Identitätskonstruktionen innerhalb der Neoavantgarde-Bewegung "Tropicália". Reflexion transnationaler gegenkultureller Strömungen und Ausdruck einer souveränen tropikalistischen Identität


Masterarbeit, 2014

92 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Eine kritische Retrospektive - ein anderes Vorwort

2. Einführung

3. Musik und Identität
3.1 Musik als Identitätsträger
3.2 Nation und nationale Identität
3.3 Kultur und kulturelle Identität

4. Die Musica Popular als Narrative nationaler Identität in Brasilien
4.1 Nationalismus und Modernismus
4.2 Samba in Vargas' Estado Novo
4.3 Bossa Nova als Reflexion der brasilianischen Moderne
4.4 Die Musica Popular Brasileira und der Beginn komplexer Identitätskonstruktionen

5. Identitätskonstruktionen bei Tropicalia
5.1 Jorge Ben: Zwischen MPB, Tropicalia und afrobrasilianischer Identität
5.2 Von Bahia in die Metropolen
5.3 Der „Som Universal" als Geburtsstunde Tropicalias
5.4 Tropicalia oder der Weg zu einer "tropikalistischen Identität"
5.5 Panis et Circencis als kollektiver Ausdruck "tropikalistischer Identität"
5.6 Tropicalia im Zeichen globaler Gegenkultur
5.7 Tropicalia und Krautrock - Vergleich zweier peripherer Gegenkulturen
5.7.1 Ruckzuck - eine kurze Einführung in den Krautrock
5.7.2 Von Karlheinz Stockhausen zu Rogério Duprat
5.7.3 Identitätskonstruktionen im Vergleich

6. Schlussbetrachtungen

7. Literaturverzeichnis

Hinweis: Im Interesse der besseren Lesbarkeit habe ich auf die weibliche Form verzichtet. Natürlich sollen sich Leser und Leserinnen aber gleichermaßen angesprochen fühlen und die Reduzierung auf die männliche Schreibweise nicht als Diskriminierung des weiblichen Ge­schlechts verstehen. „>>The only name as far as I know that does not designate a remote ethnic origin, or a place, but rather a product of exploitation, the first, now completely extinct«" (Namely, the wood.) Thus, everything in Brazil - from the young man who touches your butt during Car- nival in Bahia (leaving it unclear as to whether he is after sex or money) to the foreign debt; to the children who are treated like royalty or murdered in the streets, to the blocos Afros, in the absurd Egypt of their songs, for the origin that will give meaning to their existence - eve­rything is explained in relation to the lack of the name of the father, of a "national signifier”.1

„Wenn wir meinen, eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tod zu haben, dann bloß, weil wir eine tröstliche Geschichte oder 'Erzählung unseres Ich' über uns selbst kon- struieren. Die völlig vereinheitlichte, vervollkommnete, sichere und kohärente Identität ist eine Illusion. In dem Maße, in dem sich die Systeme der Bedeutung und der kulturellen Re- präsentation vervielfältigen, werden wir mit einer verwirrenden, fließenden Vielfalt mögli- cher Identität konfrontiert, von denen wir uns zumindest zeitweilig mit jeder identifizieren können".2 „[P]odemos observar a importância da formaao da identidade. É a identidade que diferencia os individuos, o que os caracteriza como sujeito social, pessoa, ou como um membro pertencente a um grupo social. Ela é definida pelos conjuntos de atribu^öes de papéis sociais que todos nos desempanhamos em nosso dia-a-dia e é determinada pelas condiföes socio-culturais que sao decorrentes da produ^ao social, economica, historica, pelos nossos ideais e comportamentos, e, claro pelos ciclos que venhamos a freqüentar, participar”.3

1. Eine kritische Retrospektive - ein anderes Vorwort

Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch eines kritischen Rückblicks auf die neoavantgardis­tische gegenkulturelle Strömung Tropicalia dar. In Ermangelung eines adäquateren Begriffs, wird Tropicalia bis auf Weiteres vornehmlich als "Bewegung" deklariert. Allerdings sei dem hinzugefügt, dass Caetano Veloso, einer der Urheber des tropikalistischen Projektes, selbige auch als „movimento cultural", „comportamento vital" oder auch als „moda" bezeichnet hatte.4 Schließlich ist es neben den vermittelnd wirkenden Autoren, Musiklabeln, Kritikern oder DJs auch den Veröffentlichungen von Veloso, Gilberto Gil, Tom Zé und Co. geschuldet, dass sich Tropicalia später als Bewegung konstatierte und heute gemeinhin als "Genre" nicht nur im Musikjargon zum festen Begriff geworden ist. Zeitlich verortet am Ende der 1960er Jahre, als ungefähr parallel und häufig in Korrelation zueinander, mehrere soziale Umbrüche stattfanden, die man später revolutionär nannte, entstand Tropicalia in einem historischen Kontext, den eine neuartige soziale Protestkultur kennzeichnete.

Dermaßen glorifiziert und mystifiziert, müsste eine Analyse der gegenkulturellen Bewegun­gen und ihrer musikalischen Repräsentanten eigentlich kritischer ausfallen. Zwar soll es nicht Thema dieser Arbeit sein, die Ikonen der 1960/70er Jahre zu diskreditieren, doch sind die immer gleichen Titelstories etwa des Musikmagazins Rolling Stone durchaus als Fingerzeig zu verstehen, dass unser Zeitalter permanenter Reproduktion massenverträglichen und zugleich anspruchsvollen Musik-Bewegungen, die sich gleichzeitig durch eine gewissen Halbwertszeit auszeichnen, keinen exquisiten Raum mehr gewährt. Diese Überzeugung liegt meiner Arbeit genauso zugrunde, wie jene, dass derartigen Bewegungen im Zeitalter des entpersönlichten Massenkonsums - indem das Bewusstsein des Konsumenten selbst zur Ware wurde5 - ihre Kurzlebigkeit bereits angekündigt war.6 Zwar mag dieses Urteil einer sehr kulturpessimisti­schen Perspektive entspringen (die sich darauf gründet, dass ich der Musik der 1960/70er Jahre ebenfalls besonderen Wert beimesse), doch reflektiert etwa der schier unerschöpfli­che Output eines Bob Dylan nicht, dass dieser die unermessliche Weite seiner Vereinigten Staaten zunächst tatsächlich zu erkunden hatte, bevor er sie mit seiner poetischen Kraft in Songtexte übertrug? Heute hingegen sind die Barden Blogger und Wissen allzu oft gefährli­ches Halbwissen.

Obwohl es also unstrittig ist, dass es während der 1960er Jahre zu nachweislichen sozialen Veränderungen beträchtlichen Ausmaßes kam, die v.a. den sog. "westlichen" Gesellschaften neue individuelle Freiheiten und daran geknüpfte Ismen brachten, will ich die Form der kriti­schen Retrospektive wahren.7 Denn gleichen die beiden Protagonisten Tropicalias, Caetano Veloso und der spätere Kulturminister Gilberto Gil, mittlerweile nicht selbst jenen kulturellen Ikonen und nationalen Heroen, deren fiktionale Entmystifizierung José de Paula Agrippino in 'Panamérica' mittels ihrer US-amerikanischen "Modelle" vollzogen hatte?8 Und sollte die Marke Tropicalia heute nicht entsprechend hinterfragt werden dürfen? Trotz kritischem Blickwinkel möchte ich abschließend an die Ideale Tropicalias (bzw. allgemeiner der sog. "68er") erinnern, die sich gegenwärtig häufig durch ihre Romantisierung verflüchtigen oder direkt mit Füßen getreten werden. Vielleicht wüssten neue gegenkulturelle Bewegungen unsere von Trägheit zersetzten, heutigen westlichen Gesellschaften zu beleben, insofern erstere die Form und den Inhalt besäßen, um wirkliche politische Impulse zu setzen, indem sie bspw. soziale Missstände nicht nur aufzeigten sondern deren Markierung mit direkten und umsetzbaren Forderungen nach Veränderungen verbänden.

2. Einführung

In vielerlei Hinsicht stellt das genreübergreifende Projekt Tropicalia eine wirkliche Ausnah­meerscheinung dar. Denn in ganz Lateinamerika ist mir keine vergleichbare Bewegung aus der Popmusikkultur bekannt, die außerhalb des "Westens" unter Kritikern und Hörern (ver­standen als gleichwertige Rezipienten) eine derartig positive Resonanz erfährt. Letzteres mutmaßlich gleichermaßen auf Grundlage ihrer musikalischen, stilistischen und textlichen Finesse. Seit den Festivals im Londoner Exil, wo Caetano Veloso und Gilberto Gil vor mehre­ren hunderttausend Zuschauern aufgetreten waren und seitdem Musiker internationaler Reputation wie David Byrne oder Kurt Cobain Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er der Musik und den Interpreten aus dem Umfeld Tropicalias über die nationalen Grenzen hinweg zu Bekanntheit verholfen hatten, lässt sich ein stetig zunehmendes Interesse an jener Bewe­gung feststellen, die mit ihrer musikalischen und kulturellen Anarchie zwischen 1967 und 1969 die Musik und mit Abstrichen auch die sozialen Verhältnisse Brasiliens revolutioniert hatte.9 Vor allem in den letzten Jahren scheint das Interesse an Tropicalia ein solches Maß erreicht zu haben, dass man heute zu Recht davon sprechen kann, dass Tropicalia so ange­sagt ist wie selten zuvor.

Nachdem Caetano Veloso und Gilberto Gil 1993 mit 'Tropicalia 2' dem 25- bzw. 26-jährigen Jubiläum der Bewegung gedachten, hat es - ohne Berücksichtigung der wissenschaftlichen Literatur10 - eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in den verschiedensten künstlerischen Bereichen (Musik, Literatur, Film, etc.) gegeben, die auf die Renaissance Tropicalias verwei­sen. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, ließen sich dies belegend auffüh­ren: Die Compilations 'The Tropicalia Style' (1996), 'Tropicalia 30 Anos', anlässlich des 30­jährigen Jubiläums, die fünffach CD-Box 'Tropicalia Essentials' (1999), 'Tropicalia: Millenni­um' (1999), 'Tropicalia: Gold' (2002) oder 'Novo Millennium: Tropicalia' (2005). Das Londo­ner Label 'Soul Jazz Records', das sich durch genreübergreifende Re-Releases und Compilations auf CD und Vinyl einen Namen gemacht hat, brachte mit 'Tropicalia: A Brazilian Revolution in Sound' (2005) und 'Brazil 70 After Tropicalia' (2007) gleich zwei Doppel-LPs heraus, die einen angemessenen Einblick in das “Genre Tropicalia“ gewähren.

Caetano Veloso veröffentlichte mit 'Verdade Tropical' 1997 seine ganz persönliche Retro­spektive Tropicalias, während der Musiker Beck derselben auf seinem Album mit dem be­zeichnenden Titel 'Mutations' (1998) eine “antropophagische“ Hommage widmete (vgl. Abb. 1).11 Nach dem Dokumentarfilm 'Astronauta Libertado' (2009) von Igor Iglesias über Tom Zé, stand besonders das Jahr 2012 mit 'Tropicalia' (Marcelo Machado), 'Tropicalismo Now!' (Ninho Moraes und Francisco César Filho) und 'Hélio Oiticica' (César Oiticica Filho) filmisch im Zeichen Tropicalias. 2013/14 präsentierte das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt mit der Ausstellung 'Hélio Oiticica. Das große Labyrinth' eine umfassende Retrospektive des­selben Künstlers. Exemplarisch für die Kommerzialisierung des Begriffs, sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Multikonzern 'Odebrecht', immerhin eines der größten Unternehmen Brasiliens mit Sitz in Salvador da Bahia, sein neuestes Projekt zum Bau von Luxusapparte­ments in Salvador mit 'Tropicalia' zu überschreiben.12

Tropicalia ist inzwischen also weit über die Forschung hinaus zum Diskussionsgegenstand internationalen Rangs gewachsen und heute als etabliertes Musikgenre und vermarktbare Marke zu einem gegenkulturellen Symbol „a la mode" mutiert. Die im Rahmen der vorlie­genden Arbeit vorgenommene Analyse der Identitätskonstruktionen innerhalb der Bewe­gung soll veranschaulichen, wie und warum es legitim ist, Tropicalia einen solchen Status zu bescheinigen. Davon ausgehend steht die zentrale These, dass Tropicalia sowohl Reflex transnationaler kultureller Strömungen als auch Ausdruck einer souveränen kulturellen Iden­tität war. Zwar liegt der Fokus der vorgenommenen Untersuchung auf der Musik und ihren Interpreten, gleichzeitig jedoch ist es unumgänglich, einige zentrale Akteure (wie bspw. Hélio Oiticica oder Glauber Rocha) von außerhalb des musikalischen Zweiges in den Diskurs um Tropicalia einzubinden, die für die Bewegung von essenzieller Bedeutung waren. Die Darstel­lung historischer Ereignisse ist eher als Begleitwerk zu verstehen und nicht immer chronolo­gisch, da es v.a. darum geht, größere Zusammenhänge zu erfassen als die Dinge im Einzelnen in ihrer korrekten Reihenfolge zu benennen. Was das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit über Musik betrifft, ist dem hinzuzufügen, dass jenes Unterfangen nicht ohne Subjek­tivität auskommt.

