Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Darstellungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
2 Allgemeine Grundlagen zur Wohnungslosigkeit
2.1 Definition
2.2 Erscheinungsformen
2.3 Ursachen
2.4 Biopsychosoziale Gesundheitsfolgen
2.4.1 Risikofaktoren
2.4.2 Biologische Folgen
2.4.3 Psychische Folgen
2.4.4 Soziale Folgen
2.5 Wohnungslosigkeit und Klinische Soziale Arbeit
3. Ressourcen und Wohnungslosigkeit
3.1 Was sind Ressourcen?
3.1.1 Begriffserklärung
3.1.1.1 Personale Ressourcen
3.1.1.2 Soziale Ressourcen
3.1.1.3 Strukturelle Ressourcen
3.1.2 Ressourcen-Merkmale
3.2 Gesundheitsfördernde Funktion der Ressourcen
3.2.1 Stressbewältigung mithilfe der Ressourcen (Antonovsky)
3.2.2 Bedürfnisbefriedigung mithilfe der Ressourcen (Grawe)
3.3 Ressourcen von wohnungslosen Menschen
4 Biopsychosoziale Gesundheit und Gesundheitsförderung
4.1 Salutogenetische Orientierung
4.2 Gesundheitsdefinition
4.3 Ressourcenorientierte Gesundheitsförderung
5. Forschungsziel, Fragestellung und Hypothesen
5.1 Forschungsziel
5.2 Fragestellung und Hypothesen
6. Methode
6.1 Quantitative Forschung und Forschungsablauf
6.2 Zielgruppe und Stichprobe
6.2.1 Zielgruppe
6.2.2 Stichprobenauswahl
6.2.3 Stichprobenbeschreibung
6.3 Forschungsdesign
6.3.1 Querschnitterhebung
6.3.2 Mündliche Befragung
6.4 Erhebungssetting und Erhebungsablauf
6.5 Erhebungsinstrument
6.5.1 Operationalisierung
6.5.2 Teilstandardisierter Fragebogen
6.5.3 Rating-Skala
6.6 Auswertungsmethode
6.7 Gütekriterien
7. Ergebnisse
7.1 Vorhandene Ressourcenausstattung
7.1.1 Personale Ressourcen (qualitative und quantitative Befunde)
7.1.2 Soziale Ressourcen
7.1.3 Strukturelle Ressourcen
7.1.4 Personale, soziale und strukturelle Ressourcen (insgesamt)
7.2 Subjektiv wahrgenommene biopsychosoziale Gesundheit
7.2.1 Körperliche Gesundheit
7.2.2 Psychische Gesundheit
7.2.3 Soziale Gesundheit
7.2.4 Biopsychosoziale Gesundheit (insgesamt)
7.3 Zusammenhang zwischen Ressourcen und biopsychosozialer Gesundheit
7.4 Zusammenhang zwischen Ressourcen und soziodemografischen Merkmalen
8. Diskussion
8.1 Interpretation und Bewertung der Ergebnisse
8.2 Grenzen der Untersuchung
8.3 Schlussfolgerung für Klinische Soziale Arbeit
Literaturverzeichnis
Anhang
Zusammenfassung
Theorie: Wohnungslose Menschen sind einer Vielzahl an biopsychosozialen Gesundheitsfolgen ausgesetzt. Personale, soziale und strukturelle Ressourcen sind dabei für die Entwicklung und den Erhalt der Gesundheit von großer Bedeutung, da mit ihrer Hilfe sowohl Stressoren konstruktiv bewältigt als auch Grundbedürfnisse angemessen befriedigt werden können. Bereits die Stärkung der Ressourcen-Wahrnehmung kann gesundheitsfördernd wirken und helfen Wohnungslosigkeit zu überwinden. Daher lässt sich folgende Forschungsfrage für die vorliegende Masterarbeit ableiten: Inwieweit fördern subjektiv wahrgenommene personale, soziale und strukturelle Ressourcen stationär untergebrachter, wohnungsloser Personen ihre selbstbeurteilte biopsychosoziale Gesundheit und von welchen soziodemografischen Merkmalen hängen sie ab?
Methode: In dieser nicht repräsentativen Querschnittuntersuchung wurden insgesamt 44 wohnungslose, stationär untergebrachte Frauen (n=19) und Männer (n=25) zwischen 18 und 68 Jahren mündlich befragt. Mit unterschiedlichen (teil-)standardisierten Selbstbeurteilungsfragebögen, wurden vorhandene personale, soziale und strukturelle Ressourcen (ERI, ASKU), biopsychosoziale Gesundheit (SF-12v2) und soziodemografische Daten erfasst.
Ergebnisse: Am stärksten sind bei den Befragten personale Ressourcen, vor allem Autonomiebestreben ausgeprägt und am schwächsten die strukturellen Ressourcen. Vorhandene Ressourcen wirken sich signifikant positiv auf die subjektive biopsychosoziale Gesundheit der Befragten aus, insbesondere wirken vorhandene personale Ressourcen signifikant positiv auf ihre subjektive psychische und körperliche Gesundheit. Subjektive soziale Gesundheit hängt signifikant positiv mit vorhandenen sozialen und auch trendhaft mit strukturellen Ressourcen zusammen. Die Aufenthaltsdauer in den Einrichtungen korreliert hingegen signifikant negativ mit vorhandenen personalen wie auch sozialen Ressourcen der Befragten.
Schlussfolgerung: Frühe, umfassende Förderung der Ressourcen von stationär untergebrachten wohnungslosen Frauen und Männern ist eine wichtige und notwendige gesundheitsfördernde Intervention. Eine Kombination aus Ressourcenaktivierung und Wohnungsvermittlung kann die subjektive biopsychosoziale Gesundheit wohnungsloser Menschen lang anhaltend fördern.
Abstract
Theory: Homeless people are exposed to a variety of major biopsychosocial health effects. Personal, social and structural resources are of great importance for the development and maintenance of good health. They can help individuals cope with stress as well as meet their basic needs. Affirmation of resource perception can promote health and help overcome homelessness. Therefore, this master thesis focuses on the following research question: To what extent can perceived personal, social and structural resources of sheltered homeless people promote their self-evaluated biopsychosocial health, and how do social demographic characteristics influence those resources?
Method: This non-representative, cross-sectional study interviewed 44 sheltered homeless women (n=19) and men (n=25) between the age of 18 and 68. Different (partially) standardized self-assessment questionnaires were used to collect personal, social and structural resources (ERI ASKU), biopsychosocial health status (SF-12v2) and social demographic data.
Results: Respondents perceived their personal resources, especially autonomy, the strongest and their structural resources the weakest. Perceived resources have significantly positive effects on self-evaluated biopsychosocial health among respondents. In particular existing personal resources positively affect their subjective mental, as well as physical health, while their existing social resources positively affect their subjective social health. A positive trend exists between perceived structural resources and self-evaluated social health. Length of stay in the shelter, however, has a significantly negative correlation with the existing personal as well as social resources of respondents.
Conclusion: Early, comprehensive resource promotion of sheltered homeless women and men is an important and necessary health-promoting intervention. A combination of strengths-based intervention and housing can support long-term subjective biopsychosocial health of sheltered homeless people.
Vorwort
Durch den täglichen Kontakt zu akut und potenziell wohnungslosen Menschen innerhalb meiner Arbeit als Sozialarbeiterin konnte ich einen Blick in Einzelfälle gewinnen - ihre Hintergründe, ihre Ursachen für die Wohnungslosigkeit und ihren unterschiedlichem Umgang damit kennenlernen. Dabei werden viele meiner KlientenInnen mit multiplen Problemlagen und existenziellen Notsituationen, die oft finanzielle Probleme, Wohnungslosigkeit, (Lang- zeit-)Arbeitslosigkeit, körperliche Beeinträchtigung, psychische Probleme oder Einsamkeit beinhalten, konfrontiert. Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, wie viele Kompetenzen und Stärken meine KlientenInnen mitbringen und wie sie die extremen Not- und Lebenssituationen meistern können. Aus diesem Grund haben mich die so genannten „Überlebungskünst- lerInnen“ motiviert, mich verstärkt innerhalb meiner Masterarbeit, im Rahmen des Masterstudienganges „Klinische Soziale Arbeit“, mit Ressourcen der wohnungslosen Frauen und Männer auseinander zusetzten.
Hierbei möchte ich mich ganz herzlich bei den Einrichtungen Kaplan Bonetti, ifs- Krisennotwohnungen, ifs-Frauennotwohnung sowie Kolpinghaus Götzis und Bregenz bedanken, die die Durchführung der Befragung für diese Untersuchung ermöglicht und unterstützt haben.
Ganz besonders möchte ich mich auch bei allen meinen InterviewpartnernInnen bedanken, nur mit ihrer Hilfe, ihrer Offenheit und dem Mut ihre Erfahrungen zu teilen, konnte diese Masterarbeit realisiert werden.
Ebenso geht ein großer Dank an meine Betreuerin, Frau Dipl. Psy. Roux. Ich möchte mich sehr herzlich für Ihre fachliche Unterstützung, Ihre hilfreichen Anmerkungen, Ihre konstruktive Kritik sowie Ihre Geduld bedanken.
Schließlich möchte ich mich auch sehr bei meinen ArbeitskollegenInnen, meiner Familie und meinen Freunden bedanken, die mich unterstützend, verständnisvoll und geduldig bei diesem Prozess begleitet haben.
Feldkirch, 20. Juli 2015 Katharina Rainey
Darstellungsverzeichnis
Darst. 1: Ursachen für Wohnungslosigkeit (eigene Darstellung)
Darst. 2: Übersicht über allgemeine personale, soziale und strukturelle Ressourcen (eigene Darstellung)
Darst. 3: Alter der Befragten allgemein (SPSS)
Darst. 4: Alter der Befragten nach Geschlecht (SPSS)
Darst. 5: Höchste abgeschlossene Ausbildung allgemein (SPSS)
Darst. 6: Höchste abgeschlossene Ausbildung nach Geschlecht (SPSS)
Darst. 7: Interpretation vom Signifikanzniveau und vom Korrelationskoeffizienten (eigene Darstellung)
Darst. 8: Autonomiebestreben (Items)
Darst. 9: Selbstwirksamkeit (Items)
Darst.10: Emotionsregulation (Items)
Darst. 11: Naturgebundenheit (Items)
Darst. 12: Internale Kontrollüberzeugung (Items)
Darst. 13: Sinnhaftigkeit (Items)
Darst. 14: Offenheit (Items)
Darst. 15: Flexibilität (Items)
Darst. 16: Soziale Kompetenzen (Items)
Darst. 17: Soziale Ressourcen (Items)
Darst. 18: Strukturelle Ressourcen (Items)
Darst. 19: Personale, soziale und strukturelle Ressourcen (Mittelwert-Index)
Darst. 20: Art und Häufigkeiten der psychischen Erkrankungen (SPSS)
Darst. 21: Biopsychosoziale Gesundheit (Mittelwert-Index)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen...“ (UN- Menschenrechterklärung 1948: Art 25 Z 1)
Zurzeit sind in Europa mehr als 120 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Immer mehr Menschen können weder am Arbeits- noch am Gesellschaftsleben teilhaben. (Vgl. Europäische Kommission 2015a) Sparmaßnahmen wie Kürzungen der staatlichen Sozialleistungen infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise verschärfen dabei laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) die Armut und die soziale Ausgrenzung in Europa (vgl. Zeit-Online 2014). ÖkologenInnen vermuten zudem, dass die Wirtschaftskrise und die damit einhergehende hohe Arbeitslosigkeit ein lang anhaltendes Problem in Europa darstellen wird (vgl. Dams et al. 2014).
