Ein Vergleich von "Die kleine Meerjungfrau" von Hans Christian Andersen und "Der Fischer und seine Seele" von Oscar Wilde


Bachelor Thesis, 2018

32 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Märchen

3. „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen
3.1 Narratologische Besonderheiten
3.2 Sprachliche Besonderheiten
3.3 Handlungs- und Figurenanalyse
3.4 Darstellung und Bedeutung von Natur, Seele und Tod

4. „Der Fischer und seine Seele“ von Oscar Wilde
4.1 Narratologische Besonderheiten
4.2 Sprachliche Besonderheiten
4.3 Handlungs- und Figurenanalyse
4.4 Darstellung und Bedeutung von Natur, Seele und Tod

5. Vergleich der Märchen

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In „Mährchen und Gedichten / Erkennt man die wahren Weltgeschichten“1. Novalis (Friedrich von Hardenberg) erkannte die Bedeutung von Märchen, die noch heute Groß und Klein, Jung und Alt faszinieren. Dabei spielen Märchen, die sich mit dem Meer, Fluss, Teich – im übergeordneten Sinn mit dem Wasser – beschäftigen, eine herausragende Rolle. Seit Menschengedenken ist das Wasser Ursprung und Quelle allen Seins. Die Erdoberfläche ist zu zwei Drittel von Wasser bedeckt; als Symbol steht es für das Leben: „Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser: / Vom Himmel kommt es, / Zum Himmel steigt es“2, heißt es in Goethes „Gesang der Geister über den Wassern“.

Die Landschaften und Bewohner des Meeres haben seit Ewigkeiten die Menschen inspiriert und fasziniert. Zu denen, die unter dem Meer leben, zählen aber nicht nur Tiere – auch Fabelwesen, die der Phantasie des Menschen entspringen, wie Meerjungfrauen, Sirenen, Nixen, Undinen, Najaden, Melusinen und Nymphen, finden hier ihren Platz. In allen Kunstgattungen sind sie präsent. In der Literatur z.B. in Homers „Odyssee“, im mittelalterlichen Gedicht vom „Ritter Stauffenberg“, in Paracelsus` „Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus“3, bei Goethe und Heine bis hin zu Ingeborg Bachmanns „Undine geht“, aber auch in Märchen sind die Fabelwesen Gegenstand. In diesem Zusammenhang gilt „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen (1805-1875) als das bekannteste und berühmteste.

Bis heute zählt Andersen, aus niedrigsten Verhältnissen kommend, zu den beliebtesten Märchendichtern. Der gebürtige Däne verfasste die bekanntesten Kunstmärchen der Welt. Sein außergewöhnlicher Erzählstil in seinen wunderbaren Geschichten, die in nahezu alle Sprachen der Welt übersetzt wurden, macht ihn heute zu einem der bedeutendsten und meist gelesenen Schriftstellern. Seine Sammlung „Märchen und Erzählungen für Kinder“ entstand in der Zeit von 1835 bis zu seinem Tod und begründete seine Berühmtheit. „Die kleine Meerjungfrau“ von 1837 ist weltweit bekannt und zahlreich adaptiert worden. In dieser Hinsicht gilt der Disney-Klassiker „Arielle die Meerjungfrau“ als besonders erfolgreich.4

Der frühe Ruhm des Engländers Oscar Wilde (1854-1900), aus wohlsituierter Familie stammend, gründete vor allem auf der Ausgabe des ersten Märchenbuches, die 1888 unter dem Titel „Der glückliche Prinz“ erschien, sowie der Erzählung „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1891). Für den/die englischen/e Leser/in hatte die Märchenform Wildes einen höheren Grad an Neuheit, obwohl die Märchen Andersens und die Märchensammlungen der Brüder Grimm bereits weit verbreitet waren. Dabei prägten insbesondere Andersens Märchen die Vorstellungen der Märchenform Wildes; etliche Motive seiner Märchen sind bei Andersen bereits vorgebildet. Das Märchen „Der Fischer und seine Seele“ gehört zu Wildes zweitem Märchenband „Das Granatapfelhaus“ von 1891.5

Ausschlaggebend für die Textauswahl dieser Märchen ist einerseits die Berühmtheit von Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ und andererseits der offensichtliche Bezug Wildes in „Der Fischer und seine Seele“ auf ihn. Begeistert von den Geschichten und der Erzählkunst beider Autoren und der phantasievollen Behandlung des Nixen-Stoffes scheinen beide Märchen als Gegenstand eines Vergleichs sinnvoll.

