Reichspräsident Hindenburg und die Bildung der Kabinette Hans Luther, Wilhelm Marx und Hermann Müller 1925-1928


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

41 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


A. Einleitung

B. Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung über das Kompetenzenverhältnis zwischen den Organen Reichspräsident, Reichskanzler und Reichstag
I. Das Demokratiemodell der Weimarer Reichsverfassung
II. Die Bildung der Reichsregierung im Zusammenspiel zwischen Reichspräsident, Reichskanzler und Reichstag

C. Reichspräsident Paul von Hindenburg und die Bildung der Kabinette Luther (2. Kabinett), Marx (3./4. Kabinett) und Müller (2. Kabinett)
I. Das „Schauspiel der unausgesetzten Regierungskrise“. Das 2. Kabinett Luther. Regierungsdauer: 20.1.1926 bis 15.5.1926. Regierungsparteien: Zentrum, DVP, DDP und BVP
1. Sturz der Vorgängerregierung
2. Reichspräsident Hindenburg und die Regierungsbildung
II. Der „Fenstersturz“
Das 3. Kabinett Marx. Regierungsdauer: 16.05.1926 bis 28.01.1927. Regierungsparteien: Zentrum, DVP, DDP und BVP
1. Sturz der Vorgängerregierung
2. Reichspräsident Hindenburg und die Regierungsbildung
III. Der „Anschlag auf die Reichswehr“
Das 4. Kabinett Marx. Regierungsdauer: 29.01.1927 bis 27.06.1928. Regierungsparteien: Zentrum, DNVP, DVP und BVP
1. Sturz der Vorgängerregierung
2. Reichspräsident Hindenburg und die Regierungsbildung
IV. Der „Schuß von Bühlerhöhe“
Das 2. Kabinett Müller. Regierungsdauer: 28.06.1928 bis 29.03.1930. Charakter des Kabinetts: Bis 11.04.1929 „Kabinett der Persönlichkeiten“: Minderheitskabinett aus SPD und Fachministern von Zentrum, DVP, DDP und BVP. Ab 11.4.1929 Große Koalition derselben Parteien
1. Sturz der Vorgängerregierung
2. Reichspräsident Hindenburg und die Regierungsbildung

D. Schlussbemerkung
I. Allgemeine Betrachtungen
II. Der Einfluß Paul von Hindenburgs auf die Kabinettsbildungen
1. Das 2. Kabinett Luther
2. Das 3. Kabinett Marx
3. Das 4. Kabinett Marx
4. Das 2. Kabinett Müller

„Eine Verletzung der Verfassung wäre im übrigen einem Manne wie dem Reichspräsidenten Hindenburg völlig unmöglich, genau so unmöglich, wie es ihm aber auch ist, die ihm durch die Verfassung zustehenden Rechte aufzugeben.“1

A. Einleitung

Die Regierungsbildungen der Weimarer Republik zwischen 1925 bis 1928 bieten dem außenstehenden Betrachter das Bild eines wüsten Chaos, das ohne klare Linien erscheint. Kann denn Licht in das wilde Durcheinander der Regierungsbildungen dieser Zeit gebracht werden? Kann die Rolle des greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg in diesem Schauspiel politisch, historisch und begrifflich gefasst werden? War der Reichspräsident Herr des Verfahrens bei Regierungsbildungen, überblickte er die Szenerie der Parteipolitik in ihren Grundlinien? Oder war er nur Herr des Verfahrens, wenn die im Reichstag vertretenen Parteien keine Einigung erzielten? Nahm der Reichspräsident auch Einfluß auf die Besetzung von Ministerposten und auf inhaltliche Programmpunkte der Koalitionsparteien? Diese Fragen versucht die vorliegende Hausarbeit zu klären. Dabei wird der Fokus grundsätzlich auf die Frage gelegt, welchen Einfluß Reichspräsident Hindenburg auf die Regierungsbildungen genommen hat. Die Verhandlungen zwischen den Parteien sind nur teilweise berücksichtigt. Es ist dabei eine Grundannahme der Hausarbeit, dass es durchaus gewisse logische Vorgehensweisen der an den Regierungsbildungen beteiligten Personen gab – die Auffassung, alles sei Chaos („Ein ungeheures Durcheinander. Ja, es weiß niemand, was eigentlich ist.“2 ) muss zurückgewiesen werden – gewisse Gesetzmäßigkeiten sind bei jeder Regierungsbildung zwischen 1925 und 1928 eingehalten worden.

Dass die Hausarbeit den Problemkomplex nicht vollständig erfassen konnte, ergibt sich schon aus der begrenzten Anzahl verwendeter Quellen: Weder sind der Nachlass des Reichspräsidenten noch der seines Staatssekretärs noch die Nachlässe der beteiligten Politiker ausgewertet worden. Die wenigen herangezogenen Quellen lassen jedoch die Grundzüge der Regierungsbildungen erkennen. So sind die Akten der Reichskanzlei (Die Kabinette Luther I und II3 ; Die Kabinette Marx III und IV4 ; Das Kabinett Müller II5 ) als äußerst wertvoll anzusehen, da die Reichskanzlei die Geschäfte des Reichskanzlers führte6 (der oft entscheidenden Anteil an den Regierungsbildungen hatte), die Kabinettssitzungen vorbereitete7, die Korrespondenz mit dem Reichspräsidialamt führte (meist zwischen den jeweiligen Staatssekretären) und die Öffentlichkeit über die Politik der Reichsregierung unterrichtete.8

Der „Staatssekretär in der Reichskanzlei“ wurde seit 1919 zunehmend zu einem politischen Koordinator großen Stils – er stimmte auch die Zusammenarbeit zwischen Reichskanzler und Reichspräsident ab und drückte den Regierungsbildungen der Zeit seinen Stempel auf.

Als zweite wertvolle Quelle ist das Vermächtnis von Außenminister Gustav Stresemann9 ausgewertet worden. Stresemann war an jeder Regierungsbildung des hier behandelten Zeitraums einmal mehr, einmal weniger beteiligt – eine Regierungsbildung ohne ihn gab es jedoch nicht! Er galt als ein kühler Analytiker des parlamentarischen Systems10 und seiner Verformungen und konnte seine Politik auch verbal als nimmermüder Formulierungskünstler eindrucksvoll vermitteln.

Auch wurde bei der Auswahl des Quellenmaterials einmal der Blick hinter die Kulissen einer Partei gewagt: Es ist die mehrfach an den Regierungen und Regierungsbildungsverhandlungen beteiligte Partei des organisierten Linksliberalismus, die Deutsche Demokratische Partei (DDP), in ihrem Innenleben betrachtet worden. Dazu ist die von Lothar Albertin eingeleitete Quellenedition „Linksliberalismus in der Weimarer Republik“11, die Protokolle der Führungsgremien der DDP enthält, ausgewertet worden. Besondere Beachtung findet die Rolle des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Erich Koch-Weser, den Hindenburg 1925 mit der Regierungsbildung beauftragte. Der Vorteil der Quelle besteht darin, dass sich der Öffentlichkeit verborgene Vorgänge einsehen lassen. Die innerparteiliche Meinungsbildung, die während der Zeit zwischen 1918 und 1933 besonders kontrovers verlief, findet hier ihren Ausdruck.

Die zur Verfügung stehende Sekundärliteratur ist leider ihren Erscheinungsjahren nach (zwischen 1966 und 1968) durchweg veraltet.12. Peter Haungs ist dabei eine ausgewogene Darstellung der Regierungsbildungen gelungen, da er gleichermaßen den Anteil der Parteien, Reichskanzler, Staatssekretäre und den Anteil des Reichspräsidenten berücksichtigt. Michael Stürmers Werk ist stark quellenorientiert13 und betont die taktischen Vorgehensweisen des Reichspräsidenten bei den Regierungsbildungen. Leider wird nicht dem Reichspräsidenten die größte Beachtung geschenkt, sondern vielmehr den Parteienkonstellationen im Reichstag als Grundlage jeder Regierungsbildung. Mit vielen abgedruckten Quellen ist auch Walther Hubatschs Werk14 für die vorliegende Untersuchung sehr hilfreich. Besonders zur Bildung des 4. Kabinetts Marx ist hier Quellenmaterial reichlich vorhanden. Einen Sonderrang innerhalb der ausgewerteten Sekundärliteratur nimmt Willibalt Apelts Abriss über die Geschichte der Weimarer Verfassung ein, da Apelt selbst als Mitarbeiter von Hugo Preuß im Reichsamt des Innern an der Ausarbeitung der Weimarer Reichsverfassung beteiligt war. Der Staatsrechtler Apelt war zudem an der Gründung der linksliberalen DDP beteiligt gewesen, die entscheidenden Anteil an der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Staatsorgane Reichspräsident, Reichstag und Reichsregierung hatte. So schwingt sich Apelts Werk vom Status seriöser wissenschaftlicher Sekundärliteratur zu einer historischen Quelle sui generis auf.

