiest 2006:1).

Stattdessen konzentrierte sich die Forschung auf Konzepte, die explizit darauf gerichtet waren, diese „Systeme der gescheiterten Demokratisierung“ nicht als autoritär zu begreifen: hierzu zählt das Konzept der „verminderten Subtypen“ (diminished subtypes nach Macków 2000) von Demokratie, dessen sich auch Merkel bedient, ebenso wie das Konzept der „hybriden Systeme“.

„Das Besondere der „verminderten Subtypen“ besteht darin, dass sie wichtige Definitionsmerkmale der Demokratie verletzen. Die Zahl der in diesem Sinn gebildeten „Demokratien mit Adjektiven“ ist kaum mehr zu überblicken. Sie reichen von der „begrenzten Demokratie“, der „autoritären Demokratie“ über die „delegative Demokratie“ (Collier/Levitsky 1997:437) bis zu dem im deutschsprachigen Raum wohl bekanntesten Konzept der „defekten Demokratie“ (Merkel 2003; Croissant/Thiery 2000).

[...]


1 Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, Zypern und Malta (vgl.www.eu2007.de, Zugriff: 13.01.2008)

2 Professor Dr. Wolfgang Merkel lehrt und forscht an der Humboldt-Universität zu Berlin vor allem im Bereich der Transformationsforschung, seit 2004 ist er außerdem Direktor der Abteilung "Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) (vgl. http://www.wzb.eu/zkd/dsl/leute/ wolfgang_merkel.de.html, Zugriff: 12.12.2007)

3 Die Sowjetunion wurde mit ihrem Unionsvertrag 1922 ins Leben gerufen und zerfiel endgültig im Jahre 1991 (vgl. Schubert / Klein 2006).

4 Nach Dahl existieren keine vollkommenen Demokratien, sondern lediglich Polyarchien, die sich dem Ideal der Demokratie nur annähern können. Sie zeichnen sich durch die Erfüllung institutioneller und prozeduraler Minima wie Meinungs−, Informations− und Vereinigungsfreiheit sowie freie Wahlen mit allgemeinem, aktivem und passivem Wahlrecht und einer frei gewählten Regierung aus. Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit bleiben in diesem Ansatz außen vor (vgl. Dahl 1980:221, zitiert nach Wiest 2006). Polyarchie ist somit bestimmt durch wirksame Partizipation, gleiches Wahlrecht, authentische und aufgeklärte Willensbildung, Inklusion aller Erwachsenen und die Kontrolle über die Politikagenda seitens der Stimmberechtigten (vgl. Dahl 1997, 1998)

5 Wahl der Amtsinhaber, demokratische Wahlen, inklusives Wahlrecht, freie Meinungsäußerung, Informationsfreiheit, Organisations- und Koalitionsfreiheit, inklusiver Bürgerschaftsstatus (vgl. Schmidt 2003) . 6

6 In der quantitativ verfahrenden Sozialforschung werden zählbare Eigenschaften gemessen, die Methoden zielen auf eine systematische Messung und Auswertung von beobachtbaren sozialen Fakten ab (vgl. Diekmann 2007:12ff.).

7 Qualitative Verfahren werden oft benutzt, wenn der Forschungsgegenstand neu ist, das Forschungsgebiet exploriert werden muss und Hypothesen zu entwickeln sind. Qualitative Sozialforschung meint eine sinnverstehende, interpretative Verfahrensweise bei der Erhebung und Aufbereitung (Datenanalyse) sozial relevanter Daten, um etwa subjektive Handlungsfaktoren, Intentionalität und Motivation zu verstehen (vgl. Diekmann 2007:12ff).

8 Bei Freedom House handelt es sich um eine weltweit anerkannte Non-Profit-Organisation aus Washington D.C., USA, die sich seit 1971 um die systematische und regelmäßige Erfassung des Standes von politischen und bürgerlichen Rechten in allen heutigen souveränen Staaten bemüht (vgl. Schmidt 2003:408).

9 Die Daten des BTI werden im 2jährigen Abstand in insgesamt 119 Ländern erhoben. Sie basieren auf subjektiven Einschätzungen von Experten aus dem jeweiligen Land sowie deutschen Länderexperten (vgl. Bertelsmann Stiftung 2005).

10 Gemäß der Freiheitsstufen von Freedom House werden Staaten in die Kategorien „Free“, „partly free“ und „not free“ eingeordnet (vgl. Freedom House 2005).

11 Die Duma ist die erste Kammer (Volkskammer) des Parlaments der Russischen Föderation, die zweite Parlamentskammer ist der Föderationsrat, der für die Vertretung regionaler Machthaber auf nationaler Ebene vorgesehen ist.

12 (griech.) Autokratie bezeichnet Regierungsformen, bei denen alle Staatsgewalt unkontrolliert in den Händen eines Herrschers (oder: Autokraten) liegt und von diesem selbstherrlich ausgeübt wird (vgl. Schubert/Klein 2006).

13 Die zentralen Kriterien des BTI sind Staatlichkeit, politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität demokratischer Institutionen sowie politische und gesellschaftliche Integration (vgl. Bertelsmann Stiftung 2005).

