Trauma und Angst in Juan Gabriel Vásquez' Roman "El ruido de las cosas al caer"

Die literarische Darstellung und der Beitrag des Romans zur Erinnerungskultur in Kolumbien


Tesis (Bachelor), 2020

57 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Gliederung

1. Einleitung

2. Zusammenfassung der Romanhandlung

3. Historischer Hintergrund des Romans
3.1 Drogenkrieg, Gewalt und Korruption in Kolumbien in den 80er und 90er Jahren
3.2 Referenzialisierbare Ereignisse in Elruido de las cosas al caer

4. Zum Verhältnis von Literatur und Erinnerungskultur
4.1 Definitionen des Begriffs Erinnerungskultur
4.2 Individuelle und kollektive Gedächtnisformationen
4.3 Der literarische Text als Medium des kollektiven Gedächtnisses
4.4 Die Aneignung von Erinnerungen in El ruido de las cosas al caer

5. Trauma und Angst in El ruido de las cosas al caer
5.1 Trauma und Angst in der Literaturwissenschaft
5.2 Analyse der literarischen Darstellung von Trauma und Angst in El ruido de las cosas al caer
5.2.1 Charakterisierung der Figuren und Figurenkonstellationen
5.2.1.1 Antonio Yammara
5.2.1.2 Ricardo Laverde
5.2.1.3 Elaine Fritts
5.2.1.4 Maya Fritts
5.2.1.5 Aura Rodriguez
5.2.1.6 Figurenkonstellation
5.2.2 Raumdarstellung
5.2.3 Ordnung
5.2.4 Dauer
5.2.5 Frequenz
5.2.6 Modus
5.2.7 Stimme
5.2.8 Glaubwürdigkeit des Erzählers

6. Fazit und Ausblick

7. Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
7.3 Internetquellen

1. Einleitung

Kolumbien blickt auf eine lange Geschichte der Gewalt zurück (vgl. Perea 2009: 101). Probleme und Konflikte aus der Vergangenheit konnten nicht ausreichend gelöst werden, sodass ihre Nachwirkungen in der Gegenwart stets zu spüren waren. Ein Ende der Gewalt war nicht in Sicht. Es entstanden neue Konflikte, die ihren Ursprung ebenfalls in der Vergangenheit fanden. Die Politik trug einen nicht zu vernachlässigenden Teil dazu bei, dass die Vergangenheit unzureichend aufgearbeitet wurde. Dem Staat wurde vorgeworfen, die Vergangenheit zu verschweigen und eine „Politik des Vergessens“ zu betreiben (Schuster 2009: 11-12).

Der expandierende Drogenhandel in den 70er und 80er Jahren ließ neue Probleme aufkommen und führte zur Entstehung neuartiger, aber auch zur Aufrechterhaltung alter Gewalt. Juan Gabriel Vâsquez‘ Roman El ruido de las cosas al caer (2011) spielt genau vor diesem Hintergrund des Drogenhandels, in den einzelne Figuren des Romans selbst verstrickt sind und auch als Unbeteiligte die Auswirkungen zu spüren bekommen.

Auf dieser Grundlage berührt der Roman die literarische Strömung der Narcoprosa1 , bei der der Drogenhandel im Mittelpunkt der Handlung steht und dem Leser Einblicke in diesen bietet. Von Quaas wird der Roman sogar aufgrund dessen als Narkoroman (narconovela) klassifiziert (vgl. Quaas 2019: 80-81). Auch mit dem Subgenre der Narcoprosa, der sicaresca2, sind Berührungspunkte zu erkennen, denn die Figur des sicarios nimmt eine wichtige Rolle im Handlungsverlauf ein. Durch ein Attentat von zwei sicarios auf den Erzähler Antonio Yammara und eine der Hauptfiguren Ricardo Laverde, trägt Antonio starke Verletzungen und eine anschließende Traumatisierung davon. Ricardo überlebt den Angriff nicht. Der Drogenhandel und die Killerbanden stehen jedoch nicht im Fokus von Vasquez‘ Werk. Der Roman stellt vielmehr eine Reflexion über den Drogenhandel, die damit eingehergehende Gewalt und seine Auswirkungen auf die kolumbianische Gesellschaft dar. Die auftretenden Figuren geben dem Leser Einblicke in die Psyche der Menschen, die Zeugen dieser Gewalt wurden. Die durchgängige Präsenz des Themas Gewalt lässt zusätzlich Schnittpunkte mit der literarischen Strömung der novela de Violencia3 erkennen. Der Violencia-Roman entstand als ästhetische Antwort auf den gewaltsamen Konflikt zwischen konservativen und liberalen Parteien, der seinen Anfang im Jahr 1948 in Kolumbien fand, als der liberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitan bei Amtsantritt ermordet wurde. Die Folge war ein enormer Ausbruch von Gewalt, bekannt unter dem Namen bogotazo4 . Anschließend kam es zu einem Bürgerkrieg, der bis in die 1950er Jahre andauerte (vgl. Fischer/Jiménez Angel 2017: 47). Charakteristisch für diese Strömung ist, dass die Gewalt in den Mittelpunkt der literarischen Darstellung gerückt wird. Die Handlung ist oft durch Aneinanderreihungen von extremen Gewalttaten geprägt, die sehr detailreich ohne Reflexion von den unmittelbar Betroffenen geschildert werden (vgl. Altmann 1997: 439). Die detaillierten Beschreibungen von Gewalt sind auch ansatzweise in Vasquez‘ Roman zu finden, wobei der Fokus, wie bereits erwähnt, nicht auf der Darstellung der Gewalt liegt, sondern auf der Darstellung von emotionalen Dimensionen der Bevölkerung.

Der Autor Juan Gabriel Vasquez zählt zu Kolumbiens wichtigen Autoren und liefert international bekannte und anerkannte Werke. Das Werk El ruido de las cosas al caer (2011), auf das sich die folgende Arbeit stützt, ist Vâsquez‘ dritter Roman und gewann 2011 den Preis von Alfaguara, wodurch die Relevanz des Themas begründet wird. Diese Arbeit unterliegt folgenden zwei Arbeitshypothesen: Das vom Erzähler durchlebte Trauma und seine Angst sind Ausgangspunkt für sein unzuverlässiges Erzählen sowie für die narrative Form des Romans. Außerdem leistet der Roman einen Beitrag zur Konstituierung einer Erinnerungskultur Kolumbiens für die Zeit der 80er und 90er Jahre.