B. Bestimmungen der Weimarer Verfassung über das Kompetenzenverhältnis zwischen den Organen Reichspräsident, Reichskanzler und Reichstag

I. Das Demokratiemodell der Weimarer Verfassung

Zur Charakterisierung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Reichs­­präsidenten hinsichtlich der Regierungsbildung einschließlich seines Zusammenwirkens mit dem Reichstag und den darin vertretenen Parteien ist es zunächst notwendig, das der Weimarer Verfassung zugrundeliegende Demokratiemodell zu ermitteln. Denn aus diesem ergeben sich grundsätzliche Schlussfolgerungen über die Befugnisse des Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung, die nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der entsprechenden Verfassungsartikel hervorgehen. Vielmehr ist eine ergänzende historische und teleologische Interpretation von Verfassungsartikeln notwendig.

Der überwiegende Teil der Forschung geht davon aus, dass die sog. Liberale Gleichgewichtslehre15 als Demokratiemodell der Weimarer Verfassung zugrunde liegt. Dieses Modell sagt im Kern aus, dass nur ein Gleichgewicht der staatlichen Gewalten dem einzelnen Bürger die Freiheit erhalten kann. Nur ein staatliches Gemeinwesen mit Gewaltenbeschränkung durch Gewaltenteilung sei demnach in der Lage, den Bürger vor staatlicher Willkür zu schützen. So erstrebte der maßgebliche „Architekt“ der Weimarer Verfassung, der linksliberale Staatssekretär im Reichsamt des Innern und spätere Reichsinnenminister Hugo Preuß, ein Gleichgewicht zwischen Parlament und Reichspräsident, wobei die parlamentarische Regierung das bewegliche Bindeglied zwischen den Organen bilden sollte.16 Preuß befürchtete eine Allmacht des Parlaments, in seiner Sprache einen „Parlaments-Absolutismus“.17 Dies war für den Verfassungsschöpfer der tiefere Grund, die Institution eines direkt vom Volk gewählten Reichspräsidenten zu schaffen:18 Der vom Volk gewählte und dadurch mit einer herausragenden politischen Legitimation versehene Reichspräsident sollte dem Parlament in seiner Legitimation ebenbürtig sein und hatte die vorrangige Aufgabe, dasselbe bei gefährlichen volksverhetzenden und/oder sozialistischen Bestrebungen in Schranken zu halten. Hier wirkte bei Preuß sicherlich das Chaos der Revolutionstage des November und Dezember 1918 nach – er wollte mit der Einrichtung eines starken Reichspräsidenten eine gewaltbereite sozialistische Räterepublik, wie sie in Rußland durch die Oktoberrevolution entstanden war, um jeden Preis verhindern. Ein vom Parlament gewählter Reichspräsident wäre demgegenüber nach Preuß „keine unmittelbare im Volke wurzelnde ebenbürtige Potenz“19 und hätte daher nicht die Fähigkeit, ein Gleichgewicht zwischen ausführender und gesetzgebender Gewalt herzustellen.

Preuß fasste den politischen Gleichgewichtsgedanken in folgende Worte: „Es gilt sowohl, diese Gefahr zu vermeiden [ein vom Parlament gewählter Reichspräsident, Anm. d. Verf.] wie die Gefahr, die nach amerikanischem Vorbilde auch darin liegt, dass alle Verwaltung unabhängig vom Parlament in die Hand des vom Volke gewählten Präsidenten gelegt wird. In beiden Systemen fehlt das organische Ineinandergreifen und das organische Ausbalancieren der beiden Potenzen. Sie ist in unserer Verfassung gegeben dadurch, dass der Präsident ebenso unmittelbar vom Volke gewählt wird wie das Parlament, dass er seine Regierungsmacht aber in den Formen des Parlamentarismus ausübt durch ein Ministerium, das zwar nicht aus dem Parlament hervorzugehen braucht, das aber von dem Vertrauen des Parlaments getragen sein muss und vor seinem Misstrauen zurücktreten muss.“20 Schlüsselwort in Preuß‘ Ausführungen ist das „organische Auseinanderbalancieren“ von Reichstag und Reichspräsidenten. Dieser Gedanke bildete für Preuß den Kern des Verfassungswerks von Weimar.

Wer die Verfassung interpretieren will – und das ist für die vorliegende Untersuchung der Regierungsbildungen in den Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen Reichspräsident, Reichskanzler und Reichstag unabdinglich – sollte im Wege einer historischen und teleologischen Verfassungsinterpretation auf die oben genannten Ausführungen von Preuß zurückgreifen.

Wie läßt sich Schlussfolgernd die Weimarer Verfassung demokratietheoretisch sinnvoll beschreiben? Meiner Meinung nach am besten in der Art und Weise Christoph Gusys, der von einem „Neben- und Gegeneinander von parlamentarischen, präsidialen und plebiszitären Elementen“21 spricht und somit das äußere verfassungstechnische Erscheinungsbild der Gleichgewichtslehre beschreibt. Was uns vor allem in diesem Zusammenhang interessiert, sind die Auswirkungen dieser Verfassungskonzeption auf die tatsächlichen Kompetenzen von Reichspräsident, Reichskanzler und Reichstag bei der Regierungsbildung. Dies wird die unter Punkt II. zu behandelnde Frage sein.

II. Die Bildung der Reichsregierung im Zusammenspiel zwischen Reichspräsident, Reichskanzler und Reichstag

Die Weimarer Verfassung kannte nur einen Fall des positiven Ausgleichs zwischen Reichspräsident und Reichstag durch ein Muss des konstruktiven Zusammenwirkens: Die Bildung der Reichsregierung.22 Art. 53 WRV bestimmte lapidar: „Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen.“ Es stellt sich nun zwangsläufig die rechtliche und politikpraktische Frage, welches Mitspracherecht der Reichstag bei der Ernennung des Reichskanzlers und der Reichsminister durch den Reichspräsidenten wirklich hatte – Art. 53 WRV beschrieb eher dürftig das Procedere des Ernennungsvorgangs durch den Reichspräsidenten, aber bewusst nicht das Mitwirken des Parlaments an der Regierungsbildung.23

Ergiebig für das Verständnis von Art. 53 WRV sind die Entstehung und der Sinn desselben, niedergelegt in einer Denkschrift24 von Hugo Preuß: „Die Ernennung des Reichskanzlers und in Übereinstimmung mit ihm die der anderen Mitglieder der Reichsregierung ist die wichtigste selbständige Funktion des Reichspräsidenten. Hierin vor allem hat er seine politische Führereigenschaft zu bewähren. Ein aus der Volkswahl hervorgegangener, also im politischen Treiben voraussichtlich erfahrener, Führer kann die mannigfaltigen dabei in Betracht kommenden politischen und fachlichen Gesichtspunkte unzweifelhaft sicherer und besser abwägen und zur Entscheidung bringen, als es im Wege unmittelbarer parlamentarischer Wahlen möglich ist. Er, der selbst aus dem Volke hervorgegangen ist, wird voraussichtlich Verhältnisse und Personen auch klarer und richtiger beurteilen können, als ein durch Geburt und Erziehung vom Volke abgesonderter Monarch, der nur mit den Augen der ihn umgebenden engen sozialen Schicht sehen, nur mit ihren Ohren hören kann.“25

Preuß war zu dieser Zeit Staatssekretär im Reichsinnenamt und wurde vom Rat der Volksbeauftragten nicht nur in dieses Amt eingesetzt, sondern auch mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs beauftragt. Er legte den ersten Entwurf eines allgemeinen Teils der Verfassung ohne Grundrechtsteil bereits am 03.01.1919 vor und vervollständigte ihn zum besseren Verständnis der Verfassungsartikel mit dieser Denkschrift, welche Auskunft über die Entstehungsgeschichte von Art.53 WRV gibt: Nach dieser Denkschrift ernennt der Reichspräsident eigenverantwortlich ohne Zutun des Reichstags den Reichskanzler. Die Reichsminister hingegen können nur in Übereinstimmung mit dem Reichskanzler, ebenfalls ohne formelle Mitwirkung durch den Reichstag, ausgewählt werden. Interessanterweise erwartete Preuß gerade durch die Volkswahl des Reichspräsidenten, dass dieser genügend politische Erfahrung besitzt, um die Wahl des Reichskanzlers vorzunehmen. Gerade diese Erfahrung fehlte Reichspräsident Hindenburg, mit der Folge, dass er sich zunehmend auf seine politischen Berater und seine „Hofgesellschaft“ stützen musste.

Was Preuß nicht nannte, ist die nach Art. 54 WRV notwendige Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und der einzelnen Reichsminister gegenüber dem Reichstag: Die Regierung war nach dem Wortlaut der Weimarer Verfassung und nach der herrschenden staatsrechtlichen Meinung an das Vertrauen des Parlaments gebunden. Das entspricht der Essenz eines parlamentarischen Regierungssystems. Jedoch existierte kein Verfassungsartikel, der dem Parlament ein Recht verliehen hätte, den zukünftigen Reichskanzler auszuwählen und zu ernennen.26 Es gab ebenfalls keinen Verfassungsartikel, der vorgeschrieben hätte, dass sich eine soeben vom Reichspräsidenten ernannte Regierung einer Vertrauensabstimmung im Reichstag stellen müsste. Prominente Weimarer Staatsrechtler gaben hier aber zu bedenken, dass der Reichspräsident grundsätzlich bei allen Regierungsbildungen schon im Vorfeld derselben streng darauf achten müsse, dass die von ihm ernannten Regierungen aller Voraussicht nach nicht gleich einem erfolgreichen destruktiven Misstrauensvotum im Reichstag ausgesetzt seien.