Ausgehend von den Konzepten kultureller und nationaler Identität, die Musik als Teilaspekt beinhalten, sowie einem im übergreifenden Sinne konstruktivistischen Verständnis der Be­griffe Kultur und Nation (und in Teilen auch Identität), das sich auf die diesbezüglichen Arbei­ten Eric Hobsbawns und Stuart Halls stützt, soll nachgezeichnet werden, wie sich Tropicalia erfolgreich vom staatlich vorgeschriebenen Diskurs und den daran geknüpften ästhetischen Vorstellungen in einem emanzipatorischen Prozess befreite. Auf diesen anfänglichen theore­tischen Diskurs folgt eine einführende Darstellung, die das Verhältnis der brasilianischen Musica Popular mit den jeweils vorherrschenden nationalkulturellen Identitätsdiskursen seit etwa dem 20. Jahrhundert bis Tropicalia beleuchtet. Musik dient dabei als Erzählinstrument, um den Verlauf hin zu komplexeren und wandelbaren Identitätskonstruktionen zu beschrei­ben, wie sie die Postmoderne nach Hall charakterisierten und damit einhergehend den da­rauf folgenden Bruch nachzuvollziehen, den Tropicalia in mehrerer Hinsicht für Brasilien be­deutete. Hier ist anzumerken, dass schon Charles Baudelaire in einem 1863 veröffentlichten Essay über Constantin Guys die Modernität als „das Vergängliche, das Flüchtige [und] das Zufällige" beschrieb.13 „Der Maler des modernen Lebens macht sich auf die Suche nach der flüchtigen Schönheit der Moderne, sucht sie in den Boulevards der Großstadt, inmitten der pulsierenden Menge".14 In diesem Sinne werden die Begriffe Moderne und Postmoderne im Folgenden bisweilen auch als fließend betrachtet.

Den Hauptteil der Arbeit nimmt die Analyse der Identitätskonstruktionen Tropicalias ein, deren regionale Einzigartigkeit als gegenkulturelles Phänomen über ihre identitätsstiftenden Vorlagen und Konzepte kenntlich gemacht wird. Eingebettet im Kontext der späten 1960er Jahre, welche von einer deutlichen Beschleunigung transnationaler gegenkultureller Strö­mungen - dafür die Ausbildung von Fusion, Chicha, Jamaican Ska oder Congolese Soukous für die Musik exemplarisch sind 15 - und einer neuartigen Protestkultur charakterisiert wa­ren, wird aufgezeigt, wie sich Tropicalia bei verschiedensten kulturellen Modellen bediente, um daraus schließlich, diese in sich aufsaugend und für ihre Zwecke kannibalisierend, eine "tropikalistische Identität" (als Bestandteil kultureller und nationaler Identität) abzuleiten, die im Folgenden - wenn auch in der Vorstellung mit jenem der Bewegung eigenen ironi­schen Unterton - als solche bezeichnet werden wird. Ausgangspunkt der Analyse und me­thodologische Grundlage der vorliegenden Arbeit sind die Lyrics v.a. der zentralen Interpre- ten Tropicalias, Caetano Veloso, Tom Zé und Gilberto Gil, bzw. deren Interpretation. Der abschließend vorgenommene Vergleich mit der deutschen Krautrock-Bewegung soll zeigen, dass Tropicalia auch als Reaktion auf die umwälzenden globalen Veränderungen bzw. den diesen vorausgegangenen avantgardistischen Tendenzen zu werten ist.

3. Musik und Identität

Musik, hier verstanden als Bestandteil von kultureller Identität, wird seit jeher als Medium von zentraler Bedeutung für die Konstruktion kultureller und nationaler Identitäten einge­nommen. „Sehr verschiedene, auf überregionalen wie regionalen Traditionen beruhende Musikformen zählen ohne Zweifel zum Grundbestand von kulturellen Identitäten oder vor­sichtiger gesagt: Sie werden - gern mit rückwärtsgewandtem Blick - zum entscheidenden Merkmal von gegenwärtiger kultureller Identität in einer Region oder Nation erhoben“, so Helmut Rösing.16 Da die Begriffe Nation und Kultur, die unser menschliches Wesen mit ihrem Totalitätsanspruch geradezu permanent durchdringen, für das Verständnis der vorliegenden Arbeit essenziell sind, bzw. ihr geistiges Fundament bilden, bedürfen sie unbedingt einer kritischen Reflexion. Diese, in den folgenden Kapiteln ausgeführt, bildet das theoretische Gerüst meiner Argumentation. Kulturelle Identität (und darin eingeschlossen Musik) wird als zentrales Element für die Konstruktion nationaler Identität verstanden. Die Beziehungen zwischen beiden sind jedoch wechselseitig, von daher eine getrennte Betrachtung lediglich aus Gründen der Übersichtlichkeit vorgenommen wurde. Für ein Tropicalia bezogenes Ver­ständnis von kultureller und nationaler Identität, wäre es demnach möglich, von besagter “tropikalistischen Identität“ zu sprechen, welche ausgehend von den modernistischen Mani­festen Oswald de Andrades, heute einen Teil der kulturellen Identität Brasiliens ausmacht. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die kommend zitierten Autoren vornehmlich aus einer postindustrialisierten kapitalistischen Perspektive argumentieren, die häufig ignoriert, dass der Mensch ursprünglich, von Natur aus, vielmehr im Einklang mit einer Kultur statt für eine bestimmte Kultur lebte.

3.1 Musik als Identitätsträger

Seit Pythagoras zeigte sich die Perfektion des Kosmos in den Zahlen und der Harmonie, die lange Zeit als gottgegeben galt. Im Mittelalter umfasste das Quadrivium als Weiterführung der 'Septem Artes Liberales' Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Erst 1863 erklär­te der Physiker Hermann von Helmholtz in seinem Aufsatz 'Die Lehre von den Tonempfin­dungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik', dass Harmonie nicht in den Sphären, sondern im Körper entsteht.17 Was die Aufführung von Musik anging, so war diese bis zur Produktion der ersten industriellen Grammophone gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch an einen festen Ort gebunden. Zuhörer konnte man nur sein, wenn man der musikali­schen Darbietung tatsächlich beiwohnte. Das hieß allerdings nicht, dass Musik keine gesell­schaftliche Rolle zukam. Man denke nur an den Realisten Verdi und die politische Dimension seiner Opern, in denen das Individuum um seine Selbstbestimmung kämpfte. Mit der einset­zenden Massenproduktion von Tonträgern wurde der Musikkonsum revolutioniert und de­mokratisiert, da die Musik, betrachtet man ihre Entwicklung verkürzt, von den elitären Zir­keln befreit, nun Einzug erhielt in die heimischen Wohnzimmer. Zwar war ihr Zugang durch den hohen Kostenaufwand für Tonträger und technische Abspielgeräte zunächst wieder der Elite vorbehalten, doch sorgten Radio und steigende Einkommen, zumindest innerhalb der westlichen Wohlstandsgesellschaft, bald für eine sprunghafte Expansion des Musikkonsums.

Die Erfindung der Vinyl-Schalplatte 1948 bedeutete den nächsten Quantensprung in der Mu­sikgeschichte, dem die moderne Popmusik und damit auch die kommerzielle Unterhal­tungsmusik auf dem Fuß folgten. Um die vorhandene Vielfalt musikalischer Produktion nach bestimmten Kriterien zu kategorisieren, bildeten sich im Kontext dieser Entwicklung diverse Differenzierungsmodelle, so die aus Deutschland bekannte Unterscheidung in E-, U- und F- Musik.18 Verallgemeinernd steht die Unterteilung in ernste oder ernstzunehmende Musik und Musik als Entertainment im Zentrum dieses Diskurses, der bis heute gepflegt wird. Die vorliegende Arbeit wird jedoch zeigen, dass solche Unterscheidungen nicht unbedingt sinn­voll sind. Insgesamt begann Musik den menschlichen Alltag immer tiefer zu durchdringen, wodurch ihre soziale Bedeutung stetig wuchs.

Wo immer Musik erklang, verwandelte sie sich in einen Bestandteil alltäglicher kommunika­tiver Handlung und in einen alltäglichen Kulturausdruck, was dazu führte, dass sie ihren ehemaligen Status eines exquisiten Kunstprodukts auf breiter Ebene einbüßte.19 Seit der Explosion des Rock 'n' Roll Mitte der 1950er Jahre, mit Elvis Presley als seinem kontroversem Superstar, wurden Identitätskonstruktionen massiv durch den jeweiligen Musikkonsum bzw. -Geschmack beeinflusst, der einmal in der Jugend ausgebildet, sich später oft relativ stabil verhält. Mit der Zeit entwickelte sich eine ausdifferenzierte Popkultur, die der Jugend Räume eröffnete, um sich unter dem Dach eines speziellen Musikstils als Bewegung zusammenzu­schließen. Exemplarisch dafür sind Bebop, Rock 'n' Roll, Beat, Pop, Punk, Hip-Hop oder Tech­no. Der Musiksoziologe Simon Frith unterstrich die Bedeutung von Musik für die kulturelle Positionierung des Individuums in der Gesellschaft, die über andere Formen der Populärkul­tur hinausgehe:

„[Die] Besonderheit der Musik wird normalerweise der Jugend und Jugendkultur zugeschrieben, doch scheint sie von gleicher Bedeutung für die Art und Weise zu sein, in der sich ethnische Gruppen ... ihre kulturellen Identitäten geschaffen haben, und sie wird auch in den ursprünglichen Bedeutungen reflek­tiert, die «klassische» Musik für die europäische Bourgeoisie im 19. Jahrhundert besaß. In all diesen Fäl­len ist die Musik in der Lage, für die unmittelbare Erfahrung kollektiver Identität zu stehen, sie zu sym­bolisieren und anzubieten".20

Die rasant zunehmende Verfügbarkeit und Wahlmöglichkeit von Musik erleichterten und zugleich verkomplizierten der Jugend später ihre Suche nach identitätsstiftenden Vorbildern. Als ständiger Begleiter der menschlichen Evolution, besetzt Musik, ähnlich der mit ihr ver­wandten Sprache, der gegenüber sie allerdings ein emotionaleres Medium ist, also eine wichtige gesellschaftkonstituierende Funktion.21 Ob Schlager als propagandistische Unter­haltungsmusik in Nazideutschland, Samba oder Bossa Nova als Soundtracks der "brasiliani­schen Moderne"22, Elvis Rock 'n' Roll für eine vergnügungssüchtige Nachkriegsgeneration, Woodstock für die Freiheitsträume der Hippie-Generation, Tropicalia als ein Ort soziokultu­reller Befreiung, Punk für die Entstehung der Do-it-yourself-Attitüde oder illegale Techno­Raves als kollektive Eroberung des öffentlichen Raums. An dieser Stelle ist die Unterschei­dung zwischen solchen musikalischen Spielarten vorzunehmen, die für propagandistische Zwecke missbraucht wurden und denen, die als gegenkulturelle Bewegungen eine Position eroberten, von der aus sie die Staatsmacht tatsächlich herausforderten, bevor sie - in den meisten Fällen - selbst zum Teil derselben wurden.

3.2 Nation und nationale Identität

„A identidade nacional é criada com o intuito de criar a imagem de uma nafäo consoante os interesses e critérios relevantes de cada periodo historico e o pensamento hegemonico, pelos quais se busca uma unidade, forjadora de um elo imaginario que une uma popula^ao e fortalece o conceito de nafäo e de sua soberania através de elementos e simbolos significativos".23

Walter Bagehot hat die Problematik einer Definition von Nation früh erkannt, indem er meinte, dass wir wissen, um was es sich handelt, solange uns niemand danach fragt, aber dass wir nicht in der Lage sind, es sofort zu erklären oder zu definieren.24 Eric Hobsbawn wies darauf hin, dass der Begriff in seiner modernen Bedeutung nicht älter als das 18. Jahr­hundert ist.25 Demnach stellte er in Frage, dass Nation für die gesellschaftliche Existenz oder gar die individuelle Identifikation ihrer Mitglieder etwas Ursprüngliches und Fundamentales sei.26 „Ebensowenig ist es möglich, „Nationalität“ auf eine einzige Dimension zu reduzieren, ob politisch, kulturell oder sonstwie (es sei denn, man wird durch staatliche Gewalt dazu genötigt)“, so Hobsbawn weiter. Ernest Renan hat es auf den Punkt gebracht: „Keine Nation ohne Fälschung der eigenen Geschichte“.27 Im Zuge seiner konstruktivistischen Nationalismustheorie in 'Imagined Communities' (1983) bezeichnete Benedict Anderson Nationen als „vorgestellte Gemeinschaften“, die man allerdings genauso gut symbolische nennen könnte. Aus anthropologischer Perspektive beurteilte Ernest Gellner Nationen als „Artefakte aus Überzeugungen, Loyalitäten und Solidaritätsbeziehungen“, wobei Angehörige einer gemeinsamen Kultur immer dann eine Nation bilden, wenn sie sich zueinander beken- Unter dem Eindruck persönlichen Leids formulierte Hannah Arendt ihre Kritik des National­staats als Geschichte der Ausgrenzung. Ihr zufolge gründe sich jener auf eine spezielle Ethnie und neige dazu, andere Ethnien, die sein Territorium ebenfalls besiedelten, zu benachteili­gen oder sogar zu vertreiben. So liegt die Erinnerung der Besiegten unter dem Fortschritt der Sieger begraben. Gleichzeitig ist es, wie im Fall Brasiliens, kaum möglich, zu einem Urzustand zurückzukehren, den es nicht mehr gibt und nicht mehr geben kann.28 29 Letzteres ist für das Verständnis der vorliegenden Arbeit von zentraler Bedeutung. Denn aus jenem Blickwinkel betrachtet sind wir gezwungen, Nation und Nationalstaat als (relativ) feste Konstanten hin­zunehmen, auch wenn der Prozess der Nationenbildung keineswegs als abgeschlossen und endgültig anzusehen ist, da die Geschichte uns gelehrt hat, dass Staatengebilde unter be­stimmten Umständen zerfallen und sich innerhalb ihrer ursprünglichen Grenzen neue Staa­ten konstituieren können.