Zur Untersuchung der Arbeitshypothesen ist es zunächst notwendig, den historischen Hintergrund zu konkretisieren. Dies ist sowohl für den ersten als auch den zweiten Teil der Arbeit wichtig, um die Bezugspunkte der Erinnerungskultur aufzuzeigen sowie die historische Realität des Traumas und der Angst herauszuarbeiten. Anschließend geht es um das Verhältnis von Literatur und Erinnerungskultur. Neben verschiedenen Definitionen des Begriffs Erinnerungskultur beschäftigt sich dieser Gliederungspunkt weiterhin mit den Konzepten des individuellen und kollektiven Gedächtnisses. Dieses geschieht auf der Basis von Maurice Halbwachs Theorie des kollektiven Gedächtnisses, welche von Jan und Aleida Assmann mit dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis weiterentwickelt wurde. Astrid Erll leistete wichtige Arbeiten, in denen die Rolle der Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses genauer untersucht wird. Im Anschluss werden die genannten Theorien auf den Roman angewendet und die Aneignung von Erinnerungen im Roman analysiert.

Der zweite Teil befasst sich mit den Themen Trauma und Angst und wie diese in Vasquez‘ Werk literarisch dargestellt werden. Zunächst werden literaturwissenschaftliche Ansätze von Trauma und Angst aufgegriffen. Die Theorien von Lars Koch zu Angst und von Martina Kopf zu Trauma in der Literaturwissenschaft bilden hier die Grundlage. Anschließend wird eine literaturwissenschaftliche Analyse mit Hauptaugenmerk auf der Darstellung von Angst und Trauma durchgeführt, unter Anwendung von Gerard Genettes Theorien zur Analyse von Erzählungen. Neben den Figuren und der Figurenkonstellation geht es hier um die Raumdarstellung, die Ordnung, die Dauer, die Frequenz, den Modus und die Stimme, ebenso, wie um die Analyse der Glaubwürdigkeit des Erzählers. Zur Untersuchung der Glaubwürdigkeit des Erzählers werden Arbeiten von Lisa Volpp herangezogen, die sich intensiv mit dem unzuverlässigen Erzählen in der Erinnerungsliteratur beschäftigt hat. Der Schlussteil beinhaltet das Fazit dieser Arbeit sowie einen Ausblick.

Aufgrund der großen internationalen Bekanntheit des Romans, sind einige seiner Elemente bereits ausgiebig erforscht, beispielsweise das Thema Gedächtnis. Eine Einordnung in einen größeren Zusammenhang, wie die Erinnerungskultur ist bisher noch nicht erfolgt, weshalb diese Arbeit neue Erkenntnisse in diesem Bereich leistet. Die Analyse der literarischen Darstellung von Angst erfolgte bereits in einigen kleineren Arbeiten, jedoch nur auf oberflächlicher Ebene, sodass diese Arbeit den genannten Aspekt genauer beleuchtet und die Analyse der literarischen Darstellung des Traumas hinzunimmt. Des Weiteren ist die Frage nach der Glaubwürdigkeit eines traumatisierten Erzählers eine noch nicht abschließend geführte Diskussion in der Literaturwissenschaft und erfordert Forschungsbedarf.

2. Zusammenfassung der Romanhandlung

Der junge Jura-Professor Antonio Yammara freundet sich beim Billardspiel mit dem deutlichen älteren Ricardo Laverde an. Ricardo erzählt, dass seine Frau Elaine Fritts, welche in den USA wohnt, ihn über Weihnachten besuchen werde. Zu dem Wiedersehen kommt es nicht, da das Flugzeug, in dem Elaine sich befindet, auf dem Weg von Miami nach Cali, abstürzt. Eines Abends, als Antonio und Ricardo zusammen unterwegs sind, wird Ricardo von zwei Männern auf Motorrädern auf offener Straße erschossen, Antonio wird angeschossen und schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Die Verletzungen haben nicht nur starke körperliche Schäden hervorgerufen, sondern auch psychische, die auch Jahre später noch anhalten und seine Beziehungen belasten. Im Jahre 1988 beschließt Antonio sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen und knüpft Kontakt zur ehemaligen Vermieterin von Ricardo. Über sie kommt Monate später der Kontakt zu Ricardos Tochter Maya zustande, die Antonio in ihr Haus außerhalb der Stadt einlädt. Sie beginnen mithilfe von Dokumenten die Vergangenheit von Ricardo und dessen Frau Elaine zu rekonstruieren. Elaine und Ricardo lernten sich im jugendlichen Alter kennen, als die gebürtige Amerikanerin einen Dienst bei den Friedenscorps absolvierte. Die beiden wurden ein Pärchen, bauten ein Haus und bekamen eine Tochter namens Maya. Ricardo wird Flugzeugpilot, verstrickt sich aber in den Drogenhandel. Bei dem ersten Flug, bei dem er Kokain in die USA transportiert, wird er von den amerikanischen Behörden erwischt und muss für viele Jahre ins Gefängnis. Antonio und Maya verbringen das Wochenende zusammen. Sie fühlen sich durch ihr ähnliches Schicksal emotional verbunden und beginnen eine Affäre. Als Antonio nach dem Wochenende in die gemeinsame Wohnung mit seiner Frau zurückkehren möchte, stellt er fest, dass seine Frau ihn verlassen hat und mit ihrer gemeinsamen Tochter ausgezogen ist.

3. Historischer Hintergrund des Romans

Der Roman spielt in Kolumbien, hauptsächlich in der Zeit der 80er und 90er Jahre, während des „Krieges gegen die Drogen“ (vgl. Vasquez 2015: 191, 217). Diese Zeit ist durch die Gewalt der Drogenmafia und der bewaffneten Gruppen5 geprägt.