Es gab zahlreiche zeitgenössische juristische Meinungen zum Problem des Verhältnisses und der Kompetenzverteilung zwischen Reichspräsident und Reichstag bei der Regierungsbildung. Es seien nur die beiden Extreme kurz genannt: Auf der einen Seite standen Staatsrechtler, die dem Reichspräsidenten die alleinige Entscheidung über die Besetzung des Reichskanzleramts überließen. Lediglich die Berücksichtigung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Reichstag sollte als Rahmenbedingung für die Entscheidung des Reichspräsidenten in Betracht gezogen werden. Auf der anderen Seite stand die Auffassung, dass die Partei – oder/und Fraktionsvorsitzenden der Mehrheitspartei(en) im Reichstag über den Reichskanzlerposten faktisch (sog. Materielles Ernennungsrecht des Reichstags) zu entscheiden hätten, der Reichspräsident hingegen diese Entscheidung nur bestätigen müsse (sog. Formelles Ernennungsrecht des Reichspräsidenten).

Zwischen diesen extremen Auffassungen, die praktisch die Etablierung einer präsidialen bzw. parlamentarischen Demokratie beinhaltet hätten, standen mehrere Schattierungen von Meinungen, die es darzustellen nicht der Zweck dieser Arbeit sein kann. Zu fragen ist hier vielmehr nach der politischen Praxis: Im allgemeinen erfolgte die Ernennung der Reichskanzler nach Beratungen mit den Fraktionen im Reichstag.27 Die Reichsminister wurden dagegen durch Koalitionsvereinbarungen zwischen den Parteien bestimmt, die Reichspräsident und Reichskanzler banden.28 Art. 53 WRV konnte so verstanden werden, dass der Reichspräsident nur Minister ernennen durfte, die ihm vom Reichskanzler vorgeschlagen wurden. In einigen Fällen hielt sich Hindenburg nicht an diese Verfassungsauslegung. So hielt er beispielsweise bis 1928 hartnäckig an Reichswehrminister Otto Geßler fest.29 Auch der Zeitzeuge Willibalt Apelt, dessen Werk 1946 erschien, war der Auffassung, dass die Ministerernennung durch den Reichspräsidenten nur diejenigen Personen umfasse, die ihm vom Reichskanzler empfohlen würden.30 Das schloß Apelt aus dem Wortlaut von Art. 53 WRV und eventuell auch aus eigenen Erinnerungen an den Prozess der Verfassungsgebung.

Eine weitere Verfassungsstreitfrage ergab sich aus den häufigen Bestrebungen des Reichspräsidenten Hindenburg, nicht nur Kanzler und Minister zu ernennen, sondern auch Richtlinien für die Koalitionsbildung und für inhaltliche Fragen der Politik, später niedergelegt in den Koalitionsvereinbarungen zwischen den Parteien, zu geben. Inwieweit dies dem Sinn der Verfassung entsprach, soll dahingestellt bleiben.

C. Reichspräsident Paul von Hindenburg und die Bildung der Kabinette Luther (2. Kabinett), Marx (3./4. Kabinett) und Müller (2. Kabinett)

I. Das „Schauspiel der unausgesetzten Regierungskrise“

Das 2. Kabinett Luther

Regierungsdauer: 20.01.1926 bis 15.05.192631 32

Regierungsparteien: Zentrum, DVP, DDP und BVP

1. Sturz der Vorgängerregierung

Am 25.10.1925 beschloß die Reichstagsfraktion der DNVP den Austritt aus der Regierungskoalition des 1. Kabinetts Luther. Grund hierfür war die Weigerung der Partei, das Vertragswerk von Locarno anzuerkennen: Der Verzicht auf ehemals deutsches Land (Eupen-Malmedy und Elsass-Lothringen) schien der DNVP unerträglich.33

Die Regierung Luther hatte in der Folge am 25.10.1925 ihre parlamentarische Mehrheit verloren.34 Sie blieb solange im Amt, bis der Vertrag von Locarno den Reichstag passierte (27.11.1925) und in London unterzeichnet wurde (01.12.1925). Am 05.12.1925 trat das Kabinett zurück.

2. Reichspräsident Hindenburg und die Regierungsbildung

Es wird in der Forschung vielfach übersehen, dass die Bildung des 2. Kabinetts Luther gleichzeitig die erste Regierungsbildung Hindenburgs darstellte. Die Handlungsgrundlinien des neuen Reichspräsidenten mussten erst entwickelt werden. Welche Rücksicht musste auf die Parteien genommen werden? Hatte der Reichstag ein faktisches Mitwirkungsrecht bei den Regierungsbildungen? Wie waren Verhandlungen des Reichspräsidenten mit den Partei- und/oder Fraktionsvorsitzenden der Reichstagsparteien zu führen? War ein taktisches Vorgehen bei der Regierungsbildung notwendig? Diese und ähnliche Fragen dürften Hindenburg und dessen Staatssekretär im Reichspräsidialamt, Otto Meißner, beschäftigt haben.

Sodann sollte auch Hindenburgs Alter (er war bei seiner ersten Regierungsbildung 78 Jahre alt) berücksichtigt werden: Dieses schränkte zunehmend den Bewegungsspielraum des Reichspräsidenten ein – es konnten nicht jederzeit Politiker empfangen werden, es wurden nicht alle Nuancen der Politik vom Reichspräsidenten verstanden.35 Hindenburg war auch nicht wie Friedrich Ebert der führende Vertreter einer Partei im Reichstag, ebenso wenig Reichstagsabgeordneter oder Fraktionsmitglied einer Partei. Dennoch ist es grundlegend falsch, Hindenburg als einen unpolitischen Menschen einzuschätzen: Als Chef der Obersten Heeresleitung stand er mitten in der Kriegszeit direkt im politischen Getriebe an sehr wichtiger Stelle – er war homo politicus. Die Probleme der Kanzlerwechsel zwischen 1917 und 1918 und die Verhandlungen über die Oktoberverfassung von 1918 dürften ihm nicht verschlossen geblieben sein – das ist noch sehr vorsichtig ausgedrückt, da Hindenburg in dieser Zeit vielfach zentrale politische Vorhaben plante und umsetzte.

Was Hindenburg nicht besaß, waren Erfahrungen mit den Reichstagsfraktionen36, denen in der Zeit zwischen 1919 und 1930 eine zentrale Rolle bei den Regierungsbildungen zukam. Da dieser Mangel an Erfahrung als Tatsache hinzunehmen ist, wobei noch ein Mangel an Identifikation mit der parlamentarischen Demokratie hinzuzurechnen ist, müssen gerade bei Hindenburgs erster Regierungsbildung dessen Berater den Gang des Verfahrens und sein Ergebnis entscheidend mitbestimmt haben.37

Der parteilose Hans Luther, welcher der DVP nahestand und zweimaliger Reichskanzler38 zwischen 1925 und 1926 war, schrieb in seinen Erinnerungen „Politiker ohne Partei“39 über sein Zusammentreffen mit dem Reichspräsidenten im Jahr seines Amtsantritts: „Ich brachte von diesem Gespräch mit Hindenburg den bestimmten Eindruck von natürlicher Klugheit und besonders von gutem Menschenverstand mit nach Berlin zurück, wenn ich auch auf keinerlei spezifische Sachkunde in den Aufgaben des Regierens traf."40 Diese Beobachtung spricht für sich.

Nun ist es an der Zeit, Hindenburg beim Regieren „über die Schulter zu schauen“: Wie verlief die erste Regierungsbildung unter seiner Ägide? Zunächst läßt sich feststellen, welche Dokumente der Reichspräsident zur Krise des 1. Kabinetts Luther nach dem Austritt der DNVP gelesen haben muss. Das erste Dokument ist die Aufzeichnung des Staatssekretärs in der Reichskanzlei, Kempner, das dieser im Auftrag des Reichskanzlers für den Reichspräsidenten verfasste.41 In der Weimarer Zeit arbeiteten der Staatssekretär der Reichskanzlei und der Staatssekretär des Reichspräsidialamts oft eng zusammen – dies ergab sich daraus, dass der Reichskanzler die Aufgabe hatte, den Reichspräsidenten in zentralen politisch-gesellschaftlichen Fragen zu beraten und auf diese Weise ein einheitliches Handeln der ausführenden Gewalt zu ermöglichen.42 Eine solche relativ unnatürliche Kooperation innerhalb einer quasi zweigeteilten ausführenden Gewalt im Staate – der Reichspräsident musste sich einige seiner verfassungsmäßigen Rechte mit dem Reichskanzler und den Reichsministern teilen – führte nicht selten zu einem Rivalitätsverhältnis zwischen Reichspräsident und Reichskanzler und der entsprechenden zugeordneten Beamtenschaft.

