Das Loreleymotiv bei Heinrich Heine. Entwicklung und Dekonstruktion


Bachelorarbeit, 2020

47 Seiten, Note: 18


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung - eine Meerjungfrau auf dem Prüfstand
1.1 Ziel der Arbeit
1.2 Methodisches Vorgehen
1.3 Forschungsstand

2 Die Loreley - der romantische Mythos
2.1 Brentanos Erschaffung
2.11 Die Loreleygestalt in Zu Bacharach am Rheine
2.1.2 Die Loreleygestalt im Rheinmärchen.
2.2 Ursprungsgeschichte - vom Mythos zur romantischen Kunstfigur
3.1 Die verführerische Gestalt der Loreley - Attraktivität und Verführung
3.2 Wesensmerkmale der Loreleylandschaft - Verschmelzung von Natur und Weiblichkeit
3.3 Epochentypische Merkmale der Loreleyfigur
3.3.1 Motiv der Liebe - Einheit von Geist und Sinnlichkeit
3.3.2 Motiv der Nacht - Zwischenstadium und Übergang in eine andere Welt
3.3.3 Motiv des Todes - Auslöschung oder Vereinigung
3.4 Verarbeitung des Loreleymotivs in unterschiedlichen Kontexten
3.4.1 Eichendorffs Waldgespräch
3.4.2 Loreley als Nationalallegorie

4. Dekonstruktion des Loreleymotivs bei Heinrich Heine
4.1 Dekonstruktion als literarisches Mittel
4.2 Heinrich Heine als „entlaufener Romantiker“
4.3 Heines Werkphasen - Auf dem Weg zum „romantique défroqué“
4.4 „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ (die Heimkehr, II)
4.4.1 Analyse und Interpretation - die Loreley als femme fatale
4.4.2 Die Dekonstruktion des Loreley-Motivs und die Heine'sche Ironie

5 Weitere Dekonstruktionen des Loreleymotivs
5.1 Erich Kästners Verarbeitung - Der Handstand auf der Loreley
5.2 Die Loreley als politisches und ironisches Sujet

6. Schlussbetrachtung - Loreleys Verlust über die allegorische Funktion

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

8. Anhang
I. Gedichte über die Loreley als Nationalallegorie
II. Germania, auf der Wacht am Rhein und als Nationaldenkmal

1. Einführung - eine Meerjungfrau auf dem Prüfstand

„Unsere Zeit aber stößt alle solche Luft- und Wassergebilde von sich, selbst die schönsten, sie verlangt wirkliche Gestalten des Lebens, und am allerwenigsten verlangt sie Nixen, die in adligen Rittern verliebt sind.“1 (Heinrich Heine, Die Romantische Schule, 1836)

Die Sage der Loreley ist eine der geheimnisvollsten in der deutschen Literaturgeschichte, die die sagenumwobene Rheinlandschaft und den Schieferfelsen nahe St. Goarshausen umrankt. Die Rede ist von der singendenden Jungfrau auf dem Loreleyfelsen, die alle Männer mit ihrem betörenden Sang verzaubert. Mittlerweile existieren derart viele Verarbeitungen des Loreleymotivs, das es sich als schwierig erweist, den Schöpfer dieser sich später entwickelnden romantischen Kunstfigur zu erschließen. Am meisten wurde das heutige Bild der Loreley durch Heines weltbekanntes Gedicht geprägt, sodass sich die Rezeption verbreitete, sie sei auf eine alte deutsche Volksliedsage zurückzuführen. Doch was verbirgt sich tatsächlich hinter dem Bild der nixenartigen Gestalt von außergewöhnlicher Schönheit? Das weitverbreitete Motiv von männermordenden und verhängnisvollen Frauen existierte bereits vor der Erfindung der Loreleyfigur, doch in dieser Arbeit wird die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung der Loreley durch die unterschiedlichen Verarbeitungen verliehen wird. Vor allem aber entspricht Heines Version der Loreley in keinster Weise dem Bild einer betörenden schönen Frau, die mit dem romantischen Weltbild korrespondiert.