3.1 Drogenkrieg, Gewalt und Korruption in Kolumbien in den 80er und 90er Jahren

Anfang der 1970er und 1980er Jahre erfuhr die Kokainindustrie in Kolumbien einen immensen Aufschwung, aufgrund der hohen Gewinnmagen (vgl. Mayer 1990: 189). Die Kartelle von Medellin und Cali nahmen nach und nach eine Monopolstellung im Kokaingeschäft ein (vgl. Ambos 2017: 384). Sie bauten ihre Macht auch auf politischer und institutioneller Ebene aus, denn sie infiltrierten sich in Politik, Sicherheitsorgane, Wirtschaft und Justiz, sodass von einer „institutionalisierten Korruption“ gesprochen werden kann (Zelik/Azzellini 2000: 125-126). Durch Bestechungsgelder versuchte der Kopf des Medellin-Kartells, Pablo Escobar, Politiker dazu zu bringen, ihre Stimmen zugunsten seiner Interessen abzugeben (vgl. Ambos 2017: 388). Innerhalb der Bevölkerung erkaufte er sich Sympathien, indem er in den 80er Jahren die Infrastruktur in den Armenvierteln ausbaute. Er erhoffte sich davon, im Falle einer juristischen Verfolgung, nicht von der Bevölkerung denunziert zu werden (vgl. Zelik/Azzellini 2000: 122). Von der Regierung wurde lange Zeit nichts gegen den Drogenhandel unternommen beziehungsweise sie unterstütze ihn sogar noch, indem sie Geldwäsche tolerierte (vgl. Mayer 1990: 193). Einigen Regierungsmitgliedern wird vorgeworfen, selbst in die Korruption der Drogennetzwerke verstrickt zu sein, indem sie beispielsweise Geld für Wahlkampfhilfe angenommen haben sollen, das aus dem Rauschgifthandel stammt, wie es der ehemalige Präsident Ernesto Samper (1994-1998) getan haben soll6 (vgl. Ambos 2017: 388).

Der erste Drogenkrieg, kam zustande, als das Kartell von Medellin im Jahr 1984 Justizminister Lara Bonilla ermorden ließ (siehe 3.2 Referenzialisierbare Ereignisse) und der damals amtierende Präsident Belisario Betancur daraufhin die Auslieferung des Drogenhändlers Carlos Lehder an die USA ankündigte (vgl. Ambos 2017: 384). Das Kartell reagierte mit der systematischen Ermordung von wichtigen Führungspersonen der kolumbianischen Gesellschaft, den magnicidios, sowie mit weiteren Auftragsmorden und Bombenanschlägen, die von nun an für die Gesellschaft alltäglich waren (vgl. Fischer/Jiménez Angel 2017: 52). Die Eliminierung des liberalen Senators und Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galans und die Intention Escobars sich politisch zu beteiligen, waren der Anlass für den Präsidenten Virgilio Barco (1986-1990), den zweiten Drogenkrieg zu deklarieren (vgl. Ambos 2017: 384). Erst im Jahr 1993, nach dem Tod Escobars, konnte die Zerschlagung des Medellin-Kartells erreicht werden. Die Auflösung des Cali-Kartells folgte im Jahr 1995, jedoch gründeten ehemalige Mitglieder des Kartells von Cali das Kartell Norte del Valle (vgl. Ambos 2017: 385).

Auch paramilitärische Gruppen (paramilitares) und Guerilla-Banden waren weiterhin präsent und nahmen eine wichtige Rolle im Gewaltkonflikt ein. Sowohl die Guerilla­Gruppen als auch die Paramilitares stiegen in den Drogenhandel der oben genannten Kartelle ein, um sich zu finanzieren, wodurch die Begriffe narcoguerilla und narcoparamilitares geprägt wurden (vgl. Mertins 2004: 44). Auch von ihnen wurden diverse Menschenrechtsverletzungen, Massaker (vgl. Fischer/Jimenéz Angel 2017: 52) und terroristische Anschläge verübt (vgl. Mertins 2004: 44).

Neben den bereits genannten Gewaltakteuren kamen noch das Militär, städtische Milizen, jugendliche kriminelle Banden und Terrororganisationen hinzu, von denen ebenfalls Gewalthandlungen ausgingen. Bei der Bevölkerung wurde ein Gefühl der permanenten Bedrohung ausgelöst, was mit der Zeit dazu führte, dass sie ihre Identität als Nation teils aus Angst speiste, was sich in Kunst, Literatur und Film abbildet (vgl. von der Walde 2001: 30-31).

3.2 Referenzialisierbare Ereignisse in El ruido de las cosas al caer

Obwohl es sich bei dem Roman um einen fiktionalen Text handelt, kann man einige referenzialisierbare Ereignisse finden, das heißt Ereignisse, die in der außersprachlichen Wirklichkeit tatsächlich passiert sind und faktisch nachweisbar sind. Durch das Aufgreifen von realen historischen Ereignissen im Roman wird eine Historisierung und damit eine Aufdeckung der Realität des Traumas erreicht, um das es im Kapitel 5 geht. Diese Aufdeckung schafft die Grundlage für einen gesellschaftlichen Diskurs zur Anerkennung und Verarbeitung des Traumas (vgl. Kopf 2005: 18).

Gleich zu Beginn des Romans erfährt der implizite Leser etwas über den historischen Hintergrund, denn der Erzähler beschreibt, wie er in der Zeitung vom Tod eines Nilpferds liest, welches aus dem ehemaligen Zoo von Pablo Escobar ausgebrochen war, nachdem Escobar vor zwei Jahren verstarb (vgl. Vasquez 2015: 13). Für den impliziten Leser bilden diese Informationen den Ausgangspunkt für die Interpretation und Einordnung der nachfolgenden Romanhandlung. Des Weiteren werden im ersten Kapitel diverse weitere referenzialisierbare Ereignisse beschrieben, von denen der Erzähler meist durch das Fernsehen oder die Zeitung erfahren hat. Es handelt sich fast ausschließlich um Anschläge auf wichtige Führungspersonen. Bei den ersten vier genannten Ermordungen (Gomez, Lara Bonilla, Cano und Galan) teilt der Erzähler dem Leser mit, wie alt er zu den jeweiligen Zeitpunkten der Ereignisse war, um zu kommunizieren, wie diese seine ganze Jugend durchzogen und geprägt haben und für ihn zum Alltag dazugehörten: „Yo tenia catorce anos esa tarde de 1984 en que Pablo Escobar mato o mando matar a su perseguidor mas ilustre, el ministro de Justicia Rodrigo Lara Bonilla (dos sicarios en moto, una curva de la calle 127).“ (Vasquez 2015: 18-19).

Die Ermordung von Lara Bonilla wird zweimal in Vasquez‘ Roman thematisiert. Zunächst am Anfang der Handlung, als Antonio, ausgelöst durch ein Bild in der Zeitung von einem Nilpferd aus Pablo Escobars Zoo, über die schlimmen Dinge nachdenkt, die in seinem Land passiert sind (vgl. Vasquez 2015: 19). Und das zweite Mal in einem Gespräch von Antonio und Maya, als die beiden sich auf dem Weg zur Hacienda Näpoles 7 befinden (vgl. Vasquez 2015: 227-228). Sie fragen sich gegenseitig, wo sie in dem Moment waren, als sie von dem Attentat erfuhren, was ein typisches Gesprächsthema ihrer Generation ist: [.] «Donde estaba usted cuando mataron a Lara Bonilla?». La gente de mi generacion hace estas cosas: nos preguntamos como eran nuestras vidas al momento de aquellos sucesos [.] Y esas conversaciones suelen comenzar con Lara Bonilla, ministro de Justicia. Habia sido el primer enemigo publico del narcotrafico, y el mas poderoso entre los legales; [...] «Estaba en mi cuarto, haciendo una tarea de Quimica», dije. (Vasquez 2015: 227).