Angetrieben von den Eliten, die daraus Profit zu schlagen hofften, konnte das Konzept der Nation im Verlauf seiner Geschichte eine so bedeutende Macht entwickeln, dass sich in der Folge Gefühle von Identität und Untertanentreue innerhalb der ansässigen Bevölkerung her­ausbildeten. Dabei wird häufig übersehen, in welch autoritärer Art und Weise der National­staat die Standardisierung, Homogenisierung und Verallgemeinerung von National kultur betrieb. „Nationale Kulturen konstruieren Identitäten, indem sie Bedeutungen der ,Nation' herstellen, mit der wir uns identifizieren können; sie sind in der Geschichte enthalten, die über die Nation erzählt werden, so Stuart Hall, Mitbegründer der Cultural Studies.30 Auf die Nation folgte die nationale Kultur - zumindest aus nationalstaatlicher Perspektive eine logische Konsequenz, die allerdings jede Auseinandersetzung ausklammerte die diesem Pro­zess voranging.

Anknüpfend an Michel Foucaults Machtanalyse sah Maria Bernardete Flores in der Nation weit mehr als nur eine rein formale Entität. Sie betonte, dass es sich bei der Nation um ein politisch-kulturelles Phänomen handele, welches sich zunächst der Körper der Individuen bemächtige, um darauf den kollektiven Leib der Nation zu formen.31 Neutraler resümierte Jessé Souza: „A identidade nacional é parte importante na composifäo da identidade individual de qualquer pessoa no mundo moderno. Nos nos definimos e somos o que somos em grande parte a partir desse pertencimento".32 Wie der Verlauf meiner Arbeit zeigen wird, strebte Tropicalia hingegen nach einem Bruch mit der als Anachronismus empfundenen na­tionalen Identität und den daran geknüpften Vorstellungen und Werten. Tropicalia symboli­sierte soziale und kulturelle Befreiung. Die Bewegung repräsentierte Aufbruch und Wandel, die Suche nach neuen Identitäten und Auswegen aus einem System, dessen Grenzen durch den Kanon der sog. Musica Popular Brasileira (MPB) präzise festgeschrieben waren. „In fact, I believed I was establishing a new way of being a poet that did not depend on the tradition­al rites of the trade“33, so Caetano Veloso in dem Versuch, sich von den überlieferten Tradi­tionen und Zwängen zu distanzieren. Die Militärdiktatur verhinderte es durch ihre Repressio­nen allerdings zunächst, dass die Protagonisten von Tropicalia die offizielle Deutungshoheit über ihr Projekt erlangten.

Selbstverständlich zielt der offizielle staatliche Diskurs stets auf die Darstellung eines homo­genen Kanons aus kulturellen und nationalen Identitäten, um bestimmte gesellschaftliche, konfessionelle oder ethnische Gruppen, soziale Milieus oder ganze Nationen voneinander abzugrenzen und den Zusammenhalt der eigenen dadurch zu stärken oder ihn überhaupt erst zu schaffen.34 Hall bezeichnete Nationalkultur als Diskurs, über den Bedeutungen kon­struiert werden, die unsere Handlungen genauso wie unser Selbstbild beeinflussen und be- stimmen.35 Dass das Repräsentationsmedium Musik ein zentraler Bestandteil für die Kon­struktion nationaler Identität ist, zeigen die einigende Wirkung von Nationalhymnen oder im Umkehrschluss die Schockwirkung jener, ihren ursprünglichen Kontext entfremdenden In­terpretation, an denen v.a. reaktionäre Nationalisten Anstoß nahmen. Exemplarisch für Letz­teres sind Karlheinz Stockhausens Adaption von 'Deutschland, Deutschland über Alles' (1966), die “Verstümmelung“ der amerikanischen Nationalhymne (1969) durch Jimmy Hend­rix oder die Reggea-Version der Marseillaise (1979) von Serge Gainsbourg.

3.3 Kultur und kulturelle Identität

Clifford Geertz unterstrich die eminente Bedeutung von Kultur für die menschliche Entwick­lung, indem er die Abhängigkeit des Menschen (im Gegensatz zum Tier) von der Kultur und ihren Symbolen hervorhob. Er beschrieb Kultur als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe" - von permanenten Wandlungs- und Umdeutungsprozessen gekennzeichnet, indem der Mensch verwickelt ist, während er seine genetisch bedingte kulturelle Weiterbildung be- treibt.36 Kultur sei daher weniger Schmuckwerk der menschlichen Existenz als vielmehr de­ren essenzielle Bedingung und Grundstein ihrer Besonderheit.37 Demnach wäre Kultur mehr als nur jene geistigen Werte, „die als Errungenschaften gelten und in Kunst, Literatur, Musik und Schauspiel reproduziert und fortgeschrieben werden".38

Kulturelle- und nationale Identität (bzw. die mit diesen verwandten nationale Kultur und - Erinnerung) sind keine statischen Begriffe sondern dynamische Konzepte. Ihr selektiver Ge­brauch impliziert Rassismus, indem er die Gemeinsamkeit einer Gruppe gegenüber einer anderen, als minderwertig wahrgenommenen, hervorhebt. Beide Oberbegriffe setzen sich puzzleartig aus mehreren Versatzstücken zusammen, dazu bspw. auch sprachliche-, ethni­sche- oder konfessionelle Identitäten gehören. Präzise Trennungen zwischen solchen sich überlappenden Identitäten vorzunehmen, ist ein komplexes und in vielen Fällen konfliktbe­ladenes Unterfangen. Letzteres wissen wir nicht erst seit Samuel P. Huntingtons irreführen­der Theorie des Clash of Civilisation. Im Osten Deutschlands bspw. zeigen gelegentlich auf­flammende Debatten um den Abriss oder Nichtabriss ehemaliger DDR- bzw. Sowjet­Monumente, wie offizielle kulturelle Identität ständig aufs Neue ausgehadelt wird.39

Fällt die Sprache auf kulturelle Identität, meinen wir das Gefühl einer bestimmten uns um­gebenden Kultur anzugehören, deren Werte, Bräuche, Normen, Denkweisen, Sanktionen, Symbole, Traditionen und Paradigmen wir über dynamische Auswahlprozesse und dialekti­schen Austausch entlang unseres Lebens übernehmen. Kulturelle Identität ist also ein sozia- les Konstrukt, kein auf natürliche Weise ererbter Privatbesitzt eines Individuums. Hall, der sich in seinen Cultural Studies intensiv mit der triangulären Beziehung Kultur-Macht-Identität auseinandersetzt, sieht Identitätsbildung v.a. als einen unabgeschlossenen Prozess.40 Für die sog. postmoderne Konzeption definierte er Identität als ein „bewegliches Fest", das - von politischen, historischen und kulturellen Verhältnissen bestimmt - kontinuierlicher Bildung und Veränderung unterworfen sei.41 Im Hinblick auf Sigmund Freuds Psychoanalyse könnte man von verstreuter Identität sprechen. Jede Vorstellung von einem nativen unveränderli­chen Selbst wird aus dieser Position entschieden abgelehnt. Das „Subjekt", bei Hall Träger von Identität, sieht dieser stattdessen inmitten aufgelöster gesellschaftlicher Strukturen ver­ortet. Es müsse sich demnach in einer Welt moderner Globalisierungsprozesse zurechtfin­den, die von Geschwindigkeit, Wandel, Diskontinuität und Zerstreuung geprägt seien.42

Die Tropicalistas entschlossen sich vor diesem Hintergrund zu einem bewussten Bruch mit den als unzumutbar empfundenen Zuständen in Kunst und Gesellschaft, die sie durch einen dynamisch-kulturellen Assimilationsprozess restrukturieren wollten. „O fragmento, o mundo espeda^ado e a descontinuidade marcam definitivamente a produ^ao cultural e a experiencia de vida (. ) dos integrantes do movimento tropicalista",43 stellte Heloisa Buarque de Hollanda fest. Seit Judith Butlers Queer-Theorie, die Ausschlussdenken dafür kritisiert, dass dieses ein identitäres Subjekt als Ausgangspunkt überhaupt erst benötige,44 scheint es - wie im Fall der „Queer-Performance-Künstlerin" Ms. Vaginal Davis - sogar mög­lich, Tropicalia und "queer" miteinander in Verbindung zu bringen. So stand Davis' Perfor­mance im Rahmen der Ausstellung 'Hélio Oiticica im Palmgarten' in Frankfurt unter dem bezeichnenden Motto 'Lesbi Tropicalia'.45 Blickt man von heute auf die schrillen Tropicalia- Outfits von damals zurück, wirkt diese Assoziation nicht allzu weit hergeholt.

Mit Eric Hobsbawn (oder auch Andersson) ist der konstruktive Charakter von Identitäten hervorzuheben. Der marxistisch geprägte Sozialhistoriker beschäftigte sich u.a. mit der Re­konstruktion von Tradition (und im größeren Zusammenhang mit den willkürlichen Kriterien der Konstruktion ganzer Nationen). In 'The Invention of Tradition' (1983) - einem seiner be­kanntesten Werke - untersuchte er den Charakter erfundener Traditionen. Demnach erfin­den oder manipulieren herrschende Eliten Traditionen (genauso wie kulturelle oder nationa­le Identitäten, vgl. Kap. 3.2), um dadurch bestimmte national-kulturelle Werte zu stärken bzw. jene überhaupt erst auszubilden. Dieser Eingriff werde inszeniert, so Hobsbawn, um eine Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart zu gewährleisten.46 Damit der Mensch sich in “seiner“ Lebenswelt zuhause fühle, müsse ihm der Eindruck von Geborgenheit ver­mittelt werden, indem ihm suggeriert werde, dass sich seine Lebenswelt schon immer ge­nauso wie im Hier und Jetzt verhielt. Von einer „psychic continuity“ spricht Noam Chomsky, womit er die bereits in jungem Alter ausgeprägte Neigung meint, bestimmten Dingen und Sachverhalten eine Kontinuität zu bescheinigen.47

Ist die Selbstbestimmung von Identität schon ein permanentes Ringen mit der eigenen Per­son, so wird die Angelegenheit noch komplexer, versuchen wir die Identität des Anderen oder Fremden zu begreifen. Dies gilt im Wesentlichen auch für die vorliegende Arbeit, da diese ebenfalls nur einen Versuch darstellt, eigentlich offene künstlerische Räume oder Iden­titäten in eine adäquat erscheinende Kategorie einzuordnen und damit wiederum künstlich einzugrenzen. Um gemeiner Stereotypenbildung vorzubeugen, sollte jeder Diskurs über Identität zumindest kenntlich machen, ob er selbst- oder fremddefiniert ist. In Europa erle­ben wir es ja bspw. täglich, dass rhythmische percussionlastige Musik unreflektiert zu “afri­kanischer“ Musik verallgemeinert wird, allein weil wir uns nicht bemühen, die Dinge aus ei­ner differenzierteren Perspektive zu betrachten.