14 Auf dieses Modell der demokratischen Konsolidierung Merkels werde ich in Kapitel 2.3 noch einmal gesondert eingehen.

15 Die Daten beziehen sich auf den Konsolidierungsstand Ende 2005, die Indikatoren sind Rechtsstaatlichkeit und Stabilität demokratischer Institutionen (vgl. Bertelsmann Stiftung 2006).

16 Vetoakteure verfügen nicht zwangsläufig über eine absolute Blockadefähigkeit, sondern lediglich über effiziente Einflussmöglichkeiten. Es reicht somit aus, wenn politische Entscheidungen durch Einflussnahme dieser Akteure verzögert oder modifiziert werden (können). Die Anzahl der Vetoakteure ermöglicht Rückschlüsse auf den Charakter eines politischen Systems. Autoritäre Systems zeichnen sich durch das Fehlen von Vetoakteuren aus, eine Entwicklung in Richtung Verhandlungsdemokratie vollzieht sich mit steigender Anzahl der Vetopunkte (vgl. Kaiser (1998), zitiert nach Wiest 2004:18).

17 Pluralismus meint die Anerkennung unterschiedlicher, vielfältiger Meinungen, Überzeugungen, Interessen, Ziele und Weltbilder in der Gesellschaft und ihre Repräsentation im politischen System. Über die Angemessenheit der verschiedenen Sichtweisen wird ausschließlich mittels politischem Wettstreit und Diskursen entschieden (vgl. Schubert/Klein 2006:228f.)

18 Kriterien: Staatlichkeit, politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität demokratischer Institutionen, politische und gesellschaftliche Integration (vgl. Bertelsmann Stiftung 2005).

19 Die zentralen Kriterien des Demokratieverständnisses des BTI sind Staatlichkeit, politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität demokratischer Institutionen sowie politische und gesellschaftliche Integration (vgl. Bertelsmann Stiftung 2005). Das Demokratieverständnis von Freedom House basiert auf der Vorstellung demokratischen Regierens, demokratischen Wahlen, freier Zivilgesellschaft und unabhängigen Medien, Freiheit und Unabhängigkeit der Justiz, Rechtsstaatlichkeit sowie der Eindämmung von Korruption (vgl.www. freedomhouse.org).

20 Hierbei handelt es sich um ein bekanntes, regelmäßig durchgeführtes Demokratiemessungsprojekt des Center for International Development and Conflict Management (CIDCM) an der University of Maryland (siehe auch: http://www.cidcm.umd.edu/polity).

21 Auf dieses Konzept möchte ich aus Gründen des begrenzten Umfangs der Arbeit nicht gesondert eingehen. Das Ziel dieses Kapitels, die Vielfalt der Untersuchungsmethoden und Ergebnisse bei der Einschätzung von politischen Systemen aufzuzeigen, ist meines Erachtens nach erfüllt.

22 Ein Überblick über die zugrundeliegenden Erklärungsansätze der Strukturtheorien, Kulturtheorien und Handlungstheorien bietet die Bertelsmann Stiftung (BTI 2006:70ff.).

23 Das Volk ist oberster Souverän im Staat, von ihm geht alle Macht aus und wird mittels repräsentativer, von ihm gewählten Staatsorganen in seinem Sinn ausgeführt. Somit geht die Legitimation aller politischer Herrschaft letztlich vom Volk aus (vgl. Schubert / Klein 2005).

24 Gewaltenteilung, Bindung an Konstitution, Gesetz und Recht, Unabhängigkeit der Gerichte, Garantie individueller Freiheitsrechte zum Schutz des Einzelnen vor dem Staat (Merkel 2003:42).

25 Samuel J. Valenzuela (1992) spricht von Formen der „perverse institutionalization“ in defekten Demokratien (zitiert nach Merkel 2007).

26 Hybride Systeme bezeichnen solche Systeme, die aufgrund ihrer ambivalenten Merkmalsstruktur mit demokratischen und nichtdemokratischen Elementen weder dem Regimetyp „Demokratie“ noch „Autokratie“ zugeordnet werden können (vgl. Bendel/Croissant 2002).

27 ‚sudden death’ oder ‚slow death’ nach O’Donnell 1992, zitiert nach Merkel 2007.

28 ’breakdown’ nach Linz 1978, zitiert nach Merkel 2007.

29 Etwa durch nichtautorisierte Machtausübung durch Militär, Polizei, Widerstandskämpfer, Terroristen, Bürokraten oder andere Veto-Mächte (vgl. Merkel 2003:55).

30 Weitere Pfade der Institutionalisierung demokratischer Defekte finden sich bei Merkel (2003).

Fin de l'extrait de 127 pages

Résumé des informations

Titre
Russland - eine defekte Demokratie?
Université
RWTH Aachen University  (Politikwissenschaftliches Institut)
Note
1,7
Auteur
Année
2008
Pages
127
N° de catalogue
V91311
ISBN (ebook)
9783638050296
Taille d'un fichier
890 KB
Langue
allemand
Mots clés
Russland, Demokratie
Citation du texte
M.A. Yvonne Nicoll (Auteur), 2008, Russland - eine defekte Demokratie?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91311

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