Im Fokus dieser wissenschaftlichen Arbeit mit dem Thema „ Faszination Meerjungfrau – Die Kunstmärchen „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen und „Der Fischer und seine Seele“ im Vergleich “ steht die Analyse der Märchen mit einem anschließenden Vergleich. Ziel ist es, Übereinstimmungen und Unterschiedlichkeiten in Inhalt, Form, Aufbau, Struktur und Sprache der Texte mithilfe der Methode der Textanalyse nachzuweisen. Dabei soll die Zuschreibung zur Gattung Kunstmärchen in der Analyse berücksichtigt und geprüft werden.

Diese Arbeit bezieht sich nicht auf den Originaltext der Märchen (dänisch/englisch), sondern auf die deutsche Übersetzung der ausgewählten Publikationen. Alle Analyseergebnisse beruhen ausschließlich auf der Herausgabe von Christian Strich6 (Andersen) und der Übersetzung von Christine Hoeppener (Wilde). Bei der Variabilität von Übersetzungen ist davon auszugehen, dass nicht in jedem Fall die deutsche mit dem dänischen/englischen Original übereinstimmt.

Die Vorgehensweise ist wie folgt: die Gattung „Kunstmärchen“ wird spezifiziert, entsprechende Merkmale benannt und der Vergleich zum Volksmärchen gezogen. Danach werden die Kunstmärchen von Andersen und Wilde mithilfe festgelegter Kriterien untersucht und analysiert. Dazu zählen: narratologische und sprachliche Besonderheiten, Handlungs- und Figurenanalyse sowie die Darstellung und Bedeutung von Natur, Seele und Tod. Die Festlegung der ausgewählten Kriterien ist bei der Analyse zielführend, da somit Wiederholungen, Auslassungen und eine unterschiedliche Betrachtungsweise beider Texte ausgeschlossen werden kann. Für den abschließenden Vergleich ist eine analoge Betrachtung der Märchen unumgänglich. Inhalt, Form, Aufbau, Struktur und Sprache der Märchen sollen genauestens erfasst werden, um sie einander gegenüberstellen zu können.

2. Das Märchen

„Ein Märchen ist, namentlich, eine kleine, einfache Erzählung meist wunderbaren Inhalts.“7 In Märchen werden die Regeln der Gegebenheiten entkräftet; ein großer Teil besteht aus wunderbaren Mächten und Handlungen. Die Grenzen zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, Mensch und Tier verschwinden. Die Gesetze von Ursache und Wirkung werden aufgehoben.8

Das Märchen gehört zur Gattung Epik. Epische Texte lassen sich in einfache Formen und Kunstformen unterscheiden, Grenzen beider Textgruppen und deren Untergattungen sind fließend. Während das Volksmärchen zur epischen Untergattung der einfachen Form gehört, ist das Kunstmärchen eine Kunstform der Gattung Epik.9

Als eindeutiges Definitionsmerkmal des Volksmärchens gilt die mündliche Tradierung, während das Kunstmärchen Produkt eines einzelnen Autors ist. Es zeichnet sich durch viele inhaltliche Merkmale aus, die denen des Volksmärchens entgegengesetzt sind. Die Handlungen in Kunstmärchen sind nicht linear, es gibt Nebenhandlungen und zeitliche Rückblenden, auch die Sprache ist differenzierter und komplexer als im Volksmärchen. Komplizierter Satzbau und schwierige, unbekannte Vokabeln zeugen von hoher Sprach- und Formulierungskunst. Ort- und Zeitangaben werden sehr häufig benannt, die wichtigsten Figuren psychologisiert, sie haben gute und böse Eigenschaften. Der Psychologisierung entspricht zudem, dass der/die Held/Heldin im Verlauf der Geschichte eine Entwicklung durchmacht. Oftmals werden die Figuren in einer konkreten Gesellschafts- oder Alltagssituation gezeigt. In Verbindung mit einer relativen Offenheit des Schlusses ist das Ende der Handlung meist kein glückliches.10

Doch es gibt auch Merkmale, die mit dem Volksmärchen übereinstimmen. Z.b. sind Ausgangssituationen gekennzeichnet durch einen spezifischen Mangel, die Protagonisten begegnen auf der Suche nach einer Lösung wunderbaren Gegenständen und Figuren. Symbolik (Zahlensymbolik, Natursymbolik, Farbsymbolik) und Metaphorik sind originell und ausgefeilt und lehnen sich an die Muster des Volksmärchens an.11