Ein Beispiel soll den problematischen Zusammenhang von Musik und Identität verständlicher machen. San Basilio de Palenque ist ein kolumbianisches Dorf in der Nähe Cartagenas, dem einstigen zentralen Sklavenhafen der Region. Palenque ist die letzte Verbliebene jener Sied­lungen, die entlaufene Sklaven dort vor mehr als 400 Jahren gegründet hatten. Die Dorfbe­wohner sind zugleich die Bewahrer der einzigen, hauptsächlich spanischbasierten Kreolspra- che Palenquero. Der Dokumentarfilm 'Jende ri Palenge' von Santiago Posada und Simon Meija zeigt das von musikalischen Traditionen bestimmte Leben der Dorfgemeinschaft, de­ren "Ursprünge" sich bis nach Afrika zurückführen lassen. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass ein Dorfbewohner sich und seine Mitmenschen als Angolaner statt als Kolumbianer identifiziert. Die Identifikation erfolgt in diesem speziellen Fall über ihre musikalische Tradition, deren Wurzeln in einem afrikanischen Land verortet werden, dass der Sprecher bisher nicht einmal betreten hat.48

Eine dermaßen romantisierte Sichtweise, die an die Rückführungsversuche des schwarzen Nationalisten Markus Garveyerinnern,49 verweist auf die Kontroverse zwischen Anhängern kultureller Bewahrungsstrategien und ihren Gegnern, die Kultur als dynamischen und in fortwährendem Wandel begriffenen Prozess verstehen - eine Auseinandersetzung, die im Zuge der Globalisierung vermutlich weiter zunehmen wird. Dabei drängt sich die Frage auf, wann es überhaupt sinnvoll ist, Klassifizierungen vorzunehmen. Gerade in urbanen Zentren, wo zahlreiche musikkulturelle Traditionen miteinander sich vereinen und verschmelzen, ist es problematisch, diese aufgrund ihrer Herkunft voneinander abzugrenzen. Auch bei Tropicalia handelt es sich letztlich um ein typisches transnationales Fusionsprodukt seiner Zeit, das Kultur als offenes Feld begriff - ein Ansatz, dem ich mich anschließen möchte. Im Hinblick auf Brasilien, einem Ort vielschichtiger kultureller Überlappungen, die seinen kultu­rellen Reichtum überhaupt erst ausmachen, würde es der nationalen Identität in keinem Fall gerecht werden, wenn man das unverkennbare afrikanische oder portugiesische Erbe, oder die Spuren diverser anderer Kulturen zugunsten einer rein nationalistisch fixierten Brasilidade ausklammerte. Anknüpfend an die Modernistas sollten sich die Tropicalistas die­sem Antagonismus schnell bewusst werden, was darin gipfelte, dass „[t]he very notion of a unitary "Brazilian culture" became untenable due, in part, to the tropicalist intervention".50

4. Die Musica Popular als Narrative nationaler Identität in Brasilien

„A musica, sobretudo a chamada 'musica popular', ocupa no Brasil um lugar privilegiado na historia sociocultural, lugar de mediates, fusoes, encontros de diversas etnias, classes e regioes que formam o nosso grande mosaico nacional. Além disso, a musica tem sido, ao menos em boa parte do século XX, a tradutora dos nossa dilemas nacionais e veiculo de nossas utopias socias".51

Um den einschneidenden Bruch zu verstehen, den Tropicalia in Brasilien für die nationale Kultur (und Identität) bedeutete, sollen im folgenden Abschnitt einige Entwicklungen skiz­ziert werden, die darlegen, wie die Musica Popular vor Tropicalia im offiziellen Diskurs wahr­genommen wurde. Größere Sprünge in der Geschichte lassen sich dabei genauso wenig vermeiden, wie die Aussparung einiger Argumente. Doch geht es vielmehr um die Darstel­lung der Musica Popular als Narrative der offiziellen nationalen Identität in Brasilien. Denn gerade in diesem musikalisch so vielfältigen Land war und ist das populäre Liedgut ein wich­tiger Entstehungsort für neue kulturelle und nationale Identitäten. An dieser Stelle ist erneut darauf hinzuweisen, dass nationale Identität keine natürliche Identität und damit kein biolo­gisches Attribut darstellt, das Individuen durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Na­tion erwerben, sondern ein konstruiertes Produkt, das ein Teil unseres kulturellen Erbes ist.

„Nao nascemos com uma identidade nacional, ela é formada e transformada de acordo com as representaföes que vamos adquirindo e criando. Nafäo é, resgatando Benedict Anderson (1989), uma comunidade maginada com suas institutes culturais, seus simbolos e representaföes, com seu modo de construir sentidos e, portanto, de construir identidades".52

Im Verlauf der Ausbreitung des Kapitalismus, wachsender Urbanisierung und der Entstehung neuer sozialer Klassen wie den Arbeitern großer Fabriken, kam es in Brasilien gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu bedeutenden Veränderungen innerhalb der Musica Popular. Im Fol­genden entwickelte sich diese entlang der "neuen" gesellschaftlichen Verhältnisse, die von rasantem Wandel geprägt waren. Liedgut (und Tanz) wirkten dabei als soziale Katalysato- ren.53 Anfang des 20. Jahrhunderts verstärkte sich die Kommerzialisierung der Musik, welche fortan v.a. in den urbanen Zentren des Landes in steigender Auflage vertrieben wurde. Stammten die Autoren der Musica Popular zumeist aus marginalen Gesellschaftsschichten, gehörten die Käufer der Elite an. Obwohl die Musica Popular demnach vornehmlich aus den unteren sozialen Klassen hervorging, war es ihr gerade in Brasilien - nach Marcos Napolitano „sem duvida uma das grandes usinas sonoras de planeta, (...) um lugar privilegiado nao apenas para ouvir musica, mas também para pensar a musica“54 - vorbehalten, stets eine zentrale Rolle bei der Ausbildung und Konsolidierung nationaler Identität einzunehmen.

4.1 Nationalismus und Modernismus

In Anlehnung an Rousseau, der Musik als unverfälschte Stimme der Natur begriff,55 schien diese den brasilianischen Nationalisten um die Mitte der 1920er Jahre ein überaus originales Darstellungsmittel ihrer Brasilidade, d.h. des brasilianischen Wesens. Nach Mario de Andra­de, mit seinem Namensvetter Oswald de Andrade intellektueller Wegbereiter eines von na­tionalistischen Tendenzen gekennzeichneten brasilianischen Modernismo, symbolisierte Folklore die Grundlage aller brasilianischen Musik. Urbane Populärkultur lehnte er hingegen ab, da er in dieser ein von externen Einflüssen verunreinigtes Konsumprodukt sah - eine aus heutiger Perspektive eher archaische Auffassung, die dem dynamischen und offenen Kultur­begriff entschieden widerspricht.56 In den frühen 1920er Jahren war es unter den brasiliani­schen Modernisten und Intellektuellen allerdings weit verbreitete Ansicht, folkloristische Musik als leuchtendes Beispiel eines authentischen nationalen Ausdrucks hervorzuheben. Diese nationalistische Verklärung ging soweit, dem brasilianischen Wesen eine genetische Musikalität einzuschreiben, deren Typologie man auf regionale geographische Besonderhei­ten zurückführte.57

4.2 Samba in Vargas' Estado Novo

In den 1930er Jahren führte die Expansion des Radios dazu, dass aus Afrika stammende Rhythmen, darunter die miteinander verwandten Samba und Candomblé, in den urbanen Zentren unabhängig sozialer Klasse oder Hautfarbe rasche Verbreitung fanden. Mit dem Ziel Brasilien zu einen, wurde Samba unter dem autokratischen Regime Getulio Vargas (1930-45 und 1950-54) schließlich zur offiziellen „nationalen Musik" (v)erklärt und besetzte fortan eine institutionalisierte Schlüsselrolle bei der äußeren kulturellen Wahrnehmung Brasiliens. Besonders während des Estado Novo (1937-45)58 machten die Autoritäten ihren Einfluss auf die Musica Popular geltend: „Nao devemos esquecer que as instâncias culturais oficiais (municipais e federais) interviram no mundo da musica popular, tentando enquadra-lo sob politicas culturais de promo^ao civico-nacionalista”.59

Vargas instruierte einen Deutungswandel des Sambas, indem er ihm seiner Herkunft - die armen Vororte Rios - und seiner sozialen Inhalte beraubte, um ihn stattdessen in staatlich gemilderte Fahrwasser zu überführen. In der Folge entstanden neue Stile wie der patrioti­sche, nationalistische oder didaktische Samba, die in den 'Escolas de Samba' ab Mitte der 1930er Jahre staatliche Förderung erfuhren. 'Aquarela do Brasil' von Ary Barroso (1939) wurde in und außerhalb Brasiliens zum Hit und definierte die „brasilidade autentica" als harmonische Mestizo-Kultur aus Karneval und Samba. Während das vom italienischen Fa­schismus inspirierte populistische Vargas-Regime die Industrialisierung vorantrieb und damit eine brasilianische Moderne begründete, die sich in den urbanen Zentren des Landes auf Massenproduktion und -Konsum stützte, suchten Intellektuelle wie Gilberto Freyre ('Casa- Grande & Senzala', 1933) oder Sérgio Buarque de Holanda ('Raizes do Brasil', 1936) - letzte­rer wie Oscar Niemeyer Ende der dreißiger Jahre dem Kreis von Künstlern und Intellektuellen angehörend, die durch den liberalen reformorientierten Bildungs- und Gesundheitsminister Gustavo Capanema in das Regierungs-Projekt des „Neuen Brasilien" eingebunden wurden - nach den historischen und sozialen Bedingungen für die Konstitution der brasilianischen Zivi­lisation, die sie im Sinn einer vermeintlichen rassischen und kulturellen Hybridität (v)erklärten.

Damit waren der Mythos der „democracia racial" und die nationale Mestizo-Identität gebo­ren - zwei mit Abstrichen bis heute gültige kulturelle Deutungsmuster der Brasilidade, die allerdings auch dafür hinhalten, den fortdauernden Rassismus im Land zu verleugnen, ob- wohl oder gerade weil die nationalen Machtstrukturen dieses vermeintlich harmonische Verhältnis der Rassen keineswegs reflektieren: „Pode-se verificar no Brasil manifestaöes concretas e materiais do racismo. Uma das mais importanteséapropria invisibilidade dessas communidades na estrutura de governo, da economia e dos meios de comunicaao".60

Dem nationalen Wahlspruch „Ordem e Progresso" folgeleistend, hatte die Vargas - Administration den Grundstein für das Fortschritts- und Modernitätsideal des, um mit Sérgio Buarque de Hollanda zu sprechen, „reichen armen Brasiliens" gelegt, darin Diva Carmen Mi­randa die schillernde Botschafterin eines "Samba for Export" darstellte.61 Nach dem Ende von Vargas zweiter, diesmal demokratischer Amtszeit, sollte unter Nachfolger Juscelino Kubitschek (1956-61) mit Bossa Nova die nächste musikalische Revolution über Brasilien hereinbrechen:

„ [A] eclosao da Bossa Nova, em 1959, iria marcar o surgimento nao so de uma outra historicidade para a esfera da musica popular, mas também o surgimento de um outro pensamento musical, mais voltado para a valorizafäo da mistura dos gèneros musicais brasileiros com as tendèncias modernas da musica internacional de mercado, como o jazz e o pop".62

4.3 Bossa Nova als Reflexion der brasilianischen Moderne

In den späten 1950er Jahren galten simple Melodien, abgestumpfter Nationalismus und re­petitive Sambarhythmen gegenüber dem sich durch musikalische und lyrische Raffinesse auszeichnenden Bossa Nova in Brasilien als old-fashioned. Im Zuge von Kubitscheks Projekt eines visionären neuen Brasiliens entstanden, wirkte der neue Musikstil wie die perfekte Begleitmusik der Kampagne „cinqüenta anos em cinco", die einen Teil Brasiliens aus der "dritten" in die "erste" Welt katapultierte. Wie kaum eine andere künstlerische Bewegung reflektierte das „verdadeiro movimento cultural urbano"63 Bossa Nova damit die Errungen­schaften einer brasilianischen Moderne, deren Optimismus sich auf rasanter Industrialisie­rung, den Bau großer Verbindungsstraßen, die Konstruktion der neuen Hauptstadt Brasilia - ein in Beton gegossenes futuristisches Manifest der Moderne - und den Gewinn der ersten Fußballweltmeisterschaft gründete. Als Joao Gilberto, Tom Jobim, Vinicius de Moraes und ihre kongenialen Partner von Rios Zona Sul ausgehend den Bossa Nova-Sound durch eine Fusion aus Sambarhythmen und Cool Jazz schufen, revolutionierten sie die nationale Musik­kultur damit über Nacht.

Bossa Nova verwandelte sich in ein „veiculo de forma^ao de uma identidade cultural que se difunde posteriormente em âmbito nacional", so Manuela Chagas Manhaes.64 Allerdings entstammten die zumeist unpolitischen Protagonisten des Bossa Nova größtenteils der elitä­ren weißen Mittelschicht von Rio de Janeiro, wo Hedonismus, Dandytum und bourgeoiser Lebensstil ineinander flossen und man sich bewusst von den überwiegend prekären Verhält­nissen im Land abgrenzte. 'O amor, o Sorriso e a Flor' (1960), der Titel des zweiten Albums von Joao Gilberto ist in diesem Sinne wörtlich zu nehmen. Durch den Film 'Orfeu Negro' (1959) erreichte die Musik Jobims, Moraes' und Luis Bonfas erstmals ein breiteres interna­tionales Publikum. Die Zeit war reif, dass sich Bossa Nova über Brasiliens Grenzen hinweg in die USA ausbreitete - Ausdruck davon waren sowohl das Konzert in der New Yorker Carnegie Hall (1962), bei dem seine Repräsentanten erstmals im Ausland auftraten als auch der Elvis- Song 'Bossa Nova Baby' (1963).