1.1 Ziel der Arbeit

Vor dem Hintergrund der oben formulierten Forschungsfrage steht im Zentrum der Arbeit die Ausarbeitung der Grundmerkmale der Loreleyfigur sowie deren Wandel im Laufe der deutschen Literaturgeschichte. Darauf aufbauend wird die Entwicklung der Loreley zu einer romantischen Kunstfigur anhand von bestimmten Werken beispielhaft erläutert. Nachdem Heinrich Heine als „entlaufender“2 Romantiker eingeführt wurde, lässt sich feststellen, inwiefern eine Dekonstruktion der Loreleyfigur in seinem Gedicht Ich weiß nicht, was soll es bedeuten3 4 stattfindet.

Nach eingehender Beschäftigung mit dem Loreleymythos haben sich folgende Fragen ergeben, die im Rahmen der Arbeit geklärt werden sollen: Was war der Loreleymythos und durch welchen Autor hat er sich zu einem beliebten romantischen Motiv entwickelt? Warum war das Loreleymotiv so attraktiv für die Romantiker? Welche unterschiedlichen Verarbeitungen der Loreley sind im Laufe der deutschen Literaturgeschichte entstanden und welche Grundmerkmale der klischeehaften Loreley lassen sich feststellen? Wer war Heinrich Heine und warum wird er als „entlaufender“ Romantiker bezeichnet? Inwiefern nahmen die gesellschaftlichen Umstände zu Lebzeiten Heines einen Einfluss auf seinen Schreibprozess und wie drücken sich seine Lebensumstände in seiner Verarbeitung des Loreleymotivs aus?

Aus diesen einzelnen Fragen ergibt sich die Forschungsfrage, wie sich der Loreleymythos entwickelt hat und, inwiefern sich eine Dekonstruktion des Loreleymotivs bei Heinrich Heines Gedicht Ich weiß nicht, was soll es bedeuten feststellen lässt. Ziel dieser vorliegenden Bachelorarbeit ist, dieser konkreten Forschungsfrage durch eine wissenschaftliche Herangehensweise auf den Grund zu gehen.

1.2 Methodisches Vorgehen

Im ersten Schritt erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der Loreleyfigur, um vor dem Hintergrund der Forschungsfrage den Wandel dieser Kunstfigur beispielhaft zu erläutern. Zudem werden epochentypische Merkmale der Loreleyfigur untersucht, um deren ambivalente Bedeutung im Zusammenhang mit der Wirkung der Loreleyfigur zu verstehen. Es ist wichtig, den romantischen Motiven Beachtung zu schenken, da sie in jeder Verarbeitung des Loreleymotivs mehr oder weniger erkennbar sind. Außerdem hilft es, die Frage zu beantworten, welchem Wandel das Loreleymotiv unterliegt und wie es sich bei Heinrich Heine aus ihrer ursprünglichen allegorischen Funktion deformiert. An dieser Stelle gehen wir der Frage nach, welche Bedeutung die epochentypischen Motive für das Auftreten der Loreley hat und welchen Ausdruck sie der Figur dadurch verleihen. Umso interessanter ergibt es sich, zu untersuchen, in welchen unterschiedlichen Verarbeitungen die Loreleyfigur auftaucht. In dieser Arbeit wird dies durch die Beispiele von Brentanos Loreleygedichten,

Eichendorffs Waldgespräch4, Heines Ich weiß nicht, was soll es bedeuten5 6 und Kästners Handstand auf der Loreley7 veranschaulicht und gleichzeitig wird auf deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede hingewiesen.

Im Zentrum der Arbeit steht Heinrich Heine und sein kritisches Verhältnis zur Epoche der Romantik, das unmittelbar in Verbindung mit der Dekonstruktion des Loreleymotivs steht. Im Zuge seiner Werkphasen soll gezeigt werden, warum Heinrich Heine als Überwinder der Romantik eingestuft werden kann und wie sich dieses Phänomen in seinem literarischen Stil wiederfindet. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern Heines kritisches Verhältnis zum romantischen Weltbild mit der Dekonstruktion des Loreleymotivs zusammenhängt. Am Rande dieser Arbeit wird eine weitere Dekonstruktion des Loreleymotivs beispielhaft an Kästners Handstand auf der Loreley untersucht, um schließlich zu beantworten, ob durch die Ironisierung und Politisierung des Loreleysujets das ursprünglich klischeehafte Bild der Loreleyfigur verblasst.

