Die Ästhetik des Bösen in der phantastischen Gegenwartsliteratur

Am Beispiel von Cornelia Funkes "Tintenherz", W. und H. Hohlbeins "Das Buch" und Walter Moers "Die Stadt der Träumenden Bücher"


Thesis (M.A.), 2008

92 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

2. Phantastik: Versuch einer Begriffsklärung
2.1 Forschungsstand und Definitionsversuche
2.2 Abgrenzung von „verwandten“ Genres
2.3 Phantastische Jugendliteratur

3. Das Böse: Wer oder was ist der/die/das Böse?
3.1 Verschiedene Sichten auf das Böse
3.1.1 Das Böse: Theologische Ansätze
3.1.1.1 Der Sündenfall
3.1.1.2 Das personifizierte Böse: Der Teufel
3.1.2 Das Böse: Philosophische Ansätze
3.1.3 Das Böse: Psychologische Ansätze
3.2 Arten des Bösen
3.3 Symbolik des Bösen
3.4 Ästhetik des Bösen

4. Das Böse in der phantastischen Gegenwartsliteratur
4.1 Walter Moers: „Die Stadt der Träumenden Bücher“
4.1.1 „Gefährliche Bücher“ in der Fremde
4.1.2 Oben- und Untenwelt: Topographische Einordnung des Bösen
4.1.2.1 Geschöpfe aus den Katakomben und das Wesen der Unterwelt
4.1.2.2 Vater und Sohn
4.2 Wolfgang und Heike Hohlbein: „Das Buch“
4.2.1 Die Gabe und das eine Buch
4.2.2 Anderswelten
4.2.2.1 Das Archiv und sein Herrscher
4.2.2.2 Die Ambivalenz der Figuren: Gut oder Böse?
4.3 Cornelia Funke: „Tintenherz“
4.3.1 Ungewöhnliche Talente
4.3.2 Capricorn und seine Männer
4.3.2.1 Die Schwarzjacken
4.3.2.2 Der Teufel und sein Dorf
4.3.3 Staubfingers Spiel mit dem Feuer

5. Resümee

6. Quellennachweise
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur

1. Einleitung

Das Böse stößt uns nicht nur ab, es erregt nicht nur unseren Abscheu: vor allem scheint es uns zu faszinieren – sofern es uns allerdings nicht persönlich betrifft, sondern wir es aus der Distanz des bequemen Sessels auf dem Bildschirm, der Bühne oder im Buch genießen können. (Daecke 1992, 27)

Im alltäglichen Leben folgt uns das Böse auf Schritt und Tritt. Sieht, liest oder hört man Nachrichten und wird dort von einem Gewaltverbrechen gesprochen, verursacht dies bei den meisten Menschen Mitleid mit dem Opfer. Geschieht das gleiche Verbrechen allerdings in einem literarischen Werk, bewirkt es eine ganz gegenteilige Reaktion, nämlich die der Faszination. Das in der realen Welt verpönte Böse, welches Gewalt, Leiden und letztendlich auch Mord beinhaltet, erstrahlt in der fiktionalen Welt plötzlich in einem völlig anderen Licht. Es scheint uns zu begeistern und anzuziehen, so dass man sagen kann „das Böse [dient] also als literarischer und ästhetischer Genuß“ (Daecke 1992, 27).

Jede Zeit bringt ihre eigenen schrecklichen Ereignisse mit sich, welche das Zeitgeschehen und das Denken der Menschen beeinflussen. Erfahrungen des Bösen sind jedoch nicht nur historisch geprägt, sondern auch individuell verschieden. Die Erlebnisse mit dem Bösen sind nicht nur kollektiver, sondern auch subjektiver Natur. Menschen werden von anderen als böse bezeichnet, wenn sie sich normwidrig verhalten, zu Aggression, Gewalt und Sadismus neigen. Symbolisch wird das Böse durch den Teufel, Hexen, Kain, der Sinnflut, dem Turmbau zu Babel und in vielen weiteren Bildern dargestellt. Auch Feindbilder werden konzipiert, wie zum Beispiel Fremden- und Judenfeindlichkeit, oftmals ist das Böse aber auch gesichtslos. Was im Einzelnen als böse oder auch gut bezeichnet wird, variiert, wie erwähnt, historisch, aber auch kulturell, somit ist das Böse nicht wirklich greifbar. Daher stellt sich die Frage, woher kommt nun das Böse und was genau ist darunter zu verstehen? Die Bezeichnung, das ein Geschehen bzw. eine Handlung böse ist, setzt voraus, dass diese Ereignisse nicht gut sind. Doch ist das Böse immer nur eine Negierung des Guten?

In der nun folgenden Abhandlung sollen verschiedene Denkansätze bezüglich dieser Thematik konkretisiert werden, außerdem deren Einfluss auf die Darstellung des Bösen in der Literatur bestimmt werden. Zunächst soll aber versucht werden den Begriff Phantastik einzugrenzen, da es bis heute keine einheitliche Definition zur phantastischen Literatur gibt, welches die weitere Erforschung dieses Genre deutlich erschwert. Die nähere Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Stand der Forschung und den daraus resultierenden Definitionsversuchen soll ermöglichen, darauf folgend diese Gattung von angrenzenden Genres zu trennen, um der Gleichsetzung mit Texten, die ebenfalls übernatürliche Elemente enthalten, entgegenzutreten. Im weiteren Verlauf wird die phantastische Jugendliteratur aus dieser Problematik herausgezogen und ausführlicher bestimmt, da diese in der Untersuchung über das Böse in der phantastischen Gegenwartsliteratur im Besonderen betrachtet werden soll.

Da das Böse, wie bereits erwähnt, keine allzu leicht zu bestimmende Größe ist und es dennoch von Bedeutung ist, herauszufiltern was genau das Böse eigentlich ausmacht und wie es in unserer Gesellschaft dargestellt und aufgenommen wird, sollen Ideen über das Böse aus theologischer, philosophischer und psychologischer Sicht zur Klärung beitragen. Trotz der Bedenken Kuliks, dass unterschiedliche Religionssysteme nebeneinander existieren und dass das christliche Weltbild somit keine universelle Gültigkeit besitzt (Kulik 2005, 60), soll es betrachtet werden. Dies ist deshalb der Fall, da die Literatur, die hier näher untersucht werden soll, von deutschen Autoren, nämlich Walter Moers, Cornelia Funke, sowie Wolfgang und Heike Hohlbein, stammt und unabhängig von deren eigener Religionszugehörigkeit davon auszugehen ist, dass die Werke, ebenso wie der Großteil der Leser, durch die westlich christliche Weltanschauung geprägt sind. Trotzdem soll an dieser Stelle vermerkt werden, dass Einflüsse von anderen Weltbildern durchaus denkbar sind und sicherlich ebenso Motive aus anderen religiösen Denkansätzen in deren Werken auftauchen können. Man könnte meinen, dass die Philosophie ebenfalls nicht hilfreich sei, da jedes Individuum eigene Vorstellungen von Moral hat (Kulik 2005, 61), dem steht entgegen, dass es trotz dieser Tatsache eine verallgemeinerte Normierung der Werte in der westlichen Gesellschaft gibt. Diese Vorstellungen fließen ebenfalls in die Literatur durch den Autor, wie auch durch die Interpretation des Textes durch den Leser, ein. So soll in der späteren Analyse und Interpretation der Beispieltexte nicht allein der Text im Mittelpunkt stehen, sondern ebenfalls die außertextlichen Einflüsse, die sich in der Symbolik des Bösen widerspiegeln, welche die Werke beinhalten. An dieser Stelle soll jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, dass es sich lediglich um Anstöße aus Sicht der genannten Lehren handelt, so dass man keineswegs von Vollständigkeit dieser Theorien sprechen kann, da dies den Rahmen der Abhandlung sprengen würde.