Die in der brasilianischen Musikgeschichte bestehende Tendenz zur Folklorisierung der Musica Popular erlebte mit Aufkommen des Bossa Nova einen ersten Niedergang, da dieser die kulturelle Befreiung des Samba weniger über Folklore sondern vielmehr über einen äs­thetischen Bruch vollzog, der sich an der Moderne orientierte. Letztere meinte nicht zuletzt die Entstehung einer rasch wachsenden nationalen Kulturindustrie, mit daraus sich ableiten­den Marktkriterien, welche die Kulturproduktion stärker monetarisierten. Zwar muss man mit der pessimistischen Perspektive eines Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno nicht gänzlich übereinstimmen, der zufolge Kulturindustrie ein standardisiertes System des Mas­senschwindels repräsentiere, dass Kreativität und kritisches Denken ersticke. Andererseits wäre es gefährlich auszublenden, dass Kultur zumindest in den urbanen Zentren der Welt zur Ware degradiert wurde und man Kunst fortan neben ästhetischen Kriterien vor allem auch über seinen ökonomischen Wert definierte.

Die Poetas Concretas6 aus Sao Paolo suchten dieses scheinbare Paradoxon in den 1950er Jahren zu überwinden, indem sie sog. „Produkt-Gedichte" schufen, die entgegen der lyri­schen Poesie als „nützliche Objekte" gedacht waren.65 66 Im Zentrum dieses Diskurses stand der von Décio Pignatari konzipierte „Produssumo" (Produ^ao + Consumo), eine „poetry of invention in mass consumption", die den adornoschen Skeptizismus überwinden sollte.67 Mit ihrer Auffassung von Kulturindustrie als einem Medium, das künstlerische Produktion her­vorbringe und fördere, wurde der Concretismo Tropicalia zum Vorbild. Im Zuge der kapitalis­tischen Modernisierungen Brasiliens konsolidierte sich die markt- und konsumorientierte Entwicklung des Landes, das während der 1960/70er Jahre eine enorme Produktionssteige­rung kultureller Güter erlebte und in der nationalen Musikindustrie zur Gründung neuer Mu­siklabel wie Elenco oder Ablegern von Odeon und Phillips führte.68

Die zunehmende Kommerzialisierung von Musik führte in Brasilien zur Herausbildung von gegensätzlichen Wahrnehmungsmustern der "Masse". Während linke Aktivisten der von der Militärdiktatur ausgebeuteten und unterdrückten Bevölkerungsmehrheit - dem „povo" - eine aktive Rolle zuschrieben, stellten jene für die neureichen Medienzare der nationalen Kulturindustrie nicht mehr als ein passives „publico" dar. Jenen Unterschied reflektierte die von der Militärdiktatur forcierte konservativ-technokratische Modernisierung des Landes, die Kapitalkonzentration und technologischen Fortschritt gegenüber jeglicher Form der Sozi­alpolitik begünstigten. Innerhalb dieser neugeordneten Verhältnisse betonte Néstor Garcia Canclini den Zusammenhang von Kulturkonsum und Identität, indem er davon ausging, dass Ersterer Letztere definierte und konfigurierte, wobei er den jeweiligen Zugang zu Kultur für entscheidend erklärte.69 Eine radikalere und pessimistischere Ansicht vertrat der italienische Intellektuelle Pier Paolo Pasolini, der die gesamte humanistische Tradition von der neuen Massenkultur und dem von der Technologie geschaffenen - und perspektivisch auf Jahrhun­derte ausgerichteten - neuen Verhältnis zwischen Produkt und Konsum zerschlagen sah.70

Während das florierende Massenkommunikationsmittel Fernsehen - dessen Einfluss auf kulturelle oder national Identitäten eigentlich Gegenstand einer eigenständigen Untersu­chung sein müsste, im Rahmen dieser Arbeit jedoch allenfalls am Rande behandelt wird - sich des Bossa Novas mittels Übertragung und Inszenierung von TV-Festivals bemächtigte und seine Protagonisten in nationale Ikonen verwandelte, stellten sich konservative Kritiker wie José Ramos Tinhorao jener Moderne trotzig entgegen, indem sie „a ,pureza' de uma musica com ,raizes' brasileiras"71 gegenüber vermeintlich schädlichen externen Einflüssen verteidigten. Diese frühe Debatte (1963) zwischen Schöpfern und Kritikern des Bossa Nova zeigte, „por um lado, que a questao nacional e a reflexao sobre a nossa identidade estava na ordem do dia; e, por outro, que as transformaföes propostas por uma nova gerafäo incluiam o dialogo mais aberto com o estrangeiro, sem demoniza-lo, demonstrando uma visao menos estreita do pais e nao mais aceitando uma identidade nacional fixa e imutavel".72

Dass praktisch die gleiche Auseinandersetzung wenig später um Tropicalia wieder aufflammte, zeigt wie selbstentlarvend die reaktionär-nationalistischen Argumente Tinhoraos sind, wenn er Bossa Nova aufgrund seiner Akzeptanz US-amerikanischer Einflüsse Ausverkauf und fehlende Originalität vorwirft: „a bossa nova, no que se refere a paternidade, vive até hoje o mesmo drama de tantas crian^as de Copacabana, o bairro em que nasceu: nao sabe quem é o pai".73 Ein identisches Argument lieferte Caetano Veloso, der in seiner Retrospektive 'Tropical truth' die brasilianische Existenz durch die Brille des italienischen Psychoanalisten Contardo Calligaris beleuchtete: „everything is explained in relation to the lack of the name of the father, of a "national signifier".74 Spinnt man diese Idee (musikbezogen) weiter, gerät man jedoch zwangsläufig in einen Teufelskreis, wie der Musikers Edu Lobo treffend formulierte:

„Quando se chama de autèntico so o samba, comete-se um equivoco. Dizer que bossa nova sofreu influencias do jazz como fator negativo, chega a ser chomico porque entao seria preciso lembrar que o samba tem influencia africana e chegariamos ao caos, sem encontrar nenhuma musica autentica. Porque dizer que um é autèntico e outro nao?"75

Hier begegnen wir erneut einer nach meiner Auffassung angemessenen Interpretation von Kultur als einem dynamischen und offenen Feld. Im Zeitalter totaler Reproduzierbarkeit sind Zusprechung oder Aberkennung von künstlerischer Authentizität aufgrund oftmals unzurei­chend feststellbarer Urheberschaft ohnehin problematisch. Der Siegeszug des Bossa Nova und damit der brasilianischen Musik insgesamt konnte durch jene Debatten um Tinhorao jedoch nicht mehr aufgehalten werden. Seinen Höhepunkt erreichte er schließlich 1964 mit der 'Girl from Ipanema'-Version von Joao Gilberto, Stan Getz und Astrud Gilberto. Dass diese idyllische “tropical vision" von Brasilien den Startschuss für eine 21 Jahre dauernde Militär­diktatur liefern würde, hinterließ in diesem Zusammenhang jedoch einen mehr als nur faden Beigeschmack.

4.4 Die Musica Popular Brasileira und der Beginn komplexer Identitätskonstruktionen

Als die Militärdiktatur Brasilien mit ihren Panzern überrollte und den linken Tendenzen unter der Regierung Joao Goularts (1961-64) damit gewaltsam ein Ende versetzte, war für den “unschuldigen“ Optimismus des Bossa Nova kein Platz mehr im Land. An seine Stelle rückte die Musica Popular Brasileira (MPB) - wesentlich unkonkretere Bezeichnung einer Stilrich­tung, der man v.a. diejenigen Interpreten zurechnete, die als Vertreter eines eklektischen post-Bossa Nova galten und aus der urbanen Protestkultur hervorgegangen waren, die sich nach dem Putsch in den Metropolen Sao Paolo und Rio de Janeiro herausgebildet hatte. Al­lerdings ist es problematisch Kriterien festzulegen, nach denen man die MPB stilistisch ge­nauer definieren könnte. Jairo Severiano bezeichnete 'Arrastao', das von Edu Lobo und Vinicius de Moraes komponiert und von Elis Regina auf dem '1. Fesival Nacional de Musica Popular Brasileira' (TV Excelsior, 1965) uraufgeführt worden war, als Geburtsstunde der MPB.76 Erst gegen Mitte bis Ende der 1960er Jahre wurde die neue Spielart des Bossa Nova - so wie auch im Rahmen dieser Arbeit - unter dem verallgemeinernden Banner MPB zusam- mengefasst, welches zumeist auch Tropicalia umschloss.77 Der neuen sozialen Realität einer brutalen Diktatur geschuldet, war diesem "zweiten" Bossa Nova von Anfang an ein polit i- scher Moment inhärent, was sich in Protestliedern wie 'A Banda' (Chico Buarque, 1966), 'Disparada' (Geraldo Vandré, 1966) oder 'Ponteio' (Edu Lobo, 1967) ausdrückte.

Um Kritik an dem repressiven Machtapparat zu äußern, bedienten sich die MPB-Künstler eines Systems aus Symbolen, Metaphern und Allegorien. So vollzog sich ein allmählich wahr­nehmbarer soziokultureller Bruch in der nationalen Musikkultur Brasiliens, der über die äs­thetische Stilrevolution des Bossa Nova hinausging, zur Herausbildung einer „identidade socio-politico-cultural"78 führte und Tropicalia damit gewissermaßen ankündigte. Entgegen­gesetzt und parallel dazu, entwickelte sich mit Jovem Guarda79 eine nationale, ihre interna­tionalen Vorbilder imitierende Rockbewegung, die unter den klassischen Anhängern der MPB - „estudantes universitarios de classe média, ligados ao PCB [Partido Comunista Brasileiro]"80 - jedoch als Produkt eines US-amerikanischen Kulturimperialismus vehement abgelehnt wurde. Zu den Verweigerern zählten in überwiegendem Maße auch die Musiker der MPB, denen trotz ihrer teilweise sehr heterogenen musikalischen Verortung, eine Ten­denz zur Verteidigung der musikalischen Traditionen Brasiliens gegen Einflüsse "importier­ter" Popkultur und hier besonders gegen den US-amerikanischen Rock 'n' Roll gemein war. Den Tropicalistas war es schließlich vorbehalten, diese starre und nationalistisch überstei­gerte Haltung zu widerlegen. Was die MPB betraf, so verwandelte sich diese - ähnlich Bossa Nova oder später auch Tropicalia - allmählich in ein Markenzeichen brasilianischer Musikkul­tur, dafür sich die Gründung der populären Gruppe 'MPB4' (Kurzform für Musica Popular Brasileira 4) exemplarisch anführen ließe.

Die MPB zeichnete aus, dass einige ihrer Protagonisten den Grundstein für politisches Enga­gement innerhalb der nationalen Musikszene legten - wenn dies auch zunächst sehr einge- schränkt. Während das Militärregime um kulturelle Gleichschaltung bemüht war, zu diesem Zweck es sich der nationalen Symbole bemächtigte und dabei von einer traditionellen Elite unterstützt wurde, die an einer Verteidigung althergebrachter Werte interessiert, sich jed­weder Bestrebung nach sozialem Wandel entgegenstellte, standen die progressiven (hier und im Folgenden in einem optimistischen Sinne verwendet) Vertreter der MPB für den Ver­such einer „definifäo do que era ser brasileiro, propondo-se a rediscutir a identidade nacional em outros moldes".81 Allerdings durchlief die MPB im folgenden Verlauf ihrer Ent­wicklung auch eine reaktionäre Transformation zu „um dos indices mais fortes da brasilidade e do ,orgulho nacional'".82

Einige der MPB zugerechneten Interpreten blieben Wortführer bei der kontrovers geführten Debatte um Identität und Nation in Brasilien, die jedoch erst mit Tropicalia in einen tatsäch­lich offeneren und dynamischeren Dialog eintrat. Letzteres ließe sich nach Hall entsprechend der Identitätskonzeption des postmodernen Subjektes deuten, das jener als flüchtig, hetero­gen, zerstreut und miteinander konkurrierend beschrieb.83 In einem größeren Zusammen­hang betrachtet, reflektierte die MPB demnach eine durch die Globalisierung angestoßene interkulturelle Hybridisierung, innerhalb derer die Karten bei der Konstruktion ethnischer, konfessioneller, nationaler oder kultureller Identitäten neu vermischt wurden. Letzten Endes bedurfte es jedoch der Entstehung Tropicalias, um Brasilien den Spiegel seiner kulturellen Diversität unwiderruflich vorzuhalten.