Der Reichskanzler sprach sich dabei gegenüber seinem Staatssekretär für eine besondere Berücksichtigung einer Regierung der Mitte oder einer Regierung der Großen Koalition aus. Kempner verfasste ein Strategiepapier mit der ausdrücklichen Fragestellung, welche Regierungskoalitionen im Moment politisch möglich seien. Es ist davon auszugehen, dass sich Hindenburg ebenfalls dieses Schreiben zu Gemüte geführt hat, das de facto vom Reichskanzler, der gleichzeitig bei besonderen Gelegenheiten Berater des Reichspräsidenten war, an den letzteren gerichtet wurde. So wurde es Hindenburg ermöglicht, die Möglichkeiten, Tricks und Winkelzüge, die den Charakter einer Weimarer Regierungsbildung ausmachten, erstmals zu erkennen.

Welche Koalitionen sah Kempner als möglich an? Realistisch seien zum einen eine Große Koalition, bestehend aus SPD, Zentrum, DVP und DDP oder zum anderen eine Koalition der Mitte, bestehend aus Zentrum, DVP, DDP und BVP. Die tatsächliche Regierungsbildung erfolge aus parteipolitischen Opportunitätsgründen: Die DDP wolle kein „Schutzschild“43 sein, das die Regierung vor Angriffen linksgerichteter Parteien schütze; die SPD wolle angesichts der Last der Verantwortung während des schweren Winters in der Opposition bleiben; die DVP fürchte Konflikte mit der SPD in wirtschaftlichen Fragen. Für eine Große Koalition spräche, dass momentane schwere politische Entscheidungen mit Zustimmung der SPD durch eine Reichstagsmehrheit getroffen werden könnten. Nachteil dieser Koalition sei, dass sie wegen der wirtschaftlichen Auffassungen der Flügelparteien (SPD/DVP) nur schwer zusammengehalten werden könne. Für die Koalition der Mitte spräche dagegen, dass sie ein geschlossenes Programm vertreten könne. Nachteil sei allerdings, dass sie über keine Reichstagsmehrheit verfüge.

Nach diesen Ausführungen zu potenziellen Regierungskoalitionen folgte ein allgemeiner Absatz über das mögliche Procedere des Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung. Die erste vom Reichspräsidenten zur Regierungsbildung bestimmte Person müsse höchstwahrscheinlich scheitern (gerade dies hat Hindenburg später in sein Vorgehen miteinbezogen, siehe Punkt D. I. 2.). Auch sei die Möglichkeit enthalten, dass der Reichspräsident dem Kandidaten den Auftrag zur Bildung einer bestimmten Koalition geben könne oder auch nicht.44 Tatsächlich gab der Reichspräsident von 1926 bis 1928 regelmäßig den Auftrag zur Bildung einer bestimmten Koalition.

Mit diesem Schreiben Kempners war Hindenburg mit politischem Wissen über folgende Fragen ausgestattet: Wie verfährt der Reichspräsident bei der Regierungsbildung? Welche Rücksichten sind auf die beteiligten Parteien zu nehmen? Welche grundsätzlichen Möglichkeiten der Koalitionsbildung gibt es? Abschließend ist zu diesem Schreiben festzustellen, dass Reichskanzler Luther und sein Staatssekretär45 mit dem Schreiben wohl versucht haben, Herren des Verfahrens bei der anstehenden Regierungsbildung zu werden – schließlich ging es für beide darum, ihre Posten zu verteidigen! Jedenfalls ist der größte Einfluß eines Reichskanzlers bei den Regierungsbildungen zwischen 1925 und 1928 hier nachzuweisen (meistens verhielten sich die amtierenden Reichskanzler eher passiv). Für die große Einflußnahme des Reichskanzlers spricht auch die Tatsache, dass Hindenburg diesen schon vor der Regierungskrise mehrfach empfangen hat.46

Eine vergleichsweise noch vorrangigere Rolle jedoch als der Reichskanzler spielte bei jeder Regierungsbildung zwischen 1925 und 1928 der Leiter des Präsidialbüros des Reichspräsidenten, Staatssekretär Otto Meißner, der geradezu als Personifizierung eines unpolitischen deutschen Karrierebeamten eingeordnet werden kann. Schon Friedrich Ebert hatte ihn 1920 zum Leiter des neu eingerichteten „Büros des Reichspräsidenten“ bestellt und verließ sich während seiner Amtszeit in allen zentralen politischen Fragen auf ihn, wobei der Reichspräsident aber darauf pochte, nach den Beratungen mit Meißner selbst zu entscheiden.

Meißner war als Staatssekretär im Reichspräsidialamt auch Hindenburgs erster Berater. Als Staatssekretär im Reichspräsidialbüro kontrollierte er den gesamten Schriftverkehr, beriet seinen Chef besonders in juristischen und politischen Fragen, war taktischer Meister im Umgang mit Politikern und Parteien, ja geradezu der „Kopf“ des Reichspräsidialamts. Meißner entwickelte keine ausgeprägten eigenen politischen Ambitionen, er fühlte sich als „Beauftragter“ seines Vorgesetzten. Vielleicht musste sich Meißner bei Hindenburgs erster Regierungsbildung besonders anstrengen, da ihn Hindenburg wegen vermuteter demokratischer und/oder sozialistischer Neigungen nur vorläufig in seinem Amt bestätigte?47 Sicherlich war Meißner bei Hindenburg zunächst dadurch „verdächtig“ geworden, dass er für geraume Zeit der linksliberalen DDP zugehörte, die die von Hindenburg favorisierte Monarchie ablehnte und entschieden für eine Republik eintrat und darüber hinaus einen Einheitsstaat48 als fernes und auch näheres politisches Ziel befürwortete – dieser Einheitsstaat hätte dem Dualismus zwischen Reich und Preußen einen Riegel vorgeschoben und damit Preußens politischen Rang entscheidend beschädigt – auch das konnte Hindenburg als bekennender Preuße nicht einfach hinnehmen.

Fest steht, dass sich Meißner geschickt zum taktischen Vordenker der anstehenden Regierungsbildung machte, indem er eine Denkschrift49 verfasste, die für den Reichspräsidenten bestimmt war. Offensichtlich wurde das Memorandum Kempners von Meißner zur Kenntnis genommen, da Meißner ohne Umschweife gleich die seiner Meinung nach nur in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten einer Großen Koalition oder einer Koalition der Mitte anpeilte (eben diese Koalitionen wurden schon in Kempners Memorandum als die im Moment entscheidenden politischen Möglichkeiten genannt). Meißner führte folgende Argumente für eine Große Koalition an:

- Aufgrund der dieser Koalition zufallenden Mehrheit im Reichstag sei sie leichter zu verwirklichen.
- Somit könne durch Einschluss der SPD eine gewisse Stabilisierung der Verhältnisse erreicht werden, auch eine Beruhigung in der Wirtschaft.
- Zwischen der Reichsregierung und der preußischen Staatsregierung entfiele der parteipolitische Gegensatz.

Gegen eine Große Koalition spräche dagegen:

- Der Sprengstoff in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen sei immens, so dass als Folge mit einem baldigen Auseinanderbrechen der Koalition zu rechnen sei.
- Die SPD verlange die Absetzung des amtierenden Reichskanzlers und des Reichswehrministers Otto Geßler (dieser hatte sich großen Respekt im Reichstag und beim Reichspräsidenten erworben; ein Nachfolger galt als nicht in Sicht).
- Die SPD trete für den Achtstundentag ein und sei gegen jeglichen Abbau im Feld der Sozialpolitik (dies sei eine Kampfansage an die unternehmerorientierte DVP).
- Meißner kam zu dem Ergebnis, dass die Große Koalition nicht möglich sei. Deswegen schlug er vor, dass zunächst nur unter taktischen Gesichtspunkten eine solche anzustreben sei. Der Reichspräsident solle eine Persönlichkeit vorschlagen, die diese Regierungsbildung ernstlich verwirklichen wolle. Scheitere dies, solle der Reichspräsident eine weitere Persönlichkeit (Meißner dachte dabei an den amtierenden Reichskanzler Luther) beauftragen, eine Koalition der Mitte zu bilden (die Einzelheiten des Verfahrens sind in Michael Stürmers Werk „Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924 – 1928“, S. 136ff., in Einzelpunkten dargelegt). Luther dürfe sich in keinem Fall politisch verbrauchen lassen, indem er vom Reichspräsidenten als Kanzlerkandidat für eine Große Koalition ausgewählt würde.50 Täte der Reichspräsident dies dennoch, sei Luther als Kanzler für eine Koalition der Mitte unmöglich geworden.

Offensichtlich folgte Hindenburg dem Vorschlag seines Staatssekretärs (die historische Forschung hat das nicht klar ausgesprochen51 ). Jedenfalls sprechen die historischen Quellen52 (die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden können) dafür, dass Hindenburg im Sinn des Meißnerschen Memorandums vorgegangen ist.