Auch die Wohnungslosigkeit ist in den letzten Jahren in den meisten europäischen Ländern gestiegen, die nicht selten durch Armut, Arbeitslosigkeit und steigende Mietpreise ausgelöst wird (vgl. Europäische Kommission 2015b). So waren auch in Österreich laut der Jahresdatenerhebung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) im Jahr 2006 mehr als 37.000 Menschen, davon 31.211 Erwachsene und 5.954 Minderjährige, von der Wohnungslosigkeit betroffen. Diese österreichweite Erhebung basiert jedoch nur auf die Datengrundlage der Delogierungsprävention, ambulanter Wohnungslosenhilfe und (teil- )stationärer Wohnbetreuung, was bedeutet, dass man von einer noch größeren Dunkelziffer ausgehen kann, weil anderweitig temporär untergekommene Personen nicht in dieser Statistik erfasst sind. (Vgl. BAWO 2009: V-X)
Wohnungslosigkeit zählt dabei in den westlichen Ländern zur extremsten Form der Armut und stellt somit ein aktuelles wie auch schwerwiegendes soziales Problem dar (vgl. Ratzka 2012: 1218), weshalb ihre nähere Betrachtung für die (Klinische) Soziale Arbeit von großer Bedeutung ist. Aufgrund der momentanen ungünstigen Bedingungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt in Österreich als auch allgemein in Europa kann angenommen werden, dass die Wohnungslosigkeit auch zukünftig ein soziales Problem bleiben wird, wenn nicht sogar wegen der wachsenden Wohnungslosenzahlen, an Bedeutung zunehmen wird. So stehen sowohl die Gesellschaft als auch die (Klinische) Soziale Arbeit weiterhin vor der großen Herausforderung, gegen die Wohnungslosigkeit und die damit einhergehenden vielfältigen (Gesundheits-)Folgen (vgl. Eikelmann et al. 2002: 46f.) präventiv und nachhaltig entgegenzuwirken. Die Folgen der Wohnungslosigkeit äußern sich nicht nur negativ auf die betroffenen Individuen, sondern auch auf die Gesellschaft. So warnt die Europäische Kommission (2015b) bereits vor hohen gesellschaftlichen Kosten, insbesondere im Gesundheits- und Justizwesen, wenn die Wohnungslosigkeit nicht bald bekämpft wird.
Denn mit dem Verlust der Wohnung verlieren Menschen auch eine existentielle Ressource, an die die alltäglichen Bedürfnisbefriedigungen wie Schlafen, Essen, Körperhygiene, Wärme, Schutz und Sicherheit, Privatsphäre, soziale Anerkennung etc. gekoppelt sind. Diese Situation kann nicht nur durch fehlende und mangelnde soziostrukturelle, soziale und individuelle Ressourcen verursacht, sondern auch dadurch verschärft und aufrechterhalten werden. Die Woh- nungslosigkeit kann teilweise in eine schwerwiegende und lang andauernde Existenzkrise führen und dabei sowohl die physische als auch psychische Gesundheit der Betroffenen erheblich negativ beeinträchtigen. (Vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 89) Die Betroffenen können den daraus entstehenden Circulus vitiosus, geprägt durch Kumulation multipler Problemlagen (vgl. Ratzka 2012: 1218), kaum alleine durchbrechen und sind oft auf professionelle Unterstützung angewiesen.
Die Ressourcenaktivierung durch Sicherung, Stärkung, Aktivierung und Aufbau der vorhandenen bzw. fehlenden internen und externen Ressourcen von wohnungslosen Menschen (vgl. Schubert 2012: 122-125) ist ein möglicher Schritt zur Gesundheitsförderung und schließlich sogar aus der Wohnungslosigkeit heraus. Denn nach Grawe (2004: 385-422) können mithilfe ressourcenorientierter Beratung oder Therapie Symptombelastungen, psychische Beschwerden und interpersonale Probleme der Betroffenen reduziert und dadurch gleichzeitig ihr Wohlbefinden verbessert werden. Ressourcenaktivierung spielt dabei nicht nur eine wesentliche gesundheitsfördernde Rolle, sondern zählt auch zu einem wichtigen therapeutischen Wirkfaktor (vgl. ebd.). Ebenso postulieren Patterson und Tweed (2009: 9f.), dass bereits die kognitive Realisierung und Erkennung des Selbstwertes wohnungslosen Menschen effektiv helfen kann, ihre Wohnungslosigkeit zu bewältigen.
Obwohl Ressourcen und Ressourcenorientierung für die Gesundheit, den Beratungsprozess und die Bewältigung der Wohnungslosigkeit entscheidend sind, wird Wohnungslosigkeit, auch im deutschsprachigen Raum, noch unzureichend ressourcenorientiert analysiert (vgl. Tweed et al. 2012: 481). Aus diesem Grund setzt sich diese Masterarbeit mit Ressourcen wohnungsloser Frauen und Männer auseinander. Der Fokus wird dabei vor allem auf die vorhandene Ressourcenausstattung der wohnungslosen Personen und deren Wirkung auf ihre biopsychosoziale Gesundheit gelegt. Mithilfe einer quantitativen Untersuchung werden die subjektiv wahrgenommenen personalen, sozialen und strukturellen Ressourcen und mögliche Zusammenhänge zwischen diesen Ressourcen und der selbsteingeschätzten biopsychosozialen Gesundheit sowie den soziodemografischen Merkmalen der Befragten empirisch erforscht. Hierbei werden wohnungslose Frauen und Männer, die in einer der stationären Einrichtungen der Vorarlberger Wohnungslosenhilfe1 leben, mündlich befragt.
Mit dieser ressourcenorientierten Untersuchung soll zum einen ein umfangreicher Überblick über die vorhandenen Ressourcen wohnungsloser Menschen geschafft werden und zum anderen ein besseres Verständnis über die möglichen gesundheitsbezogenen Zusammenhänge gewonnen werden. Diese Informationen können SozialarbeiterInnen nutzen, um verstärkt und gezielt auf die unterschiedlichen Ressourcen der wohnungslosen Personen einzugehen und daran anzuknüpfen.
Diese Masterarbeit wird folgendermaßen gegliedert: Zu Beginn wird das soziale Problem „Wohnungslosigkeit“ und ihre Bedeutung für die Klinische Soziale Arbeit ausführlich erläutert (Kapitel 2). Danach werden personen- und umweltbezogene Ressourcen und ihre gesundheitsfördernde Rolle vorgestellt (Kapitel 3) sowie die biopsychosoziale Gesundheit und die Gesundheitsförderung hinsichtlich ihrem solutogenetischen und ressourcenorientierten Verständnis beschrieben (Kapitel 4). Daraufhin folgen die Darstellung des Forschungsziels, die Konkretisierung der Forschungsfrage und die Hypothesenbildung (Kapitel 5). Nach dem das methodische Vorgehen der vorliegenden quantitativen Untersuchung geschildert wird (Kapitel 6), werden die deskriptiven und induktiven Befunde dargestellt (Kapitel 7). Abschließend werden die Ergebnisse interpretiert, kritisch reflektiert und daraus Schlussfolgerungen für die Klinische Soziale Arbeit formuliert (Kapitel 8).
2 Allgemeine Grundlagen zur Wohnungslosigkeit
Das folgende Kapitel soll eine Übersicht über die Thematik der Wohnungslosigkeit und ihre Relevanz für die Klinische Soziale Arbeit geben. So wird zuerst geklärt, was der Begriff „Wohnungslosigkeit“ bedeutet und wie sich die Wohnungslosigkeit generell und speziell in Österreich äußert. Des Weiteren werden mögliche strukturelle, soziale und individuelle Ursachen für das Entstehen der Wohnungslosigkeit und mögliche Auswirkungen der Wohnungslo- sigkeit auf die biopsychosoziale Gesundheit geschildert. Schließlich wird kurz die Funktion Klinischer Sozialer Arbeit erläutert und ihr Zusammenhang zur Wohnungslosigkeit hergestellt.
2.1 Definition
Im Laufe der historischen Entwicklung wurden unterschiedliche Begriffe verwendet, um Menschen ohne Wohnung zu beschreiben, wie zum Beispiel Wanderarme, Stadtstreicher, Penner oder Nichtsesshafte. Diese Begriffe stießen jedoch vermehrt auf Kritik, weil sie zum einen die Problemlagen der Betroffenen nur unzureichend beschreiben und zum anderen Stigmatisierung und Diskriminierung hervorrufen, indem sie den Betroffenen eine „gestörte Persönlichkeit“ und/ oder „abweichendes Verhalten“ zuschreiben. (Vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 63-69; Ratzka 2012: 1223-1226)
Aus diesem Grund findet heutzutage der weitgefasste Oberbegriff „Wohnungslosigkeit“ überwiegend in Österreich Verwendung. Wohnungslos kann demnach jemand sein, der keine Wohnung hat, von Wohnungsverlust bedroht ist, in ungesicherten und unzumutbaren Wohnverhältnissen lebt oder in einer (Wohnungslosen-) Einrichtungen wohnt (vgl. Schoibel 2013: 4). Die europäische Typologie für Wohnungslosigkeit (Ethos) vom Europäischen Dachverband der Wohnungslosenhilfe (FEANTSA) liefert eine umfangreiche und ausdifferenzierte Definition der Wohnungslosigkeit. Dabei werden wohnungslose Menschen hinsichtlich ihrer Wohnsituation in vier Hauptkategorien unterteilt (vgl. FEANTSA 2005: 1):
1. Obdachlos: Menschen ohne eine Unterkunft und ohne festen Wohnsitz, d.h. Wohnen im öffentlichen Raum (z.B. auf der Straße, unter Brücken) oder Übernachten in niederschwelligen Einrichtungen (z. B Notschlafstellen, Wärmestuben)
2. Wohnungslos: zeitlich begrenzt oder dauerhaft in Einrichtungen wohnende Menschen (z.B. Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, Frauenhäuser, Asyleinrichtungen) oder Menschen, die aus Einrichtungen wie Strafanstalten, Psychiatrien oder Krankenhäuser entlassen werden und keinen eigenen Wohnsitz mehr haben bzw. ihnen kein Wohnplatz zur Verfügung steht
3. Ungesichertes Wohnen: Menschen ohne Hauptwohnsitz oder mietrechtliche Absicherung (z.B. temporäres Wohnen bei Freunden, Bekannten und/oder Verwandten) oder mit ungesicherten Wohnverhältnissen aufgrund eines laufenden Delogierungsverfahrens (z.B. gerichtliche Aufkündigung, Räumungsklage) oder aufgrund von Gewalterfahrungen (trotz Wegweisung und Strafanzeige gegen Täter)
4. Ungenügendes Wohnen: Wohnen in Wohnwägen, Garagen, Keller, Dachböden, Zelten, Abbruchshäusern oder in überbelegten Räumen bzw. Wohnungen etc.
Zudem unterscheidet sich die Wohnungslosigkeit hinsichtlich ihrer manifesten oder latenten Erscheinungsform. So sind die im öffentlichen oder im institutionellen Raum lebenden Personen sichtbar wohnungslos, dagegen die in ungesicherten oder ungenügenden Wohnverhältnisse wohnenden Personen verdeckt wohnungslos. Hierbei liegt eine geschlechterspezifische Tendenz vor: Frauen sind häufiger als Männer verdeckt wohnungslos. (Vgl. Enders-Dragässer et al. 2004: 33f.; Enders-Dragässer/ Sellach 2005: 20)
Denn Frauen entwickeln häufiger als Männer andere, meist informelle, Bewältigungsstrategien, wie sie mit ihrer Wohnungsnot umgehen (vgl. Grull 2010: 82). Oft kommen sie bei Wohnungslosigkeit bei Freunden oder Bekannten unter oder bewahren bzw. gehen (neue) Abhängigkeits- oder Gewaltbeziehungen ein, um solange wie möglich ihrer Notlage aus Scham- und Schuldgefühlen zu verdecken und den daraus resultierenden Stigmatisierungen zu entkommen (vgl. Böhnisch/Funk 2002: 286-288; Ludwig-Mayerhofer 2008: 507). Aus diesem Grund bleiben Frauen länger verdeckt wohnungslos und nehmen seltener oder später als Männer das niedrigschwellige Hilfeangebot wahr. Oft wenden sie sich erst an das soziale Hilfesystem, wenn sich „ihre Problemlage extrem zu gespitzt hat und sie keinen Ausweg mehr sehen“ (Riege 1993: 122). Die tatsächliche Dunkelziffer bei wohnungslosen Frauen wird deswegen höher angenommen als bei wohnungslosen Männern (vgl. ebd.: 42).