Zu der Ermordung kam es, als Pablo Escobar es schaffte, kurzzeitig sein politisches Bestreben in die Tat umzusetzen und ins Parlament einzog. Durch die bereits in Kapitel 3.1 erwähnte Unterstützung der Armen, schaffte er es, Wählerstimmen zu werben. Durch Uneinigkeiten mit dem damaligen Justizminister Rodrigo Lara Bonilla musste er das Parlament wieder verlassen (vgl. Mayer 1990: 197-198). Pablo Escobar veranlasste daraufhin dessen Ermordung, die am 30. April 1984 von zwei sicarios durchgeführt wurde (vgl. El Tiempo 2019).

Ebenfalls wird die Ermordung des Direktors der Tageszeitung ElEspectador Guillermo Cano in Vasquez Roman thematisiert, welche von Pablo Escobar in Auftrag gegeben wurde (vgl. Mayer 1990: 210). Bei der Beschreibung der Tat werden Details bekanntgegeben, um der Grausamkeit Ausdruck zu verleihen: “Tenia dieciséis cuando Escobar mato o mando matar a Guillermo Cano, director de El Espectador (a pocos metros de las instalaciones del periodico, el asesino le metio ocho tiros en el pecho).” (Vasquez 2015: 19).

Ein Anschlag was aus Sicht des Erzählers ein besonderes Ereignis für die Bevölkerung Kolumbiens, da er über den Fernseher live miterlebt werden konnte und somit visuelle und akustische Bilder und Eindrücke in den Köpfen der Bevölkerung erzeugt wurden und die Angst unter ihnen schürte:

Tenia diecinueve y ya era un adulto, aunque no habia votado todavia, cuando murio Luis Carlos Galan, candidate a la presidencia del pais, cuyo asesinato fue distinto o es distinto en nuestro imaginario porque se vio en television: la manifestacion que vitoreaba a Galan, luego las rafagas de metralleta, luego el cuerpo desplomandose sobre la tarima de madera, cayendo sin ruido o su ruido oculto por el bullicio del tumulto y por los primeros gritos (Vasquez 2015: 19).

Es handelt sich um den Anschlag auf den Senator und Präsidentschaftskandidaten der liberalen Partei Luis Carlos Galan. Der Anschlag auf ihn am 18. August 1989 wurde live im Fernsehen übertragen, denn er hielt gerade in der Kleinstadt Saocha eine Rede. Mehrere Männer schossen auf ihn und er verstarb noch am selben Tag im Krankenhaus. Der Mord wurde direkt mit dem Medellin-Kartell in Verbindung gebracht (vgl. Mayer 1990: 208). Die Regierung um Präsident Virgilio Barco begann daraufhin mit intensiver Fahndung nach den Mitgliedern der Drogenmafia, was diese dazu veranlasste den offiziellen Krieg gegenüber der Regierung zu erklären.

Dieser Krieg beinhaltete unter anderem einen Bombenanschlag auf ein Flugzeug der Fluggesellschaft Avianca bei dem alle Insassen ums Leben kamen (vgl. Zelik/Azzellini 2000: 127). Escobar ließ am 27. November 1989 eine Bombe an Bord des Avianca-Flug 203 bringen, welches sich auf dem Weg von Bogota nach Cali befand, um den Präsidentschaftskandidaten César Gaviria zu ermorden. Gaviria war jedoch nicht an Bord dieses Flugzeuges gegangen, da die DAS (Departamento Administrativo de Seguridad, Geheimpolizei Kolumbiens) ihm davon abriet, zivile Flüge zu nehmen (vgl. Morales Sierra 2019). Für die Figuren in Vasquez ‘ Roman war dieses Ereignis einschneidend, da sie verstanden, dass auch unschuldige Opfer in Kauf genommen worden waren: [.] Pablo Escobar hizo poner una bomba en un vuelo civil que cubriria —que hubiera cubierto— la ruta Bogota Cali. Gaviria, sin embargo, ni siquiera llego a subir. [...] «Ahi supimos», dijo Maya, «que la guerra también era contra nosotros. [...] Era en el fondo lo mismo, pero por alguna razon me parecio distinto, a muchos nos parecio distinto, como si cambiaran las reglas del juego. (Vasquez 2015: 229).

Insgesamt sollen 263 Bombenanschläge in der Zeit von 1989 und 1990 vom Kartell von Medellin verübt worden sein. So beispielsweise auch am 6. Dezember 1989 auf den Hauptsitz der DAS mit 79 Toten und über 1.000 Verletzten (vgl. Zelik/Azzellini 2000: 127). Die verübten Anschläge werden auch in Vasquez‘ Roman thematisiert und führen dazu, dass die Figuren der erzählten Welt ein gespaltenes Verhältnis zu der Stadt sowie Ängste entwickeln: «Estabas esperando a que llegara?», insistio ella. [.] Y luego: «Antonio, Bogota no es una ciudad en guerra. No es que haya balas flotando por ahi, no es que lo mismo nos vaya a pasar a todos». [.] Nadie cree que te pueda tocar una bomba como la bomba de los Tres Elefantes, ni como la bomba del DAS, porque tu no trabajas en el DAS, ni como la bomba del Centro 93, porque tu nunca vas a comprar al Centro 93. Ademas esa época ya paso, 6no es cierto?

Asi que nadie cree que te vaya a tocar eso, Aura, seriamos muy de malas, 6verdad? Y nosotros no somos de malas, ^verdad?» (Vasquez 2015: 61).

Der Tod von Pablo Escobar wird eher nebensächlich im Zusammenhang mit seinem ehemaligen Anwesen der Hacienda Napoles erwähnt: „Era la Hacienda Napoles, el territorio mitologico de Pablo Escobar, que en otros anos habia sido el cuartel general de su imperio y habia quedado abandonada a su suerte desde la muerte del capo en 1993.” (Vasquez 2015: 19). Escobar ist im August 1992 aus seinem von ihm selbst gebauten Gefängnis geflohen, da er verlegt werden sollte. Er wurde im Dezember 1993 gefasst und ausgelöscht, was die endgültige Zerschlagung des Kartells von Medellin bedeutete (vgl. Zelik/Azzellini 2000: 128).