Der wichtigste Unterschied des Kunstmärchens zum Volksmärchen ist die Modernität. Es wird eine komplexes Weltbild geschildert, in der sich ein Subjekt bewegen muss. Ebenso auffällig ist, dass es oftmals zwei Handlungsebenen (bzw. Wahrnehmungsebenen) im Kunstmärchen gibt, während das Volksmärchen eine einsträngige Handlung aufweist.12

„Das Kunstmärchen avanciert zu einer selbstreflektiven und hochgradig »intertextuell« aufgeladenen Gattung […], die im Bewußtsein des […] Wunderbaren nicht nur Anspruch auf Unterhaltung, sondern auch auf Belehrung, sogar auf Erkenntnis mittransportiert.“13

3. „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen

Nachdem die wesentlichen Merkmale des Kunstmärchens erläutert wurden, erfolgt nun eine differenzierte Betrachtung des Märchens von Hans Christian Andersen unter Einhaltung festgelegter Kriterien.

3.1 Narratologische Besonderheiten

Hinsichtlich verschiedener narratologischer Kategorien wird in der Analyse beider Märchen Bezug auf die Erzähltheorie von Martinez und Scheffel genommen. (Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2016.)

Die Erzählform, also die Art und Weise der Darstellung des Geschehens, ist in Andersens Text sehr umfangreich und detailliert. Insbesondere zu den Kategorien Zeit14 und Modus15 sowie zur narrativen Instanz ergeben sich interessante Schlussfolgerungen.

Die Ordnung des Märchens erfolgt chronologisch, d.h. die Reihenfolge ist zeitlich aufeinanderfolgend. Der Text kann in acht Textabschnitte eingeteilt werden: „Auf dem Meeresgrund“, „Die Erzählungen der Schwestern“, „Die Geburtstagsnacht“, „Bewegungen und Zeit der Sehnsucht“, „Bei der Meerhexe“, „Leben bei den Menschen“, „Todesnacht“ und „Bei den Luftgeistern“.16

Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit wird unter der Kategorie Dauer zusammengefasst. In Andersens Märchen ist die Erzählzeit wesentlich kürzer (ca. 30 Minuten) im Vergleich zur erzählten Zeit (mehrere Jahre). Zeitdeckendes Erzählen ist kaum vorhanden aber dennoch in wenigen Gesprächen mit direkter Rede vorzufinden wie bspw. bei dem Gespräch zwischen der kleinen Meerjungfrau und ihrer Großmutter über das Verhältnis von Mensch und Meerwesen, Seele und Tod.17

Der Text lebt außerdem von zahlreichen zeitlichen Raffungen: „Er ließ ihr eine Männertracht machen […]. Sie ritten durch die duftenden Wälder […]. Sie kletterte mit dem Prinzen auf die hohen Berge hinauf“ (S. 638) Auch eine weitere Textpassage zeugt von zeitraffendem Erzählen:

„Einmal kamen nachts ihre Schwestern Arm in Arm, sie sangen so traurig, indem sie über dem Wasser schwammen, und sie winkten ihnen, und sie erkannten sie und erzählten, wie sie sie allesamt betrübt habe. Darauf besuchten sie sie jede Nacht, und einmal erblickte sie auch in weiter Ferne ihre alte Großmutter, die viele Jahre nicht an der Meeresoberfläche gewesen war“ (S. 638).

Zeitsprünge, also Ellipsen oder Aussparungen, sind zahlreich vorhanden: „Oh, wie war doch der junge Prinz hübsch, und er drückte den Leuten die Hände und lächelte, während in der herrlichen Nacht die Musik erklang! Es wurde spät“ (S. 628), „Sie hielt seinen Kopf über dem Wasser empor und ließ sich dann mit ihm von den Wogen treiben, wohin sie wollten. Am Morgen war das böse Wetter vorüber“ (S. 629).

Die Frequenz beleuchtet zunächst die Frage, wie oft sich wiederholende oder nicht wiederholende Ereignisse in einer Erzählung dargestellt werden.18

In Andersens Text ist die iterative Erzählung präsent, indem einmal erzählt wird, was sich wiederholt ereignet hat. Deshalb gehört die Form der Raffung oft zur iterativen Erzählung19: „Manchen Abend und manchen Morgen stieg sie hinauf, wo sie den Prinzen verlassen hatte“ (S. 630), „Nun wußte sie, wo er wohnte, und dort war sie manchen Abend und manche Nacht auf dem Wasser“ (S. 631).