Der Symbolik, sowie den Arten des Bösen soll sich jeweils ein eigenes Kapitel widmen, worauf die Untersuchung an selektiven Werken, nämlich „Die Stadt der Träumenden Bücher“, „Das Buch“ und „Tintenherz“, auf die Darstellung des Bösen hin folgen soll. Die Auswahl der Literatur liegt der Idee zu Grunde, dass es sich zum einen in allen drei Fällen, um Jugendliteratur handelt, zum anderen beruht die Thematik aller drei Werke in der Welt der Bücher und inwiefern sie als Machtinstrument missbraucht werden können. Es soll untersucht werden, wie das Böse sich in den jeweiligen Werken darstellt, zugleich wird die Anziehungskraft, die von ebendiesem Bösen ausgeht, erforscht. Außerdem wird der Einfluss des Bösen auf Figuren innerhalb der Texte, sowie auf den Leser solcher phantastischen Literatur, ergründet.

2. Phantastik: Versuch einer Begriffsklärung

2.1 Forschungsstand und Definitionsversuche

Denn das ist der Anfang aller Poesie,

den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben

und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie,

in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen.

(Schlegel In: Behler 1958, 319)

Noch heute herrscht in der Literaturwissenschaft bei weitem keine Einigkeit darüber, welche Texte zur phantastischen Literatur zählen und welche davon auszuschließen sind. Es werden variierende Definitionen verwendet, einige sehr weit gefasst, andere dagegen sehr eng, wobei es sogar zu Zweifeln an der eigentlichen Existenz dieses Genre kommt. Hier sollen nun einige dieser Begriffserklärungen erläutert werden, um zu versuchen einen Konsens zu finden, welcher es ermöglicht, sich dieser Literatur zu nähern, auch wenn es letztendlich dennoch nicht zu einer einheitlichen Definition kommen wird.

Wenn man sich eingehender mit der phantastischen Literatur beschäftigt, bestehen die ersten Schwierigkeiten, auf die man trifft darin, dass eine Uneinheitlichkeit der angewandten Terminologien existiert. So werden oft Begrifflichkeiten wie Phantastik bzw. phantastische Literatur und Fantasy synonym verwendet, aber auch Science Fiction, Utopien, Märchen, Sagen usw. werden in die Diskussion über das Genre geworfen, ohne über deren Unterschiedlichkeit zu reflektieren. Zunächst soll hier auf den Forschungsstand hingewiesen werden und auf die daraus resultierenden Definitionsversuche, woraufhin sich das darauf folgende Kaptitel näher mit der Abgrenzung von benachbarten Gattungen beschäftigen soll.

Während sich die Literaturwissenschaft in Frankreich mit der Phantastik schon seit vielen Jahren beschäftigt, blieb die Forschung auf diesem Gebiet in Deutschland bis zur Todorovs Beschäftigung mit der deutschsprachigen Literatur bezüglich des Themas in den 1970ern fast unberührt. Uwe Durst schreibt diesen Rückstand in der deutschen Wissenschaft der „terminologische[n] Verwirrung“ (Durst 2001, 18) zu. In Frankreich wurde das Genre auch als solches behandelt und in Enzyklopädien aufgenommen, während in Deutschland diese Gattung als Randerscheinung der Literatur oder auch als zu trivial galt und somit nicht als würdig angesehen wurde, sich mit ihr weiter auseinander zu setzen. Auch wenn von vielen Seiten große Kritik an Todorovs Begriff der phantastischen Literatur geübt wird, scheint dennoch sein Werk „Einführung in die fantastische Literatur“ eine große Veränderung im Hinblick auf die Behandlung des Genres außerhalb Frankreichs geschaffen zu haben. Es wurde bisher zwar keine Einigkeit über die Definition erreicht, allerdings wird sich nun vermehrt der phantastischen Literatur zugewandt, so dass immer neue Ideen zusammengetragen werden, um die herrschende „terminologische Anarchie“ (Durst 2001, 21) einzugrenzen. Durst hält diese Einschränkung für notwendig, um die Forschung weiter voranzutreiben, da das Chaos in der Begriffsbestimmung ein „ernstzunehmendes Hindernis“ (Durst 2001, 21) im vorankommen innerhalb dieser Debatte ist.

Zunächst ist allerdings zu klären, ob es sich bei phantastischer Literatur tatsächlich um ein literarisches Genre handelt oder ob es berechtigte Zweifel an dieser Zuordnung gibt. So führt Durst eine Gruppe von Wissenschaftlern an, zu der auch Hans Holländer gehört, die das Bestehen nicht bestätigt, sondern stattdessen die Phantastik als eine ästhetische Kategorie, ähnlich dem Hässlichen oder dem Schönen, bestimmt (Durst 2001, 21). Folglich müsse man das Phantastische auch auf Kunstformen außerhalb der Literatur beziehen können. Schröder sieht die Problematik darin, dass zum Beispiel in der Musik völlig andere Zeichensysteme verwendet werden als in der Literatur, so dass eine Ausdehnung des Phantastikbegriffs auf Musik kaum sinnvoll erscheint (Durst 2001, 22). Wünsch bestätigt diese Aussage, indem er das Phantastische notwendigerweise mit dem Narrativen verbindet und somit andere Kunstformen außerhalb der Literatur von der Phantastik ausschließt (Durst 2001, 24). Doch nicht nur die ästhetische Kategorie wird als Möglichkeit der Zuordnung der Phantastik genannt, es wird auch als Struktur angesehen, so zum Beispiel von Schmitz-Emans. Dem widerspricht Durst aber vehement, indem er anführt: „daß jedes Genre eine Struktur haben muß, und umgekehrt das Vorhandensein einer jeden Struktur zum Kriterium eines Genres erklärt werden kann.“ (Durst 2001, 24) Durst erklärt jedoch, dass es durchaus von Bedeutung ist, Begriffe wie Phantastik bzw. phantastische Literatur von dem Phantastischen zu differenzieren: „Die phantastische Literatur ist das Genre, in welchem die [...] Struktur des Phantastischen dominant ist.“ (Durst 2001, 24) Undefinierbarkeit hingegen wird der Phantastik von Vax und auch von Krichbaum vorgeworfen. Krichbaum formuliert dies wie folgt: „Das Phantastische ist nicht definierbar, es ist allenfalls beschreibbar anhand einiger Beispiele.“ (Krichbaum In: Rottensteiner 1979, 179) Hierauf folgt allerdings eine Ablehnung dessen durch Cersowsky, welcher die „Undurchführbarkeit eines solchen Ansatzes“ erläutert, indem er angibt, dass in „der deutschsprachigen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts [...] nur wenige Texte ein Etikett wie ‚phantastischer Roman’ [trügen]“ (Durst 2001, 25). Man könne sich also nicht auf wenige, einzelne Texte stützen, um daraus ein eigenes Genre zu formen.