Wie beeinflußte der Reichspräsident nun konkret die Regierungsbildung 1925/1926? Zunächst empfing er am 07.12.1925 mehrere Partei- und/oder Fraktionsvorsitzende, um Regierungsbildungsverhandlungen mit ihnen zu führen. Hindenburg schlug dabei die Bitte des Fraktionsvorsitzenden der rechtsliberalen DVP, Ernst Scholz, ab, Luther solle mit der Kabinettsbildung beauftragt werden. Ganz im Sinne des Meißnerschen Memorandums lehnte Hindenburg ab, da eine Große Koalition wegen der Konflikte zwischen SPD und DVP nicht möglich sei. Der Reichspräsident meinte, Luther würde dadurch „unnötig exponiert und immerhin so belastet, dass er es schwer haben würde, eine kleine Koalition zu bilden, die sich etwa auf Rechts stützen müsste.“53 Nach dem Memorandum Meißners gab es zwei Wege für die Bildung einer Großen Koalition: Entweder der Reichspräsident beauftrage einen Politiker zu diesem Zweck oder er versuche selbst, die Einigung zwischen den Parteien für eine Große Koalition zu erreichen.54

Hindenburg beschritt beide Wege: Anfänglich versuchte er selbst, unter den Parteien für eine Große Koalition zu werben (die Einzelheiten, die weiter nichts zur Sache tun, sind bei Peter Haungs, S. 101 f. zu finden). Nachdem dieser Weg gescheitert war, beauftragte der Reichspräsident den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der DDP, Erich Koch-Weser, am 14.12.1925 mit der Bildung einer Großen Koalition.55 Koch-Weser empfahl sich für diese Aufgabe, weil er als erfahrener Parlamentarier galt – er gehörte schon der Weimarer Nationalversammlung an und arbeitete dort sehr engagiert und ambitioniert an den Verfassungsentwürfen mit, darüber hinaus hatte er sich bei seiner für Weimarer Verhältnisse recht langen Amtszeit als Reichsinnenminister Renommee erworben und besaß daneben – ähnlich wie Gustav Stresemann – ein beachtliches rhetorisches Geschick. Doch all das brachte ihm bei den Verhandlungen zur Regierungsbildung kein Glück. Am 17.12.1925 berichtete er dem Reichspräsidenten, die Verhandlungen seien an der Haltung der SPD gescheitert, die bei steigender Erwerbslosigkeit keine Regierungsverantwortung übernehmen wolle.56

Koch-Weser verstand nicht, dass er nur ein Lockvogel zur Bildung der Großen Koalition war, die ohnehin keinem Beteiligten möglich erschien.57 Am 16.12.1925 rief Koch-Weser bei Gustav Stresemann an und teilte ihm mit, dass die SPD „große Schwierigkeiten“58 mache, die DVP sich aber „vernünftig“59 und „objektiv“60 verhalten habe. Dass der Fraktionsvorsitzende der DVP, Ernst Scholz, in den Meißnerschen Plan eingeweiht war,61 also das taktische Spiel um die Bildung der Großen Koalition kannte, konnte Koch-Weser nicht wissen. Einem der Kabinettsbildung fernstehenden Politiker ist dieses Spiel jedoch aufgefallen: Aus einer Unterredung zwischen dem Ministerialdirektor der Reichskanzlei, Hermann Pünder, mit dem deutschnationalen Politiker Schiele geht hervor, dass Schiele das baldige Scheitern von Koch-Wesers Mission der Bildung einer Großen Koalition voraussah und eine Beauftragung des amtierenden Reichskanzlers Luther mit der Bildung einer Koalition der Mitte erwartete.62 Jedenfalls glaubte Koch-Weser felsenfest, die Große Koalition sei an der SPD gescheitert.63

Wie beurteilte Koch-Weser selbst seinen Auftrag zur Bildung einer Großen Koalition? In seiner Tagebuchaufzeichnung vom 18.12.192564 schrieb er über die SPD: „Es hat sich in der Tat ergeben, dass in der sozialdemokratischen Partei die Führung sich gegenüber den kleinen Leuten nicht hat herauswagen oder durchsetzen können.“ Koch-Weser sah die SPD denn auch vorwiegend als „Klassenpartei“ im Sinne einer marxistischen Ideologie und als „Zahl- und Wahlmaschine“. Aber auch dem amtierenden Reichskanzler wurde Schuld am Scheitern der Bildung der Großen Koalition zugeschoben: „Luther, der während meiner Kabinettsbildung anscheinend doch erheblich mehr für sich gearbeitet hat als etwa Meißner, hat viel an Boden verloren.“65 Dass ebendieser Meißner der strategisch-taktische Kopf der Regierungsbildung war, hat Koch-Weser folglich nicht erkannt.

Wie vertrat Koch-Weser sein Scheitern vor den innerparteilichen Gremien seiner Partei? In der Sitzung des Parteiausschusses der DDP66 führte er folgendes aus: „Der Kanzler muss sich seine Mitarbeiter aussuchen und dann die Zustimmung der Parteien und des Reichstages gewinnen. Der Reichspräsident, von dem man nicht erwarten kann, dass er diese parlamentarischen Angelegenheiten beherrscht, ist offenbar nicht richtig vorgegangen. Er hat durch seine Methode die Gegensätze nicht geschwächt, sondern verstärkt. Es war verfehlt, dass die Parteiführer berufen wurden, um sich an einen Tisch zu setzen und sich zu verständigen.“67 Wieder durchschaute Koch-Weser die taktischen Winkelzüge des Reichspräsidenten nicht. Vielmehr kritisierte er, dass nicht der Reichskanzler seine Minister bestimme und vor dem Reichstag für parlamentarisches Vertrauen werbe, sondern der Reichspräsident in dieser Phase der Regierungsbildung die Verhandlungen unter den Parteien in seinem Beisein forciere. Ein folgenreicher Vorwurf an den Reichspräsidenten – er verstehe nichts von den vorliegenden parlamentarischen Angelegenheiten! Welcher härtere Vorwurf hätte dem Reichspräsidenten gemacht werden können? Das Ansehen Hindenburgs im Volk nach der Regierungsbildung jedoch stieg68, das der Parteien fiel. So blieb Koch-Wesers den Reichspräsidenten abwertende Ansicht doch die Ausnahme. Inwieweit gekränkte Eitelkeit in dieser Beurteilung Hindenburgs durch einen „verschlissenen“ Kandidaten mitspielt, sei dahingestellt.

Wie gestalteten sich die weiteren Verhandlungen zur Kabinettsbildung? Da die Große Koalition gescheitert war, konnte Hindenburg die Verhandlungen über eine Koalition der Mitte in Gang setzen, ebenso, wie es das Memorandum Meißners vorsah. Nun ging es darum, eine Koalition der Mitte bei den Parteien hoffähig zu machen. Dazu fand am 08.01.1926 eine Besprechung Hindenburgs mit den Ministern Otto Geßler, Heinrich Brauns, Gustav Stresemann und Karl Stingl statt. Es ging darum, den Eintritt der DDP und des Zentrums in die Koalition der Mitte zu erleichtern. Hindenburg nahm eine abwartende Haltung ein. Am 11./13.1.1926 traf er sich mit dem Zentrumspolitiker Konstantin Fehrenbach und mit Koch-Weser. Hindenburg suchte zu einem Kompromiß zu gelangen; die Parteien sollten eine Koalition der Mitte unter Reichskanzler Luther bilden.

Ein Reichstagsfraktionsbeschluss der SPD kam dem Reichspräsidenten am 13.01.1926 gerade zur rechten Zeit: dieser Beschluss verwarf eine Große Koalition endgültig. Hindenburg kündigte daraufhin die Beauftragung Luthers mit der Bildung einer Regierung der Mitte an, die weder nach rechts, noch nach links festgelegt sein sollte.69 Der Reichspräsident war an seinem Ziel angelangt; den zerstrittenen Parteien schien ein Kabinett der Mitte als die letzte Koalitionsmöglichkeit verblieben zu sein. Die Taktik des Meißnerschen Plans schien aufgegangen zu sein. Um Luther als Reichskanzler durchzusetzen, erging ein „vaterländischer Appell“ des Reichspräsidenten an die Fraktionsführer der Mittelparteien.70 Was die Parteien an Einigung nicht vollbrachten, musste der Reichspräsident ausgleichen: Die Fraktionsführer sollten ihre Vorbehalte „hinter die großen vaterländischen Gesichtspunkte zurückstellen.“ Am gleichen Tag, dem 19.01.1926, endeten dann auch die Verhandlungen mit der Bildung des 2. Kabinetts Luther.71

Fazit:

Paul von Hindenburg gelang seine erste Regierungsbildung im neuen Amt. Der Reichspräsident folgte den Vorgaben seines engsten Mitarbeiters Otto Meißner und ging taktisch vor. Er tat dies so geschickt, dass sein Vorgehen selbst einigen beteiligten Politikern nicht offenbar wurde. Die Große Koalition war demzufolge nur ein taktisches Ziel Hindenburgs. In Wirklichkeit ging es dem Reichspräsidenten darum, Reichskanzler Luther im Amt zu halten und die bisherige Parteienkoalition mit Ausnahme der DNVP zusammenzuhalten. Über geschickte Verhandlungen mit den Partei- und/oder Fraktionsvorsitzenden erreichte Hindenburg dieses Ziel.