Bei der Kategorie Modus handelt es sich, wie bereits erwähnt, um den Grad an Mittelbarkeit (Distanz) und die Perspektivierung des Erzählens (Fokalisierung).20 Raffungen, Zeitsprünge und erzählte Rede zeugen davon, dass das Märchen im narrativen Modus verfasst wurde. Darüber hinaus handelt es sich um eine interne Fokalisierung, fixiert auf die kleine Meerjungfrau, mit Einblicken in ihre Gedanken und Gefühle: „es kam ihr schon vor, als fühlte sie ihr Herz brechen“ (S. 640), „Ja! sagte die kleine Meerjungfrau mit bebender Stimme und gedachte des Prinzen und der unsterblichen Seele“ (S. 635). Andeutungsweise gibt es an wenigen Stellen jedoch eine Mitsicht anderer Figuren, was in diesen Fällen für eine variable Fokalisierung sprechen würde: die Schwestern sehnen sich nach ihrem Zuhause (S. 626), der Prinz gewinnt die Meerjungfrau Tag für Tag lieber und „er hatte sie so lieb, wie man nur ein gutes, liebes Kind lieben kann; aber sie zur Königin machen, kam ihm nicht in den Sinn“ (S. 638).

Die narrative Instanz ist größtenteils nicht am Geschehen beteiligt und gehört nicht zu den Figuren des Märchens. Daher handelt es sich um einen heterodiegetischen Erzähler. Es gibt jedoch einige wenige Beispiele dafür, dass der Erzähler beteiligt ist. Überwiegend agiert er als unbeteiligter Erzähler, teilweise aber auch als unbeteiligter Beobachter: „die jüngste von ihnen hatte also noch fünf volle Jahre zu warten, bevor sie aus dem Grund des Meeres hinaufkommen und sehen konnte, wie es bei uns aussieht“ (S. 624). Damit offenbart der Erzähler, dass er sich oberhalb der Meeresoberfläche aufhält und schließt gleichzeitig den/die Leser/in durch die Verwendung des Personalpronomens „uns“ ein. Auch ein weiteres Beispiel belegt diese These: „Alle Fische, kleine und große, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch, genauso wie hier oben die Vögel in der Luft“ (S. 622).

3.2 Sprachliche Besonderheiten

Wie im zweiten Kapitel erwähnt, ist das Kunstmärchen gekennzeichnet durch eine sehr kunstvolle und phantasiereiche Sprache. Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ entspricht in dieser Hinsicht vollständig den Merkmalen eines Kunstmärchens.

Bei der Verwendung zahlreicher Hypotaxen werden diese mitunter zu eigenständigen Absätzen:

„In mancher Abendstunde nahmen die fünf Schwestern einander an den Armen und tummelten sich in einer Reihe über dem Wasser; herrliche Stimmen hatten sie, schöner als irgendein Mensch, und wenn dann ein Sturm im Anzug war, so daß sie vermuten konnten, daß ein Schiff untergehen würde, schwammen sie vor den Schiffen her und sangen so lieblich, wie schön es auf dem Grunde des Meeres sei, und baten die Seeleute, sich nicht zu fürchten, da hinunterzukommen; aber die konnten die Worte nicht verstehen und glaubten, es sei der Sturm, und sie bekamen auch die Herrlichkeiten dort unten nicht zu sehen; denn wenn das Schiff sank, ertranken die Menschen und kamen nur als Tote zu des Meerkönigs Schloß“ (S. 626).

Hypotaxen werden nicht nur in Verbindung mit Naturbeschreibungen, sondern auch mit bestimmten Handlungsabläufen kombiniert. Dabei wird das Geschehen sehr stark gerafft, die Hypotaxen verdeutlichen das zusätzlich.

Weiterhin gebraucht Andersen häufig Vergleiche. „Die Farben der Vergleiche holt Andersen oft aus der Natur, von Tieren und Pflanzen, […] aber auch von den Erzeugnissen menschlicher Arbeit, von Schleiern, Fahnen, Bändern, Teppichen, Gardinen“21.

Bei der Beschreibung des Meeres und des Meergartens arbeitet Andersen mit aussagekräftigen Farbkombinationen: „Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau wie die Blüten der schönsten Kornblumen und so klar wie das reinste Glas“ (S. 622) und „Draußen vor dem Schloß war ein großer Garten mit feuerroten und dunkelblauen Bäumen; die Früchte strahlten wie Gold und die Blumen wie brennendes Feuer“ (S. 623).