5. Identitätskonstruktionen bei Tropicalia

„The creativity, danger, humor, politics and weirdness, mirror and match our own 60s and 70s, but it's all just a little different...The issues this movement dealt with - race, identity, high vs. low culture, North vs. South - are all issues we ourselves deal with every day. Here are clues to the puzzle that is our own identity - clues picked up in an alternative universe and brought back and decoded”.84

Heute wird Tropicalia als popkulturelle Revolution gefeiert, die enorme nationale aber auch internationale Anerkennung genießt - nicht zuletzt, weil sie uns vom Westen aus betrachtet, zunächst wie ein Ableger ihrer vermeintlichen US/UK-Vorbilder erschien. David Byrne, Band­leader der 'Talking Heads' und entscheidend dafür verantwortlich, dass die MPB und Tropicalia Ende der 1980er Jahre auch außerhalb Brasiliens Gehör fanden, sah in der Narrati­ve Tropicalias „an alternative version of our own past".85 Warum aber stellte Tropicalia in Brasilien einen so wahrnehmbaren Bruch mit der Tradition dar und was machte die Bewe­gung so einzigartig, dass sie sich über ihre Lyrics, ihren Stil und ihre gesamte Ästhetik derma­ßen von anderen zeitgenössischen Trends abhob und heute damit zu Recht als neoavantgar­distische Strömung von bedeutendem kulturellem Wert gilt. Und in welcher Weise trug die­ses neue Genre - betrachtet als Ausgangspunkt neuer gesellschaftlicher Diskurse - zur Iden­titätsbildung bei, bzw. führte zu einer radikalen Neupositionierung der nationalen Identität in Brasilien? Es sind dies einige Fragen, die im Verlauf des ersten Hauptblocks der vorliegen­den Arbeit behandelt werden.

Daneben wird Tropicalia im Gegenlicht der globalen gegenkulturellen Strömungen vom Ende der 1960er Jahre beleuchtet, die sich im Zuge der globalen Protestwelle in aufsehenerregen­der Weise v.a. auch durch Musik artikulierten. Daran anknüpfend und als Exkurs verstanden, wird abschließend ein Vergleich mit der deutschen Krautrock-Bewegung angestellt, um zu zeigen, dass in der Peripherie angesiedelte gegenkulturelle Phänomene, obgleich in ganz unterschiedlichem Kontext verortet, durchaus signifikante Berührungspunkte besaßen. Den Hintergrund dieser Perspektive bildet die in den 1960er Jahren stattfindende Revolution in den Informations- und Kommunikationstechnologien, die mit dem Durchbruch des Fernse­hens als ihrem zentralen Akteur die Gesellschaften des Zentrums in extremer Weise verän­derte.

Demzufolge entstand Tropicalia in einer von frühglobalen Prozessen geprägten Zeit, darin zumindest besagte Gesellschaften des Zentrums eine „Zeit-Raum-Verdichtung", das heißt eine neue Dimension der Beschleunigung erlebten.86 Das ließ die Welt kleiner sowie Distan­zen kürzer erscheinen und Ereignisse an einem Ort unmittelbare Auswirkungen auf sehr weit entfernte Menschen und Orte nehmen, was ich in Anlehnung an die Thesen des Jenaer Sozi­ologen Hartmut Rosa über „Modernisierung als soziale Beschleunigung", als anhaltenden Prozess einer deutlichen Beschleunigung transnationaler gegenkultureller Strömungen defi­nieren will, welcher in den 1960er Jahren eine überdurchschnittliche Ausprägung erfuhr.87 Das Internet und die mit seiner Entstehung einhergehende Revolution der sozialen Medien wie wir sie heute erleben, markieren dieser Auffsssung zufolge eine nächste Stufe jenes umwälzenden Prozesses. Allerdings ist dem hinzuzufügen, dass Kapitalismus (und später Neoliberalismus) die Beschleunigung des freien Kapitals, des Waren- und auch Personenver­kehrs allein auf Grundlage der Exklusion eines Großteils der Weltbevölkerung ermöglichten und ermöglichen.

5.1 Jorge Ben: Zwischen MPB, Tropicalia und afrobrasilianischer Identität

Zunächst möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass Tropicalia trotz seines Avantgar­dismus, der natürlich auch nie ohne seine Vorläufer auskommt, sich mit Abstrichen auch als später Teil der MPB betrachten ließe. Denn wie unlängst angemerkt, handelte es sich bei der MPB weniger um ein homogenes Gebilde als vielmehr um ein von Pluralität, Widersprüchen und Alterität gekennzeichnetes „Bedeutungsgewebe", das die Entstehung von Tropicalia teilweise vorwegnahm. Dementsprechend komplex würde sich die Beschreibung des nach Hall so verstandenen "Subjektes MPB" bzw. seiner zugehörigen musikalischen Identitäten gestalten, die jener Argumentation zufolge, auf der Grundlage multipler Identifikationsvorla­gen, darunter bspw. Joao Gilbertos Bossa Nova und Cartolas oder Nelson Cavaquinhos Sam­ba, zur Entfaltung kamen.88 In diesem beweglichen Spannungsfeld kultureller Diskontinuität ließe sich nach dem "Subjekt MPB" auch das "Subjekt Tropicalia" lokalisieren, das seine mu­sikalische Identität erst mit der Entwicklung eines eigenständigen Sounds, nämlich dem „som universal", richtig zur Entfaltung brachte und sich damit von der MPB ablöste.

In diesem Kontext besetzte der aus Rio de Janeiro stammende Jorge Ben (später Jorge Ben Jor) eine Schlüsselrolle. Ob Ben Tropicalia angehörte oder nicht ist bis heute umstritten. So war er der einzige MPB-Künstler, der sowohl bei 'O Fino da Bossa' als auch bei Jovem Guarda einen Auftritt hatte - ein Tabubruch, der die Bossa Novistas veranlasste, ihn von ihrer Para- deshow auszuschließen. Kaum von der Hand zu weisen ist hingegen, dass er der Bewegung durch sein frühes Werk entscheidende Impulse versetzt hat.89 Sein bereits 1963 veröffent­lichtes Debut 'Samba esquema novo' entzog sich zunächst jeder offenkundigen Kategorisie­rung und ließe sich daher als eine stilistische Schnittstelle zwischen Bossa Nova, MPB und Tropicalia betrachten. Funk, Jazz, eine Fusion aus Rock, Blues und Samba oder Maracatu90 sind weitere Elemente, die der vielseitige Musiker in sein Schaffen integrierte. Zwar beruhte Bens Einfluss im Wesentlichen auf seinem musikalischen Stil und weniger auf seinen oft ba­naleren Lyrics. Mit seinem starken Maracatu-Einschlag und seiner Falsettstimme - nach Alvaro Neder „usado talvez pela primeira vez na musica popular brasileira de forma a definir o estilo de um cantor“91 - gelang es dem populären Afrobrasilianer jedoch gleichzeitig, die Auseinandersetzung um Negritude in Brasilien anzuheizen und der Rezeption der brasiliani­schen Musik dadurch insgesamt eine neue Dimension zu verleihen.

Diverse Textzeilen Jorge Bens, dessen Künstlername sich von dem seiner Mutter äthiopi­schen Ursprungs ableitete, reflektierten dieses neu gewonnene Selbstbewusstsein der eige­nen afrobrasilianischen Identität: „Desde que se foi o nosso Rei Nago,92 o, o.Ninguém jamais fez samba, ninguém jamais cantou”.93 Dazu mengten sich bei Ben erste kritischere Töne („Negro tem que levar a vida cantando“)94, die bewusste Verwendung von Slangwörtern afrikanischen Ursprungs ('Gimbo')95 und die Referenz auf heroische Persön­lichkeiten der afrobrasilianischen Geschichte, die für den Kampf gegen die Sklaverei und da­mit gegen die anhaltende Unterdrückung der “schwarzen“ Bevölkerung des Landes standen ('Dandara Hei')96. Mit Neder soll in diesem Zusammenhang der sich abzeichnende Umbruch innerhalb der afroamerikanischen Identitätskonstruktionen angemerkt werden, deren Wort­ führer sich diesbezüglich fortan über nationale Grenzen hinwegsetzten: „Naquele momento, a conscientiza^ao da diaspora negra ou atlântica produzia a possibilidade de que identadades nacionais se relativizassem frente a preocupa^öes transnacionais com identidades étnicas”.97

'Os Afro-sambas' (1966)98, eine Kollaboration von Vinicius de Moraes und Gitarrist Baden Powell, verdeutlichten die nun verstärkte Auseinandersetzung mit den "afrikanischen" Wur­zeln in der brasilianischen Musik (als Bestandteil einer afrobrasilianischen Identität), die bei Moraes und Powell allerdings in einem wesentlich akademischeren Kontext verortet war. Auf den 'Afro-sambas' mischten sich Samba- mit Candomblé-Rhythmen. Zur Anwendung kam auch das Berimbau, jenes ursprünglich aus Angola stammende, Capoeira typische In­strument, dem Moraes später einen gleichnamigen Song widmete und das Gilberto Gil spä­ter in sein musikalisches Repertoire aufnehmen sollte. Diese Bekenntnisse zur afrobrasiliani­schen Kultur und Identität halfen den diskriminierten Personengruppen, ihre soziale Mobili­tät im von Rassismus geprägten Brasilien auszuweiten - ein Prozess, der allerdings schlep­pend verlief und nicht als abgeschlossen betrachtet werden darf.

Vor dem Hintergrund des zumeist "weißen” Bossa Nova stellten Jorge Bens offensive Thema­tisierung einer „ideologia mulata" und die damit einhergehende Artikulation eines schwarzes Selbstbewusstsein einen weiteren Tabubruch dar und machten ihn damit zum Modell für Gilberto Gil, der diese Thematik mit Beginn der tropikalistischen Phase (1968) wieder auf­griff,99 als er sich mit „the whole liberationist attitude of America, the New Left, American university life, new experimental literature and theater, the Black Power experience in the United States, drug experimentation ... with the iconoclastic attitude of international youth" zu identifizieren begann.100 Hält man sich die Rolle Brasiliens als „key producer and receiver of musical forms of the Arfo-Atlantic world”101 vor Augen - man denke allein an die heraus­ragende Rolle Pixinguinhas102 - ist diese Entwicklung allerdings kaum verwunderlich. 'Criola' von Jorge Bens selbstbetiteltem Album von 1969, das von Rogério Duprat arrangiert, der Tropicalia-Bewegung stilistisch am nächsten kam, setzte die eingeschlagene Entwicklung fort und offenbarte die Kraft der “Black Identity“ zu einer Zeit als die Protagonisten Tropicalias Veloso und Gil (der in dem Lied rezitiert wird) bereits in ihrem unfreiwilligen Exil in London festsaßen:

„Criola / Uma linda dama negra / A rainha do samba mais bela da festa / A dona da feira, uma fiel representante brasileira / Criola / Filha de nobres africanos / Que pelo descuido geografico / Nasceu do Brasil, num dia de carnaval / Criola / E como ja dizia o poeta Gil / Que negra é a soma de todas as cores / Voce criola é colorida por natureza / Voce criola é o poder negro da beleza / Criola / Uma linda dama negra / A rainha do samba mais bela da festa / A dona da feira / Uma fiel representante brasileira / Criola / Criola”103

In 'Sugar Cane Fields Forever' (1973) bekannte sich später auch Caetano Veloso seiner Herkunft als Mulatte: „Sou um mulato nato / No sentido lato / Mulato democr atico do litoral”.104 Insgesamt wurde die “afrikanische“ Vergangenheit also zunehmend als berei­cherndes kulturelles Erbe wahrgenommen, worauf Jorge Bens späteres Album 'Africa Brasil' (1976) oder um die gleiche Zeit die Entstehung der Gruppe 'Banda Black Rio'105 hinwiesen, was allerdings nicht bedeuten soll, dass es in Brasilien gegenwärtig weniger Rassismus geben würde.

5.2 Von Bahia in die Metropolen

Der Diskurs über Tropicalia bzw. die Neupositionierung nationaler Identität durch Tropicalia führt unweigerlich zur Herkunftsfrage seiner zentralen Vertreter, da erstere für den Identi­tätsdiskurs letzterer, entgegen der späteren postmodernen Vorstellung von einer in Auflö­sung und Wandel befindlichen Identität, eben doch von zentraler Bedeutung war. Denn die Tropicalistas stammten zum überwiegenden Teil aus der ehemaligen Hauptstadt oder jeden­falls dem Umland Salvador da Bahias, „the epicenter of Afro-Brazilian cultural life, where Candomblé ... , capoeira ... , and samba first emerged“ und der nach Sao Paolo und Rio de Janeiro drittgrößten Stadt Brasiliens, die man mitunter, mit leicht verklärtem Blick, als „the foundational site of Brazilian tropical civilization with magnificent examples of colonial archi­tecture, splendid beaches, and an exuberant popular culture" betrachtete.106 Ob Caetano Veloso, Gilberto Gil, Tom Zé, Gal Costa, José Carlos Capinan oder Torquato Neto, sie alle wuchsen im armen Nordosten des Landes auf, dessen vielfältige kulturelle Traditionen durch die späteren TV-Aufritte jenes Musikerkollektivs im Rahmen von Musikfestivals stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit und damit des nationalen Musikdiskurses rückten. In 'Carta ao Tio Elisio' erhält man einen Eindruck von den sozialen Gegensätzen, die Brasilien bis heu­te bestimmen. Die kurze Erzählung über die Ankunft der Elektrizität in seiner Heimatstadt Irara/Bahia, diente Tom Zé als Metapher auf den Fortschritt, des „progresso da ciencia", der die entlegenen Regionen des Landes entweder erst mit großer Verspätung oder gar nicht erreichte.107

Da die Interpreten Tropicalias also überwiegend aus der gleichen Gegend stammten oder wie Tom Zé in einem Interview überspitzt behauptete, maximal 25 Kilometer voneinander getrennt aufgewachsen waren, stand Bahia repräsentativ für den kollektiven Geist des „Grupo Bahiano".108 Enge Freundschaftsbande unter den Musikern intensivierten die Bezie­hungen zusätzlich. Ähnlich Bossa Nova (mit Tom Jobim, Vinicius de Moraes, Carlos Lyra, u.a.) bildete auch Tropicalia (mit Caetano Veloso, Gilberto Gil, Tom Zé, José Carlos Capinan, Torquato Neto, u.a.) ein Karussell aus Songwritern, deren Kompositionen zwischen 1967 und 1969 wieder und wieder auf den Alben der verschiedenen Interpreten und Gruppen auf­tauchten. Exemplarisch hierfür sind die Alben 'Os Mutantes' (1968) und 'Mutantes' (1969) von 'Os Mutantes' oder 'Gal Costa' (1969), 'Gal' (1969) und 'Legal' (1970) von Gal Costa. Dass die Beziehungen unter den Musikern weniger Konkurrenz geprägt ausfielen, hatte sich eben­falls bereits bei Bossa Nova gezeigt. Für Tropicalia sollte das Konzeptalbum 'Tropicalia: ou Panis et Circencis' (1968) als logische Quintessenz dieser Kollaborationen den Höhepunkt der Bewegung markieren, die - wie anzumerken ist - gleich der gesamten brasilianischen Musik­szene lange von patriarchalischen Strukturen dominiert wurde.109

[...]