Im Gegensatz dazu leben wohnungslose Männer häufiger auf der Straße oder in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Diese Tendenz bestätigen die deutschen statistischen Daten der BAG Wohnungslosenhilfe e.V.: Danach sind 25% der Männer und nur 11% der Frauen auf der Straße vorzufinden, bei Freunden und Bekannten untergekommen sind dahingegen 31% der Frauen und nur 22% der Männer (vgl. BAG-W 2005; zit. nach Enders-Dragässer/Sellach 2005: 19). Die österreichweite Erhebung zeigt auch, dass mehr Männer als Frauen das Angebot der Wohnungslosenhilfe in Anspruch nehmen. Der Frauenanteil im stationären Wohnbereich lag in Österreich im Jahr 2006 bei etwa durchschnittlich 31% und der Männeranteil dementsprechend bei etwa 69%. (Vgl. BAWO 2009: V-X) Dennoch nimmt der Frauenanteil in Einrichtungen zu, denn 1997 lag dieser z.B. noch bei etwa 20% (vgl. Schoibl 2006: 4).
Die Ethos-Definition zeigt bereits wie vielseitig akute und potentielle Wohnungslosigkeit sein kann. Aus diesem Grund grenzt diese Masterarbeit die zu erforschende Zielgruppe auf die Kategorie „wohnungslos“ ein, im speziellen auf wohnungslose Menschen, die in einer Wohnungsloseneinrichtung in Vorarlberg leben. Auf diese Entscheidung wird im Methodenteil, Kapitel 6.2.1, näher eingegangen.
2.2 Erscheinungsformen
Die stationäre Wohnungslosenhilfe in Österreich betreut neben ÖsterreicherInnen (65%) auch Drittstaatsangehörige (32%) und Europäerinnen (3%) (vgl. BAWO 2009: 86). Der Großteil der wohnungslosen Männer und Frauen in Österreich ist zwischen 31 und 50 Jahre alt. Allerdings sind bei der Altersverteilung unter 31 Jahre etwas mehr Frauen und bei der Altersverteilung über 50 Jahren etwas mehr Männer vertreten, d.h. Frauen sind im Durchschnitt etwas jünger und Männer etwas älter. (vgl. Schoibl 2006: 5-7) Außerdem sind deutschen Daten zufolge wohnungslose Männer häufiger ledig und seltener verheiratet als wohnungslose Frauen (vgl. Enders-Dragässer/ Sellach 2005: 19).
Generell verfügen wohnungslose Frauen und Männer oft nur über eine niedrige (Aus)Bildung, weshalb ihr Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert und benachteiligt ist (vgl. Ludwig- Mayerhofer 2008: 508). Demzufolge sind Wohnungslose häufig von (Langzeit-) Arbeitslosigkeit betroffen und verfügen somit meist nur über ein geringes Einkommen, was in der Regel auf Transferleistungen (z. B. Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, (IV)Pension etc.) basiert (vgl. Tessler et. al 2001: 245; Ratzka 2012: 1236). So waren zum Beispiel auch in Österreich im Jahr 2006 32 % der Personen im stationären Setting arbeitslos und nur 17 % erwerbstätig. Des Weiteren bezogen 19 % von ihnen (IV-) Pension, 12 % Sozialhilfe und 17 % waren ohne Einkommen. (Vgl. BAWO 2009: 87f.)
Dennoch ist zu beachten, dass wohnungslose Menschen eine heterogene Personengruppe bilden, sodass sie trotz allem unterschiedliche persönliche, soziale und ökonomische Lebensund Bedarfslagen besitzen (vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 89).
2.3 Ursachen
Die Ursachen der Wohnungslosigkeit sind so heterogen wie ihre Erscheinungsform. Ihre Entstehung kann nicht, wie lange Zeit angenommen, nur durch individuelle Probleme und Fehlverhalten der Betroffenen erklärt werden, sondern ist ebenso auf soziostrukturelle Probleme (siehe Darstellung 1) zurückzuführen (vgl. Ratzka 2012: 1226). Die Wohnungslosigkeit entsteht somit nicht monokausal, sondern meist prozesshaft und multikausal, indem sich soziostrukturelle, soziale und individuelle Faktoren wechselseitig bedingen (vgl. Geigner/ Steiner 1991: 13). Die nachfolgende Tabelle stellt mögliche Ursachen zusammenfassend dar:
Darst. 1: Ursachen für Wohnungslosigkeit (eigene Darstellung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: vgl. Schoibl 2013: 8, Ludwig-Mayerhofer 2008: 505-508; Biswas-Diener 2006: 186; Fichtner 2005: 22; Enders-Dragässer/ Sellach 2005: 41; Tessler et. al 2001: 244; Gillich/ Nieslony 2000: 75-104
Wohnungslosigkeit beruht demnach auf einem Verlust oder Mangel an soziostrukturellen, sozialen und individuellen Ressourcen (vgl. Geigner/ Steiner 1991: 13), der mit kontinuierlichen beruflichen, materiellen und sozialen Abstiegsprozessen einerseits, sowie mit geringem Bewältigungsvermögen anderseits einhergeht (vgl. Ratzka 2012: 1238; Fichtner 2005: 16). Häufig befinden sich die Betroffenen lange Zeit vor dem Eintritt der Wohnungslosigkeit in prekären Lebenslagen und/ oder in Krisensituationen, die sie mithilfe unterschiedlicher Bewältigungsstrategien selbstständig zu lösen versuchen. Wenn aber ihre Bewältigungsversuche scheitern und sich ihre materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen erschöpft haben, steigt die Gefahr der Wohnungslosigkeit. (Vgl. Ludwig-Mayerhofer 2008: 504)
Im Allgemeinen ist materielle Verarmung meist für Wohnungsverlust und Wohnungslosigkeit (mit) verantwortlich, wobei vor allem Frauen , Arbeitslose (vgl. Robert Koch Institut 2005: 2 Frauen sind weiterhin aufgrund der bestehenden Betreuungsverpflichtungen (Kindererziehung, Pflege der Angehörigen) sowie allgemein im Erwerbsbereich nach wie vor benachteiligt. Im Vergleich zu Männern sind Frauen bis heute in Führungspositionen unterrepräsentiert, haben geringere Chancen auf eine Vollzeitbeschäftigung, sind häufiger auf Transferleistungen angewiesen, verfügen über ein eingeschränkteres Berufsspektrum und ein durchschnittlich geringeres Einkommen und sind bei sozialen Absicherungen aufgrund von 22) und Personen mit Migrationshintergrund (vgl. Ratzka 2012: 1234f.) vom Armutsrisiko betroffen sind. So verlassen entweder die Betroffenen ihrer Wohnung freiwillig in der Hoffnung woanders bessere Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zu bekommen (vgl. Brender 1999: 22) oder sie sind aufgrund ihrer materiellen Not nicht mehr in der Lage ihre bestehende Wohnung finanziell aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig können fehlende materielle Ressourcen die Anmietung einer neuen Wohnung aufgrund hoher Mieten oder Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt behindern. Wohnungslosigkeit wiederum beeinträchtigt den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2008: 505-509; Fichtner 2005: 16-24).
Ein gleichzeitiger Verlust der sozialen und materiellen Ressource stellt für die Betroffenen oft Scheidung oder Trennung dar (vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 104), die mit einem Verlassen der gemeinsamen Wohnung oder mit der Mietzahlungsunfähigkeit verbunden ist und ebenfalls in die Wohnungslosigkeit führen kann (vgl. Fichtner 2005: 17-23; Enders-Dragässer/ Sellach 2005: 20-38). So werden Scheidung oder Trennung von wohnungslosen Frauen und Männern als häufigster Hauptgrund für ihre Wohnungslosigkeit genannt (vgl. Enders-Dragässer/ Sellach 2005: 19). Für weibliche Wohnungslosigkeit ist die häusliche Gewalt eine zusätzliche gewichtige Ursache, da Frauen nicht selten vor ihrem gewalttätigen Partner fliehen und somit ihn wie auch die gemeinsame Wohnung abrupt verlassen, um sich und in manchen Fällen auch ihre Kinder vor den Belastungen und Gewalterfahrungen in der Familie zu schützen, ohne Alternativen, andere Wohnmöglichkeiten oder finanzielle Ressourcen zu haben. (Vgl. Enders-Dragässer/ Sellach 2005: 36-39; Bodenmüller 2010: 40f.)
Das Erschließen der Alternativen nach einem Wohnungsverlust scheitert oft, nicht nur weil finanzielle, sondern auch weil soziale Ressourcen fehlen. Oft wirken sich ungünstige Sozialisation, traumatische Erlebnisse, ungünstige Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit, Haftaufenthalte oder Alkohol- und Drogenmissbrauch schon vor der Wohnungslosigkeit negativ auf das soziale Netzwerk der Betroffenen aus (vgl. Brender 1999: 30). Außerdem können häufig nur wenige der sozialen Kontakte die längerfristige Belastung durch das temporäre Gewähren von Unterkunft aushalten. So verlassen die Betroffenen temporäre Unterkunft entweder frei- Berufsunterberechung, geringen Arbeitszeiten und niedrigerem Einkommen schlechter gestellt (vgl. Sellach 2008: 464; Statistik Austria 2011: 15; Statistik Austria 2014). Alleinerzieherinnen und alleinlebende Pensio- nistinnen haben dabei das größte Armutsrisiko (vgl. Statistik Austria 2014). Auch Trennung, Scheidung oder Flucht vor Gewalt geprägte Lebensverhältnisse stellen für Frauen ein Armutsrisiko dar, weil sie oft keine eigene finanzielle Ressourcen besitzen und somit von ihrem Partner bzw. Ehemann finanziell abhängig sind (vgl. Sellach 2008: 464f.). willig, weil sie ihren Kontakten nicht länger zur Last fallen wollen oder sie werden dazu aufgefordert, bevor sie eine eigene Unterkunft gefunden haben. Die Wohnungslosigkeit erschwert wiederum den Aufbau neuer sozialer Netzwerke außerhalb der „Wohnungslosenszene“. (Vgl. Ludwig-Mayerhofer 2008: 506-509)
Des Weiteren können Krankheit, psychische Beeinträchtigung und Sucht die Wohnungslosig- keit verursachen, da sie einen sozialen und materiellen Abstieg zum Beispiel durch die Arbeitsunfähigkeit und einen Klinikaufenthalt auslösen können. Wobei zu beachten ist, dass die soziale und materielle Verelendung gleichzeitig auch physische und psychische Erkrankungen bewirkt und verstärkt. (Vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 96-98) So wird von einigen AutorenIn- nen angenommen, dass psychische Erkrankungen und Sucht nicht nur eine Ursache, sondern noch viel mehr eine Folge der Wohnungslosigkeit sei (vgl. Riege 1993: 82; Ludwig- Mayerhofer 2008: 509).
Schließlich kann auch ungünstige Bewältigung (angehäufter) materieller, sozialer und persönlicher Probleme Wohnungslosigkeit mit auslösen, weil ungünstige Bewältigungsstrategien wie vor allem Resignation, depressiv-passives Verhalten und vermehrter Alkoholkonsum die Notlage verschärfen (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2008: 509; Fichtner 2005: 16-25). Gesundheitliche Folgen infolge der Wohnungslosigkeit wirken sich wiederum ungünstig auf die Bewältigung derselben aus (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2008: 509).
Wie anhand der unterschiedlichen Ursachen dargestellt ist, wird zum einen ersichtlich, wie komplex und prekär die Lebenssituation und Lebenslage wohnungsloser Menschen sein kann. Zum anderen wird deutlich, dass Ressourcenverlust und Ressourcenmangel wichtige Mechanismen sind, die nicht nur Wohnungslosigkeit auslösen, sondern auch den Verbleib in der Wohnungslosigkeit und den damit einhergehenden Teufelskreis begünstigen können. Bereits hier ist erkennbar, dass Ressourcen eine zentrale Bedeutung habe, um den Teufelskreis zu durchbrechen und somit den Weg aus der Wohnungslosigkeit zu gestalten.