Es gibt adjektivische und adverbiale Verwendungen in Vollendung. Viele Substantive werden adjektivisch, attributiv und adverbial begleitet: „Große Sonnen surrten, prächtige Feuerfische schwangen sich in der blauen Luft, und alles glänzte in der klaren stillen See wider“ (S. 628). Als das Unwetter über die Seeleute hereinbricht schaukelte „das große Schiff […] in fliegender Fahrt auf der wilden See“ (S. 628) und die kleine Meerjungfrau „tauchte tief unter das Wasser und stieg hoch zwischen den Wogen empor und gelangte am Ende hin zu dem jungen Prinzen, der in der stürmenden See kaum mehr schwimmen konnte“ (S. 629).

Der Umfang sprachlicher und stilistischer Mittel und Eigenheiten ist in Andersens Märchen hervorstechend und einzigartig. Dazu gehören Neologismen wie „hunderterlei“ (S. 624), Onomatopoetika wie „im Meer summte und brummte es“ (S. 628) oder „das Schiff knackte und krachte“ (S. 628), Gegensätze wie „die Musik und [der] Lärm“ (S. 624), aber auch das Hendiadyoin kommen häufig vor: „da war eine Angst und ein Grauen“ (S. 626) und „die Luft war mild und frisch“ (S. 627).

Die Symbolik im Kunstmärchen lehnt sich an die Muster des Volksmärchens an – so auch in Hans Christian Andersens Märchen.

„Wo die Dichtung eine Idee weit über den Gehalt und die Gestalt des individuellen menschlichen Lebens hinaus steigert, entsteht ein Symbol. […] [So ist] die kleine Meerfrau Symbol für die stärkste opferwilligste Sehnsucht, nicht nur nach der Liebe eines Mannes, sondern zugleich nach dem ewigen Leben im Jenseits.“22

Doch nicht nur die kleine Meerjungfrau ist ein Symbol. Auch das Messer hat eine starke symbolische Bedeutung: es steht für das Unheil. Mit einem Messer schneidet die Meerhexe der kleinen Meerjungfrau die Zunge ab und nimmt ihr somit das höchste Gut – ihre unvergleichliche, wunderschöne Stimme. Beim Tausch des Fischschwanzes gegen menschliche Beine musste sich die kleine Meerfrau gewiss sein, dass jeder Schritt schmerzt, als würde ein scharfes Messer in ihre Beine schneiden. Die Schwestern bringen ihr ein Messer, damit sie leben und der Prinz sterben würde (S. 635-642).

Doch gibt es auch positive Symbole wie bspw. die Marmorstatue, welche die Liebe und Zuneigung der Meerjungfrau zum Prinzen vorwegnimmt und das Meer, welches symbolisch für das Zuhause steht.

„Man kann verschiedener Meinung darüber sein, in wie vielen Fällen wir von einer glücklichen Symbolik sprechen dürfen, aber gewiß ist, daß […] Andersen das Allerhöchste in seiner Kunst erreicht, wo er in der kleinen Form des Märchens unvergängliche Symbole schafft, die das ganze menschliche Leben neu beleuchten.“23

3.3 Handlungs- und Figurenanalyse

Die folgende Handlungsanalyse orientiert sich an der Textgliederung von Frau Klugsberger24 und richtet sich in der Analyse nach Kategorien des Komplikationsmodells und der Figurenanalyse.25

Ausgangspunkt der Handlung ist eine wunderbare, bildhaft beschriebene, phantastische Unterwasserwelt sowie eine kurze Schilderung der familiären Verhältnisse ihrer Bewohner. Die Meerwesen werden vorgestellt: der Meerkönig als Witwer, die weise Großmutter und die sechs Meerprinzessinnen, von denen die jüngste die schönste ist. Ausführlich werden der Meergarten und der Alltag seiner Bewohner mit ihren Charaktereigenschaften beschrieben. Die Ankündigung der Großmutter schließt den ersten Textabschnitt „Auf dem Meeresgrund“ ab. Diese besagt, dass die Meerprinzessinnen an ihrem fünfzehnten Geburtstag die Erlaubnis bekommen, an die Meeresoberfläche aufzusteigen und somit die Welt außerhalb des Wassers wahrzunehmen und zu erkunden. Bereits hier erfährt man, dass die jüngste Schwester sehnsüchtig darauf wartet, von der Meeresoberfläche aus die Welt zu sehen (S. 622-624).