1.3 Forschungsstand

Das Thema des Loreleysujets, mit dem sich die vorliegende Arbeit beschäftigt, wurde lange Zeit kontrovers von wissenschaftlichen Studien diskutiert. Seit geraumer Zeit streiten sich die Wissenschaftler, wie die Loreley letztendlich zustande gekommen ist. Laut dem heutigen Forschungstand lässt sich keine Loreley-Ausarbeitung vor Brentanos Ballade Zu Bacharach am Rheine vorfinden, welche um das Jahr 1800 geschrieben wurde.8 Es ergibt sich somit als Konsequenz, dass Clemens Brentano der Erfinder der Loreley-Schöpfung ist und mit seinem Schaffen indirekt die Nachfolger beeinflusste, die sich dieser Kunstfigur bedienten. Die ältere Forschung ging lange von der Annahme aus, dass der Ursprung der Loreley in den deutschen Heimatsagen und antiken Mythen vorzufinden ist. Auch untermauerte diese Theorie besonders Heines weltberühmte Verszeile Ein Märchen aus alten Zeiten aus dem Jahr 1823, die vorerst wortgetreu aufgenommen wurde. Das Gedicht verdankt den weltbekannten Ruhm der Vertonung von Friedrich Silcher, der auch noch von einem „Märchen aus uralten Zeiten“ sprach, weshalb lange behauptet wurde, die Loreley entstamme einer altdeutschen Sage. Niemand zweifelte daran, dass Brentanos Schöpfung einen volkstümlichen Charakter besitzt, vor allem, weil er das kollektive Interesse der Romantiker seiner Zeit getroffen hat. Eine weitere Verarbeitung des Loreleymotivs in Clemens Brentanos Rheinmärchen (1846)9 untermauerte die Übermittlung dieser These.10 Es geht hervor, dass die Vertreter der älteren Forschung die These verteidigten, dass die Loreley einer volkstümlichen Herkunft entspringe und eine lange Tradition habe. Die jüngere Forschung entkräftigte die Überlieferungsthese, indem sie aufdeckten, dass Clemens Brentano der ursprüngliche Schöpfer der Loreleyfigur ist.11

Die wichtigste Literatur zum Loreleysujet findet sich in dem Werk von Peter Lentwojt Die Loreley in ihrer Landschaft. Romantische Dichtungsallegorie und Klischee12, welches im Jahr 1998 publiziert wurde. In seinem Werk arbeitet er deutlich heraus, wie der Loreleymythos als literarisches Sujet bei Brentano, Eichendorff, Heine und anderen Autoren auftritt und er untersucht, wie die allegorische Funktion der Loreleyfigur entfällt.

Auch wenn die Literatur über die Romantik das Loreleysujet kurz anspricht, so existiert keine ausführliche Auseinandersetzung mit Heine und seinem Umgang mit dem romantischen Loreleymotiv und inwiefern es in seinem Gedicht dekonstruiert wird. An dieser Stelle besteht noch Forschungsbedarf, deswegen wird in folgender Arbeit versucht, auf diese Forschungslücke einzugehen. Um Heines Absicht nachvollziehen zu können, ist das Heine - Handbuch: Zeit, Person, Werk13 von Gerhard Höhn unvermeidbar. Der Literaturwissenschaftler fasst die neuesten Forschungen über Heinrich Heine zusammen und untersucht Heines Haltung gegenüber der Epoche der Romantik, die sich in seinen Schaffensphasen widerspiegelt, sowie auch in seinem verfassten Loreleygedicht.

Wie sich die Loreleyfigur aus Brentanos Feder zu einer weltbekannten Kunstfigur der Literatur entwickelt hat, wird im nächsten Kapitel dargestellt.