1 Contardo Calligaris zitiert nach: Veloso, Caetano: Tropical truth. A story of music and revolution in Brazil. Lon­don, 2003, S. 157f.

2 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Zürich, 2000, S. 183.

3 Manhaes, Manuela Chagas: O fino da bossa-nova e seus diversos movimentos. Uma nova identidade cultural no cenario brasileiro. S.31f.

4 Vgl.: Calado, Carlos: A divina comédia dos Mutantes. So Paolo, 1995, S. 121.

5 Vgl.: Coelho, Federico / Cohn, Sergio: Tropicalia. Rio de Janeiro, 2008, S. 63.

6 Man denke hier bspw. an die Grunge -Bewegung, die vielleicht letzte wirklich große Bewegung innerhalb der Rockmusik.

7 Darunter fallen freie Meinung, freie Körpersprache, der aufstrebende Feminismus, neue Bürgerrechte oder Minderheitenrechte.

8 Agrippino wird gemeinhin zur Tropicalia-Bewegung gerechnet, die er mit seinem 1967 erschienen Buch 'Pan- américa' inspirierte. Der Roman erzählt die Geschichte einer Person, von dem man außer ihrem Dasein als Filmregisseur in Hollywood nur wenig erfährt. Dort interagiert der identitätslose Protagonist mit den Holly­wood-Größen seiner Zeit, darunter Marlon Brando, Marilyn Monroe, John Wayne oder Burt Lancaster. Sein Zusammenleben mit diesen frühen Popstars beschreibt er als alltägliche Routine, womit er, indem er ihnen ihre Unantastbarkeit nimmt, sie in ihren Rollen entmystifiziert.

9 Vgl.: Lewis, John: Gilberto Gil and Caetano Veloso in London. In: The Guardian, 15.7.2010. Online unter: http://www.theguardian.com/music/2010/jul/15/gilberto-gil-caetano-veloso-london (Stand: 14.2.2014) Zu David Byrne, Tom Zé und 'Os Mutantes' vgl. Fußnote 82. Kurt Cobain bewunderte die Gruppe Os Mutantes dem Anschein nach so sehr, dass er deren Bassist Arnaldo Baptista einen Fan-Brief während eines Auftritts in Rio de Janeiro schrieb. Der Brief wurde anschließend in Zeitschriften veröffentlicht, die das Interesse an der Gruppe weckten. Vgl.: http://www.youtube.com/watch?v=Pa7gyNCcXbQ

10 Celso Favaretto bspw. veröffentlichte 'Tropicalia: Alegoria, alegria' bereits 1979, noch während der Militär­diktatur.

11 In einem New York Times-Artikel wird Beck folgendermaßen zitiert: „I made records like 'Odelay' 1996 because there was a certain sound and sensibility that I wanted to achieve, and it was eerie to find that they had already done it 30 years ago, in a totally shocking but beautiful and satisfying way.'' Vgl.: Rother, Larry: Ignored for Decades, They're Suddenly a Hot Band. In: New York Times, 15.4.2001. Online unter: http://www.nytimes.com/2001/04/15/arts/music-ignored-for-decades-they-re-suddenly-a-hot- band.html?src=pm&pagewanted=1 (Stand: 14.2.2014)

12 Ansichten des Odebrecht-Projektes unter: http://de.slideshare.net/Ponto4/tropiclia-apresentao (Stand: 14.2.2014)

13 Charles Baudelaire zitiert nach Kemp, Friedhelm / Pichois, Claude (Hrsg.): Charles Baudelaire. Sämtliche Wer- ke/Briefe. Band 5, München, 1989, S. 226.

14 Kölbl, Alois: Das Leben der Form. Georg Simmels kunstphilosophischer Versuch über Rembrandt. Wien, 1998, S. 15.

15 Fusion stand ursprünglich für eine Verschmelzung aus Jazz und Rock, hat sich aber später auf andere Genres ausgedehnt, daher der Begriff heute in einem weiteren Sinn gebräuchlich ist. Chicha, Jamaican Ska und Congolese Soukous ließen sich als "indigene" Musik-Genres beschreiben, die von westlicher Musik beeinflusst, in ihrem jeweiligen Kontext verortet, sich den Trends der neuen urbanen Massen anpassten (bzw. diese vorga­ben) und letzteren damit ein Identifikationspotenzial anboten. Rösing, Helmut: Populäre Musik und kulturelle Identität. Acht Thesen. S. 12.

16 Rösing, Helmut: Populäre Musik und kulturelle Identität. Acht Thesen. S. 12.

17 Vgl.: Hermann von Helmholtz zitiert nach: Lambert, Renaud: Die drei Töne des Teufels. Karriere einer Disso­nanz vom Mittelalter bis zur Jazz-Ära. In: Le Monde Diplomatique. Januar 2014.

18 E steht für ernste-, U für unterhaltende- und F für funktionale Musik. Unter "ernster" Musik wurde zunächst v.a. "Kunst" im Sinn der klassischen Musik verstanden und erst später um Musik anderer Stile wie Jazz, Blues, Rock, Pop, Elektro, u.a. erweitert. Als "Unterhaltungsmusik" bezeichnete man anfangs die zuletzt genannten sowie außerdem die verpönte Schlager- und Volksmusik. Die "funktionale" Musik wurde erst später, im Zuge stark kapitalorientierter Prozesse in diesen Kanon aufgenommen. Zu ihr wird bspw. Musik in Supermärkten, Aufzügen, Hotels oder Flughäfen gerechnet. Die GEMA kennt bei der Eintreibung "ihrer" Gebühren keine Un­terscheidung und klassifiziert Musik ungeachtet ihrer Ausrichtung als "Unterhaltung". Aus dieser Perspektive stellt das Album 'Ambient 1: Music for Airports' (1978) von Brian Eno eine gelungene Persiflage der funktiona­len Musik dar.

19 Vgl.: Rösing, Helmut: Populäre Musik und kulturelle Identität. Acht Thesen. S. 13.

20 Frith, Simon: Zur Ästhetik der populären Musik. In: PopScriptum 1, 1992, keine Seitenzählung.

21 Vgl.: Rösing, Helmut: Populäre Musik und kulturelle Identität. Acht Thesen. S. 13.

22 Moderne und Postmoderne lassen sich in jedem Kontext anders definieren. So datierte eine Ausstellung über "Brasiliens Moderne", die vom 27.9.2013 bis zum 5.1.2014 im Museum für Fotographie in Berlin beheimatet war, dieselbe von 1940-1964. Was die Modernisierungstheorie betrifft, beruht diese auf der Annahme, dass unterentwickelte Gesellschaften die Entwicklung nachholen können, indem in Infrastrukturmaßnahmen inves­tiert und sog. "modernisierungshemmende" Faktoren innerhalb der Bevölkerung beseitigt werden. In diesem Sinn verstanden, stellt die Modernisierungstheorie eine nahtlose Fortsetzung der Kolonialpolitik dar.

23 Sant' Anna, Mara Rubia / Macedo, Karitha: A musica como narrativa de identidade nacional no Brasil de 1900 a 1950. S. 2.

24 Vgl.: Bagehot, Walter: Physics and politics. London, 1887, S. 20f.

25 Vgl.: Hobsbawn, Eric: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt, 2005, S. 13.

26 Vgl.: Ebd. S. 15.

27 Renan, Ernest: Qu'est ce que c'est une nation? Conférence faite en Sorbonne, le 11 mars 1882. Paris, 1882, S. 7f.

28 Gellner, Ernst: Nationalismus und Moderne. Berlin, 1995, S. 16.

29 Vgl.: Jäger, Michael: Zwei Paar Flüchtlingsschuhe. In: Der Freitag, Ausgabe 40/13, 2.10.2013. Online unter: http://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/zwei-paar-fluechtlingsschuhe (Stand: 14.2.2014)

30 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Zürich, 2000, S. 201.

31 Vgl.: Flores, M. Bernardete R.: Tecnologia e estética do racismo. Ciencia e arte na politica da beleza. Chapeco, 2007, S. 68.

32 Maciel, Fabricio: O Brasil - Nafäo como ideologia. A construfäo retorica e sociopolitica da identidade nacional. Sao Paolo, 2007, S. 12.

33 Veloso, Caetano: Tropical truth. A story of music and revolution in Brazil. London, 2003, S. 86.

34 Vgl.: Riggenbach, Paul: Funktionen von Musik in der modernen Industriegesellschaft. Eine Untersuchung zwischen Empirie und Theorie. Marburg, 2000, S. 46.

35 Vgl.: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Zürich, 2000, S. 210.

36 Vgl.: Hofmann, Rico: Die vertauschten Köpfe. Kultur, Natur und Identität bei Thomas Mann unter dem Blick­winkel der Theorie von Clifford Geertz. 2004, S. 14.

37 Vgl. Geertz, Clifford: The interpretation of cultures. Selected Essyas, New York, 1973, S. 54.

38 Moebius, Stephan / Quadflieg, Dirk (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden, 2006, S. 9.

39 Beispielhaft ist ein Kommentar der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte, anlässlich der Neuenthüllung eines Wandbildes des Künstlers Walter Womacka, der den Alexanderplatz in Berlin durch sein Fries am „Haus des Lehrers" prägt: „Man wolle damit ein Stück der kulturellen Identität Berlins bewahren." Online unter: http://www.rbb-online.de/kultur/beitrag/2013/10/wandbild-von-ddr-kuenstler-womacka-neu-enthuellt.html (Stand: 14.2.2014)

40 Vgl.: Hall, Stuart: Cultural identity and diaspora. S. 397.

41 Vgl.: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Zürich, 2000, S. 181ff.

42 Vgl.: Ebd. S. 182.

43 Buarque de Hollanda, Heloisa: O susto tropicalista na virada da década. S. 64.

44 Judith Butler zitiert nach: Kallenberg, Vera / Meyer, Jennifer / M. Müller, Johanna: Intersectionality und Kri­tik. Neue Perspektiven für ältere Frage. Wiesbaden, 2013, S. 253.

45 Vgl.: Vaginal Davis: Lesbi Tropicalia (2013), Online unter: http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&ved=0CDcQFjAB&url=http%3A%2F%2F www.kuratierenundkritik.net%2Ffileadmin%2Fdownloads%2Fvaginal davis CM- SH.doc&ei=qcr8UpqLHenn7AbOqoCgCg&usg=AFQjCNENsnrF7x9Mn2tKl2JmqfGsNodNgg&sig2=I- OhexPpLjLzdQ9a0jR6dQ&bvm=bv.61190604,d.ZGU&cad=rja (Stand: 14.2.2013)

46 Vgl.: Hobsbawn, Eric: The invention of tradition. Cambridge, 2003, S. 1f.

47 Vgl.: Bambini, Valentina / Chesi, Christiano / Moro, Andrea: A conversation with Noam Chomsky. New in­sights on old foundations. Istituto Universitario di Studi Superiori di Pavia. S. 15.

48 So lautet der Kommentar eines der Protagonisten von 'Jende ri Palenge': „Nosotros somos un barrio africano, una colonia. Nosotros estamos aqui por un accidente, por aquellas cosas de la vida, aqui en Palenque, aqui en Colombia. Deberiamos todos estar en Africa, en el continente negro, en Angola.”