Während die Handlung des ersten Textabschnittes ausschließlich der Unterwasserwelt vorbehalten ist, handelt der zweite „Die Erzählungen der Schwestern“ vorrangig von den Beobachtungen außerhalb des Meeres. Die Handlung ist stark gerafft. Nacheinander, innerhalb von fünf Jahren, steigen die fünf älteren Meerprinzessinnen jeweils an ihrem Geburtstag empor und schildern der kleinen Meerjungfrau ihre ganz unterschiedlichen Eindrücke von der „Welt dort oben“ (S. 624-626).

Im Abschnitt „Geburtstagsnacht“ geht es um Ereignisse im und über dem Meer. Die kleine Meerjungfrau ist fünfzehn Jahre alt, wird von der Großmutter geschmückt und taucht erstmals empor. Sie beobachtet die Feierlichkeiten auf einem Schiff und erblickt einen Prinzen. Ein Unwetter zieht auf, das Schiff kentert. Die kleine Meerjungfrau rettet ihn vor dem Ertrinken und bringt ihn sicher an Land. Gefunden aber wird er von einem anderen jungen Mädchen (S. 627-630).

Die Handlung des nächsten Abschnittes „Bewegungen und Zeit der Sehnsucht“ verläuft ebenfalls unter und über der Wasseroberfläche. Immer wieder suchend kehrt die Protagonistin an den Ort zurück, an dem sie den Prinzen vor dem Tod bewahrt hat, aber er ist nicht mehr zu finden. Deshalb sucht sie Trost in ihrem Meergarten und im Betrachten der Marmorstatue. Die Sehnsucht nach dem Prinzen und die sie faszinierende Schönheit der Welt über dem Meer veranlassen sie, bei ihrer Großmutter Rat zu suchen und sie zu fragen nach den „Ländern über dem Meer“ (S. 631). An dieser Stelle erfährt man viele Details über die fiktive Märchenwelt, den Zusammenhang bzw. Unterschied zwischen Meerwesen und Menschen, aber auch über die unsterbliche Seele und den Tod. Der Abschnitt endet mit einem prächtigen Hofball auf dem Meeresgrund – es ist der letzte Moment, den die kleine Meerjungfrau intensiv mit ihrer Familie verbringt. Sie fühlt „eine Freude in ihrem Herzen“ (S. 632-633) und sehnt sich dennoch nach dem Prinzen und der unsterblichen Seele der Menschen (S. 630-633).

Der fünfte Textabschnitt „Bei der Meerhexe“ handelt von dem im Meer abgeschlossenen Teufelspakt zwischen der Meerjungfrau und der Meerhexe. „Von dem Augenblick der großmütterlichen Schilderung an gilt der kleinen Seejungfrau, und mit ihr dem Leser, die ewige Verbindung mit dem Prinzen als das einzig erstrebenswerte Ziel.“26 Der Weg zur Meerhexe kostet die kleine Prinzessin viel Mut und Überwindung, es begegnet ihr Ungeheuerliches. Dennoch ist sie todesmutig und bereit, alles dafür zu geben, um mit dem Prinzen zusammen zu sein und eine unsterbliche Seele zu erhalten. Dieses Ziel kann sie nur erreichen, wenn sie einen Pakt mit der Hexe schließt.

An dieser Stelle wird von Andersen das Motiv des Teufelspaktes verwendet. Das Meermädchen bekommt Beine geschenkt, muss aber im Gegenzug durch den Verlust der Zunge auf seine Stimme verzichten und bei jedem Schritt, den es geht, furchtbare Schmerzen erleiden. Es wird Mitleid mit der Hauptfigur erzeugt.27

Vor der Besiegelung des Paktes warnt die Hexe: „Es ist zwar dumm von dir, doch sollst du deinen Willen haben, denn er wird dich in dein Unglück stürzen“ (S. 634). Sollte sie die Liebe des Prinzen nicht gewinnen, wird sie sterben und zu Schaum auf dem Wasser werden (S. 635).

Die Handlung im Textabschnitt „Leben bei den Menschen“ vollzieht sich ausschließlich an Land. Es wird vom Leben auf dem Schloss berichtet, das Verhältnis zwischen Prinz und Meerjungfrau dargestellt und die Heirat des Prinzen mit einer anderen Frau geschildert, denn aus Unwissenheit entscheidet er sich für die Frau, die ihn nach dem Unwetter fand. Für die Meerjungfrau ist es das Todesurteil – doch „Andersen schiebt ein retardierendes Moment ein – die Schwestern des Mädchens bringen ihr ein Messer, mit dem sie den Prinzen töten und so das eigene Meerleben zurückerlangen kann“28. Doch sie entscheidet sich dagegen und „fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste“ (S. 642).