2. Die Loreley - der romantische Mythos

Eine wohl der bekanntesten Legenden, die aus dem Rhein und dem Loreleyfelsen entstanden ist, ist jene um die schöne, verführerische Gestalt der Loreley. Der romantische Mythos ist Clemens Brentano zu verdanken, der sich von der sagenumwobenen Rheinlandschaft inspirieren ließ und somit im 19. Jahrhundert eine Kunstfigur für die romantischen Nachfolger schuf, die die deutsche Literatur bereicherte. Es wird die Frage aufgeworfen, warum dem Loreleymythos ein so hohes Alter zugeschrieben wird. Aufgrund der uns allen bekannten Vertonung von Friedrich Silcher und dem berühmten Vers „Ein Märchen aus alten Zeiten“14 (I, 3) denkt man, die Loreley sei eine Figur aus einem alten Märchen. Vor diesem Hintergrund verbreitete sich lange die These, dass die Loreleyfigur auf eine alte deutsche Volksgeschichte zurückzuführen sei.

Erst später wurde belegt, dass Clemens Brentano der Schöpfer dieser verführerischen Gestalt ist. Wie er die romantische Figur erschaffen und was ihn zu dieser Erfindung angeregt hat, wird in diesem Kapitel aufgezeigt.

2.1 Brentanos Erschaffung

Ihren ersten Auftritt hat die Loreley in Brentanos Ballade Zu Bacharach am Rheine15, die im Jahr 1802 (späte Fassung) in seinem einzigen Roman Godwi oder das steinerne Bild der Mutter in zwei Bänden veröffentlicht wurde. Epische Textsorten, die als Teil eines Romans fungieren und deshalb alle Gattungsformen miteinander verschmelzen, entsprechen Schlegels Theorie der romantischen Universalpoesie.

In Brentanos Ballade tritt die schöne Frau zunächst als bürgerliches Mädchen auf, das alle Männer verführt. Darüber hinaus scheint sie noch keinen übernatürlichen Charakter oder andere Merkmale der Loreleygestalt zu besitzen. Vielmehr wird sie als junges, naives Mädchen beschrieben, das sich aufgrund von Liebesleid und Trauer in den Selbstmord stürzen will. Als der Dichter sie ein weiteres Mal 1810/11 in seinem Werk Rheinmärchen16 erscheinen lässt, ist sie eine der Hauptfiguren und erwirkt den Anschein, als habe sie aus ihrem jüngeren Ego eine Lehre gezogen. Brentano lässt sie dieses Mal nämlich als erwachsene und vernünftige Frau auftreten, die ihr Schicksal akzeptiert. Das immer wiederkehrende Schicksal der verlassenen und betrogenen Loreleygestalt weckt diesmal in Frau Lureley keine Todessehnsucht. Dementsprechend hat die Figur eine Erweiterung ihrer Wesenszüge erfahren - ihr wird nun ein übernatürliches Wesen zugeschrieben. Einerseits wird sie als Tochter der „Fantasie“17 beschrieben, andererseits als menschliches Wesen in ihrer Mutterrolle. Im nächsten Abschnitt wird genauer untersucht, mit welchen klischeehaften Merkmalen der Loreleyfigur Brentano seine Schöpfung in Zu Bacharach am Rheine charakterisiert.

2.11 Die Loreleygestalt in Zu Bacharach am Rheine

Wie bereits erwähnt, erscheint Brentanos Loreley zum ersten Mal in seiner 25-strophigen Ballade, die jeweils vier Verse beinhaltet und ohne Titel im zweiten Band von Godwi oder das steinerne Bild der Mutter eingebaut ist. Aufgrund der alternierenden Kadenzen ist eine vierzeilige Volksliedstrophe enthalten, eine typische Form der romantischen Lyrik.