Für Uwe Durst stehen trotz des allgemeinen Durcheinanders in der Klärung des Phantastikbegriffs zwei Definitionsmöglichkeiten im Mittelpunkt, zum einen die maximalistische und zum anderen die minimalistische Genredefinition. Zunächst soll hier nun die maximalistische Theorie näher beleuchtet werden. In dieser Annahme werden durchweg alle Texte der Phantastik zugeordnet, „in deren fiktiver Welt die Naturgesetze verletzt werden.“ (Durst 2001, 27) Durst weißt allerdings daraufhin, dass es selbst innerhalb dieser maximalistischen Definition Unterschiede in der Betrachtungsweise gibt. Diese bestehen darin, dass einerseits einige Wissenschaftler, wie Charles Nodier, von einem so weitläufigen Begriff der Phantastik ausgehen, dass für sie jeder Text, der aus heutiger Sicht den Naturgesetzen widerspricht und somit übernatürliche Elemente aufweißt, zur phantastischen Literatur gezählt werden kann. Hierzu gehören auch Märchen und Mythen, andererseits wird diese Verallgemeinerung kritisiert. Todorov spricht zwar davon, dass auch in Werken von Homer und Shakespeare das Übernatürliche zu finden sei, so dass er dem Grundprinzip, dass es schon immer Texte mit phantastischen Elementen gegeben hat, zustimmt. Demgegenüber steht aber seine Aussage: „Das Übernatürliche charakterisiert die Werke nicht genau genug; seine Reichweite ist viel zu groß.“ (Todorov 1992, 34) Das bloße Vorhandensein des Übernatürlichen kann also nicht als alleiniges Merkmal diese völlig verschiedenen Texte miteinander verbinden und sie zum Genre Phantastik erklären. Neben dieser steht eine zweite, weiterentwickelte Sicht auf den Gattungsbegriff Phantastik, in dieser bricht das Übernatürliche in die jeweils „zeitgenössische Wirklichkeit“ ein, wobei „zumindest Texte ausgeklammert [werden], die durch eine erhebliche Distanz von der Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts getrennt sind.“ (Durst 2001, 29) Caillois versucht sich ebenfalls in einer Definition, indem er das Übernatürliche als einen „Riß“ in die Sicherheit der gegebenen Naturgesetze darstellt.

Im Phantastischen aber offenbart sich das Übernatürliche wie ein Riß in dem universellen Zusammenhang. Das Wunder wird dort zu einer verbotenen Aggression, die bedrohlich wirkt und die Sicherheit einer Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat. (Caillois In: Zondergeld 1974, 46)

Da sich das Übernatürliche, wie bereits erwähnt, für eine Definitionsbestimmung selbst in der maximalistischen Theorie zu weitgreifend darstellt, müssen weitere Kriterien gefunden werden, mit welchen der Phantastikbegriff zusätzlich einschränkt werden kann. Ein weiteres Kennzeichen phantastischer Literatur soll nun die Angst sein, die der Leser während der Lektüre verspürt. Dies scheint für die Horror- und Schauerliteratur durchaus zutreffend zu sein, dennoch bleibt zu klären, ob dies wirklich eine Eigenschaft ist, welche die Phantastik beherrschend bestimmt. Lovecraft geht davon aus, dass dieses Gefühl der Angst der unwiderlegbare „Prüfstein für das wahrhaft Unheimlich-Übernatürliche“ (Durst 2001, 30) ist. Vax unterscheidet sogar drei Varianten der Angstverbreitung: „das Reale [...], [...] sei beruhigend, weil man keinen Gespenstern begegne. Das Imaginäre [...] in der abgeschlossenen Welt des Märchens wirkt gleichfalls beruhigend, weil es uns nicht bedrohen könne. Die phantastische Kunst [...] indes lasse ‚imaginäre Schrecken inmitten einer realen Welt entstehen.’“ (Durst 2001, 30) Sobald ein Text den Leser also nicht verängstigt, sei dieser aus der Phantastik auszugrenzen. Hierauf äußerte sich Todorov außerordentlich hämisch: „Man ist überrascht, noch heute derartige Urteile seitens ernsthafter Kritiker zu vernehmen. Wenn man ihre Äußerungen wörtlich nimmt [...], dann muß man daraus folgern [...], daß die Gattung eines Werkes von der Nervenstärke seines Lesers abhängt.“ (Todorov 1992, 35) Todorov geht zwar auch davon aus, dass die Angst die phantastische Literatur oftmals begleitet, aber dennoch weder ein entscheidendes Gattungsmerkmal, noch eine bestehende Bedingung dieses Genres ist.

Während die maximalistische Theorie einen sehr breitgefächerten Gattungsbegriff erfasst, grenzt die minimalistische Theorie diesen weiter ein. Ein Vertreter dieser minimalistischen Theorie ist der bereits genannte Todorov. „Todorov beschreibt das Phantastische als Widereinander zweier diskrepanter Realitäten, von denen eine natürlichen, die andere hingegen übernatürlichen Charakters sei.“ (Durst 2001, 37) Hierbei spielt die Unschlüssigkeit bzw. Ungewissheit eine bedeutende Rolle.

Wir sehen uns ins Zentrum des Fantastischen geführt. In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel [...], geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt. Der, der das Ereignis wahrnimmt, muß sich für eine der zwei Lösungen entscheiden: entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierter Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind. (Todorov 1992, 25f.)

Je nachdem für welche Seite sich in dem literarischen Text entschieden wird, tritt ein benachbartes Genre an die Stelle der Phantastik. So entwirft Todorov ein Diagramm, in welchem er vier Kategorien unterscheidet: unvermischt Unheimliches, Phantastisch-Unheimliches, Phantastisch-Wunderbares, sowie unvermischt Wunderbares. Todorov geht davon aus, dass das Phantastische nur so lange vorherrscht, wie die Unschlüssigkeit des Lesers anhält, so dass es seiner Ansicht nach ständig „bedroht [ist]; es kann sich jeden Augenblick verflüchtigen.“ (Todorov 1992, 40) Zu Bedenken gibt es hier allerdings, dass Todorov zunächst zwar in seiner Abhandlung von einem implizierten Leser spricht, dann diesem jedoch Funktionen zuschreibt, die nur ein realer Leser erfüllen kann. So heißt es, dass „[e]s Texte gibt, die die Ambiguität bis zum Schluß aufrechterhalten, was soviel bedeutet wie: über den Schluß hinaus.“ (Todorov 1992, 42) Dies geht über die Möglichkeiten eines implizierten Lesers hinaus, da seine Aufgabe mit Ende der letzten Zeile abschließt und darüber hinaus nur ein realer Leser über das Buch reflektieren kann, wie auch Marzin bemerkt (Durst 2002, 105). Auch die Figuren innerhalb des Textes können diese Ambiguität verspüren, dies ist für Todorov jedoch keine obligatorische Voraussetzung für die Phantastik. Für ihn finden die zunächst rätselhaften Begebenheiten im Phantastisch-Unheimlichen am Ende stets eine rationale, natürliche Erklärung, während im Phantastisch-Wunderbaren die Naturgesetze angezweifelt werden müssen und letztendlich die Existenz des Wunderbaren bzw. Übernatürlichen anerkannt werden muss. Werke die von Ereignissen berichten, „die sich gänzlich aus den Gesetzen der Vernunft erklären lassen, die jedoch auf die eine oder andere Weise unglaublich, außergewöhnlich, schockierend, einzigartig, beunruhigend oder unerhört sind“ (Todorov 1992, 44f.), zählen zum unvermischt Unheimlichen. „Das Unheimliche erfüllt [...] nur eine einzige der Vorraussetzungen für das Fantastische: die Beschreibung bestimmter Reaktionen, insbesondere der Angst.“ (Todorov 1992, 45) Beim unvermischt Wunderbaren hingegen „rufen die übernatürlichen Elemente weder bei den Personen noch beim implizierten Leser eine besondere Reaktion hervor. Nicht die Haltung gegenüber den berichteten Ereignissen charakterisiert das Wunderbare, sondern die Natur dieser Ereignisse selbst.“ (Todorov 1992, 51) Zu jenen wunderbaren Texten gehören u.a. Märchen, bei denen die übernatürlichen Geschehnisse keinerlei Überraschung auslösen, doch zu einer genaueren Abgrenzung des Märchens soll es im folgenden Kapitel kommen. Für Todorov liegt das unvermischt Phantastische an der Grenze zwischen dem Phantastisch-Unheimlichen und dem Phantastisch-Wunderbaren, hier wird die Unschlüssigkeit des Lesers bis zum Schluss aufrechterhalten. Diese Grenze verschwimmt bei Todorov dermaßen, dass man kaum noch von der Existenz als eine eigenständige Gattung dieses unvermischt Phantastischen reden kann, diese Erkenntnis wird stark durch andere Wissenschaftler, wie Berg, kritisiert. Die Unschlüssigkeit, die Todorov als Voraussetzung für phantastische Literatur sieht, wird außerdem durch die jeweilige Interpretation des realen Lesers gefährdet. Todorov besteht auf eine bestimmte Lesart, nämlich die wörtliche, das heißt „sie darf weder ‚poetisch’ noch ‚allegorisch’ sein“ (Todorov 1992, 32) und „alles Fantastische ist an die Fiktion und an die wörtliche Bedeutung gebunden“ (Todorov 1992, 69). Dies ist für ihn von besonderer Bedeutung, da „[d]as Übernatürliche [...] oft daraus [entsteht], daß man die übertragende Bedeutung wörtlich nimmt.“ (Todorov 1992, 70) Allerdings widerspricht er sich selbst, indem er behauptet, dass „das Fantastische [es] ermöglicht [...], bestimmte Grenzen zu überschreiten, die ohne seine Unterstützung unantastbar wären.“ (Todorov 1992, 141) Hier impliziert Todorov außer der wörtlichen Bedeutung, ebenso eine Interpretation und Versinnbildlichung realistischer Themen innerhalb des Textes durch die Einführung übernatürlicher Ereignisse, die möglicherweise in wirklichkeitsnahen Texten nicht ausgedrückt werden können.