II. Der „Fenstersturz“

Das 3. Kabinett Marx. Regierungsdauer: 16.05.1926 bis 28.01.1927.

Regierungsparteien: Zentrum, DVP, DDP und BVP

1. Sturz der Vorgängerregierung

Am 12.05.1926 trat das 2.72 Kabinett Luther nach einem Misstrauensantrag der Koalitionspartei DDP im Reichstag zurück. Äußerer Anlass für das Misstrauensvotum war die sog. Flaggenverordnung des Reichspräsidenten. Diese Verordnung bestimmte, dass die gesandtschaftlichen und konsularischen Behörden des Reichs an außereuropäischen Plätzen und an solchen europäischen Plätzen, die von Seehandelsschiffen angelaufen wurden, künftig neben der Dienstflagge der Reichsbehörden zu Land (Schwarz-Rot-Gold mit dem Reichsschild) auch die verfassungsmäßige Handelsflagge (Schwarz-Weiß-Rot) führen sollten. Schwarz-Weiß-Rot war aber früher die Flagge des Norddeutschen Bundes und des unlängst versunkenen Deutschen Kaiserreichs, so dass zahlreiche Republikaner darin eine Herabwürdigung der parlamentarischen Republik und eine Aufwertung des monarchischen Prinzips witterten.

Hintergrund des sich an der Flaggenfrage entzündenden politischen Streits war die Empörung darüber, dass partiell wieder zur Flagge des Kaiserreichs zurückgegriffen werden sollte, während die Farben der Republik nach den Befürchtungen demokratischer Parteipolitiker in den Hintergrund träten. Der effizienzorientierte und nüchterne Reichskanzler Luther unterschätzte diese hochpolitische Frage und trug somit selbst ungewollt zu seinem Sturz bei. Dass dies ein Streit um eine symbolische Frage war, kam vor allem in den Ausführungen von DDP-Politikern in den Sitzungsprotokollen des Parteivorstands zum Ausdruck: „Gefühlsmäßig aber kann sie [die Flaggenfrage, d. Verf.] durch keine Beschlüsse erledigt werden, da sich Gefühle keinen Anordnungen irgendeiner Mehrheit unterordnen.“73

Wieder einmal zerbrach eine Regierungskoalition an einer politisch nebensächlichen Frage. Zerbrach diese Regierung wirklich an der Flaggenverordnung, so wie es zahlreiche Zeitgenossen der Vorgänge und danach die Forschung größtenteils annahmen?74 Der Verfasser der vorliegenden Arbeit vertritt eine andere Meinung: Als Ausgangspunkt der Argumentation sollte zunächst die Haltung der DDP gegenüber Reichskanzler Luther analysiert werden, da sie es war, die das Misstrauensvotum im Reichstag (12.05.1926; mit 176 Ja-Stimmen gegen 146 Nein-Stimmen) initiierte. In den Sitzungsprotokollen des Vorstands der DDP erklärte deren Partei- und Fraktionsvorsitzender Koch-Weser zu Luther, der Kurs der Regierung „würde ganz und gar vom Reichskanzler beeinflusst.“75 Am 20.05.1926 führte Koch-Weser aus, dass „der Grund für den Sturz Luthers nicht die Flaggenverordnung gewesen ist, sondern seine ganze rechts gerichtete Politik.“76 Der wahre Hintergrund des „Fenstersturzes“ Luthers lag für Koch-Weser darin begründet, dass jener eine Zeitung aufgekauft habe, die offensiv in die politische Meinungsbildung der Bevölkerung eingreife: „Und wenn man dann bedenkt, dass dieser selbe Luther im Frühjahr die Deutsche Allgemeine Zeitung gekauft hat, die seitdem die Deutsche Demokratische Partei eifrig bekämpft hat, so ergibt sich auch hier die Unmöglichkeit, loyal mit einem Manne zusammenzuarbeiten, der entsprechend deutschnationalen Wünschen mit Hilfe der Demokraten zu regieren beabsichtigte. Unter diesen Umständen konnte ich mir und der Partei in der Flaggenfrage niemals eine Ohrfeige geben lassen.“77 Die Brisanz der Angriffe Koch-Wesers ergibt sich daraus, dass Zeitungen zu dieser Zeit das Hauptinformationsmittel der politischen Öffentlichkeit waren.

Auch Peter Haungs führt einige Belege78 auf, die Bedenken führender Parteipolitiker aus der DDP und DVP gegen Luther als Reichskanzler begreiflich machen. Im Kern geht es darum, dass die Parteien Luther aus folgenden Gründen fürchteten: Er galt als Prototyp eines Politikers, der als Parteiloser über den Parteien (ähnlich wie der Reichspräsident) stand; er galt damit quasi als ausgeklammert vom zersetzenden Streit zwischen den Parteien; er wurde wegen seiner politischen Sachkenntnis gefürchtet; außerdem verkörperte er in seiner Person eine parteiunabhängige Regierungskontinuität und autoritäre Leitung der Regierungspolitik in Zeiten der Unsicherheit. Dass ein solcher Politiker die Volksgunst dauerhaft für sich gewinnen könnte, war nicht nur eine Befürchtung des politischen Establishments.

2. Reichspräsident Hindenburg und die Regierungsbildung

Der Reichspräsident tat äußerst viel, um Reichskanzler Luther im Amt zu halten. Nachdem dies mißlang (Einzelheiten sind bei Peter Haungs, S. 114, nachzulesen), schien Hindenburg Reichswehrminister Otto Geßler als Kandidaten favorisiert zu haben (ohne hinreichende Quellenbelege79 ). Für diese Auswahl des Reichspräsidenten spricht, dass Geßler tatsächlich zum Mittelsmann zwischen Hindenburg und den Parteien bei der geplanten Kabinettsbildung wurde. Zudem wurde Geßler nach der Ablehnung Luthers, die Geschäfte des Reichskanzlers weiterzuführen, für kurze Zeit als dienstältester Minister zum geschäftsführenden Reichskanzler. Geßler war seit 1920 Reichswehrminister und zu Beginn der Republik noch Vernunftrepublikaner, obwohl er der linksliberalen DDP zugehörte, die monarchische Gedanken eifrig bekämpfte. Vielleicht verband Hindenburg und Geßler eine nicht in der Öffentlichkeit geäußerte gemeinsame monarchische Gesinnung. Oder verband die beiden eher Geßlers vielfach praktizierte Loyalität? Warum wurde Geßler dann nicht tatsächlich Reichskanzler? Gegen ihn sprach, dass SPD und DVP seine Person wie schon bei der Reichspräsidentenwahl 1925 ablehnten und folglich eine Regierungsbildung unter Geßler ohne die Unterstützung dieser beiden Parteien scheitern musste. Besonders Gustav Stresemann hatte Geßlers Kandidatur für das Reichspräsidentenamt 1925 schon im Vorfeld vehement abgelehnt, da er davon ausging, dass das Ausland einen Reichspräsidenten, der zuvor das Reichswehrministerium geleitet hatte, für eine unheilvolle Gefahr halten würde – es könne der Eindruck entstehen, die Reichswehr bestimme in Zukunft die Richtlinien der Politik. Daran hatte sich für Stresemann auch in dieser neuen Situation nichts geändert, da auch ein zukünftiger Reichskanzler die Weichen der Politik stelle und folglich keinen Reichswehrhintergrund haben dürfe. Hindenburg zumindest legte einer nun möglich erscheinenden Kanzlerschaft Geßlers keine Steine in den Weg, da er den Wirkungsbereich der Reichswehr eher ausdehnen wollte.