Vom nächsten Ereignis erfährt der Erzähler auch über die Medien. Es geht um das Flugzeugunglück des American-Airline Fluges 965 am 21. Dezember 1995, bei dem fast alle Insassen ums Leben kamen, als das Flugzeug auf dem Weg von Miami nach Cali gegen einen Berg prallte (vgl. El Tiempo 1996). Der Erzähler erfährt von dem Unglück über die Medien und drückt sein Mitgefühl aus:

Pues no era una manana como cualquiera, no era un 21 de diciembre como cualquier otro 21 de diciembre de cualquier otro ano: desde primeras horas de la madrugada las emisoras y los periodicos nos habian contado que el vuelo 965 de American Airlines, proveniente de Miami y con destino final en el aeropuerto international Alfonso Bonilla Aragon de la ciudad de Cali, se habia estrellado la noche anterior contra la ladera oeste de la montana El Diluvio. [.] Lamenté el accidente, senti toda la simpatia de que soy capaz por la gente que esperaba a sus familiares para pasar con ellos las fiestas, [...]. (Vasquez 2015: 40).

In Vasquez‘ Roman ist dieses Ereignis wichtig für die Handlung, da eine der Figuren, Elaine Fritts, in dem Flugzeug umkommt (vgl. Vasquez 2015: 49).

Ein weiteres Ereignis, von dem der Erzähler durch das Fernsehen erfahren hat, ist die Ermordung des Politikers Alvaro Gomez. Der Erzähler schildert die Bilder, die im Fernsehen zu sehen waren, die vom Tatort nach der Tat gemacht worden waren. Sie sind sehr einprägsam, da die grausamen Details, wie Blutspuren vom Opfer, beschrieben werden, was die Schrecklichkeit dieser Verbrechen unterstreicht: „[...] —a través de la ventana destrozada se veia el asiento trasero, los restos de cristales, los brochazos de sangre seca— [...]” (Vasquez 2015: 18). Dieses Ereignis hat in der Realität am 2. November 1996 stattgefunden. Der Präsidentschaftskandidat Alvaro Gomez Hurtado wurde vermutlich ermordet, da er den geplanten Putsch gegen den Präsidenten Ernesto Samper nicht unterstützt hatte. Verantwortlich für den Mord soll der Geheimdienst des Militärs, die XX.Brigade sein. Gomez gehörte genau wie sein Vater Laureano Gomez, der 1950-1953 Präsident von Kolumbien war, zu den Ultrarechten (vgl. Zelik/Azzelini 2000: 39/53/164).

Ein reales historisches Ereignis, welches vor dem Drogenkrieg stattgefunden hat und auch ein Unfall war, ist die „Tragödie von Santa Ana“ vom 24. Juli 1938, bekannt unter dem Namen accidente aéreo de Santa Ana oder tragedia de Santa Ana. Um das 400-jährige Bestehen der Stadt Bogota zu feiern wurde in der Gemeinde Utaquén im Bezirk Santa Ana eine Feier mit vielen Gästen organisiert. Es fand eine Flugshow des Militärs statt, während der, der Pilot César Abadia bei einem riskanten Manöver die Kontrolle über seine Hawk-F- 11-C verlor und abstürzte. Es starben 75 Personen, über 100 wurden verletzt (vgl. Alarcon 2018). In Vasquez ‘ Roman handelt es sich um das am weitesten zurückliegende referenzialisierbare Ereignis (vgl. Kapitel 5.2.3 Ordnung). In dieses Ereignis eingebettet, wird die Geschichte des Großvaters von Maya Fritts erzählt beziehungsweise die des Vaters von Ricardo Laverde, namens Julio Laverde, der als Kind von seinem Vater auf diese Flugshow mitgenommen wurde (vgl. Vasquez 2015: 112-123). Dieses Ereignis bildet den Ausgangspunkt für eine Kette von Ereignissen in der Romanhandlung. Ricardos Interesse an Flugzeugen wird durch die Erzählungen seines Vaters geweckt, wodurch sein Berufswunsch als Pilot entsteht und es ihm später möglich wird in den Drogenhandel einzusteigen (vgl. Vasquez 2015: 155).

4. Zum Verhältnis von Literatur und Erinnerungskultur

Literatur nimmt Bezug auf Vergangenheit und Gedächtnis in der außerliterarischen Wirklichkeit, überträgt sie in ästhetische Formen und macht sie so für die Leser sichtbar (vgl. Erll 2017: 68). Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Vergangenheit erinnerbar gemacht wird, und verleiht der Literatur somit eine große Rolle in Erinnerungskulturen (vgl. Erll/Nünning 2005: 187-188). Erll und Nünning bezeichnen Literatur als „potenziertes Medium der Erinnerungskultur“, da sie sich durch ihr spezifisches Symbolsystem entscheidend von anderen Gedächtnismedien unterscheiden (Erll/Nünning 2005: 190, Hervorhebung im Original). Zum einen können literarische Texte zur Gedächtnisbildung beitragen, denn sie besitzen das Potenzial neuartige, aber an die symbolische Sinnwelt einer Erinnerungs-kultur anschließbare imaginäre Wirklichkeiten [zu] erzeugen, indem sie Selbst-bilder, Geschichtsvorstellungen oder Werte und Normen auf prägnante und anschauliche Weise darstellen und Vergessenes und bis dahin Unartikulier-tes oder Unartikulierbares in die Erinnerungskultur einspeisen. (Erll/Nünning 2005: 193). oder können auch die Entwicklung von Gegen-Erinnerungen erzeugen (vgl. Erll/Nünning 2005: 193). Zum anderen dienen sie auch zur Gedächtnisreflexion, indem die „Funktionsweisen und Probleme kultureller Erinnerung“ thematisiert werden, wie es beispielsweise bei Texten der Fall ist, die die „Aneignung von Vergangenheit“ inszenieren (Erll/Nünning 2005: 193).

Die Literatur stellt neben Mythen, Religionen, Recht und Wissenschaft „ eine eigenständige symbolische Form “ der Erinnerungskultur dar (Erll 2017: 167, Hervorhebung im Original).

4.1 Definitionen des Begriffs Erinnerungskultur

Der Begriff Erinnerungskultur besitzt sehr unterschiedliche Bedeutungen und wird in unterschiedlichen Kontexten gebraucht. Im Folgenden sollen einige Definitionen als Beispiele angeführt werden.