2.4 Biopsychosoziale Gesundheitsfolgen
Im nachfolgenden Kapitel werden zunächst mögliche (alltägliche) Risikofaktoren, denen Frauen und Männer innerhalb der Wohnungslosigkeit ausgesetzt sind, beleuchtet. Anschlie- ßend wird zusätzlich aufgezeigt, welche teilweise gravierenden biologischen, psychischen und sozialen Gesundheitsfolgen die Wohnungslosigkeit mit sich bringen kann.
2.4.1 Risikofaktoren
Wohnungslosigkeit stellt eine extreme Lebenssituation dar, die durch eine Vielzahl von physischen, psychischen und sozialen Stressoren geprägt ist (vgl. Ratzka 2012: 1238). Ohne Wohnung sind Personen tagtäglich unzureichender Bedürfnisbefriedigung, existentieller Notlage, Abhängigkeiten, Unsicherheit, Angst wie auch potentieller Gewalt ausgesetzt (vgl. Bodenmüller 2010: 100; Riege 1993: 82). Im Allgemeinen ist Wohnungslosigkeit durch Unterversorgung und Ausgrenzung in allen Lebensbereichen gekennzeichnet (vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 89). Von allen Bevölkerungsgruppen sind Wohnungslose am stärksten von sozialer Benachteiligung, Isolation und Verachtung betroffen (vgl. Gillich 2012: 270).
Diese Vielzahl an Risikofaktoren macht wohnungslose Menschen verstärkt vulnerabel (vgl. Munoz et al. 2006: 56). Der deutsche Mediziner und Wissenschaftler Trabert (1995: 119-128) geht von einem multifaktoriellen pathogenetischen Krankheitsmodell aus, das eine Kumulation verschiedener krankheitsverursachender Faktoren beschreibt. Nach diesem Modell besitzen krankheitsverursachende Faktoren eine additive und teilweise potenzierende Wirkung, wodurch das Krankheitsrisiko erhöht wird. Wohnungslose zählen zu den wenigen Gesellschaftsgruppen, bei denen ein großes Ausmaß an Kumulation krankheitsverursachender Faktoren vorzufinden ist. (Vgl. ebd.) Zu solchen Faktoren gehören bei wohnungslosen Menschen oft (vgl. ebd.: 111-128):
- soziale Lebenssituation: ökonomische Benachteiligung, niedriger Bildungsstand, Armut, Arbeitslosigkeit, unzureichende Wohnverhältnisse, soziale Unterschicht;
- Arbeitssituation: unzureichende Schulausbildung, ungenügende oder keine Berufsqualifikation, Arbeitslosigkeit, körperliche und gesundheitlich belastende Berufe;
- individuelles Risikoverhalten: Alkohol- und Zigarettenkonsum, Ernährungsgewohnheiten, Übernachtungsgewohnheiten;
- individuelle psychische Konfliktverarbeitungsmöglichkeiten: ungenügende Bewältigung der Lebenskrisen und „Life-events“ (vor allem Tod des Ehepartners oder eines nahen Angehörigen, Scheidung, Trennung, Arbeitsplatzverlust, Haftaufenthalt, Krankheit oder Verletzung)
- und gesellschaftsstrukturelle Bedingungen: Gesundheitsversorgungssystem, Arbeitsmarktbedingungen, gesellschaftliche Folgen der wirtschaftlichen Rezession.
Weitere Risikofaktoren sind Einsamkeit, fehlende soziale Unterstützung (vgl. Munoz et al. 2006: 56) sowie Gewalt-, Missbrauchs- oder Traumatisierungserfahrung (vgl. Ludwig Boltzmann Institut 2012: 17). Diesen Risikofaktoren sind wohnungslose Personen teilweise vor und während der Wohnungslosigkeit ausgesetzt (vgl. ebd.: 42), was somit die Kumulation an krankheitsverursachenden Faktoren erhöht.
Aufgrund der unzureichenden Lebensbedingungen und des damit einhergehenden erhöhten Stress- und Belastungspotentials liegt bei Wohnungslosen ein größeres Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen vor (vgl. Eikelmann et al. 2002: 46f.; Rokach 2005: 109; Ratzka 2912: 1238). Im Vergleich zur Normalbevölkerung leiden wohnungslose Personen deutlich häufiger an physischen und psychischen Erkrankungen (vgl. Eikelmann et al. 2002: 46f.) und haben ein deutlich höheres Mortalitätsrisiko (vgl. Ludwig Boltzmann Institut 2012: 40). Gleichzeitig verstärkt gesundheitliche Beeinträchtigung die sozial benachteiligte Situation der Betroffenen (vgl. Riege 1993: 82).
Viele europäische und internationale Studien, vor allem die aus den USA und Deutschland, beschäftigen sich mit dem Gesundheitszustand, dem Mortalitätsrisiko und mit den Risikofaktoren wohnungsloser Menschen. Je nach Studie werden wohnungslose Männer und Frauen entweder gemeinsam oder separat befragt, wobei die Befragten überwiegend männlich sind. (Vgl. Ludwig Boltzmann Institut 2012: 17-25)
2.4.2 Biologische Folgen
Wohnungslose Menschen leiden nicht selten an einer Vielzahl körperlicher Erkrankungen, wobei oft mehrere Beschwerden gleichzeitig vorliegen (vgl. Salize et al. 2002: 33). Zu den häufigsten physischen Beeinträchtigungen zählen:
- Herz- und Kreislauferkrankung, Erkrankung der Atmungsorgane, Infektionskrankheiten, Haut- und Ohrenerkrankung, Leber- und Nierenerkrankung, Erkrankung der Verdauungsorgane und des Venensystems (vgl. Trabert 1995: 127)
- alkoholbedingte Erkrankung (z. B. Ruhetremor, Leberschaden, Herzgeräusche), Nikotinsucht, Frakturen (vgl. Fichter et al. 2000: 1150-1153)
- Zahn- und Augenerkrankung, Nervenerkrankung, Erkrankung des Muskel- und Skelettsystems (vgl. Völlm et al. 2004: 45f.)
In der Studie von Völlm et al. (2004: 46), gaben 58,8% von 82 befragten wohnungslosen Männern an, in den vergangenen vier Wochen an Schmerzen gelitten zu haben, und 40% der Männer wären durch ihren Gesundheitszustand beim Erfüllen alltäglicher Aufgaben teilweise erheblich eingeschränkt.
Dennoch nehmen sich Wohnungslose subjektiv, trotz der erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigung und trotz vorliegender Schmerzen, häufig als gesund und leistungsfähig wahr (vgl. Fichtner 2005: 122f.). So zeigt auch Völlm et al. (2004: 46-48), dass 60 % der befragten Männer ihren allgemeinen Gesundheitszustand als ausgezeichnet oder gut einschätzten. Dabei nimmt die positive Einschätzung mit der Dauer der Wohnungslosigkeit zu. Die Autoren von dieser Studie führen diesen Widerspruch auf die Realitätsverdrängung und auf den „gewissen Optimismus“ zurück - Überlebenstaktiken, die Wohnungslose entwickeln, um sich ihr Überleben unter Extrembedingungen zu erleichtern. (Vgl. ebd.: 46-48) Laut Fichtner (2005: 122f.) verharmlosen wohnungslose Männer oft ihr Leiden und den Hilfebedarf, weil ihnen zum einen das Zugestehen ihrer Hilfebedürftigkeit schwer fällt und sie zum anderen versuchen ihre bedrohte Autonomie und Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten, indem sie ihren Alltag ohne jegliche Unterstützung bewältigen.
2.4.3 Psychische Folgen
Auch die Lebenszeitprävelenz für mindestens eine psychische Erkrankung ist bei wohnungslosen Personen sehr hoch und liegt je nach Studie zwischen 80 % und 100 %, wobei wohnungslose Frauen eine etwas höhere Lebenszeitprävelenz als wohnungslose Männer haben (vgl. Fichter et al. 2000: 1148; Salize et al. 2002: 31; Greifenhagen/ Fichter 1997: 165). Mögliche Erklärungen für den geschlechterspezifischen Unterschied sind: Einerseits kann die Entwicklung einer psychischen Störung bei Frauen, durch eine größere Diskrepanz zwischen weiblichen Rollenbildern in der Gesellschaft und ihrer Lebenslage in der Wohnungslosigkeit sowie durch sexuelle Gewalt als häufiger Risikofaktor verstärkt werden. Anderseits kann die größere Offenheit der Frauen, über ihre Probleme zu sprechen, das Diagnostizieren ihrer psychischen Erkrankungen erhöhen. (Vgl. Ratzka 2012: 1237)
Im Allgemeinen sind Alkohol- und Drogensucht, vor allem aber „gewohnheitsmäßiger Alkoholmissbrauch“ oder „chronischer Alkoholismus“, die dominante (psychische) Erkrankung der Wohnungslosen (vgl. Ratzka 2012: 1237; Trabert 1995: 127). In einer repräsentativen deutschen Studie teilten drei Viertel der 82 befragten wohnungslosen Männer mit, täglich oder mehrmals pro Woche Alkohol zu konsumieren, nur 11,3 % gab abstinent an. Zudem zeigen die Ergebnisse, dass etwa ein Drittel der Männer seit dem Wohnungsverlust mehr Alkohol zu sich nimmt. (Vgl. Völlm et al. 2004: 46) Alkoholkonsum spielt bei Wohnungslosigkeit eine relevante Rolle, weil er für die Betroffenen eine wichtige, wenn auch dekonstruktive, Bewältigungsstrategie, ein Fluchtmittel, einen „Rückzugsraum“, ein Mittel zur Solidarität und einen Beschäftigungsersatz darstellt. So können Wohnungslose mithilfe von Alkohol „besser“ mit ihrem Alltag zurechtkommen, ihre Not- und Extremsituation ertragen, ihre Probleme vergessen bzw. verdrängen, ihre Schmerzen und ihre innere Leere „betäuben“ sowie eine soziale Verbundenheit und Solidaritätsgemeinschaft unter Gleichgesinnten herstellen. (Vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 99-102; Bodenmüller 2010: 46, 113f.; Fichtner 2005: 125)
Neben Sucht werden bei wohnungslosen Menschen aber auch sehr häufig affektiven Störungen, Angststörung, psychotischen Störungen und Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert (vgl. Fazel et al. 2008: 1672-1675; Längle et al. 2004: 382; Fichter et al. 2000: 1150; Greifenha- gen/ Fichter 1997: 162). Eine deutsche quantitative Studie von Greifenhagen und Fichter (1997: 165) zeigt, dass 52 % der 32 befragten wohnungslosen Frauen bereits mindestens einen Suizidversuch unternommen haben. Außerdem liegt bei wohnungslosen Männern und Frauen häufig eine psychiatrische Komorbidität hinsichtlich mehrerer psychischer Störungen und Suchterkrankungen vor (vgl. Längle et al. 2004: 382; Fichter et al. 2000: 1150; Greifen- hagen/ Fichter 1997: 162). Geschlechterspezifische Unterschiede hinsichtlich Diagnoseverteilung wurden noch zu wenig untersucht. Eikelmann et al. (2002: 49) weist dennoch darauf hin, dass wohnungslose Männer häufiger an Suchterkrankung, wohingegen wohnungslose Frauen häufiger an affektiven Störungen und Schizophrenie erkranken.