Im letzten Abschnitt „Bei den Luftgeistern“ bekommt die kleine Meerjungfrau die Möglichkeit, eine unsterbliche Seele zu erhalten und in das Reich Gottes zu schweben, wenn sie 300 Jahre gute Taten vollbringt und auf der Welt als Luftgeist für Heilung und Erquickung sorgt. Sie wird nicht als Meeresschaum enden, da sie mit dem ganzen Herzen „gelitten und geduldet“ (S. 643) hat. Sie verabschiedet sich vom schlafenden Brautpaar und steigt auf zu den Töchtern der Luft.

Das traurige Ende vieler Märchen von Andersen widerspricht den konventionellen Glücks- oder Versöhnungserwartungen wie sie im Volksmärchen gebräuchlich sind. Es überbringt nachdrücklich eine moralisierende Botschaft und fordert auf, selbst Schlüsse zu ziehen.29 Auch bei der kleinen Meerjungfrau gibt es eine Moral für die jungen Leser/innen: an jedem Tag, an dem ein Kind seinen Eltern Freude bereitet, wird die Prüfungszeit Gottes verkürzt. Doch wenn durch ein böses Kind Tränen der Trauer vergossen werden, dann wird diese mit jeder Träne um einen Tag verlängert (S. 643).

Der Handlungsverlauf entspricht nicht vollends den Merkmalen eines Kunstmärchens. Es gibt keine mehrsträngige Handlung, keine zeitlichen Rückblenden und keinen achronischen Verlauf. Doch ist das eher unglückliche Ende mit einer relativen Offenheit des Schlusses u.a. kennzeichnend für das Kunstmärchen.

Es erfolgt nun eine Analyse nach den Kategorien des Komplikationsmodells.

Die Komplikation der Handlung ist an die kleine Meerjungfrau geknüpft, welche sich in einer schwierigen Lage befindet. Sie kann ihr personales Gut nicht erreichen, da sie nicht im Besitz einer unsterblichen Seele ist und somit nicht in den Genuss der Liebe zu einem Menschen kommen kann. Es entsteht eine Mangelsituation.

Faktoren, die diese schwierige Situation bedingen, sind die natürlichen Gegebenheiten der Meerjungfrauen. Sie besitzen einen Fischschwanz und haben keine Seele.

Die Auflösung des Märchens kann unterschiedlich bewertet werden. Die kleine Meerjungfrau kann trotz großer Aufopferungsbereitschaft ihr Gut (Prinz, Seele) nicht gewinnen. Der Prinz entscheidet sich für ein Leben mit einer anderen Frau. Dies spricht für eine negative Auflösung. Die Seele jedoch könnte sie nach 300 Jahren guter Taten als Luftgeist erhalten. Das Ende bleibt offen und hat eine appellative Funktion an seine jungen Leser/innen, indem Bedingungen formuliert werden, die ein gutes Ende antizipieren. Der Ausgang bleibt somit ungewiss.

Gründe für diese Auflösung sind bedingt durch die Einwirkungen von außen. Dazu gehört die Festlegung, erst mit Erreichen des fünfzehnten Lebensjahres an die Meeresoberfläche auftauchen zu dürfen, der Untergang des Schiffes, der Verlust der Stimme und die Unwissenheit des Prinzen über seine wahre Retterin.

Nachfolgend eine Analyse der Figuren.

In Andersens Märchen ist die kleine Meerjungfrau die Heldin. Sie ist ein Meerwesen, besitzt einen Fischschwanz und kann bis zu 300 Jahre alt werden. Ihr Tod impliziert die Verwandlung in Schaum. Zu Beginn des Märchens ist sie ca. zehn Jahre alt. Wie alle anderen Figuren hat sie keinen Namen. Von allen Prinzessinnen wird sie als jüngste und schönste beschrieben. Dem Titel nach ist sie klein und zierlich. Mit ihrem langen Haar kann sie ihren Körper bedecken und hat dunkelblaue, sprechende Augen. Durchgängig wird sie als stilles und nachdenkliches Wesen beschrieben; dennoch ist sie in der Lage, Freude zu empfinden. Ihre Stimme ist außergewöhnlich: „Die kleine Meerjungfrau sang am schönsten von ihnen allen“ (S. 632). Nach dem Pakt mit der Hexe ist sie zum Stummsein verurteilt und kann nur noch mit den Augen sprechen.