49 Bekannt wurde Garvey durch seine „Back to Africa"-Bewegung, die ihn zu einer zentralen Inspirationsquelle für das gesamte „Black Movement" um Bürgerrechtler wie Martin Luther King oder Malcolm X machte. In Ja­maika (1914) gründete Garvey die Universal Negro Improvement Association (UNIA), eine Art erste schwarze Massenbewegung, zog kurz darauf nach Harlem und machte sich dort als redegewandter und überzeugungs­kräftiger Aktivist einen Namen. Garvey warb für eine kollektive Rückkehr der schwarzen Bevölkerung nach Afrika, was unter seinen Zeitgenossen Anklang fand. Sein Streben gipfelte in der Gründung der Schifffahrtsge­sellschaft Black Star Line (1919), welche die Nachkommen der ehemals verschleppten Sklaven zurück in ihre "angestammte Heimat" transportieren sollte.

50 Dunn, Christopher: Brutality garden. Tropicalia and the emergence of a brazilian counterculture. London, 2001, S. 214.

51 Napolitano, Marcos. Historia & Musica: Historia cultural da musica popular. Belo Horizonte, 2002, S. 5.

52 Nercolini, Marildo José: A Musica Popular Brasileira repensa identidade e nafäo. S. 125.

53 Vgl.: Napolitano, Marcos. Historia & Musica: historia cultural da musica popular. Belo Horizonte, 2002. S. 13.

54 Marcos. Historia & Musica: historia cultural da musica popular. Belo Horizonte, 2002, S. 5.

55 Nach Rousseau stellte sich Musik damit jener Entfremdung und jenem Identitätsverlust entgegen, die das In­dividuum seit dem Eintritt in die Moderne belagerten.

56 Vgl.: Sant' Anna, Mara Rubia / Macedo, Karitha: A musica como narrativa de identidade nacional no Brasil de 1900 a 1950. S. 6

57 Vgl.: Ebd. S. 7.

58 Mit Estado Novo wird das Regierungsintervall von 1937 bis 1945, dem Jahr des vorrübergehenden Abschieds von Gétulio Vargas bezeichnet, welches von Macht-Zentralisierung sowie ausgeprägtem Nationalismus, Anti­kommunismus und Autoritarismus geprägt war.

59 Napolitano, Marcos. Historia & Musica: historia cultural da musica popular. Belo Horizonte, 2002, S. 37.

60 Interview mit Doudou Diène: O Racismo esta Crescendo. In: Revista Ra?a Brasil, Edifäo Nr. 93.

61 Vgl.: Bossa Nova and the Rise of Brazilian Music in the 1960s. Soul Jazz Records, 2011, Booklet, S. 16.

62 Napolitano, Marcos. Historia & Musica: historia cultural da musica popular. Belo Horizonte, 2002, S. 42.

63 Manhaes, Manuela Chagas: O fino da bossa-nova e seus diversos movimentos. Uma nova identidade cultural no cenario brasileiro. S. 26.

64 Manhaes, Manuela Chagas: O fino da bossa-nova e seus diversos movimentos. Uma nova identidade cultural no cenario brasileiro, S. 28.

65 Der brasilianische Concretismo entstand in Sao Paolo in den 1950er Jahren, wo er aus der Noigandres- Gruppe um die Brüder Haroldo de Campos, Augusto de Campos und Décio Pignatari hervorgegangen war. Ein 1958 in der gleichnamigen Zeitschrift ('Noigandres') veröffentlichtes Manifest trug den Titel 'Plano-piloto da poesia concreta', eine kritische Referenz an den 'Plano-piloto de Brasilia' zum Bau der neuen Hauptstadt, die als Symbol der brasilianischen Moderne später auch von Caetano Velosos kritisch rezipiert wurde. Der Concretismo suchte nach Wegen, um die poetische Sprache über die gezielte Verwendung der neuen Kommu­nikationstechnologien zu revolutionieren. Zu diesem Zweck gingen die Poetas Concretas den der technischen Weiterentwicklung geschuldeten Schritt über Oswald de Andrade hinaus.

66 Vgl.: Dunn, Christopher: Brutality garden. Tropicalia and the emergence of a brazilian counterculture. London, 2001, S. 32.

67 Vgl.: de Campos, Haroldo: Novas. Selected writings. Glendale, 2007, S. 172.

68 Vgl.: Ortiz, Renata: A moderna tradifäo brasileira. Sao Paolo, 1989, S. 45.

69 Vgl.: Canclini, Néstor Garcia: Consumidores e cidadaos: conflitos multiculturais da globalizafäo. Rio de Janei­ro, 1995, S. 28.

70 Vgl.: Pasolini, Pier Paolo: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumge­sellschaft. Berlin, 1988, S. 28.

71 Nercolini, José Marildo: A Musica Popular Brasileira repensa identidade e na^ao. In: Revista FAMECOS, Porto Alegre, Nr. 31, Dezembro de 2006, S. 127.

72 Ebd. S. 127.

73 Tinhorao, José Romos: Musica popular: um tema em debate. Rio de Janeiro, 1969, S. 25.

74 Contardo Calligaris zitiert nach: Veloso, Caetano: Tropical truth. A story of music and revolution in Brazil. London, 2003, S. 158.

75 Edu Lobo zitiert nach: Nercolini, Marildo José: A Musica Popular Brasileira repensa identidade e nafäo. S. 128.

76 Vgl.: Severiano, Jairo: Uma historia da Musica Popular Brasileira: Das origens a modernidade. Sao Paolo, 2008, S. 213.

77 „To avoid confusion, critics usually use abbreviation MPB to refer to this eclectic post-bossa nova pop to distinguish it from the larger field of musica popular brasileira that denotes all popular music from Brazil.” Vgl.: Dunn, Christopher: Brutality garden. Tropicalia and the emergence of a brazilian counterculture. London, 2001, S. 220.

78 Manhaes, Manuela Chagas: O fino da bossa-nova e seus diversos movimentos. Uma nova identidade cultural no cenario brasileiro. S. 29.

79 Jovem Guarda meinte ursprünglich die 1965 uraufgeführte und von Roberto Carlos geleitete TV-Show. Später wurde der Begriff synonym für die gesamte Bewegung verwendet.

80 Neder, Älvaro: MPB: identidade, intertextualidade e contradifäo no discorso musical. S. 82.

81 An dieser Stelle ist jedoch darauf hinzuweisen, dass zahlreiche Vertreter der Nova Esquerda die Idee von einer vermeintlich vorherrschenden, ideologischen Geschlossenheit von linker Studentenschaft und MPB-Interpreten während der 1960er Jahre problematisierten und ablehnten.

82 Nercolini, José Marildo: A Musica Popular Brasileira repensa identidade e naao. S. 126 Ebd. S. 126

83 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Zürich, 2000, S. 193ff.

84 David Byrne zitiert nach dem Klappentext von: Dunn, Christopher: Brutality garden. Tropicalia and the emergence of a brazilian counterculture. London, 2001.

85 David Byrne hatte Brasilien 1986 anlässlich des 'Rock in Rio'-Festivals zum ersten Mal besucht. Zwei Jahre später war er erneut in das Land gekommen, um mit 'The House of Life' einen Dokumentarfilm über afrobaianische Religion zu drehen. Kurz darauf veröffentlichte Byrne über sein Label 'Luaka Bob' mehrere sog. 'Brazil Classics'-Kompilationen, auf denen er sich mit den musikalischen Traditionen Brasiliens auseinandersetz­te, darunter 'Beleza Tropical' (1988), 'O Samba' (1990) und 'O Forro' (1991). Während seines Aufenthaltes erstand er das Tom Zé-Album 'Estudando o samba' (1975) in einem Plattenladen in Rio, das er irrtümlich für eine konventionelle Samba-Platte hielt. (Vgl.: Dunn, Christopher: Brutality garden. Tropicalia and the emer­gence of a brazilian counterculture. London, 2001, S. 231.) Tom Zé erlebte nach dieser "Entdeckung" ein kleines Revival. Er wurde zum ersten Künstler, der auf Byrnes neugegründetem Plattenlabel 'Luaka Bop' einen Vertrag unterschrieb. Seitdem hat er darauf eine Compilation und zwei Alben veröffentlicht.

86 Vgl.: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Zürich, 2000, S. 209.

87 Vgl.: Rosa, Hartmut: Modernisierung als soziale Beschleunigung. Kontinuierliche Steigerungsdynamik und kul­turelle Diskontinuität. S. 140.

88 Vgl.: Neder, Älvaro: MPB: identidade, intertextualidade e contradifäo no discorso musical. S. 81.

89 Jorge Ben hatte man am Anfang seiner Karriere irgendwo zwischen MPB und Jovem Guarda einsortiert. Als einziger MPB-Künstler war Ben sowohl bei 'O Fino da Bossa' als auch bei 'Jovem Guarda' aufgetreten, was als Tabubruch verstanden, dazu geführt hatte, dass man ihn von 'O Fino da Bossa' ausschloss.

90 Bei Maracatu handelt es sich um einen brasilianischen Musikstil aus Pernambuco, dessen "Ursprung" auf afrikanische Rhythmen zurück geht. Ähnlich dem Samba wurde Maracatu von afrobrasilianischen Sklaven ver­breitet.

91 Vgl.: Neder, Älvaro: MPB: identidade, intertextualidade e contradifäo no discorso musical. S. 85.

92 Yoruba-Sprecher werden in Brasilien und Kuba manchmal als Nago bezeichnet.

93 Ben, Jorge: 'A Tamba' auf 'Samba esquema novo' (Philips, 1963)

94 Ben, Jorge: 'Capoeira' auf 'Sacundin Ben Samba' (Philips, 1964)

95 Gimbo ist ein Synonym für Geld. Vgl.: Ben, Jorge: 'Gimbo' auf 'Sacundin Ben Samba' (Phillips, 1964)

96 Dandara war die Ehefrau Zumbis (dem Ben 1974 mit 'Zumbi' ebenfalls ein Lied widmete), der dem 'Quilombo dos Palmares', dem vermutlich größten Quilombo der Kolonialzeit Brasiliens zuletzt vorstand. In Salvador da Bahia ist Zumbi ein Monument gewidmet. Der Legende nach beging Dandara Selbstmord, nachdem sie in Ge­fangenschaft geraten war, um nicht mehr zurück in Sklaverei zu müssen. Vgl.: Ben, Jorge: 'Dandara Hei' auf 'Ben é Samba Bom' (Philips, 1964)

87 Neder, Älvaro: MPB: identidade, intertextualidade e contradifäo no discorso musical. S. 85.

88 Das wohl bekannteste Lied ist der 'Canto de Ossanha', welcher auf den „Senhor das Folhas" aus der afrobra­silianischen Religion 'Batuque' anspielte.

99 Vgl.: Veloso, Caetano: Tropical truth. A story of music and revolution in Brazil. London, 2003, S. 181.

100 Gilberto Gil im Interview mit Christopher Dunn (1995). In: Dunn, Christopher: Brutality garden. Tropicalia and the emergence of a brazilian counterculture. London, 2001, S. 131.

101 Ebd. S. 178.

102 Der afrobrasilianische Musiker, Sänger und Komponist Pixinguinha (1897-1973), geboren in Rio de Janeiro, war vor allem ab den 1920ern bis in die 1940er Jahre erfolgreich. Zahlreiche seiner Choros wurden später zu Klassikern.

103 Ben, Jorge: 'Criola' auf 'Jorge Ben' (Philips, 1969)

104 Veloso, Caetano: 'Sugar Cane Fields Forever' auf 'Arafa Azul' (Polygram, 1973)

105 Banda Black Rio waren eine der ersten Gruppen, die brasilianische Musik (im Sinne von Musica Popular) und Black Music miteinander fusionierten.

106 Dunn, Christopher: Brutality garden. Tropicalia and the emergence of a brazilian counterculture. London, 2001, S. 49f.

107 Zé, Tom: Tropicalista Lenta Luta. Sao Paolo, 2003, S. 81.

108 Vgl.: Interview mit Tom Zé: Tom Zé. Brazil's tropicalia godfather breaks down the real story of the genre, and busts out the phone book in the process.

109 Innerhalb der Musica Popular war Frauen zunächst eine feste Rolle als Sängerin zugeschrieben. Als die Sän­gerin Joyce Silveira Moreno, kurz Joyce, zu Beginn ihrer Karriere gegen Ende der 1960er Jahre begann, persön­liche Texte in der Ersten-Person vorzutragen, löste dies Proteste im Publikum aus, die noch zunahmen, als sie Gitarre selbst zur Hand nahm.

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Identitätskonstruktionen innerhalb der Neoavantgarde-Bewegung "Tropicália". Reflexion transnationaler gegenkultureller Strömungen und Ausdruck einer souveränen tropikalistischen Identität
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Lateinamerikanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
92
Katalognummer
V921253
ISBN (eBook)
9783346249159
ISBN (Buch)
9783346249166
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tropicalia, Brasilien, Avantgarde
Arbeit zitieren
Alexander vom Dorp (Autor:in), 2014, Identitätskonstruktionen innerhalb der Neoavantgarde-Bewegung "Tropicália". Reflexion transnationaler gegenkultureller Strömungen und Ausdruck einer souveränen tropikalistischen Identität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/921253

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