Zusätzlich sind wohnungslose Personen, vor allem Frauen, verstärkt körperlicher oder sexueller Gewalt vor und während der Wohnungslosigkeit ausgesetzt. Dabei kann körperliche, sexuelle und emotionale Gewalt physische2, psychosomatische3, reproduktive4 und psychische6 Folgen verursachen, die über mehrere Jahre fortbestehen und sich sogar zur körperlichen und/oder psychischen Behinderungen entwickeln können (vgl. WHO 2003: 9-12; Brzank 2009: 331). Die Studie von Greifenhagen und Fichter (1997: 168) zeigt folgende Ergebnisse hinsichtlich der Gewalterfahrung bei den 32 befragten wohnungslosen Frauen an:
“Fifty-six percent had been robbed at least once in the past 12 months; 34% became victims of bodily injury; 34% victims of sexual harassment in the past year. Almost two thirds had been sexually abused at some point in their life; one third had been raped. Twenty-two percent reported to have been sexually abused in their childhood, the perpetrators being members of the family in all cases. Sixty-nine percent reported physical or sexual violence in their marriages or relationships prior to becoming homeless. Of the interviewed women, 19% reported to prostitute themselves for lodging and food.” (Greifenhagen/ Fichter 1997: 168)
Gleichzeitig tendieren Frauen dazu problematische Beziehungen, die durch Gewalt und sexuelle Ausbeutung geprägt sind, erneut einzugehen oder aufrechtzuerhalten, weshalb sie oft in Abhängigkeitsstrukturen „gefangen“ bleiben und sich so ihre Problemlagen verfestigen. So werden Traumatisierungserfahrungen, die unter anderem das Lösen schwieriger interpersonaler Beziehungen erschweren, bei wohnungslosen Frauen häufiger als bei wohnungslosen Männern angenommen. (Vgl. Riege 1993: 123; Ludwig-Mayerhofer 2008: 507-509)
Im Gegensatz zu wohnungslosen Frauen werden wohnungslose Männer oft sowohl Opfer als auch Täter von Gewalt. So weist eine qualitative Studie von Fichter (2005: 125) darauf hin, dass einige der wohnungslosen Männer bereits familiäre Gewalt in der Kindheit erlebten, von Fremden auf der Straße angegriffen wurden oder teilweise täglich mit körperlichen Auseinandersetzungen innerhalb des Wohnungslosenmilieus konfrontiert werden. Diese Auseinandersetzungen werden jedoch von den Männern selbst „als milieuspezifisch und normadäquates Verhalten bagatellisier(t)“ (vgl. ebd.).
2.4.4 Soziale Folgen
Wohnungslose Menschen haben in der Regel kleine soziale Netzwerke und bekommen häufig unzureichende soziale Unterstützung, was sich auch ungünstig auf ihre psycho-sozialen Gesundheit auswirkt (vgl. Sumerlin 1995: 296f.; Hubley et. al 2014: 2).
Meist leben Wohnungslose allein, weil sie zum einem oft partnerlos, entweder ledig oder geschieden, sind und zum anderen oft keinen oder seltenen Kontakt zu ihrer Herkunfts- und Gründungsfamilie haben. (Vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 102f.; Trabert 1995: 24f.) Viele von ihnen haben auch eigene Kinder, die jedoch oft nicht mit ihnen zusammen leben (vgl. Salize et al. 2002: 31; Greifenhagen/ Fichter 1997: 168f.). In den Fällen, wo familiärer Beziehungen noch vorhanden sind, ist der Kontakt meist nicht sehr intensiv (vgl. Salize et al. 2002: 31). Der fehlende oder mangelnde Familienkontakt kann unter anderem auf zerrüttete familiäre Verhältnisse oder generell auf den Verlust sozialer Zugehörigkeit aufgrund der Wohnungslo- sigkeit zurückgeführt werden. (Vgl. Rokach 2004: 45f). Aus Scham gegenüber der eigenen Lebenssituation reduzieren oder brechen manche auch absichtlich den Kontakt zu ihrer Familie ab und versuchen auf diese Art ihre Notsituation vor Anderen zu verheimlichen (vgl. Fichtner 2005: 169f.).
Soziale Beziehungen beschränken sich besonders bei längerer Wohnungslosigkeit demnach meist überwiegend auf das Wohnungslosenmilieu. Diese Beziehungen sind aber teilweise aufgrund der Mobilität wohnungsloser Personen nur kurzlebig (vgl. Gillich/ Nieslony 2000: 104; Brender 1999: 126). Ratzka (2012: 1231) weist jedoch darauf hin, dass wohnungslose Frauen häufiger als wohnungslose Männer über ein soziales Netzwerk verfügen, auf das sie zurückgreifen können. Die deutsche Studie von Greifenhagen und Fichter (1997: 168) deutet ebenfalls auf eine positive soziale Tendenz der wohnungslosen Frauen hin, denn hier gaben die Hälfte der befragten 32 Frauen einen (meist wohnungslosen) Partner, fast alle gute Freunde und mehr als die Hälfte den familiären Kontakt, den die Frauen meist als positiv und hilfreich bewerteten, an. Nur drei der Befragten lebten isoliert. (Vgl. ebd.) Allerdings handelt es sich bei dieser Studie um keine repräsentative Untersuchung und es wurde nur eine relativ kleine Stichprobe befragt, weshalb die Ergebnisse auf keine Verallgemeinerungen schließen können.
Wohnungslose Menschen sind jedoch nicht nur von ihren Familien, sondern oft auch von der Gesellschaft entfremdet (vgl. Rokach 2004: 45; Biswas-Diener/ Diener 2005: 186). Sie zählen in der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen zu einer sozialen Randgruppe, die oft soziale Ablehnung und Ausgrenzung, Stigmatisierung, Isolation und Einsamkeit erfährt (vgl. Rokach 2004: 38-46; Rokach 2005: 109; Ratzka 2012: 1236; Gillich/ Nieslony 2000: 103f.; Biswas- Diener/ Diener 2005: 186).
Dabei können soziale Isolation und Exklusion sowie die eingeschränkte Fähigkeit der Bedürfnisbefriedigung Gefühle wie individuelles Versagen, Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit auslösen, was wiederum Depressionen, Angstzustände und Einsamkeit verursachen kann (vgl. Rokach 2004: 38-45). Gleichzeitig kann Einsamkeit mit höherer gesundheitlichen Vulnerabilität, niedrigem Wohlbefinden, niedriger Lebenszufriedenheit, Pessimismus, Depressionen, Alkoholismus, psychosomatischen Erkrankung, Feindseligkeit, niedrigem Selbstwert, Angstzuständen und Suizid einhergehen (vgl. Rokach 2005: 101).
2.5 Wohnungslosigkeit und Klinische Soziale Arbeit
Die Gesundheitsthematik ist in der Sozialen Arbeit unentbehrlich (vgl. Jost 2013: 7) und gewinnt in ihren unterschiedlichen Arbeitsfeldern aufgrund der steigenden gesundheitlichen Belastungen und psychischen Störungen innerhalb der Gesellschaft immer mehr an Bedeutung (vgl. Gahleitner/ Pauls 63ff.). Längerfristige Erhaltung, Verbesserung und Wiederherstellung der Gesundheit und des Wohlbefindens und der damit einhergehenden Lebensqualität von Individuen, Familien und Gruppen zählen dabei zu einem wichtigen Ziel der Sozialen Arbeit. (Vgl. Schilling/ Zeller 2010: 121-126) Aus diesem Grund gehört die Gesundheitsförderung besonders benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu einer wichtigen Kernaufgabe der Sozialen Arbeit (vgl. Weber 2006: 315). Gesundheitsfördernde Interventionen und Maßnahmen richten sich vor allem auf Ressourcensteigerung und Ressourcenentwicklung zur Verbesserung individueller Handlungsfähigkeiten, Schaffung gesundheitsfördernder struktureller Rahmbedingungen und Entwicklung gesundheitsfördernder Gesamtpolitik (vgl. FGÖ 2005; WHO 1986: 1-6).
Die im vorherigen Kapitel beschriebenen vielfältigen Gesundheitsfolgen, Beeinträchtigungen und Benachteiligungen wohnungsloser Menschen zeigen, wie relevant im Allgemeinen diese Problematik für die (Klinische) Soziale Arbeit ist. So sind viele Wohnungslose aufgrund der erhöhten Gesundheitsgefährdung nicht nur allgemein auf professionelle Hilfe, sondern im Speziellen auf gesundheitsfördernde Interventionen, angewiesen.
Hierbei richtet sich insbesondere die Klinische Soziale Arbeit mit ihrem Unterstützungsangebot an Menschen, die sich in schweren Krisen befinden, unter multiplen Belastungen leiden sowie von chronischen und psychischen Erkrankungen betroffen sind. Demensprechend bietet die Klinische Soziale Arbeit auch das nötige und spezifische Expertenwissen für eine ange- messene psychosoziale Prävention, Beratung und Behandlung dieser Zielgruppe an. (Vgl. Pauls 2013: 12-20) So bilden wohnungslose Menschen nicht nur eine wichtige Zielgruppe für die klassische Soziale Arbeit (Wohnungslosenhilfe), sondern auch, aufgrund der aufgezeigten multiplen Problemlagen und vermehrter biopsychosozialer Folgen, eine nicht weniger wichtige Zielgruppe für die Klinische Soziale Arbeit.
Im Allgemeinen verfolgt die Klinische Soziale Arbeit die ganzheitliche biopsychosoziale Sichtweise und berücksichtigt nicht nur die Problemlagen der Betroffenen, sondern auch ihre Ressourcen (vgl. Gahleitner/ Pauls 2013: 62-64). Ihr Ziel ist die Veränderung und Verbesserung der beeinträchtigten psychosozialen Lebenslagen und Lebensweisen der Betroffenen sowie die Förderung ihrer psycho-sozialen Gesundheit und ihrer Funktionsfähigkeit (vgl. Pauls 2013: 12-20). Maßnahmen der Klinischen Sozialen Arbeit können hierbei einen nützlichen Beitrag zur Förderung der Gesundheit und der Funktionsfähigkeit wohnungsloser Menschen leisten und somit auch zur Bewältigung der Wohnungslosigkeit beitragen. Demzufolge stellt die Klinische Soziale Arbeit mit ihrem verstärkten Fokus auf die Gesundheit und die Gesundheitsförderung des Klientels eine nützliche und sinnvolle Ergänzung zur Wohnungslosenhilfe (zur klassischen Sozialen Arbeit) dar.
Ressourcen und Wohnungslosigkeit
Dieses Kapitel widmet sich ausschließlich dem Thema Ressourcen, um neben den bereits ausführlich geschilderten biopsychosozialen Folgen eine ganzheitliche Sichtweise auf die Woh- nungslosigkeit zu ermöglichen. Zudem spielen Ressourcen eine wichtige Rolle für die Gesundheit, was nachfolgend näher beleuchtet wird. So wird zunächst geklärt was Ressourcen im Allgemeinen sind, welche Funktion sie haben und wie sie sich auf die Gesundheit auswirken. Abschließend wird die Ressourcenlage der wohnungslosen Frauen und Männer dargestellt.
3.1 Was sind Ressourcen?
Im folgenden Kapitel wird zuerst der Begriff „Ressource“ definiert und der Fokus auf personale, soziale und strukturelle Ressourcen gelegt. Diese Ressourcen werden erst tabellarisch dargestellt und danach in den nachfolgenden Unterkapiteln konkretisiert. Abschließend werden zusätzlich relevante Merkmale von Ressourcen aufgeführt.
3.1.1 Begriffserklärung
Ressourcen werden meist als Potentiale, Stärken und Schutzfaktoren einer Person und ihrer Umwelt beschrieben (vgl. Schubert 2012: 112; Willutzki 2008: 128). Sie dienen uns über die Lebensspanne hinweg als Mittel, um alltägliche und außergewöhnliche interne und externe Anforderungen, Belastungen und Krisen zu bewältigen (vgl. Schubert 2012: 113-121). Mithilfe der Ressourcen können die Widerstandskraft einer Personen gestärkt sowie ihre biopsychosoziale Gesundheit geschützt und gefördert werden (vgl. Franzkowiak et al. 2011: 102). Dabei hängen Gesundheit und Wohlbefinden vom Vorhandensein wie auch von der Nutzung der Ressourcen ab (vgl. Willutzki 2008: 129). So zählen im Prinzip alle Faktoren zu Ressourcen, die eine Person bei ihrer Bewältigung alltäglicher oder schwieriger Situation als wertschätzend und hilfreich empfindet (vgl. Willutzki 2008: 129) und die sich auf diese Person gesundheitsfördernd auswirken (vgl. Becker 2006: 131).