Der Reichspräsident zeigte in dieser Lage kaum Aktivität – war er von seiner eigenen Flaggenverordnung vom 05.05.1926 politisch überrollt worden? Jedenfalls konnte er nicht glücklich gewesen sein über den nachfolgenden Gang der Ereignisse – hatte er doch seinen „eigenen“ Reichskanzler nicht im Amt halten können, gerade auch noch dadurch, dass er die innerlich von ihm gutgeheißene Flaggenverordnung politisch verteidigen musste, ohne selbst zur Zielscheibe politischer Angriffe werden zu dürfen. Vorerst konnte Hindenburg nur eine – wohl wieder taktisch gemeinte – Aufforderung zur Bildung einer Großen Koalition in die Runde werfen.80

Nun kam die Stunde der Zentrumsfraktion im Reichstag: Diese forderte in der schwachen Verfassung des Reichspräsidenten den Kölner Oberbürgermeister und Vorsitzenden des Preußischen Staatsrats Konrad Adenauer auf, Sondierungsverhandlungen zwischen den Parteien aufzunehmen.81 Da Adenauer von seinem Vorhaben, eine Große Koalition zu bilden, nicht abwich, scheiterte seine Mission letztlich an der DVP, die sich hartnäckig weigerte, sich an einer solchen zu beteiligen. Michael Stürmer glaubt, dass letztlich Gustav Stresemann der Motor gegen die Kandidatur Adenauers gewesen sei – Stresemann habe den Eindruck gehabt, mit einem Kanzler Adenauer werde es „zu schwersten Konflikten kommen.“82 Fest steht, dass zwei starke Persönlichkeiten in einer Regierung, überdies mit konträren Auffassungen in der Außenpolitik, sich nicht lange vertragen hätten. Konrad Adenauer war zu dieser Zeit dafür bekannt, dass er auch zermürbende und persönlich verletzende politische Streits über längere Zeiträume führen konnte – es sei hier nur sein schweres Zerwürfnis mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) über prinzipielle Zuständigkeiten des Preußischen Staatsrats und Rechte der preußischen Provinzen genannt, das sich über Brauns gesamte Amtszeit als preußischer Ministerpräsident hinzog. Eine solche politische Fehde in Permanenz qualifizierte Adenauer nicht gerade für den Posten eines Reichskanzlers, zu dessen Fähigkeiten und Fertigkeiten Vermittlungsbereitschaft und weniger eine autoritäre Lenkung der Regierungsgeschäfte gehören sollte. Da der Reichskanzler nach der Weimarer Reichsverfassung gleichsam „zwischen allen Stühlen saß“, weil er sowohl dem Reichspräsidenten als auch dem Reichstag politisch verantwortlich war, hatte derselbe ausgleichend, beweglich und auch taktisch versiert zu handeln. Diese Eigenschaften und Charakteristika gehörten zu dieser Zeit nicht unbedingt zum politischen Profil Adenauers, zumindest nicht auf Reichsebene.

Danach wurde wieder einmal Stresemann im Sinne einer schnellen Regierungsbildung tätig: Am 15.05.1926 schlug er den vermittlungsbereiten, aufrichtigen und ausgleichenden Zentrumsvorsitzenden Wilhelm Marx als Kanzler vor.83 Hindenburg wurde dann auch schnell für diesen Kandidaten gewonnen. So wurde einfach das vorige Kabinett mit einem ausgetauschten Reichskanzler weitergeführt „ohne jede politische Veränderung.“84

Fazit:

Diese Regierungsbildung war gegen Hindenburgs Wünsche geführt worden. Weder konnte er Reichswehrminister Geßler als Reichskanzler durchsetzen noch eine von ihm favorisierte Rechtsregierung85 bilden lassen, noch seine eigenen Ministerkandidaten alle durchsetzen.

III. Der „Anschlag auf die Reichswehr“

Das 4. Kabinett Marx. Regierungsdauer: 29.01.1927 bis 27.06.1928 Regierungsparteien: Zentrum, DNVP, DVP und BVP

1. Sturz der Vorgängerregierung

Seit Mai 1926 regierte das 3.86 Kabinett Marx mit wechselnden Mehrheiten im Reichstag – es handelte sich hierbei um eine Minderheitskoalition, die im Parlament stets nach ad-hoc-Mehrheiten suchen musste. Meist stimmte die SPD mit den Regierungsparteien, so dass eine sog. stille Koalition zustande kam. Das Zentrum versuchte immer wieder, die Minderheitskoalition zu einer de-facto-Großen Koalition zu machen. Doch erhob der linke Fraktionsflügel der SPD im Reichstag lauthals Forderungen gegen einen solchen Eintritt der SPD in die Regierung87, die in einer Rede Philipp Scheidemanns vor dem Reichstag am 16.12.1926 gipfelten. Der prominente Redner sprach in scharfer Weise über Reichswehrfragen88 und geißelte die seit 1920/21 bestehende geheime Rüstungskooperation mit der Sowjetunion, die eingeleitet wurde, um gewisse Bestimmungen des Versailler Vertrags zu umgehen. So sprach er die geheime Finanzierung der Rüstung an, beklagte den Zusammenhang zwischen Reichswehr und rechtsradikalen Organisationen, nannte Kleinkaliberschützenvereine, die die Beschränkung des Versailler Vertrags auf 100.000 Mann Soldaten umgingen, und enthüllte schließlich, dass die Stettiner Hafenzelle der KPD über einen sowjetischen Waffen- und Munitionstransport an Deutschland informiert gewesen sei.89

Am nächsten Tag erfolgte der Sturz des 3. Kabinetts Marx durch einen Misstrauensantrag der SPD, unterstützt durch die DNVP und KPD.90 Reichskanzler Marx erklärte bereits am 16.12.1926, dass nach einem Misstrauensantrag der SPD die Große Koalition „erledigt“91 sei – dies war auch die allgemeine Haltung der Regierungsparteien (die DVP und das Zentrum überwanden angesichts der Fundamentalkritik der SPD an der Reichswehr ihre Bedenken gegen eine Zusammenarbeit mit der DNVP). Auch Hindenburg, der die Reichswehr protegierte, lehnte nach der Rede Scheidemanns, äußerst entsetzt über den rhetorischen Ausfall des SPD-Politikers, eine Große Koalition ab.92

Peter Haungs vertritt die Ansicht, dass die persönliche Kränkung, die die SPD dem vermittlungsbereiten Reichskanzler Marx durch das Misstrauensvotum im Reichstag zufügte, für die danach folgende Bildung der Rechtskoalition „erheblich“93 ins Gewicht gefallen sei. Dem ist meiner Auffassung nach entgegenzusetzen, dass nicht der Reichskanzler, sondern der Reichspräsident (der sich auch angegriffen fühlte) die Fäden der Regierungsbildung in den Händen hielt (siehe C. III. 2.) Der Reichspräsident bekräftigte auch verbal seinen Führungsanspruch in dieser politischen Angelegenheit, als er verlangte, „dass die Initiative der Regierungsbildung nicht in den Reichstag gelegt werden dürfe.“94

[...]


1 Gustav Stresemann: Vermächtnis 2. Band, S. 391 f: Stresemann spricht mit einem Vertreter des Wolffschen Telegrafenbüros über die sog. Flaggenfrage und äußert sich über das Verhältnis des Reichspräsidenten zur Verfassung

2 Akten der Reichskanzlei: Das Kabinett Müller II, Bd. 1, S. 465: Bemerkung des DDP-Politikers Erich Koch-Weser in seinem Tagebuch zur Regierungsbildung. Eintrag vom 2.3.1929, festgehalten in Anmerkung 2 zu Dokument Nr.144

3 Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Luther I und II, Bd. 2

4 Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Marx III und IV, Bd. 1 und Bd. 2

5 Akten der Reichskanzlei: Das Kabinett Müller II, Bd. 1

6 Akten der Reichskanzlei: Das Kabinett Scheidemann, S. VII f.

7 Akten der Reichskanzlei: Das Kabinett Scheidemann, S. IX

8 ebd.

9 Gustav Stresemann: Vermächtnis, Bd. 2 und Bd. 3

10 Gustav Stresemann: Vermächtnis, Bd. 2, S. 377 f.

11 Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien: Linksliberalismus in der Weimarer Republik, eingeleitet von Lothar Albertin

12 Peter Haungs: Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung, erschienen 1968; Michael Stürmer: Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924 – 1928, erschienen 1967; Walther Hubatsch: Hindenburg und der Staat, erschienen 1966; Andreas Dorpalen: Hindenburg in der Geschichte der Weimarer Republik, erschienen 1966

13 Michael Stürmer, S. 288

14 Walther Hubatsch, S. 256 ff.

15 Vgl. Christoph Gusy: Die Weimarer Reichsverfassung, S. 90; ebenso Reinhard Schiffers: Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, S. 117; zögerlich Peter Haungs, S. 31

16 Vgl. Reinhard Schiffers, S. 121

17 Hugo Preuß: Das Verfassungswerk von Weimar, S. 426; in: Hugo Preuß: Staat, Recht und Freiheit

18 siehe Fußnote 17

19 siehe Fußnote 17, S. 426 f.

20 Hugo Preuß: Das Verfassungswerk von Weimar, S. 427; in: Hugo Preuß: Staat, Recht und Freiheit

21 Christoph Gusy, S. 90

22 Vgl. Christoph Gusy, S. 92

23 Die lakonische Formulierung dieses Artikels ist selbstverständlich kein Zufall, sondern bewusst so gewählt worden, damit Politiker der Gegenwart und Zukunft sinnvolle Handlungsmöglichkeiten besitzen, Regierungsbildungen effektiv und zügig ohne viele lästige Vorschriften durchführen zu können

24 Hugo Preuß: Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung, in: Hugo Preuß: Staat, Recht und Freiheit

25 ebd., S.388

26 Vgl. Christoph Gusy, S.105

27 ebd.

28 ebd.