Der Meergarten, zuerst von ihr kreativ gestaltet, wird im Zuge der Sehnsucht und Suche nach dem Prinzen vernachlässigt. Aber mutig und tatkräftig zeigt sie sich sowohl bei der Rettung des Prinzen vom sinkenden Schiff als auch auf dem grausigen Weg zur Meerhexe.

[...]


1 Kurzke, Hermann: Novalis. Bremen 2001, S. 9.

2 Goethe, Johann Wolfgang: Gesang der Geister über den Wassern. In: Goethes sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Zweiter Band. Stuttgart 1869, S. 23-24.

3 Buch über die Nymphen, Sylphen, Pygmäen, Salamander und die übrigen Geister

4 Vgl. Neuhaus, Stefan: Märchen. Tübingen, S. 195.

5 Vgl. Apel, Friedmar: Die Zaubergärten der Phantasie. Zur Theorie und Geschichte des Kunstmärchens. Heidelberg 1978, S. 247-250.

6 Der Herausgeber Christian Strich äußert im Nachwort: „Beim Auswählen habe ich mich an die alten, bewährten Texte gehalten, diese, wo ich es für nötig hielt, redigiert, teilweise neu übersetzt“ (Strich, Christian (Hrsg.): Das große Märchenbuch. Die schönsten Märchen aus ganz Europa. Zürich 1987, S. 665.)

7 Klotz, Volker: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne. München 2002, S. 10.

8 Vgl., ebd.

9 Vgl. Leubner, Martin/Saupe, Anja/Richter, Matthias: Literaturdidaktik. Berlin/Boston 2016, S. 87.

10 Vgl. Neuhaus, Stefan: a.a.O., S. 7-8.

11 Vgl., ebd., S. 8-9.

12 Vgl., ebd.

13 Mayer, Mathias/Tismar, Jens: Kunstmärchen. Sammlung Metzler Band 155. Stuttgart 2003, S. 2-3.

14 Die Zeit beschreibt das Verhältnis zwischen der Zeit in der Erzählung und der Zeit des Geschehens (Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: a.a.O., S. 32.).

15 Der Modus umfasst den Grad an Mittelbarkeit sowie die Perspektivierung des Erzählten (Vgl. Ebd.).

16 Vgl. Klugsberger, Theresia: Verfahren im Text. Meerjungfrauen in literarischen Versionen und mythischen Konstruktionen von H.C. Andersen, H.C. Artmann, K. Bayer, C.M. Wieland, O. Wilde. Stuttgart 1989, S.145.

17 Vgl. Andersen, Hans Christian: Die kleine Meerjungfrau. In: Strich, Christian (Hrsg.): Das große Märchenbuch. Die schönsten Märchen aus ganz Europa. Zürich 1987, S. 631-632. Zitate aus dieser Quelle werden im Folgenden im Fließtext durch Angabe der Seitenzahl in Klammern nachgewiesen.

18 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: a.a.O., S. 48.

19 Vgl., ebd., S. 49-50.

20 Vgl., ebd., S. 50.

21 Berendsohn, Walter Arthur: Phantasie und Wirklichkeit in den „Märchen und Geschichten“ Hans Christian Andersens. Struktur und Stilstudien. Vaduz 1973, S. 58.

22 Ebd., S. 201.

23 Ebd., S. 202.

24 Vgl. Klugsberger, Theresia: a.a.O., S. 8

25 Vgl. Leubner, Martin/Saupe, Anja/Richter, Matthias: a.a.O., S. 94-95.

26 Neuhaus, Stefan: a.a.O., S. 197.

27 Vgl., ebd.

28 Ebd., S. 198.

29 Vgl. Mayer, Mathias/Tismar, Jens: a.a.O., S. 108.

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Details

Title
Ein Vergleich von "Die kleine Meerjungfrau" von Hans Christian Andersen und "Der Fischer und seine Seele" von Oscar Wilde
College
University of Potsdam  (Institut für Germanistik)
Grade
2,0
Author
Year
2018
Pages
32
Catalog Number
V914835
ISBN (eBook)
9783346231338
ISBN (Book)
9783346231345
Language
German
Keywords
Märchen Kunstmärchen Oscar Wilde Hans Christian Andersen Die kleine Meerjungfrau Der Fischer und seine Seele
Quote paper
Julia Kobán (Author), 2018, Ein Vergleich von "Die kleine Meerjungfrau" von Hans Christian Andersen und "Der Fischer und seine Seele" von Oscar Wilde, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/914835

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