Wie bereits erwähnt, regt Todorov durch seine Forschung die aktuellen Diskurse zu diesem Thema an, allerdings stößt seine Theorie auch immer wieder an ihre Grenzen und erfährt Ablehnung und Kritik. Zunächst ist zu erkennen, dass nach wie vor die maximalistische Definition bevorzugt wird. In seinem Almanach zur phantastischen Literatur macht Zondergeld Ansichten verschiedener Wissenschaftler, wie die von Vax und Caillois, erstmals dem deutschen Publikum zugänglich (Durst 2001, 45). Hier wird schnell deutlich, dass noch immer keine Einigkeit bezüglich des Phantastikbegriffs herrscht. Cersowsky widerspricht Todorov auf Grund dessen zu enger Eingrenzung der Definition, sowie dessen Auslassung der Literatur des 20. Jahrhunderts. Für Todorov hatte die phantastische Literatur nur eine kurze Lebensdauer, denn sie beginnt erst Ende des 18. Jahrhunderts in Erscheinung zu treten und verschwindet bereits im darauf folgenden Jahrhundert mit den Novellen Maupassants (Todorov 1992, 148). Diese Hypothese Todorovs lässt sich leicht mit phantastischen Werken des 20. Jahrhunderts und den jüngst entstandenen des 21. Jahrhunderts widerlegen, wie zum Beispiel Cornelia Funkes „Tintenherz“ oder auch Lewis’ „The Chronicles of Narnia“. Todorov führt an, dass mit dem 20. Jahrhundert die Psychoanalyse in Kraft tritt und somit die phantastische Literatur ihre eigentliche Aufgabe verliert, nämlich das zur Sprache bringen von tabuisierten Themen und ist deshalb nicht weiter von Nöten. Außerdem könne man „heute nicht mehr an eine unveränderliche äußere Realität glauben und ebenso wenig an eine Literatur, die die Transskription dieser Realität wäre.“ (Todorov 1992, 150) Kritisiert wird auch Todorovs Sicht auf die Unschlüssigkeit, da zum Beispiel Finné den „Schwerpunkt seiner Untersuchung [...] vielmehr auf die Erklärung“ (Durst 2001, 51) des rätselhaften Ereignisses legt und ihn Todorovs minimalistische Behauptung deshalb nur verstöre. Trotz der offensichtlichen Bevorzugung der maximalistischen Theorie, sieht Durst klare Vorzüge in den minimalistischen Forschungsansätzen, da eine größere Differenzierung stattfinden kann.

Da sie nicht jeden realistischen Text, worin plötzlich das ‚Übernatürliche’ auftritt, ohne Unterschied dem Genre zuschlägt, sondern nur jene, in denen die Gültigkeit des wunderbaren Elements einem Zweifel unterliegt, wird es möglich zwischen phantastischen und gänzlich anders gearteten Texten zu unterscheiden, in denen am wunderbaren Status der erzählten Welt kein Zweifel besteht. (Durst 2001, 59)

Zusammenfassend und vereinfachend lässt sich feststellen, dass es sich um phantastische Literatur handelt, wenn das Übernatürliche in ihr dominiert und dieses Übersinnliche in eine von rationalen Gesetzen bestimmte real-fiktive Welt einbricht – erst dann kann von der Zugehörigkeit zum Genre Phantastik gesprochen werden.

Wie in diesem Ausflug in die Forschungsergebnisse über die phantastische Literatur erkennbar wird, herrscht noch immer große Uneinigkeit und ein Durcheinander darüber, was dies nun eigentlich ist. Neben der Eingrenzung durch verschiedene Voraussetzungen, die eine solche Literatur erfüllen soll, versuchen einige Wissenschaftler sich mit Hilfe einer Aufstellung von Themenlisten diesem Genre zu nähern. Das wohl umfassendste dieser Verzeichnisse stammt von Caillois, der diese Liste zwar nicht als vollständig bezeichnet, jedoch behauptet, dass sich die Themen ableiten lassen und der Autor immer wieder auf „typisierte Personen“ (Caillois In: Zondergeld 1974, 81) zurückgreifen kann. Auch Vax äußert, dass „die phantastische Literatur nur ein verhältnismäßig beschränktes Themenmaterial zur Verfügung hat, daß dieselben Motive [...] immer wieder auftauchen.“ (Vax In: Zondergeld 1974, 31) So treten seiner Meinung nach immer wieder Vampire, Werwölfe, Störungen der Identität und Ähnliches auf, auch ein Spiel mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren findet statt. Diese Motive und Figuren fungieren, so Vax, ähnlich wie die Archetypen Jungs, die zum Beispiel den unterdrückten Teil der menschlichen Seele nach außen kehren. Allerdings fehlt es diesen Themenlisten oftmals an Wissenschaftlichkeit, so erklärt Propp zu dieser Thematik, dass „ein einheitliches Unterscheidungsprinzip [...] hier überhaupt [fehlt], und die Folge ist natürlich ein Chaos.“ (Propp 1975, 11) Für ihn sind diese Listen nur eine Art „Katalog von Symbolen mit äußerst zweifelhaftem Wert.“ (Propp 1975, 11) Diese Themenlisten bleiben also wirklich nur was ihr Name verspricht, nämlich eine Aufzählung von Motiven, aber sie entfalten keinerlei hilfreiche Unterscheidungskriterien für die weitere Forschung innerhalb der Phantastikdiskussion.