29 Vgl. Peter Haungs, S. 132

30 Vgl. Willibalt Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 204f.

31 Zitat aus Hindenburgs „vaterländische[m] Appell“ vom 19.01.1926 an die Fraktionsführer der Mittelparteien, in dem der Reichspräsident die Parteien ersuchte, „ihre restlichen Bedenken hinter die großen vaterländischen Gesichtspunkte zurückzustellen und jedes Opfer zu bringen, damit endlich das [...] Schauspiel der unausgesetzten Regierungskrise beseitigt [...] wird.“ Zitiert nach Peter Haungs, S. 103

32 Die Regierungszeiten der Kabinette sind wegen der Nennung unterschiedlicher Zeiträume in der Forschung nur dem zuverlässigen Werk „Die ungeliebte Republik. Dokumentation zu Innen- und Außenpolitik Weimars 1918 – 1933“, S. 390 ff., entnommen.

33 Vgl. Heinrich August Winkler: Weimar 1918 – 1933, S. 309

34 Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Luther I und II, Bd. 2, S. 895

35 Auch Gustav Stresemann, der sehr oft mit Hindenburg zu tun hatte, bemerkte Hindenburgs Schwäche, schwierige und verwickelte politische Sachverhalte nur unzureichend zu verstehen: Gustav Stresemann: Vermächtnis, 2. Bd., S. 59 ff.

36 Hugo Preuß erkannte frühzeitig die Unumgänglichkeit der Reichstagsfraktionen im politischen Prozess. Nachzuweisen beispielsweise bei Hugo Preuß: Parlamentarische Regierungsbildung (1921), in: Hugo Preuß: Staat, Recht und Freiheit, S. 444: Reichstagsfraktionen bestimmten nach Preuß vorwiegend das Regierungsprogramm und die Zahl der ihren Parteien zukommenden Ministerien

37 Andreas Dorpalen meint, Hindenburg nehme auch den Rat persönlicher Freunde an (S. 95), daneben höre er auch auf seine „alten Kriegskameraden“ (S. 95)

38 Luther agierte nach übereinstimmender Beobachtung vieler seiner Zeitgenossen autoritär und mit viel Sachverstand

39 Hans Luther: Politiker ohne Partei, erschienen 1960

40 Hans Luther, S. 334

41 Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Luther I und II, Bd. 2, S. 923 ff: Aufzeichnung des Staatssekretärs Kempner über verschiedene Möglichkeiten der Kabinettsbildung. 29. November 1925

42 Reichspräsident und Reichskanzler waren zu einer engen Zusammenarbeit durch die Verfassung gezwungen; eine solche doppelt besetzte ausführende Gewalt führte zwangsläufig zu ernsten Störungen im Ablauf politischer Prozesse

43 siehe Fußnote 39, S. 924

44 siehe Fußnote 38, S. 928

45 Vgl. Peter Haungs, S. 104

46 Vgl. Andreas Dorpalen, S. 96

47 Vgl. Andreas Dorpalen, S. 92f.

48 DDP-Parteivertreter nannten dies „Reichsreform“

49 Abgedruckt bei Michael Stürmer, S. 288ff: Denkschrift des Staatssekretärs Meißner vom 2. Dezember 1925

50 Vgl. Michael Stürmer, S. 289

51 Vgl. Peter Haungs, S. 104 und Michael Stürmer, S. 136

52 Enthalten bei Michael Stürmer, S. 136 ff., Anm. 213, 214, 215

53 Mitteilung Meißners vom 07.12.1925 an die Reichskanzlei, zitiert nach Peter Haungs, S. 100, Anm. 86 und 88

54 Vgl. Michael Stürmer, S. 289

55 Vgl. Peter Haungs, S. 102

56 Vgl. Peter Haungs, S. 102, Anm. 92

57 Vgl. Michael Stürmer, S. 139

58 Gustav Stresemann; Vermächtnis, 2. Bd., S. 382

59 ebd.

60 ebd.

61 Vgl. Michael Stürmer, S. 137

62 Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Luther I und II, Bd. 2, S. 1000 f., Dok. 252: Vermerk des Ministerialdirektors Pünder über eine Unterredung mit Reichsminister a. D. Schiele betr. Fragen der Regierungsbildung am 14. Dezember 1925

63 Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Luther I und II, Bd. 2, S. 1010, Dok. 256: Tagebuchaufzeichnung des Fraktionsvorsitzenden der DDP Koch-Weser über seine Bemühungen zur Bildung eines Kabinetts der Großen Koalition. 18. Dezember 1925; ebenso Lothar Albertin: Linksliberalismus in der Weimarer Republik, Sitzung des Parteiausschusses am 24.1.1926, S. 363

64 Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Luther I und II, Bd. 2, S. 1009 ff, Dok. 256

65 ebd.

66 Der Parteiausschuss war die Vertretung der lokalen Parteiorganisationen der DDP, vgl. Lothar Albertin: Linksliberalismus in der Weimarer Republik, S. VII

67 Lothar Albertin: Linksliberalismus in der Weimarer Republik, S. 363. Dies entspricht dem Wortlaut von Art. 53 WRV, siehe B. I

68 Vgl. Peter Haungs, S. 104 f.

69 Vgl. Peter Haungs, S. 103

70 Peter Haungs, S. 103

71 Gustav Stresemann: Vermächtnis, 2. Bd., S. 383

72 Zitiert nach Peter Haungs, S. 111: Luther wählte diesen dem Dreißigjährigen Krieg entnommenen Begriff für seinen Sturz als Reichskanzler durch die daran beteiligten Parteien, enthalten in: Hans Luther: Politiker ohne Partei, S. 447

73 Lothar Albertin: Linksliberalismus in der Weimarer Republik; Rede von Gertrud Bäumer, S. 391 f.

74 Vgl. das Vorwort des Herausgebers zu Stresemanns Brief an Luther vom 29.04.1926, in: Gustav Stresemann: Vermächtnis, Bd. 2, S. 387 f.; vgl. Heinrich August Winkler, S. 311 f. und Walther Hubatsch, S. 99 f.; ebenso Andreas Dorpalen, S. 106. Anderer Meinung ist Michael Stürmer, S. 148, der zwischen Anlass des Regierungssturzes (Flaggenverordnung) und tieferer Ursache (Unbehagen der Parteien gegen den beliebten und autoritär regierenden Reichskanzler) differenziert.

75 Lothar Albertin: Linksliberalismus in der Weimarer Republik, S. 388

76 Lothar Albertin: Linksliberalismus in der Weimarer Republik, S. 397

77 Erich Koch-Weser in der Sitzung des Parteiausschusses der DDP am 28.11.1927, in: Lothar Albertin: Linksliberalismus in der Weimarer Republik, S. 404

78 Vgl. Peter Haungs, S. 110 f.

79 Vgl. Peter Haungs, S. 113

80 Vgl. Michael Stürmer, S. 152, Anm. 52

81 Vgl. Peter Haungs, S. 109; ebenso Michael Stürmer, S. 152

82 Michael Stürmer, S. 153: Die Quellenlage ist allerdings nicht befriedigend.

83 Vgl. Michael Stürmer, S. 154, Anm. 58

84 Michael Stürmer, S. 154, Anm. 62

85 Vgl. Michael Stürmer, S. 154, Anm. 61

86 Zitiert nach Michael Stürmer, S. 179 f., Anm. 181: Hindenburg reagierte auf die Angriffe des sozialdemokratischen Politikers Philipp Scheidemann in einer Reichstagsrede vom 16.12.1926 und sah in der vielerorts erhobenen Forderung, Reichswehrminister Geßler zum Rücktritt zu zwingen, einen „Anschlag auf die Reichswehr“. Hindenburg verlangte, „dass die Initiative der Regierungsbildung nicht in den Reichstag gelegt werden dürfe.“ Der Versuch der Parteien, selbst die Koalitionspolitik zu bestimmen, sei „eine Verschiebung der Zuständigkeiten in dieser Richtung.“

87 Vgl. zur Genese der Rede Scheidemanns, ihre Umstände und Gründe: Andreas Dorpalen, S. 121 f.

88 Vgl. Michael Stürmer, S. 178

89 Vgl. Heinrich August Winkler, S. 319

90 Vgl. Gustav Stresemann: Vermächtnis, 3. Bd., S. 93

91 Gustav Stresemann: Vermächtnis, 3. Bd., S. 92

92 Vgl. Andreas Dorpalen, S. 123

93 Peter Haungs, S. 134

94 siehe Fußnote 85

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Reichspräsident Hindenburg und die Bildung der Kabinette Hans Luther, Wilhelm Marx und Hermann Müller 1925-1928
Hochschule
Universität Stuttgart  (Neuere Geschichte)
Veranstaltung
"Die Weimarer Republik als präsidiale Demokratie" von Prof. Dr. Wolfram Pyta , WS 2001/2002
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
41
Katalognummer
V923165
ISBN (eBook)
9783346244956
ISBN (Buch)
9783346244963
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Weimarer Republik, Reichskanzler, Wilhelm Marx, Marx, Hermann Müller, Hans Luther, Hindenburg, Reichspräsident, Regierungsbildung, Regierungsbildungen
Arbeit zitieren
Frank Nowotny (Autor:in), 2002, Reichspräsident Hindenburg und die Bildung der Kabinette Hans Luther, Wilhelm Marx und Hermann Müller 1925-1928, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/923165

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