Aleida Assmann reduziert sich bei der Einführung des Begriffs auf lediglich drei Definitionen: Zunächst kann unter dem Begriff „die Pluralisierung und Intensivierung der Zugänge zur Vergangenheit“ verstanden werde, wobei die Vergangenheit im Interesse von Individuen, Gruppen aber auch Regionen, Städten oder Nationen stehen kann (A. Assmann 2013: 32, Hervorhebung im Original). Eine weitere Definition des Begriffs wurde von Nietzsche geprägt. Er versteht unter Erinnerungskultur „ die Aneignung der Vergangenheit durch eine Gruppe “ (A. Assmann 2013: 32, Hervorhebung im Original). Bei der letzten Bedeutung, der ethischen Erinnerungskultur, bezieht Assmann sich auf Volkhard Knigge. Bei dieser neueren Definition geht es darum, sich kritisch mit Staats- und Gesellschaftsverbrechen aus der Opferperspektive auseinanderzusetzen, mit dem Ziel, die Überlieferungen zu vervollständigen und es den Opfern zu ermöglichen, ihren Status als Subjekt zurückzuerlangen (vgl. A. Assmann 2013: 32-33).

Auch Knigge weist auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs hin. Laut ihm sollte die Erinnerung die Funktion erfüllen, dass innerhalb der Gesellschaft eine „Ausbildung eines historisch aufgeklärten politischen Bewusstseins“ erreicht wird und die Bevölkerung soweit sensibilisiert wird, dass die eine Wiederholung solcher Ereignisse ausgeschlossen werden kann (Knigge 2006: 172). Die Zielsetzung des Erinnerns ist dabei „verursachtes, anderen zugefügtes Unrecht und Leid [...] dauerhaft vor dem Vergessen zu schützen.“ (Knigge 2006: 173, Hervorhebung im Original). Die Gesellschaft soll an sich selbst arbeiten und aus der Vergangenheit lernen, mithilfe von „historisch-kritischer Selbstreflektion“ (Knigge 2006: 173).

In Birgit Neumanns Definition von Erinnerungskultur ist die identitätsbezogene Komponente besonders von Wichtigkeit. Sie beschreibt als Erinnerungskulturen „[...] historisch und kulturell variable Formen der kollektiven Vergangenheits- und Selbstdeutung“ (Neumann 2005: 150).

4.2 Individuelle und kollektive Gedächtnisformationen

Wie in den vorangegangenen Definitionen bereits enthalten, steht die Identitätsbildung im Zentrum des Vergangenheitsbezugs der Erinnerungskultur (vgl. Erll 2017: 14). Wir als Menschen definieren unser Ich über die Fähigkeit zur Erinnerung beziehungsweise über unsere Erinnerungen selbst, da sie Voraussetzungen zur Kommunikation und Identitätsbildung liefern (vgl. Assmann 2006: 24-25). Wenn das Erinnern auf individueller Ebene stattfindet spricht man vom „individuellen Gedächtnis“, welches „das dynamische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung“ ist (A. Assmann 2006: 25).

In dem Konzept des kollektiven Gedächtnisses verweist der französische Soziologe Maurice Halbwachs auf die soziale Prägung des individuellen Gedächtnisses. Halbwachs unterscheidet zwei Konzepte des kollektiven Gedächtnisses: Das kollektive Gedächtnis „als Gedächtnis des Individuums, das sich im Horizont eines soziokulturellen Umfeldes herausbildet“ und das kollektive Gedächtnis „als der durch Interaktion, Kommunikation, Medien und Institutionen innerhalb von sozialen Gruppen und Kulturgemeinschaften erfolgende Bezug auf Vergangenes“ (Erll 2017: 12). Das soziale Umfeld stellt laut Halbwachs die Voraussetzung für die individuellen Erinnerungen dar, da Erinnerungen erst durch Interaktion und Kommunikation gebildet werden können (vgl. Erll 2017: 13). Außerdem können Menschen durch den sozialen Bezugsrahmen an der „kollektiven symbolischen Ordnung teilhaben [...]“ und „vergangene Ereignisse verorten, deuten und erinnern“ (Erll 2017: 13).

Das individuelle und kollektive Gedächtnis stehen in einer Relation zueinander, da sie sich gegenseitig bedingen und voneinander abhängig sind (vgl. Erll 2017: 13). Halbwachs beschreibt dieses Verhältnis wie folgt: „[...] jedes individuelle Gedächtnis ist ein >Ausblickspunkt< auf das kollektive Gedächtnis“ (Halbwachs 1985: 31). Das individuelle Gedächtnis eines Menschen ist also sozial und kulturell geprägt und definiert sich über den individuellen Standpunkt, den ein Mensch aufgrund dieser Prägung eingenommen hat (vgl. Erll 2017: 13).

Aleida und Jan Assmann entwickelten aufbauend auf den Begriff des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs die Begriffe des kulturellen Gedächtnisses und des kommunikativen Gedächtnisses. Es handelt sich um zwei Register des kollektiven Gedächtnisses (vgl. Erll 2017: 24-25). Das kommunikative Gedächtnis bezieht sich auf Erinnerungen, die ein Mensch mit seinen Zeitgenossen kommuniziert und gehört zur Oral History (vgl. J. Assmann 2013: 50-51). Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses bezeichnet [.] den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchts- Texten, -Bildern und -Riten [...], in deren »Pflege« sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt. (J. Assmann 1988: 15).

Anders als das kommunikative Gedächtnis besitzt das kulturelle Gedächtnis Fixpunkte. Unter Fixpunkten versteht J. Assmann „schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten wird“ (J. Assmann 1988: 12).

Über die Medien Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird das kulturelle Gedächtnis weitergegeben. Die Schriftlichkeit ist nicht auf die Gedächtniskapazität von Personen angewiesen, da die Texte jederzeit zu einem späteren Zeitpunkt angeeignet werden können, wobei sie aber immer wieder einer neuen Interpretation bedürfen (vgl. Erll 2017: 27). Es besteht eine enge Beziehung zwischen Schrift, dem kulturellen Gedächtnis und politischer Identität auf, denn „Gemeinschaftlicher, identitätsbildender kultureller Sinn wird in Schriftkulturen durch normative und formative Texte gestiftet und kontinuiert [...].“ (Erll 2017: 27).

4.3 Der literarische Text als Medium des kollektiven Gedächtnisses

Bei literarischen Texten handelt es sich um Medien des kollektiven Gedächtnisses, welche [...] erinnerungskulturelle Funktionen, wie die Herausbildung von Vorstellungen über vergangene Lebenswelten, die Vermittlung von Geschichtsbildern, die Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen und die Reflexion über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses [übernehmen]. (Erll 2017: 167).