Noch heute wird die Phantastik häufig, ebenso wie die Science-Fiction, zur Trivialliteratur gezählt, was unter anderem dazu führt, dass oftmals beide Gattungen als ein Genre zusammengefasst werden. Vax behauptet einerseits, dass das „Phantastische [...] als minderwertiges Genre [gilt]“, anderseits gibt er an, dass man aus der Phantastik durchaus einen „ästhetischen Genuß“ (Vax In: Zondergeld 1974, 20f.) ziehen kann. Laut Alpers wurde im 19. Jahrhundert die Basis der Trivialliteratur erschaffen, nämlich durch die Möglichkeit der Massenproduktion von Büchern, hierbei entstanden erst die Genres Science Fiction und Phantastik. „Die Trivialliteratur bedient solche Bedürfnisse nach Flucht in Welten, deren Strukturen einfach, deren Hintergründe kompliziert und dabei erklärt mystisch-magisch sind.“ (Alpers 1976, 33) Das Erzählmuster der Realitätsflucht wird häufig als ausschlaggebender Punkt genannt, dass es sich bei der Phantastik um banale Literatur handeln muss. „Bereits Kant warf dem Märchen vor, daß es das Kind täuscht und der Realität entfremdet.“ (Haas 1974, 156) Diese Realitätsflucht wird, wie es scheint, jeder Literatur vorgeworfen, die sich mit übernatürlichen Elementen beschäftigt, die rational nicht erklärbar sind. Hierbei wird jedoch vergessen, dass eine solche Flucht nicht, wie oft angenommen, daraus resultiert, dass der Autor sich nicht der Realität stellen will. Stattdessen möchte er diese auf eine andere Ebene heben, um sie so besser verarbeiten oder sogar in dieser Anderswelt neue Möglichkeiten für die reale Welt erschaffen zu können, dies gilt ebenso für die Leser solcher Literatur. Somit kann die Phantastik durchaus vielschichtiges Denken fördern, was kaum möglich wäre, würde sie lediglich den „Anspruch“ von Trivialliteratur erfüllen. Dieser Gesichtspunkt geht in Lems Theorie, nämlich der, dass der Kitsch vor allem in der phantastischen Literatur zu finden sei, völlig unter. Er reduziert die Phantastik auf kitschige Texte, wobei diese als „ein Ersatz und eine Fälschung zugleich“ (Lem In: Zondergeld 1974, 115) dienen.

Ein Ersatz für die Einweihung in das Beste, was die Literatur ihren Liebhabern zu liefern vermag; eine Fälschung, die von ihren Konsumenten nicht als solche erkannt werden darf. Der Kitsch setzt einen Leser voraus, der ihn nicht als solchen wahrnimmt; er bedarf eines Lesers, der sich mit dankbarer Genugtuung, ja mit Wonne, am Primitiven, Dummen und Erbärmlichen ergötzt. (Lem In: Zondergeld 1974, 115)

Sicherlich gibt es, wie auch in jedem anderen Genre, phantastische Texte, die über diese Ambition nicht hinausgehen, die den Leser also lediglich unterhalten wollen, aber ihn keineswegs bilden. Dennoch sollte die Phantastik nicht auf ein solches Maß an Schriften herabgesetzt und dabei die anspruchsvolleren Texte außer Acht gelassen werden. Diese Deklassierung der Literatur erklärt allerdings, warum sie erst spät von den Literaturwissenschaftlern in Deutschland als betrachtungswürdig angesehen wurde.

Der phantastischen Literatur wird oftmals vorgeworfen, den ästhetischen Ansprüchen gehobener Literatur nicht zu entsprechen.

Die phantastische Literatur ist in der Regel nach Schema F konzipiert, nachlässig geschrieben, sie stimuliert und bedient den schlechten Geschmack. Oft genug fehlt es schon dem Entwurf an intellektueller Dignität, seiner Anführung an ästhetischer Leidenschaft und den Empfindungen bei der Lektüre endgültig am sichtbaren Ernst. (Bauer; Stockhammer 2000, 38)

Hier bleibt allerdings die Frage offen, ob dies ein Qualitätsmerkmal aller phantastischen Texte ist, denn sieht man sich zum Beispiel „Herr der Ringe“ und dessen komplexe Welt, sowie die vielschichtige sprachliche Gestaltung an, ist es wohl kaum der Fall. Allerdings ist zu bemerken, dass der Verdienst der Phantastik auch nicht in der wirklichkeitsnahen Darstellung besteht, sondern in der vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeit der Realität und dessen Darbietung in verschiedenen Welten. Es werden Themen dargestellt, die in der realistischen Literatur nicht ausführbar sind bzw. die von dieser Literatur beschwiegen oder ignoriert werden, so dass in der Phantastik das Durcheinander der Natur und auch das des Inneren der Menschen beleuchtet wird, ohne auf die rationale Erklärbarkeit des Ganzen und dessen Möglichkeit in der Realität achten zu müssen. Es ist also eine Art Befreiung von den Zwängen einer modernen zivilisierten Welt, die durch rationale wissenschaftliche Rechtfertigung von ihrer Lebendigkeit verloren hat. Nichtsdestotrotz kam der phantastischen Literatur in Deutschland bis in die 1970er Jahre kaum Beachtung zu, da diese Art der Literatur als trivial galt und noch heute oftmals auf dieses Vorurteil stößt. Dem entgegen steht, dass die Phantastik Perspektiven bietet, sich kritisch mit der gegenwärtigen Zivilisation auseinander zu setzen, obwohl das Genre selbst dieser modernen Gesellschaft entspringt. Solche Auslegungsmöglichkeit der Literatur mit Hilfe des ästhetischen Prinzips steht der Negierung der Phantastik als Trivialliteratur entgegen.

2.2 Abgrenzung von „verwandten“ Genres

Leben, lesen – lesen, leben – was ist der Unterschied? (Moers 2007, 264)

Wie bereits anfänglich erwähnt, werden oftmals durch die Ungeklärtheit des Phantastikbegriffs berührende Genres, die ebenfalls übernatürliche Motive enthalten, mit der phantastischen Literatur gleichgesetzt. Dies führt nicht selten dazu, dass die Schwammigkeit des Begriffs noch weiter verstärkt wird, deshalb soll hier nun versucht werden, Phantastik von benachbarten Gattungen abzugrenzen.

Auch wenn das Märchen ebenso wie die phantastische Literatur wunderbare und übernatürliche Elemente beinhaltet, gibt es deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gattungen. Märchen sind meist kurz und prägnant, während phantastische Literatur nach Länge strebt. Ferner weisen die Charaktere und das Milieu Unterschiede auf, denn im Märchen werden diese nur soweit beschrieben, wie unbedingt notwendig, doch in der phantastischen Literatur fällt diese Darstellung deutlich ausführlicher aus. Auch Caillois unterstreicht die Relevanz der Unterschiede:

Es ist wichtig zwischen diesen verwandten und oft mit einander verwechselten Welten einen Unterschied zu machen. Das Märchen ist ein Reich des Wunderbaren, das eine Zugabe zu unserer Alltagswelt ist, ohne sie zu berühren oder ihren Zusammenhang zu zerstören. Das Phantastische dagegen offenbart ein Ärgernis, einen Riß, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt. Oder anders gesagt: die Welt des Märchens und die wirkliche Welt durchdringen sich reibungslos und konfliktlos. (Caillois In: Zondergeld 1974, 45)