Die Literatur unterscheidet dennoch oft zwischen internen, personalen bzw. persönlichen und externen bzw. umweltbezogenen Ressourcen (vgl. Becker 2006: 133-167; Willutzki 2008: 130-132; Schubert 2012: 117f.). Interne Ressourcen umfassen demnach personenbezogene und externe Ressourcen umweltbezogene Potentiale einer Person (vgl. Willutzki 2008: 130132). Tagay et al. (2014: 75) differenzieren externe Ressourcen zudem zwischen strukturellen und sozialen Ressourcen. In Anlehnung an Tagay et al. wird der Fokus dieser Arbeit auf personale, soziale und strukturelle Ressourcen gelegt. Diese Klassifizierung wird ausgewählt, weil sie zum einen ein präziseres und ganzheitliches Bild ermöglicht und zum anderen weil der Ressourcenmangel und Ressourcenverlust von wohnungslosen Menschen, wie im Kapitel 2.3 gezeigt, ebenfalls auf diesen drei relevanten Ebenen - personal, sozial und strukturell - verlaufen. Eine Übersicht über mögliche personale, soziale und strukturelle Ressourcen bietet die nachfolgende Tabelle:
Darst. 2: Übersicht über allgemeine personale, soziale und strukturelle Ressourcen (eigene Darstellung)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: vgl. Becker 2006: 132-139; Schuber 2012: 117f.; Willutzki 2008: 130-132; Franzkowiak et al. 2011: 62f.; Franke 2012: 173; Tagay et al. 2014: 75-81
3.1.1.1 Personale Ressourcen
In dieser vorliegenden Arbeit werden unter personalen Ressourcen überdauernde gesundheitserhaltende, -fördernde und -wiederherstellende Persönlichkeitseigenschaften (vgl. Tagay et al. 2014: 75), Handlungsmuster und kognitive Überzeugungssysteme (vgl. Willutzki 2008: 132) einer Person verstanden. Interne Ressourcen sind zudem für die Nutzung externer Ressourcen ausschlaggebend und voraussetzend (vgl. ebd.). So gelingt es beispielsweise einer aufgeschlossenen, umgänglichen und kontaktfähigen Person im Vergleich zu einer introvertierten, reservierten und zurückhaltenden Person leichter, persönliche Beziehungen aufzubauen und somit gleichzeitig von deren potenziellen sozialen Unterstützung zu profitieren (vgl. Willutzki/ Teismann 2013: 6).
Internale Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartungen zählen unter anderem zu wichtigen personalen Ressourcen, weil sie sich günstig auf das Bewältigungsverhalten und somit auch positiv auf die Gesundheit auswirken können (vgl. Lenz 2000: 279). Außerdem können Selbstwirksamkeitserwartungen und internale Kontrollüberzeugungen Aufbau und Gestaltung günstiger sozialer Kontakte sowie die Nutzung sozialer Unterstützung erleichtern (vgl. ebd.: 280). Dabei beschreibt die internale Kontrollüberzeugung die Überzeugung Situationen, Belastungen und Gesundheit durch das eigene Handeln kontrollieren und beeinflussen zu können (vgl. BZgA 2001: 53), während die Selbstwirksamkeitserwartung „die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen auf Grund eigener Kompetenz bewältigen zu können“ definiert (Schwarzer/ Jerusalem 2002: 35). Zudem setzen sich selbstwirksame Personen oft höhere Leistungsziele, investieren mehr Aufwand und sind handlungsaktiver und beharrlicher bei der Überwindung von aversiven oder auch schwierigen Anforderungen (vgl. Bandura 1982: 123; Schwarzer/ Jerusalem 2002: 37). Generell wirkt internale Kontrollüberzeugung als Puffereffekt, da sie in Belastungssituationen psychische und physische Stresssymptome signifikant verringert (vgl. Möller-Leimkühler 1999: 975). Denn Personen mit hoher internalen Kontrollüberzeugung oder hohem Selbstwert sind in der Regel emotional stabiler, wenden häufiger problemorientierte und aktive Bewältigungsstrategien an und können kritische Lebensereignisse besser bewältigen. Im Gegensatz dazu tendieren Personen mit externaler, fremdbestimmter Kontrollüberzeugung sowie mit niedrigem Selbstwert zu vermeidenden, passiven und emotionsorientierten Bewältigungsstrategien, was mit Kontrollverlust und Hilfslosigkeit einhergehen kann. (Vgl. Rudolph et al. 2006: 182-184; Möller-Leimkühler 1999: 975) Ebenfalls begünstigt Selbstwirksamkeitserwartung eine aktive Auseinandersetzung mit Stressoren und ein aktives Bewältigungsverhalten (vgl. Lenz 2000: 279). Hoch selbstwirksame Personen haben meist eine größere Widerstandsfähigkeit gegen Stress und führen Misserfolge verstärkt auf äußere Faktoren zurück, als schwach selbstwirksame Personen, die eher von Vulnerabilität und Kontrollverlust betroffen sind und daher Misserfolge dem eigenem Versagen und der eigenen Unfähigkeit zuschreiben (vgl. Schwar- zer/ Jerusalem 2002: 38f.).5
Des Weiteren ist das Autonomiestreben sowohl ein Grundbedürfnis als auch eine personale Ressource, weil es unser Verhalten intrinsisch motiviert. Mit intrinsischer Motivation ist ein frei gewähltes, selbstbestimmtes und interessenorientiertes Handeln gemeint, das ohne jeglichen äußeren Druck, Kontrolle oder Zwang erfolgt. Dabei zeichnet sich das intrinsisch motivierte Verhalten durch Neugier, Exploration, Spontanität, Engagement und Interesse aus. Im Gegensatz dazu basiert extrinsisch motiviertes Verhalten auf Fremdbestimmung, weshalb die Handlung nicht spontan erfolgt, sondern zunächst eine Aufforderung von außen benötigt. Die freiwillige und selbständige Entscheidung und Selbstbestimmung über das eigene Handeln und das eigene Leben fördert das Selbstbewusstsein und die Kontrollüberzeugung, weil sich Personen beim Verfolgen ihrer Ziele und beim Steuern ihres Lebens als kompetent und fähig erfahren. (Vgl. Rohlfs 2011: 96-99)
Zudem ermöglichen Persönlichkeitsmerkmale wie Offenheit, Flexibilität und Spontanität eine flexible Veränderung und Anpassung an Anforderungen und begünstigen dadurch eine erfolgreiche Stressbewältigung (vgl. Franke 2012: 47).6
Eine weitere personale Ressource ist die emotionale Kompetenz, die, „die Fähigkeiten, sich seiner eigenen Gefühle bewusst zu sein, Gefühle mimisch oder sprachlich zum Ausdruck zu bringen und eigenständig zu regulieren sowie die Emotionen anderer Personen zu erkennen und zu verstehen“ (Petermann/ Wiedebusch 2008: 13), beschreibt. Dabei hat auch emotional kompetentes Verhalten einen wissenschaftlich nachgewiesenen positiven Einfluss auf persönliche Beziehungen, Berufsleben, Gesundheit und Lebenszufriedenheit (vgl. ebd.).
Schließlich wirken gesundheitsfördernde, personale Ressourcen nicht nur positiv auf die Gesundheit, sondern die Gesundheit selbst ist eine Ressource. So beeinflussen beispielsweise chronische Erkrankung die Kontrollüberzeugung in ungünstiger Weise, sodass chronisch Kranke eher zur externalen und Gesunde hingegen eher zur internalen Kontrollüberzeugung neigen (vgl. Rudolph et al. 2006: 182). Ebenso können sich (chronische) Erkrankungen und die daraus resultierende (langandauernde) Belastungen negativ auf soziale Netzwerke auswirken, da sich das soziale Umfeld zum Beispiel wegen Überforderung, Hilflosigkeit oder Unzulänglichkeit hinsichtlich der belastenden Situation zurückziehen kann (vgl. Eller et al. 2005: 403f.).7 8
3.1.1.2 Soziale Ressourcen
Soziale Ressourcen umfassen hilfreiche, soziale Netzwerke (vgl. Lenz 2000: 279f.), die Verfügbarkeit und Qualität sozialer Beziehungen gewährleisten und sich günstig auf Bewältigungsprozesse, Gesundheit und Wohlbefinden auswirken können, der so genannte „Pufferoder interaktive Effekt“ (vgl. Möller-Leimkühler 1999: 976; vgl. Keupp 1987: 29).
Keupp (1987: 7) definiert ein soziales Netzwerk als spezifisches Webmuster, das die Gesamtheit aller sozialen Beziehungen einer Person wie zum Beispiel Vertrauenspersonen (z. B. Familienmitglieder, Partnerin, Freunde) und alltägliche Kontaktpersonen (z. B. Bekannten, Nachbarn, Arbeitskollegen) beinhaltet (vgl. Eller et al. 2005: 400f.; vgl. Pauls 2013: 80). Die soziale Unterstützung stellt dabei eine der wichtigsten Funktionen eines sozialen Netzwerkes dar (vgl. Keupp 1987: 29). Unter der sozialen Unterstützung wird ein sozialer Austauschprozess verstanden, indem Hilfesuchende und Hilfebereitstellende gemeinsam versuchen belastende Anforderungen aktiv und konstruktiv zu bewältigen und auf diese Weise Stress zu reduzieren (vgl. Lenz 2000: 279f.). Hierbei unterscheidet man zwischen emotionaler9, instru- menteller10 und kognitiver11 Unterstützung (vgl. Eller et al. 2005: 402-405).
Unabhängig davon, ob ein Stressor vorliegt oder nicht, können integrative, unterstützende und wertschätzende soziale Netzwerke direkt das Wohlbefinden steigern, die Lebenszufriedenheit erhöhen und den allgemeinen Gesundheitszustand fördern (vgl. Pauls 2013: 84). Denn mithilfe sozialer Ressourcen können wichtige Bedürfnisse nach Bindung, Zugehörigkeit, Geborgenheit, sozialer Anerkennung und sozialer Verortung erfüllt und zudem Stabilität, Sicherheit, Orientierung und Sinn im Leben erlangt werden. Gleichzeitig begünstigt ein förderndes, unterstützendes und wertschätzendes soziales Netzwerk die Entwicklung von personalen Res- sourcen wie Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeitserwartung. (Vgl. Lenz 2000: 280-291)
Des Weiteren kann soziale Unterstützung die individuelle Stressbewältigung beispielsweise durch sozialen Rückhalt, Mobilisierung der personalen Ressourcen durch Informationsvermittlung, Übernahme bestimmter Aufgaben und Erschließung weiterer Ressourcen wie z. B. finanziellen Mitteln indirekt verbessern (vgl. Pauls 82-85.). Somit helfen soziale Ressourcen zum einen Ereignisse anders zu bewerten, Handlungskompetenzen (vgl. Pauls 82-85.) sowie individuelle Bewältigungsstrategien in einer Stresssituation zu steigern und zum anderen fehlende oder mangelnde personale Ressourcen zu kompensieren (vgl. Lenz 2000: 289f.). Unzureichende oder fehlende soziale Unterstützung kann dabei durch professionelle Unterstützung ersetzt werden (vgl. Pauls 2013: 86).
Demzufolge besitzen Personen mit einem großen sozialen Umfeld und vermehrter sozialer Unterstützung über ein niedrigeres Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko als Personen mit kleinen sozialen Netzwerken und wenig vorhandener sozialer Unterstützung (vgl. Eller, M. et. al. 2005: 405-407). Schon das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Vorhandensein von Bezugspersonen oder das Wissen, soziale Unterstützung erhalten zu können, kann Betroffenen vor negativen Folgen des Stresses schützen (vgl. Leppin/ Schwarzer 1997: 356; Pauls 2013: 80).
Jedoch ist nicht jede Person bereit und fähig soziale Unterstützung anzunehmen (vgl. Pauls 2013: 80), was unter anderem vom eigenen Bindungsstil abhängt: So empfinden zum Beispiel Personen mit sicherem Bindungsstil zwischenmenschliche Nähe als angenehm und unterstützend, glauben in Stresssituationen Hilfe erhalten zu können und sind in der Lage soziale Unterstützung aktiv zu suchen. Im Gegensatz dazu empfinden Personen mit einem vermeidenden Bindungsstil zwischenmenschliche Nähe eher als belastend und vertrauen sich selber mehr als anderen, weshalb sie soziale Unterstützung in Stresssituationen kaum anstreben und eher versuchen Probleme selbständig zu lösen. (Vgl. Trösken 2002: 18)
3.1.1.3 Strukturelle Ressourcen
Unter strukturellen Ressourcen werden soziökonomische und soziokulturelle Güter verstanden (vgl. Willutzki 2008: 130f.). Dabei zählen strukturelle Ressourcen auch zu wichtigen Determinanten der Gesundheit, weil sie sich positiv auf Gesundheit, soziale Unterstützung, Lebensstil, Selbstwert und persönliche Kompetenzen auswirken können (vgl. Jost 2013:18). Hingegen können soziale Ungleichheit und soziale Benachteiligung gesundheitliche Belastung und Beeinträchtigung auslösen (vgl. Homfeld/ Sting 2006: 99f.).