Um ihre Wirkung innerhalb der Erinnerungskultur zu erfassen, müssen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu kulturellen Gedächtnisprozessen betrachtet werden. In ihrer Erzeugung der Welt weisen Literatur und Gedächtnis eine Ähnlichkeit auf, da sie beide Erinnerungsfiguren hervorbringen und durch eine Narrativisierung zu einer Sinnbildung beitragen. Sowohl Literatur als auch Gedächtnis produzieren „Wirklichkeits­und Vergangenheitsversionen“ (Erll 2017: 167). Des Weiteren können zwischen Literatur und dem kollektiven Gedächtnis „Schnittpunkte“ festgestellt werden (Erll 2017: 168). Beide weisen eine Verdichtung der Vergangenheit auf. Innerhalb der Erinnerungskultur kann diese Verdichtung in Topoi, Narrative und Ikonen gefunden werden. In der Literatur wird mit Werkzeugen, wie der Metaphorik, Intertextualität oder Allegorien eine Verdichtung erreicht, wobei ihre semiotische Bedeutung nur erkannt werden kann, wenn ein gewisses Wissen über Kultur und Praktiken der Erinnerungsgemeinschaft vorliegt, das bedeutet, Literatur ist rezeptions- und kontextabhängig. Ein weiterer Schnittpunkt ist, dass Literatur und kollektives Gedächtnis narrative Prozesse beinhalten. Beide weisen eine Achse der Selektion auf. Es werden bestimmte narratologische Elemente beziehungsweise bestimmte Elemente auf die Vergangenheit bezogen ausgewählt, wie zum Beispiel Ereignisse, Prozesse oder Personen und beide weisen eine Achse der Kombination auf, das heißt, wie sind diese Elemente kombiniert. Es werden dabei nur die bedeutsamen Elemente ausgewählt und später so kombiniert, dass sie eine Bedeutung in ihrer Gesamtheit ergeben (vgl. Erll 2017: 168­169). Die Erzählung hat eine entscheidende Funktion innerhalb der Erinnerungskultur, denn ihre Funktion ist die „ Sinnbildung über Zeiterfahrung “ und sie bildet die Grundlage für eine mögliche Deutung der Vergangenheit (Erll 2017: 169, Hervorhebung im Original). Der nächste Schnittpunkt sind die Gattungsmuster. In der Erinnerungskultur kommen sie zum Tragen, indem Individuen einer Gesellschaft sich diese Gattungsmuster durch Sozialisation und Enkulturation aneignen und in den Speicher ihrer autobiographischen Erinnerung aufnehmen. Bei der Rezeption von Literatur wird auf dieses Wissen zurückgegriffen, um eine Deutung zu erzielen. Die verschiedenen Gattungen erfüllen verschiedene Funktionen innerhalb der verschiedenen Epochen und tragen zur Ausbildung der nationalen Identität bei, wie beispielsweise der historische Roman in England und Deutschland als Gedächtnisgattung im 19. Jahrhundert (vgl. Erll 2017: 169-170).

Die Unterschiede zu kulturellen Gedächtnisprozessen beruhen darauf, dass in Literatur „ symbolsystem-spezifische, distinktive Merkmale “ enthalten sind, die sie von anderen Symbolsystemen unterscheidet (Erll 2017: 171, Hervorhebung im Original). Zu diesen Merkmalen gehören „fiktionale Privilegien und Restriktionen, Interdiskursivität und Polyvalenz“ (Erll 2017: 171).

4.4 Die Aneignung von Erinnerungen in El ruido de las cosas al caer

In Vâsquez‘ Roman findet auf Ebene der Diegese eine Aneignung von Erinnerungen8 und Vergangenheit durch die Figuren Maya und Antonio statt, was einer Gedächtnisreflexion entspricht (vgl. Erll/Nünning 2005: 193).

Antonio eignet sich zunächst die Erinnerungen allein an, wodurch das individuelle Gedächtnis zum Einsatz kommt (vgl. Vasquez 2015: 15). Ausgelöst durch ein Nilpferd, welches Antonio in der Zeitung sieht, das aus Pablo Escobars Zoo ausgebrochen war, beginnt er sich an Ricardo Laverde und eine bestimmte Zeit in seinem Leben zurückzuerinnern. Diese Zeit ist negativ durch Gewalt geprägt, ausgehend von den Drogenkartellen (vgl. Vasquez 2015: 13-19). Ricardo wirft für Antonio einige offene Fragen auf, da er Ricardo nur oberflächlich gekannt hat. Außerdem sieht Antonio sein Schicksal an Ricardos geknüpft (vgl. Vasquez 2015: 248), weshalb sich die offenen Fragen auch auf seine eigene Vergangenheit und die daraus gespeiste Identität beziehen. Antonio versucht also seine eigene Gegenwart und Identität mithilfe der Vergangenheit zu verstehen (vgl. Albornoz Vasquez 2017: 53). In der folgenden metafiktionalen Passage philosophiert der Erzähler über das Werk selbst. Für ihn ist die Erzählung ein Mittel, um sich die Vergangenheit anzueignen und diese zu bewältigen und betont die Notwendigkeit des Erinnerns: Y es asi que se ha puesto en marcha este relato. Nadie sabe por qué es necesario recordar nada, qué beneficios nos trae o qué posibles castigos, ni de qué manera puede cambiar lo vivido cuando lo recordamos, pero recordar bien a Ricardo Laverde se ha convertido para ml en un asunto de urgencia. (Vasquez 2015: 15).

Aus diesem Gefühl der Notwendigkeit heraus beschließt Antonio sich mit Ricardos Vergangenheit, und somit auch mit seiner eigenen Vergangenheit, auseinanderzusetzen. Er beginnt eine Recherche über Ricardo Laverdes Leben. Er fährt zum Ort des Attentats und zum ehemaligen Haus von Ricardo, um dort an Informationen über Ricardo zu gelangen. Von den Personen dort wird er jeweils zunächst abgeblockt, nur die Vermieterin von Ricardo namens Consu lässt sich schließlich doch auf ein Gespräch ein (vgl. Vasquez 2015: 69-70, 72-73). Die Reaktionen der Kellnerin am Ort des Attentats und von Consu könnten stellvertretend für die Haltung einer ganzen Gesellschaft stehen, die die Vergangenheit lieber verdrängt, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Verdrängung der Geschehnisse durch die Gesellschaft löst negative Gefühle in Antonio aus (vgl. Vasquez 2015: 70). Als Opfer des Attentats erscheint dies verständlich, denn mit der Ignoranz der Gesellschaft fehlt es an jeglicher Anerkennung und an Diskurs über die Geschehnisse, die wichtig sind, um sein Trauma zu verarbeiten. Hier setzt die Notwendigkeit für eine Erinnerungskultur in der Gesellschaft an, damit sich mit der Vergangenheit aktiv auseinandergesetzt wird.