In der Welt des Märchens ist Zauberei und Übernatürliches etwas Normales und Alltägliches, es verursacht keinerlei Anstoß - auch wenn Konflikte zwischen dem Guten und dem Bösen stattfinden. Nichtsdestotrotz können Märchen ebenso wie die Phantastik „reich an unerwarteten Ereignissen“ (Caillois In: Zondergeld 1974, 46) sein. In der Phantastik allerdings bedeutet dieser „Riß in dem universellen Zusammenhang“ (Caillois In: Zondergeld 1974, 46) nicht Harmonie und Akzeptanz des magischen Geschehens, sondern Verwirrung innerhalb einer Welt, die diese unmöglichen Ereignisse ausschließt. Und erst die festen Gesetze der menschlichen Welt lassen diesen „Riß“ zu, so dass phantastische Elemente die richtige Angriffsfläche bekommen. „Das Phantastische im strengen Sinne erfordert den Einbruch eines übersinnlichen Ereignisses in eine von der Vernunft regierte Welt.“ (Vax In: Zondergeld 1974, 17) Das heißt, dass der Leser nicht an diese übernatürlichen Begebenheiten glauben darf, da diese in der realen Welt ausgeschlossen sind, ansonsten verliert die Phantastik ihre Kraft. Der Mensch hat sich ein grobes Konzept der Welt erdacht und erforscht, welches übersinnliche Wesen und Ereignisse völlig ausschließt und durch das Auftreten des Übernatürlichen völlig aus der Bahn geworfen werden kann, dies gilt auch für die Zeit- und Raumvorstellung. Während die Eindimensionalität des Märchens hier keinen Anstoß findet, bietet die Phantastik allerlei Möglichkeiten diese Vorstellungen zu erschüttern. Hier können Geister durch Wände gehen, so dass die Dreidimensionalität des Raumes aufgehoben wird und man von einer Vierdimensionalität sprechen kann. Dies ist auch erkennbar in Texten wie zum Beispiel „Harry Potter“, in welchem sich einige Personen mit Hilfe von Portschlüsseln in kurzer Zeit, durch Aufhebung des normalen Zeit- und Raumverhältnisses, fortbewegen. Zwar wird auch im Märchen die Ausdehnung und Schrumpfung der Zeit thematisiert, allerdings verläuft die Zeit auch weiterhin homogen, in der Phantastik hingegen kann diese auch umgekehrt werden, wie es Hermine in „Harry Potter“ mit Hilfe des Zeitumdrehers möglich ist. Caillois ist außerdem der Meinung, dass ein wesentlicher Unterschied darin liegt, dass „[d]as Märchen [...] eine Erzählung [ist], die sich von Anfang an in der fiktiven Welt der Zauberer und Geister abspielt“, während die Phantastik „diese Wesen in der wirklichen Welt auftreten [läßt], und dazu ist ihr Auftreten unbegreiflich, nicht wiedergutzumachen, unausweichlich unheilvoll.“ (Caillois In: Zondergeld 1974, 50f.) Wenn dies allerdings immer der Fall sein muss, wären Texte wie Tolkiens „Herr der Ringe“, Paolinis „Eragon“ und Moers „Die Stadt der Träumenden Bücher“ als Werke außerhalb des phantastischen Genres zu betrachten, da sie den Leser von Anfang an in einen von der realen Welt abgeschlossenen Kosmos entführen. Es lassen sich drei Grundmuster der phantastischen Literatur feststellen: Zum einen kann es sich um eine real-fiktive Welt handeln, in welche eine übernatürliche Figur eintritt und später meist wieder in ihre eigene Welt zurückkehrt. Zum anderen kann dies auch umgekehrt passieren, das heißt, dass eine real-fiktive Figur in eine irreal-phantastische Welt gerät und letztendlich tritt in der Phantastik das Grundmuster einer geschlossenen Welt auf (Fährmann, Schlagheck, Steinkamp 2001, 17ff.), wie es auch bei „Herr der Ringe“, „Eragon“ und „Die Stadt der Träumenden Bücher“ der Fall ist. Hier wird die Alltagswelt des realen Lesers völlig aus dem Text ausgeklammert. Allerdings bringt der Leser durch seine Existenz in der realen Welt und seine Lesart dieser neuen magischen Eigenwelt wiederum den Bruch der Weltordnung zustande.

Für Vax sind „‚[m]ärchenhaft’ und ‚phantastisch’ [...] zwei Subspecies des ‚Wunderbaren’.“ (Vax In: Zondergeld 1974, 11) Die Phantasie kann sich im Märchen allerdings ausbreiten, ohne in Streit mit dem Möglichen zu kommen. Die Magie, die im Märchen auftritt, ist kein Einruch des Übernatürlichen in eine geordnete Welt, während „das Phantastische gerade seinen Ursprung in den Konflikten zwischen dem Realen und dem Möglichen“ (Vax In: Zondergeld 1974, 12) hat. Diesen Schock, der durch den Konflikt zwischen den Welten entsteht, „kannte das Volk schon aus den Sagen“ (Vax In: Zondergeld 1974, 14). Auch scheinen die Motive der phantastischen Literatur eher aus Sagen entlehnt, als aus Märchen. Der Unterschied zwischen der Funktion von Sagen und der phantastischen Literatur besteht unter anderem darin, dass das heutige Lesepublikum der Phantastik nicht davon ausgeht, dass es sich bei dem Text um reales Geschehen handelt, sondern weiß, dass es sich um fiktive Ereignisse handelt. Anders als Märchen beschreiben Sagen ein düsteres Weltbild, in dem sich ein schreckliches Geschehen ereignet, welches nicht nur den unmittelbaren Verursacher betrifft, sondern auch die kommenden Geschlechter beherrschen wird, ähnlich geschieht dies auch in der Phantastik.

Deutlich mehr als von der Sage unterscheidet sich die phantastische Literatur von der Fabel. Durch die sprechenden Tiere in der Fabel bleibt eine gewisse Distanz bewahrt, so dass es nicht bezweifelt wird, dass es sich hierbei um einen allegorischen Text handelt und nicht um eine phantastische Erzählung. Auch wenn in der Phantastik Tiere oftmals ebenso reden können, bleibt der Unterschied deutlich, dass die Tiere der Fabel lediglich dazu dienen, in Bildern sprechen zu können, um menschliche Schwächen und andere typische Charakterzüge aufzuzeigen.

Die Utopie und die Phantastik scheinen zunächst die gleiche Basis zu haben, da sie beide reichlich mit Phantasie bestückt sind, allerdings handelt es sich bei der Utopie eher um eine Gedankenwelt, die neben der unseren existiert. Der Autor

kann [...] eine zu gleicher Zeit erfundene und streng konzipierte Welt erschaffen. Der Leser vergleicht die Werte seiner Welt mit denen der neugeschaffenen. Diese Verfremdung macht es möglich, eine Distanz zu unserer eigenen Welt zu gewinnen, weil wir sie jetzt von außen statt wie üblich von innen betrachten. (Vax In: Zondergeld 1974, 24)

Die Leser phantastischer Literatur hingegen beteiligen sich nicht an einer derartigen geistigen Welt, stattdessen lassen sie sich, so Vax, verzaubern und unsere Welt verwandelt sich in ihrer Phantasie in eine andere.

Weitaus schwieriger gestaltet sich die Abgrenzung von Phantastik und Science-Fiction. Für Caillois ist die Science-Fiction „die Vorwegnahme von Entdeckungen, die entscheidende Änderungen in den Sitten der Menschen und in den Hilfsmitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, herbeiführen können.“ (Caillois In: Zondergeld 1974, 70) Die zunächst außergewöhnlichen, vielleicht sogar „phantastischen“ Erfindungen scheinen in einer Hinsicht in die Phantastik zu passen, da sie ebenfalls eine Entfremdung der Welt hervorrufen können, indem sie durch die Anwesenheit von unbekannter Technik Angst und Schrecken verursachen. Wenn die Literatur Maschinen beinhaltet, die später tatsächlich gebaut werden, wie Jules Vernes U-Boot, fällt diese Entfremdung allerdings weg. Caillois sieht die Phantastik in der Science-Fiction beheimatet (Caillois In: Zondergeld 1974, 75), wobei sich die Frage stellt, inwieweit Science-Fiction mit der Phantastik konform geht, wenn diese „phantastischen“ Elemente, wie diese Erfindungen, wegfallen. In der Science-Fiction „wird das Übernatürliche auf rationale Weise erklärt, aber anhand von Gesetzen, die die gegenwärtige Naturwissenschaft nicht anerkennt.“ (Todorov 1992, 53) Allerdings bleibt noch zu klären, ob es sich bei diesen Erfindungen tatsächlich um phantastische Gebilde handelt, da sie doch durch den technischen Fortschritt durchaus möglich wären. Für einen großen Teil der Science-Fiction Literatur gilt, dass ihr Inhalt auf eine logische Erklärung zurückgeht, so dass der „Riß“ in die Welt nicht stattfindet. Schon die Wortbestandteile in Science-Fiction weisen auf eine Verbindung von Wissenschaft und Literatur hin. (Biesterfeld in: Lange; Steffens 1993, 75f.) Biesterfeld versucht sich in einer Definition von Science-Fiction, indem er sagt:

Science Fiction ist unterhaltende Literatur, die einen außerhalb der Erfahrung liegenden wissenschaftlichen oder technischen Fortschritt zur Vorraussetzung oder zum Thema ihres Erzählens macht. (Biesterfeld In: Lange; Steffens 1993, 77)

Demgegenüber steht die Phantastik, die sich außerhalb der realen Welt bewegt bzw. mindestens ein phantastisches Element oder eine übernatürliche Figur beinhaltet, die es nicht in der wirklichen Welt gibt, so dass nicht, wie in der Science-Fiction eine zukünftig mögliche Welt dargestellt wird, sondern eine völlig unwirkliche. In Biesterfelds Theorie unterscheidet sich der englische Begriff Fantasy von dem deutschen Term Phantastik. Bei Fantasy handelt es sich um Texte, so Biesterfeld, die weder in einer Welt spielen, die so ist wie sie ist, noch in einer wie sie einmal war oder sein wird. Die Geschichten sind Abenteuergeschichten, die in einer imaginären prähistorischen Welt spielen, während Phantastik sich mit übernatürlichen Elementen beschäftigt. (Lange; Steffens 1993, 77ff.) Kamper definiert Fantasy als

das Stichwort für Bücher und Filme, die an einer phantastisch andersartigen Welt arbeiten, die historische Erinnerungen, wie sie auch in Märchen, Legenden und Sagen vorkommen, mit Wucherungen überziehen und darzustellen versuchen, was geworden wäre, wenn die Weltzivilisation sich nicht für Aufklärung, Rationalität, Vernunft und nicht für industriellen Fortschritt entschieden hätte. (Kamper 1986, 9)

Hier werden Fantasy und Phantastik nicht als Synonyme angesehen, stattdessen wird der Begriff Fantasy oft auch als polysemantisch bezeichnet, so dass er sowohl Phantasie als auch Phantastik beinhalten kann (Pesch 2001, 23). Wobei Phantasie „das Vermögen des inneren Sehens [ist]; sie ist die Fähigkeit, Bilder wahrzunehmen, auch wenn das, was sie abbilden, nicht da ist.“ (Kamper 1986, 8) Schlobin schreibt der Fantasy allerdings die gleichen Merkmale wie der Phantastik zu, nämlich die Schaffung einer Gegenwelt zur Realität und das Vorhandensein von übernatürlichen Elementen. Bei ihm heißt es: „[W]hatever we are to call ‚fantasy’ must first and foremost deal with the impossible“ (Schlobin 1982, 1). Was gemeingültig als möglich und unmöglich gilt, müssen Autor und Leser für sich entscheiden. Schlobin stellt fest, dass das Mögliche in der Science-Fiction zu finden ist, während das Unmögliche in der Phantastik auftaucht. (Schlobin 1982, 1f.) In der Phantastik spielt Phantasie eine große Rolle in der Schaffung von imaginären „Gegenwelten unter der Betonung der Vergangenheit.“ (Kamper 1986, 9) In der entgegengesetzten Perspektive, nämlich zumeist in der Zukunft, ist die Science-Fiction angesiedelt. Inhaltlich stimmen die meisten Theorien überein, so heißt es, dass magische, übernatürliche Elemente vorhanden sein müssen, um zur Phantastik gezählt zu werden, während es sich bei der Science-Fiction eher um eine Welt handelt, in welcher sich Wissenschaft und Technik uneingeschränkt weiterentwickeln können.

2.3 Phantastische Jugendliteratur

Man kommt nicht als fertiger Mensch, sondern als Entwurf zum Menschen auf die Welt. Man muss sich lernend verwandeln und darauf achten, dass man am Schluss nicht veruntreut hat, was in einem an Wunderbarem angelegt wurde. (André Heller Stern 50/2003 In: Jung 2004, 54)

Phantastische Jugendbücher sollen an dieser Stelle aus der Phantastikforschung herausgehoben werden, da der Aufbau und Inhalt eines solchen Textes sich abweichend zur Erwachsenenliteratur darstellt. Dieser Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass auf Jugendliche diese Literatur völlig anders wirkt. Als Kinder fühlen sie sich der Erwachsenwelt noch unterlegen, erreichen sie jedoch das Jugendalter, findet ein Wandel statt und sie möchten den Erwachsenen als gleichberechtigt gegenüberstehen. Da dieser Prozess des Heranwachsens kaum unproblematisch vorüberzieht, kann das Hineinversetzen in Figuren aus phantastischer Literatur durchaus hilfreich für die Entwicklung sein. „It is contemporary fantasy for older children and younger adolescents that is explicitly concerned with the existence of good and evil and the morality of human behaviour.“ (Molson In: Schlobin 1982, 86) Im Jugendbuch steht der Konflikt zwischen Gut und Böse meist im Mittelpunkt, das heißt, der jugendliche Held der Geschichte muss sich für eine Seite entscheiden, wobei die dunkle, böse Seite oftmals als Teil seiner selbst gesehen werden kann, der bisher nicht integriert wurde. Es ist vergleichbar mit den Archetypen Jungs, dort widerspiegelt der Schatten einen verdrängten Teil der menschlichen Seele. Zwar sind auch phantastische Texte denkbar, in denen dieser Gegensatz nicht vertreten ist, dennoch kann man von einem dominierenden Auftreten des Kampfes von Gut gegen Böse in dieser Art von Literatur sprechen. Häufig kommt es im phantastischen Jugendbuch nicht nur zum Gleichgewicht zwischen Gut und Böse, das am Ende des Textes hergestellt werden soll, sondern es wird zusätzlich deutlich, dass sich beide Seiten bedingen und voneinander abhängen. (Lange; Steffens 1993, 35) Die Wahl zwischen Gut und Böse ist ein wichtiger Schritt und führt den Jugendlichen einen bedeutenden Schritt weiter in seiner Entwicklung. Des Weiteren wird das Prinzip der phantastischen Welten erweitert: Jede Figur, jedes Handeln ist in die ganze Geschichte so eingefügt, dass es keine sinnlose Handlungen gibt – somit auch keine Zufälle. Der jugendliche Leser kann seine triste Alltagswelt verlassen und Sinnerfüllung in der „anderen“ Welt suchen. (Lange; Steffens 1993, 36) Da der Jugendliche in seiner Entwicklung beginnt sich mit der Gesellschaft auseinander zusetzen und diese meist nicht so akzeptiert, wie sie ist, wird er damit konfrontiert sich mit ihr weiter zu beschäftigen und seine Rolle in dieser zu finden. Während seiner Identitätssuche in der realen Welt kann das Eintauchen in die „andere“ Welt durchaus fördernd sein. Er kann Gedanken über andere mögliche Gesellschaftsformen entwickeln und erweitern. Außerdem kann es den Narzissmus des Heranwachsenden befriedigen, der in dieser Welt kaum Möglichkeiten hat, seine Identität nach seinen Ideen auszubreiten und auszudrücken. So stellt die phantastische Welt eine Art Ersatzwelt dar, in der die Suche nach Selbstdarstellung zufrieden gestellt werden kann. Im Gegensatz zu der wirklichen Welt wird der „anderen“ Welt nachgesagt, dass die Fronten zwischen Gut und Böse meist eindeutig ausfallen, so dass sich hier auch ein schwächlicher Protagonist in einen heldenhaften Retter verwandeln kann. Der Held des phantastischen Textes, mit dem sich der Leser meist identifiziert, wird dadurch höher geschätzt und ihm werden zum Teil übernatürliche Kräfte zugeschrieben. (Lange; Steffens 1993, 36f.) Diese sogenannte „Realitätsflucht“ des Lesers ist keineswegs negativ zu bewerten, besonders da ihm so geboten wird, sich Weltmodelle, unabhängig von der real existierenden Welt, gedanklich aufzubauen, auch ist es ihm möglich diese Ideen auf die reale Welt zu projizieren. Allerdings darf nicht unterschätzt werden, dass auch in diesen Anderswelten Gesetze herrschen, denen sich der Protagonist unterwerfen muss. Durch diese festgelegten Bestimmungen innerhalb des Textes kann dem Helden die Handlungsfreiheit genommen werden, da er, anstatt eigenständig zu denken und zu handeln, von unsichtbarer Hand gelenkt wird bzw. sein Tun vorherbestimmt sein kann. Die Schwachstelle der Phantastik besteht also darin, dass sobald sich der Leser diesen Mächten und Kodexen unterwirft, die eigentliche Funktion der phantastischen Jugendliteratur, nämlich die Erweiterung des Bewusstseins, verloren geht. Positiv demgegenüber steht, dass diese Art von Jugendliteratur die Möglichkeit bietet, sich von der wirklichen Welt zu lösen und das Ich des Lesers zu stärken. Dies kann allerdings nur geschehen, wenn der Erzähler in das Weltbild des Lesers passt, ihm also nicht von vorneherein mit dem erhobenen Zeigefinger begegnet, stattdessen muss er ihm als Gleichberechtigter entgegentreten. Wobei auffällig ist, dass sich in der phantastischen Literatur die Präsenz des Erzählers zumeist auf wenige Einschübe, die sich direkt an den Leser wenden, beschränkt. (Meißner 1989, 227)