Im Allgemeinen vermitteln Bildung und Ausbildung fundiertes Wissen, wichtige Fähigkeiten sowie soziale Normen und Werte, die individuelle Kompetenzen und Potenziale stärken und erweitern können. Aus diesem Grund kann Bildung individuelle Handlungsspielräume, (Teilhabe-) Chancen und Wahlmöglichkeiten vergrößern, Arbeitsmarktchancen steigern, vor Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut schützen sowie soziale, kulturelle und politische Partizipation fördern. So geht ein hoher Bildungsabschluss mit besserer Gesundheit, höherer Lebenserwartung, subjektiv besser eingeschätztem Gesundheitszustand und gesundheitsförderndem Verhalten einher. (Vgl. Kuntz 2011: 311-315)
Des Weiteren können durch den (sicheren) Arbeitsplatz wichtige Grundbedürfnisse wie Selbstwertsteigung, soziale Anerkennung, sozialer Anschluss (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2012), Kontrolle, Orientierung und Sicherheit (vgl. Becker 2006: 133-135) erfüllt werden. Mithilfe der Erwerbstätigkeit können zudem Berufsprestige, Weiterentwicklung der Fähigkeiten und Begabungen, Beteiligung an Entscheidungsprozessen, Verantwortungsübernahme und Aufbau sozialer Kontakte ermöglicht werden. Jedoch ist die gesundheitsfördernde Wirkung von den Arbeitsplatzbedingungen abhängig, sodass höher qualifizierte Personen ein niedrigeres Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko als niedrig Qualifizierte besitzen. (Vgl. Robert Koch Institut 2005: 55-68)
Ausbildung und Arbeit stellen generell eine wichtige Voraussetzung für materielle Ressourcen dar, die wiederum zur wesentlichen Bedürfnisbefriedigung und gesellschaftlichen Teilhabe beitragen (vgl. Lampert 2011: 575f.) sowie das Erschließen weiterer Ressourcen ermöglichen kann (vgl. Becker 2006: 133-135). So zeigt die Gesundheitsberichterstattung des Robert- Koch-Instituts, dass einkommensstarke Personen ein niedrigeres Krankheits- und Sterberisiko haben, subjektiv zufriedener mit ihrem Gesundheitszustand sind, besseres Gesundheitsverhal- ten12 aufweisen und mehr soziale Unterstützung erhalten als einkommensschwache oder armutsgefährdete Personen (vgl. Robert Koch Institut 2010: 1-5).
Begrenzte Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten aufgrund unzureichender struktureller Ressourcen, wirkt sich außerdem ungünstig auf das Bewältigungsverhalten aus, weshalb Betroffenen auf problematische und schwierige Situationen oft mit Passivität oder unangemessenem, kontraproduktivem Verhalten reagieren. So fühlen sie sich in ihrer Situation fremdbestimmt, weshalb sie wenige Möglichkeiten für ein aktives und selbstbestimmtes Handeln sehen. (Vgl. Homfeldt/ Sting 2006: 105f.)
Fehlende strukturelle Ressourcen können jedoch durch soziale Ressourcen kompensiert werden. So zeigt eine Studie, dass Armut sich nicht per se negativ auf Lebensqualität und Wohlbefinden auswirkt, sondern erst dann, wenn zusätzlich soziale Isolation und Desintegration besteht sowie soziale Unterstützung fehlt. Das Risiko für soziale Desintegration nimmt jedoch in kontinentaleuropäischen Ländern wie z. B. Österreich, Deutschland oder Italien mit sinkendem Lebensstandard zu. (Vgl. Böhnke 2007: 240-255)
3.1.2 Ressourcen-Merkmale
Personale, soziale und strukturelle Ressourcen stehen in einer komplexen, transaktionalen Wechselwirkung zu einander (vgl. Schubert 2012: 114-118). Sie können sich wechselseitig, bedingen, begünstigen und kompensieren (vgl. Lenz 2000: 281; Willutzki/ Teismann 2013: 6).
Im Allgemeinen hängt die Ressourcenqualität nicht nur vom Vorhandensein personaler, sozialer und struktureller Ressourcen, sondern vielmehr von deren Bewertung, Zugänglichkeit, Handhabung und Nutzung ab. So erfolgt eine gelungene Lebensführung erst, wenn potentielle Ressourcen für die Zielerreichung als funktional erachtet und aktivierte Ressourcen in einer bestimmten Situation zielführend eingesetzt werden können. Vorhandene Ressourcen werden dabei erst mobilisiert, wenn sie für die Bewältigung der Anforderung in der jeweiligen Situa- tion als sinnvoll, wirkungsvoll, passend und nützlich bewertet werden. Die Bedeutung und Funktion der jeweiligen Ressourcen kann dabei je nach Situation, Individuum, Geschlecht, Kultur und Alter variieren. (Vgl. Schubert 2012: 113-121; Willutzki 2008: 129f.; Willutzki/ Teismann 2013: 4f.) Demzufolge ist das Vorhandensein potentieller Ressourcen und deren subjektive Wahrnehmung eine wesentliche Voraussetzung für ihre Nutzung (vgl. Schubert 2012: 120f.). Denn „(e)igene Ressourcen selbst wahrzunehmen, stellt eine Art Metawissen über eigene Möglichkeiten dar; dieser "Werkzeugkasten" kann systematisch für die Bewältigung von Aufgaben genutzt werden“ (Willutzki 2008: 130).
Nach Hobfoll (1988; zit. nach Schubert 2012: 119f.) gelingen zudem Erhalt, Vermehrung und Erwerb der Ressourcen sowie Schutz und Erholung vor/ von Ressourcenverlusten Personen mit vielen Ressourcen besser als solche mit wenigen Ressourcen. Zudem neigen ressourcenarme Personen stärker dazu, weitere Ressourcen zu verlieren (vgl. ebd.). Demzufolge geht ein gutes Ressourcenkapital mit Resilienz, psychischer Gesundheit (vgl. Tagay et al. 2015: 2) und wahrgenommenem mangelnden Ressourcenzuwachs und Ressourcenverlust mit Vulnerabilität sowie physischen und psychischen Störungen einher (vgl. Hobfoll 1988 zit. nach Schubert 2012: 119).
Dennoch wird angenommen, dass fördernde Ressourcen auch im „schwerstgeschädigten Individuum“ sowie innerhalb von „gestörtesten Mensch-Umwelt-Transaktion“ existieren und somit „jede - auch psychisch beeinträchtigte - Person Ressourcen und damit Möglichkeiten (hat), sich weiterzuentwickeln bzw. ihre Umwelt in günstiger Weise zu gestalten“ (Willutzki/ Teismann 2013: 3).
3.2 Gesundheitsfördernde Funktion der Ressourcen
Im folgenden Kapitel werden zwei theoretische Konzepte vorgestellt, die Stressbewältigung nach Antonovsky und die Bedürfnisbefriedigung nach Grawe, und daran die zentrale gesundheitsfördernde Rolle der Ressourcen verdeutlicht.
3.2.1 Stressbewältigung mithilfe der Ressourcen (Antonovsky)
Stressoren sind nach Antonovsky allgegenwärtige inkonsistente, unter- bzw. überfordernde, belastende und widrige Anforderungen und Lebenserfahrungen, die im Organismus einen erhöhten Spannungszustand, Stress und physiologische Erregung erzeugen (vgl. Lenz 2000: 282). Je nach Charakter des Stressors und die Art und Fähigkeit einer Person mit diesem Spannungszustand umzugehen (vgl. Homfeld/ Sting 2006: 78; Franke 2012: 173), können neutrale, pathologische oder gesundheitsfördernde Folgen entstehen (vgl. Keupp 2009: 97). Vor allem lang anhaltender und/ oder ein großes Ausmaß an Stress kann negative Gesundheitsfolgen bewirken (vgl. BZgA 2001: 32-35). Angemessene Stressbewältigung geht dabei mit Gesundheit und unangemessene mit Krankheit einher (vgl. Blättner 2007: 68). Aus diesem Grund wird angenommen, dass Bewältigungsprozesse für die Gesundheit ausschlaggebender als Stressoren sind (vgl. Homfeld/ Sting 2006: 78).
Dabei hängt das Bewältigungsverhalten von generalisierenden Widerstandsressourcen der Person oder ihrer Umwelt ab, die eine positive Bewältigung fördern sowie Schutz und Widerstand gegen Stressoren bieten (vgl. Franzkowiak et al. 2011: 62f.). Fehlen diese Widerstandsressourcen oder werden sie nicht (angemessen) aktiviert, können generalisierende Widerstandsdefizite entstehen, die das Erkrankungsrisiko erhöhen. So kommt es oft vor, dass Widerstandsressourcen zwar vorhanden sind, aber die Betroffenen auf diese nicht zurückgreifen können (vgl. Franzkowiak et al. 2011: 62f.). Stehen aber generalisierende Widerstandsressourcen der betroffenen Person zur Verfügung und ist diese fähig sie in der jeweiligen Situation zu erkennen und nutzbringend einzusetzen, dann schafft es diese Person, Stress und Belastung erfolgreich zu bewältigen (vgl. Blättner 2007: 68).
Diese Fähigkeit beschreibt Antonovsky mit dem Kohärenzgefühl - die Fähigkeit „die Welt als zusammenhängend, sinnvoll und steuerbar zu erleben“ (vgl. Franzkowiak et al. 2011: 63). Das Kohärenzgefühl stellt eine Art Vertrauen in die eigene Person und in die eigenen Handlungs- und Steuerungsfähigkeit dar, die auf folgende drei Grundhaltungen beruht:
1. Innere und äußere Anforderungen werden als geordnet, konsistent, vorhersehbar und erklärbar wahrgenommen (Verstehbarkeit).
2. Man ist überzeugt, ausreichend Ressourcen zu besitzen und mit ihrer Hilfe Schwierigkeiten lösen zu können (Handhabbarkeit).
3. Innere und äußere Anforderungen werden als Herausforderung und nicht als Last empfunden, die jede Anstrengung wert sind, um sie zu bewältigen (Sinnhaftigkeit). (Vgl. Keupp 2009: 97f.)
Zudem wird das Kohärenzgefühl als ein flexibles und übergeordnetes Steuerungsprinzip verstanden, das vorhandene Widerstandsressourcen zur Stressbewältigung anregt und koordiniert, indem es flexibel und situationsabhängig passende Bewältigungsmuster auswählt und einsetzt (vgl. Franzkowiak et al. 2011: 63; Homfeldt/ Sting 2006: 77). Je mehr interne und externe Ressourcen einer Person zur Verfügung stehen und je stärker und stabiler ihr Kohärenzgefühl ausgeprägt ist, desto größer wird ihre Überzeugung sein, Stress gegenüber nicht hilflos ausgesetzt zu sein und ihr Leben selbst steuern und gestalten zu können (vgl. Franzkowiak et al. 2011: 63). Konsistenter Lebensablauf, Belastungsbalance zwischen Überforderung und Unterforderung sowie Partizipation bzw. Einflussmöglichkeiten formen ein starkes Kohärenzgefühl (vgl. Franke 2012: 176f.).