Über Consu kommt der Kontakt zu Maya Fritts zustande. Maya lädt Antonio zu sich nach Hause ein, mit der Intention, mehr über ihren Vater zu erfahren, da sie ihn kaum gekannt hat (vgl. Vasquez 2015: 104, 106). Bei Antonios Besuch bei Maya findet eine Aneignung als Gemeinschaft statt und es entsteht ein Austausch über die Erinnerungen, weshalb ein kollektives beziehungsweise ein kommunikatives Gedächtnis entsteht. Um heraufzufinden, wer ihr Vater war, hat Maya Dinge von ihm gesammelt, wie zum Beispiel Fotos, Briefe und Rechnungen, und hat die Geschichten dazu rekonstruiert. Sie bewahrt Dinge auf, die für andere Menschen bedeutungslos erscheinen, die für sie aber von großer persönlicher Bedeutung sind und einen „Beweis“ darstellen. Die Bedeutung des Wortes „Beweis“ spezifiziert sie nicht, trotz Nachfrage von Antonio. Es könnte hier beispielsweise interpretiert werden, dass es sich um einen Beweis für die Existenz von ihrem Vater handelt und sie befürchtet, dass er und sein Schicksal in Vergessenheit geraten (vgl. Vasquez 2015: 107-108). Maya schafft, indem sie Antonio zu sich einlädt, einen Rahmen für die Erinnerung, da sie sich bewusst erinnern und sich über die Vergangenheit und Emotionen austauschen. Nach Assmann würde dies einem kommunikativen Gedächtnis entsprechen (vgl. A. Assmann 2006: 25).

Maya und Antonio fahren mit der Absicht zur Hacienda Näpoles, sich an vergangene Zeiten zu erinnern (vgl. Vasquez 2015: 225). Dieser Ort repräsentiert für die beiden die vergangene Epoche, mit allen schrecklichen vergangenen Ereignissen, und der Gewalt ausgehend von den Drogenkartellen (vgl. Vasquez 2015: 235). Der Ort steht aber auch dafür, dass diese Zeit jetzt der Vergangenheit angehört, was sich in seinem Zerfall und seiner Verlassenheit manifestiert. Die Anlagen sind sehr dreckig, heruntergekommen und verlassen:

Recorrimos el perimetro de la construccion y vimos juntos sus paredes ruinosas, sus vidrios sucios o rotos, la madera desastillada de sus vigas y sus columnas, los azulejos rotos y desportillados de los banos exteriores. Vimos las mesas de billar [...] en esos salones que el tiempo habia oscurecido y ensuciado, el verde refulgente del pano brillaba como una joya. Vimos la piscina vacia de agua, pero llena de hojas secas y de trozos de corteza y de ramitas que el viento se ha llevado. (Vasquez 2015: 235).

Sie nehmen die Hacienda Näpoles als Ort der Erinnerung, welcher den „Anhaltspunkt ihrer Erinnerung“ darstellt (J. Assmann 2013: 39). Sie erinnern sich gemeinsam an die verschiedenen einschneidenden Ereignisse der kolumbianischen Geschichte, die unter der Verantwortung von Pablo Escobar verübt worden sind und tauschen sich darüber aus, was sie gerade gemacht haben und wo sie waren, als sie von den Ereignissen erfahren haben und was sie gefühlt haben (vgl. Vasquez 2015: 227-229).

[...]


1 Von sp. narco ‘Dealer‘

2 Von sp. sicario ‘Killer‘. Bei der sicaresca oder der novela de sicarios handelt es sich um Romane, in denen die Figur des sicarios eine wichtige Rolle einnimmt oder die sozialen und politischen Probleme des Phänomens thematisiert werden. Bei sicarios handelt es sich oft um junge Männer, die für Geld Auftragsmorde an beispielsweise Politiker/innen, Richter/innen oder generell an Menschen begingen, die den Geschäften der Kartelle im Weg standen (vgl. von der Walde 2001: 27).

3 La Violencia, (mit großem Anfangsbuchstaben) ist ein feststehender Begriff und bezeichnet die Zeit, in der in Kolumbien ein Bürgerkrieg stattfand (1948-1965) (vgl. Schuster 2009: 11-12).

4 Der bogotazo wird in einem anderen Roman von Vâsquez‘ La forma de las ruinas (2015) näher thematisiert.

5 Zu den bewaffneten Gruppen, die während der 80er und 90er Jahre in Kolumbien aktiv waren und Gewalttaten verübten, gehören die linksgerichteten Guerilla-Gruppen (hauptsächlich die beiden großen Gruppen FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) und ELN (Ejército de Liberation National) sowie die rechten Paramilitärs (Paramilitares) (vgl. Mertins 2004: 44).

6 Dieses Ereignis ist unter dem Namen narcocasete -Skandal bekannt und das darauffolgende gerichtliche Verfahren unter dem Namen Proceso 8000 (vgl. Ambos 2017: 388)

7 Hacienda Näpoles ist der Name des ehemaligen Anwesens von Pablo Escobar (vgl. Vasquez 2015: 19).

8 Nach Hegel bezeichnet der Begriff „Aneignung von Erinnerungen“ die „höchste Erinnerung“, die durch ein „Insichgehen des Geistes“ erreicht wird (Schmitz 1964: 37-39).

Final del extracto de 57 páginas

Detalles

Título
Trauma und Angst in Juan Gabriel Vásquez' Roman "El ruido de las cosas al caer"
Subtítulo
Die literarische Darstellung und der Beitrag des Romans zur Erinnerungskultur in Kolumbien
Universidad
University of Bremen  (Romanistik)
Calificación
1,3
Autor
Año
2020
Páginas
57
No. de catálogo
V922741
ISBN (Ebook)
9783346248954
ISBN (Libro)
9783346248961
Idioma
Alemán
Palabras clave
Juan Gabriel Vásquez, Trauma, Angst, Erinnerungskultur, Literaturwissenschaft, Spanisch, Histpanistik, literaturwissenschaftliche Analyse, El ruido de las cosas al caer, Kolumbien, Pablo Escobar, literarische Darstellung, Drogenhandel, Gewalt, spanisch Literaturwissenschaft, Erzählanalyse
Citar trabajo
Michelle Kahrs (Autor), 2020, Trauma und Angst in Juan Gabriel Vásquez' Roman "El ruido de las cosas al caer", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/922741

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