Das Grundmuster der phantastischen Jugendliteratur besteht aus einer realistischen und einer imaginären Ebene. Wie schon im letzten Kapitel erläutert, kann die Geschichte in einer wirklichkeitsnahen Welt spielen, in der dem Protagonisten durch übernatürliche Wesen Hilfe zukommt oder er begibt sich selbst in die Anderswelt und besteht dort Abenteuer. Eine dritte Variante ist die, dass der Leser von vorneherein vollständig in diese „andere“ Welt geführt wird, ohne dass der Text die reale Welt berührt. Diese Berührung kommt erst zustande, wenn der Leser seine eigenen Erfahrungswerte unserer Welt mit in den Text hineindeutet. In dem realistischen Teil können sich die wirklichkeitsnahen Elemente auf ein Minimum beschränken oder auch dominieren, so dass nur vereinzelnd oder auch überwiegend übernatürliche Ereignisse durchscheinen. Meißner stellt fest, dass mit steigendem Alter des Lesers die realistische Ebene verkleinert wird und das Phantastische im Text zu dominieren beginnt. Außerdem stellt er Problemfelder auf, die immer wieder als Motiv in phantastischer Jugendliteratur auftauchen, dazu gehören: Elternlosigkeit oder Tod eines Elternteils, Scheidung der Eltern, fehlende Liebe der Eltern und Schulschwierigkeiten (Meißner 1989, 97). Wobei sich die Art, mit welcher der Protagonist mit seinen Lebensumständen umgeht, ebenfalls mit steigendem Alter wandelt. Im Jugendbuch kann durchaus eine härtere Wendung als im Kinderbuch eintreten, so dass sich der jugendliche Held zum Beispiel mit Selbstmordgedanken schinden muss.

Es stellt sich die Frage, wer überhaupt Protagonist eines Jugendbuches sein kann, um den heranwachsenden Leser anzusprechen? Die Helden eines solchen Textes sind ausschließlich Kinder und Jugendliche, sei es menschlicher Natur, wie Meggie in „Tintenherz“, oder auch imaginäre Wesen, wie Hildegunst von Mythennetz in „Die Stadt der Träumenden Bücher“. Mädchen treten ebenso häufig wie Jungen auf und das trotz der zu bestehenden Abenteuer und zu bewältigenden Bedrohungen. (Meißner 1989, 99) Beide Geschlechter haben oftmals neben den bereits erwähnten familiären Krisen, ebenso Probleme mit sich selbst und anderen Gleichaltrigen. Meist steht nur ein einzelner Protagonist im Mittelpunkt des Geschehens, im Ausnahmefall können auch Gruppen von Kindern und Jugendlichen im Zentrum stehen, wie es in „The Chronicles of Narnia“ der Fall ist. In dem Großteil der phantastischen Jugendliteratur besitzt der Protagonist keinerlei heldenhafte Eigenschaften, wie es in Abenteuergeschichten der Fall ist. Er ist ein „schwacher, ängstlicher, von seiner Umgebung nicht anerkannter Jugendlicher, der in seinem sozialen Umfeld die Position eines Außenseiters einnimmt“ (Meißner 1989, 99 f.). Dies erklärt auch, warum Mädchen ebenso wie Jungen in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt werden, da die zentrale Gestalt keineswegs über übermäßige körperliche Kräfte verfügen muss. Viel wichtiger ist die innere Stärke der Hauptperson, die im Text nach außen gekehrt wird.

Der Konflikt eines kindlichen Helden scheint kaum überwindbar, da er sich von der Erwachsenwelt abgewiesen und überfordert fühlt. Der Jugendliche hingegen verlangt nach Anerkennung seiner Person und nimmt das Gegebene nicht als selbstverständlich hin. Im Jugendbuch wird der Protagonist zu einer aktiv handelnden Person, während der Held im Kinderbuch ein passives Individuum bleibt und auf Hilfe aus der „anderen“ Welt hofft. (Meißner 1989, 105) In phantastischer Jugendliteratur sind die übernatürlichen Figuren nicht mehr zwangsläufig helfende Hände, sondern agieren vermehrt auch als Bedrohung. Nichtsdestotrotz treten sie, wie auch im Kinderbuch, meist erst dann auf - sofern eine realistische Ebene gegeben ist, wenn der innere Konflikt des Protagonisten eskaliert. „Phantastik wird somit zum Kommunikationsanlaß; mit ihrer Hilfe gelingt es, für eine scheinbar ausweglose und verhärtete Situation eine Lösung zu finden“ (Meißner 1989, 110f.). In der phantastischen Literatur fühlt der Jugendliche sich oftmals eher verstanden als in der realen Erwachsenenwelt, was auch die Beliebtheit dieser Gattung bei Heranwachsenden erklärt. Die Möglichkeit der Wirklichkeitsbewältigung mit Hilfe phantastischer Texte schreibt diesem Genre also durchaus pädagogische Bedeutung zu und wertet ihr Ansehen diesbezüglich auf.

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Excerpt out of 92 pages

Details

Title
Die Ästhetik des Bösen in der phantastischen Gegenwartsliteratur
Subtitle
Am Beispiel von Cornelia Funkes "Tintenherz", W. und H. Hohlbeins "Das Buch" und Walter Moers "Die Stadt der Träumenden Bücher"
College
University of Rostock  (Germanistik)
Grade
2,0
Author
Year
2008
Pages
92
Catalog Number
V92052
ISBN (eBook)
9783638057738
ISBN (Book)
9783638951777
File size
734 KB
Language
German
Keywords
Bösen, Gegenwartsliteratur
Quote paper
M.A. Virginie Vökler (Author), 2008, Die Ästhetik des Bösen in der phantastischen Gegenwartsliteratur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92052

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