Im Allgemeinen wird angenommen, dass Personen mit einem starken Kohärenzgefühl gesünder sind, sich gesund erhalten und sich schneller von Krankheit erholen (vgl. BZgA 2001: 28). So konnten bereits signifikante positive Zusammenhänge zwischen dem Kohärenzgefühl und psychischer Gesundheit, Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden, sozialer Unterstützung, ehelicher Zufriedenheit wie auch Anzahl der Freunde gefunden werden. Der von Antonovsky angenommene Zusammenhang zwischen dem Kohärenzgefühl und körperlicher Gesundheit konnte bisher empirisch nicht eindeutig belegt werden. (Vgl. ebd.: 43-48)
3.2.2 Bedürfnisbefriedigung mithilfe der Ressourcen (Grawe)
Der Konsistenztheorie zufolge entstehen psychische Gesundheit und Wohlbefinden durch eine gelungene und ausgewogene Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Bindung, Kontrolle und Orientierung, Lustgewinn und Selbstwerterhöhung. Im Gegensatz dazu führen deren Verletzung oder deren dauerhafte Nichtbefriedigung zur Schädigung der psychischen Gesundheit und zur Verschlechterung des Wohlbefindens. So gehen eine erfolgreiche Bedürfnisbefriedigung mit „Kongruenzerleben“ und positiven Emotionen und eine Nichtbefriedigung mit „Inkongruenzerleben“, Stress und negativen Emotionen einher. Ressourcen spielen dabei eine wichtige Rolle, weil sie als Mittel dienen, „motivationale Ziele“ zur Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. Nach Grawe zählen vor allem individuelle Fähigkeiten und eine för- dernde Umgebung, die die Bedürfnisbefriedigung begünstigen, zu den wesentlichen Ressourcen. (Vgl. Grawe 2004: 183-304)
Die Grundbedürfnisse stehen in einer Wechselbeziehung zu einander, sodass auch deren Bedürfnisbefriedigung eine wechselseitige Wirkung erzielt (vgl. Peters/ Ghadiri 2013: 55). Im nachfolgenden werden die Grundbedürfnisse näher skizziert:
Bedürfnis nach Bindung: Bindung beschreibt das menschliche Angewiesensein auf nahe Bezugspersonen, wie beispielsweise Eltern, Geschwister, Kindern, PartnerIn oder gute Freunde sowie die Anschlussmotivation an soziale Gruppen (vgl. Brandstätter et al. 2013: 43). Dabei wird angenommen, dass in unsicheren und belastenden Situationen vor allem nahe Bezugspersonen aufgesucht werden (vgl. Trösken 2002: 18), wenn auf deren Schutz in Stresssituationen vertraut wird (vgl. Asendorpf 2015: 2). Je nach Beziehungserfahrung zur Bezugsperson in der Kindheit und Jugend entwickeln sich unterschiedliche Bindungsstile, die das Verhalten und somit auch die interpersonelle Beziehungs- und Bindungsqualität bis ins Erwachsenenalter prägen (vgl. Grawe 2004: 192-195). Analysen von Ainsworth et al. (1978) differenzieren zwischen folgenden vier Bindungstypen:
„Sicherer Bindungsstil (Nähe und Distanz zur Bezugsperson kann angemessen reguliert werden), unsicher-vermeidender Bindungsstil (Kontakt vermeiden, ablehnend), unsicherambivalenter Bindungsstil (widersprüchliches Verhalten von anklammernd bis aggressivzurückweisend) sowie desorganisierter Bindungsstil (auffälliges Verhalten bei schwer vernachlässigten Kindern, keine Reaktion auf Bezugsperson, stereotypes Verhalten wie Schaukeln)“ (Brandstätter et al. 2013: 43).
Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung: Menschen streben danach, einen großen Handlungsspielraum zu erlangen, sich vor fremdgesteuerter Kontrolle zu lösen sowie die eigene Situation zu beeinflussen und zu kontrollieren, indem die wünschenswerte Situationen hergestellt und unerwartete oder aversive Situationen beseitigt werden. Orientierung über die Situation stellt eine Voraussetzung für die effektive Kontrolle dar, sodass eine Person erst Kontrolle über eine unerwartete oder schwierige Situation ergreifen kann, wenn sie weiß, was mit ihr gerade geschieht und was sie in solchen Situationen machen kann. Dementsprechend streben Menschen danach, die eigene Situation und das aktuelle Geschehen zu überblicken und Klarheit darüber zu bewahren. Verletzung oder Nichtbefriedigung des Kontrollbedürfnisses kann Angst, Hilfslosigkeit und Stress verursachen. (Vgl. Grawe 2004: 230-249)
Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz: Menschen sind motiviert Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden und ihren Selbstwert zu erhöhen und zu schützen. So neigen sie dazu sich als kompetent, wertvoll und liebenswert zu betrachten. Das positive Denken und die positive Bewertung der eigenen Person werden durch selbstwerterhöhendes Verhalten immer wieder bestätigt und hergestellt. Dabei beruht die Selbstwerterhöhung meist auf verzerrter oder unrealistischer Wahrnehmung, wobei aber die Selbstwertillusion mit psychischer Gesundheit einhergeht. Hingegen können Verletzungen des Selbstwertbedürfnisses und das damit zusammenhängende schwache Selbstwertgefühl psychische Störungen auslösen. (Vgl. ebd.: 250-260)
Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung: Mit dem Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung ist einerseits das menschliche Streben nach angenehmen, schönen, positiven und lustvollen Zuständen und gleichzeitig das Vermeiden unangenehmer und negativer Zustände gemeint. Dieses Bedürfnis basiert auf einem komplexen Bewertungsprozess, der Erfahrungen und Situationen hinsichtlich ihrer Qualität und ihrer Erwünschtheit bewerten. Oft müssen viele körperliche und geistige Genüsse wie zum Beispiel Musik, Kunst, Freude am Entdecken und am Erfinden jedoch erlernt werden. Das Lustbedürfnis steigert die intrinsische Motivation und steuert somit das Verhalten. (Vgl. ebd.: 260-265)
Im Laufe ihres Lebens entwickeln Menschen je nach Erfahrung mit der Umwelt unterschiedliche „motivationale Schemata“, die ihr Handlungsmuster bestimmen. So entwickeln Menschen, die vermehrt positive Erfahrungen hinsichtlich ihrer Bedürfnisbefriedigung machen, eher ein Annäherungsschemata und Menschen, die vorwiegend negative Erfahrungen sammeln, indem ihre Bedürfnisbefriedigung bedroht oder verletzt wird, eher ein Vermeidungsschemata. Dabei versuchen Personen mit ausgeprägten Annäherungsschemata aktiv ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, wohingegen Personen mit ausgeprägten Vermeidungsschemata aktive Bedürfnisbefriedigung eher vermeiden, um sich somit vor weiteren Verletzungen und Enttäuschungen zu schützen. (Vgl. Peters/ Ghadiri 2013: 64-71) Stark ausgeprägte Vermeidungsschemata wirken negativ auf das Wohlbefinden und die Gesundheit, weil sie wenig aktive Bedürfnisbefriedigung zulassen. So besitzen Personen mit vermeidendem Handlungsmuster oft ein niedriges Autonomie-, Kontroll- und Selbstwertgefühl, sind weniger optimistisch, haben vermehrt interpersonelle Probleme und leiden verstärkt an Depression und sozialer Unsicherheit. (Vgl. Grawe 2004: 282-284)
3.3 Ressourcen von wohnungslosen Menschen
Wie die Ursachen und biopsychosoziale Folgen zeigen, sind wohnungslose Menschen im Allgemeinen stark von Ressourcenverlust und von Ressourcenmangel auf materieller, struktureller, sozialer und persönlicher Ebene betroffen. Nichtsdestotrotz müssen Wohnungslose zugleich Ressourcen eruieren, um ihr Überleben in der Wohnungslosigkeit zu sichern (vgl. Sumerlin 1995: 295), denn ein solches Leben erfordert ein hohes Maß an Überlebens- und Anpassungsfähigkeit, wofür eine verstärkte Gegenwartsorientierung, eine Entwicklung der Überlebensstrategien (vgl. Brender 1999: 124) sowie eine komplexe kognitive, emotionale und verhaltensorientierte Umstrukturierung notwendig sind (vgl. Sumerlin 1995: 295). So sind wohnungslose Frauen und Männer trotz geringer Ressourcen und Einschränkungen in der Lage „erstaunliche Strategien und Routinen der Lebensführung“ zu entwickeln (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2008: 509) und sich im gewissen Maße an die Wohnungslosigkeit „anzupassen“ (vgl. Rokach 2004: 38; Brender 1999: 124f.). Allerdings gestaltet sich eine Anpassung zum Beispiel an lang andauernde extreme Armut eher schwierig (vgl. Biswas-Diener/ Diener 2006: 187). Auch Trabert (1995: 68) beobachtet in seiner Studie eine ähnliche Tendenz, wo die befragten Männer, die zwischen fünf und neun Jahre wohnungslos sind, eine Art „gesundheitliche Adaptation“ an ihre Lebenssituation vornehmen. Dabei leiden die Befragten bereits schon zu Beginn ihrer Wohnungslosigkeit (bis 12 Monate) an einem schlechten Gesundheitszustand, der sich wiederum bei einer Wohnungslosendauer von mehr als neun Jahren deutlich verschlechtert (vgl. ebd.). Diese Erkenntnisse weisen darauf hin, dass einige Phasen der Wohnungslosigkeit vulnerabler und kritischer sind und andere wiederum Potentiale beinhalten.
Im Allgemeinen sind jedoch wohnungslose Menschen in der Lage aktiv zu handeln und sich an der Produktion und der Reproduktion ihrer Situation zu beteiligen (vgl. Ludwig- Mayerhofer 2008: 509). Zudem verfügen sie, wie nachfolgenden Studien zeigen, auch über eine Vielzahl an Ressourcen.13
So weist eine qualitative Studie auf unterschiedliche Ressourcen junger wohnungsloser Personen hin. Dazu gehören zum Beispiel Problemlösungskompetenzen, interpersonale Fertigkeiten (z.B. Kontaktfreudigkeit, Interaktion mit Fremden), Motivation ihr Leben zu verändern, Hoffnung, Optimismus, Sinnfindung, Glaube sowie emotionale Unterstützung, Zugehörigkeitsgefühl und Informationsaustausch durch ihr Umfeld (Peer-Gruppe). (Vgl. Bender et al. 2007: 5-10)
[...]
1 Wohnprojekt Kaplan Bonetti, Kolpinghaus Götzis, Kolpinghaus Bregenz, ifs-Krisenwohnungen und ifs- Frauennotwohnung
2 Physische Folgen sind z. B. funktionale Beeinträchtigung, (tödliche) Verletzung).
3 Psychosomatische Folgen sind z. B. chronische Schmerzsyndrome, Magen-Darm-Störung, Atembeschwer den.
4 Unter sozioökonomischen Gütern wird zum Beispiel Bildung, Wohnung, Erwerbstätigkeit, Einkommen etc. verstanden.
5 Reproduktive Folgen sind z. B. sexuell übertragbare Krankheiten, ungewollte Schwangerschaft, sexuellen Funktionsstörungen.
6 Psychische Folgen sind z. B. Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Ängste, Panikattacken, Schlafstörungen, Essstörungen, Suizidversuche, Verlust von Selbstachtung und Selbstwertgefühl.
7 Interne Anforderungen sind zum Beispiel innerpsychische Konflikte, Wünsche, Zielsetzungen und Befriedigung der Grundbedürfnisse.
8 Externe Anforderungen sind zum Beispiel kritische Lebensereignisse, Krisen, Lebensübergänge, Entwicklungsaufgabe, zwischenmenschlich Konflikte oder ökonomische, strukturelle und kulturelle Probleme.
9 Emotionale Unterstützung ist zum Beispiel Trost, Empathie oder Wertschätzung.
10 Instrumentelle Unterstützung kann beispielsweise praktische und materielle Hilfe sein.
11 Kognitive Unterstützung umfasst zum Beispiel Ratschlag oder Informationsvermittlung.
12 Einkommensstarke Personen haben einen geringeren Tabakkonsum, treiben häufiger Sport und nehmen häufigere ärztliche Hilfe in Anspruch als einkommensschwache Personen (vgl. Robert Koch Institut 2010: 1-5).
13 Soziokulturellen Gütern bedeuten unter anderen Frieden, soziale, politische und ökonomische Sicherheit, Gesundheitsvorsorge etc.