In den ersten beiden Strophen wird die Lore Lay als zauberhafte Schönheit geschildert, die „viele Herzen hinreißt“ (I, 4) und „viel zu Schanden bringt“ (II, 1). Geprägt von ihrem Liebeskummer, schreit sie: „Vor Jammer möcht ich sterben/ Wenn ich zum Spiegel seh“ (XIII, 3-4) und empfindet ihr Aussehen als Qual, weil sie mit ihren Reizen nicht den Mann verführen kann, den sie begehrt. Warum sie fast jeden verführen kann außer den Angebeteten, bleibt ungewiss. In der dritten Strophe taucht der Bischof auf, der selbst von ihr in den Bann gezogen wird und steht ihrer Schönheit machtlos gegenüber. Sie fleht ihn an: „O schickt mich in Flammen“/O brechet mir den Stab“ (VI, 3-4), damit er sie von ihrem Leid erlöst, indem er sie zum Tode verurteilt. Der Bischof empfindet Mitleid mit ihr und hat keine andere Wahl, als sie vorerst zu einem Leben als Nonne in einem abgelegenen Kloster zu verdammen. An dieser Stelle erscheint das Verhalten des Bischofs unrealistisch, denn zu dieser Zeit wurden Hexen und Zauberinnen ausnahmslos zum Tode verurteilt und genossen keinen guten Ruf. Laut LENTWOJT habe sich der Bischof in sie verliebt und könne sie deshalb nicht sterben lassen.18 Dies zeigt ausdrücklich, wie ihre betörende Schönheit auf die Männer wirkt. Auf dem Weg zum abgelegenen Kloster wird sie von drei Rittern begleitet und verlangt „Ich will noch einmal sehen/ Wohl in den tiefen Rhein“ (XVIII, 1 -2), um ein letztes Mal Abschied nehmen zu können. Wohlgemerkt hat sie ihre Begleiter durch ihre Schönheit ebenfalls um den Verstand gebracht. Vom Felsen aus meint sie, aus der Ferne ihren Liebsten auf dem Fluss gesehen zu haben und stürzt sich in den Tod. Mit ihr opfern sich auch die Ritter, die ahnungslos versucht haben, sie zu retten. Die Ballade endet mit der dreifachen Wiederholung ihres Namens als Wiederhall: „Lureley/ Lureley/ Lureley.“ (XXV, 1-3)

Auf den ersten Blick scheint Brentanos Loreleygestalt nicht mit dem sich später entwickelnden Klischeebild der singenden Meerjungfrau auf dem Felsen übereinzustimmen, dennoch kann man einige Grundeigenschaften der Loreley feststellen. Auch wenn sie noch keine auf dem Felsen singende Meerjungfrau ist, nähert sie sich diesem, der sich am Ende als Schauplatz eines dramatischen Endes erweist. Sie verführt die Männer auch nicht durch ihren bezaubernden Gesang, doch ihre „Worte still und milde“ (XII, 3) scheinen die Betroffenen in ihren Bann zu ziehen.19 Ein Rachemotiv für ihren Liebeskummer kann man nicht erkennen, denn sie ist beklagt von Liebesleid und Selbstmitleid. Das Motiv der unglücklichen Liebe und die damit einhergehende Todessehnsucht sind typische Merkmale für die Loreleyfigur. Dass sich der Liebesschmerz zu einem späteren Zeitpunkt als Tötungsmotiv erweist, bleibt bei Brentanos Loreley erspart.20 Dies kommt als Ursache des Rachemotivs in den späteren Verarbeitungen des Loreleystoffs öfters vor, wie beispielsweise in Heinrich Heines Loreleygedicht Ich weiß nicht, was soll es bedeuten 21.

In der Ballade wird die Loreley zwar als Zauberin beschrieben und behauptet auch selbst, eine solche zu sein, doch der angeblich übernatürliche Charakter kommt nicht wirklich zu Vorschein. Sie wird als Zauberin betitelt, weil ihr alle Männer aufgrund ihrer verhängnisvollen Wirkung verfallen sind. Andererseits könnte das dreifache Echo im letzten Vers eine Anspielung darauf sein, dass sie sich durch den Todessprung zu einem übernatürlichen Wesen verwandelt hat und als Wassernixe im Rhein weiterlebt. Durch den Vers: „Und immer hats geklungen /(...) Als wären es meiner drei!“ (XXIV, 3; XXV, 4) Das Wort „immer“ kann mit „ewig“ gleichgestellt werden und darauf hinweisen, dass Loreleys Melodie nie ausklingt und sie somit unsterblich ist. Zudem kann der Klang des Echos und die zauberhaft klingenden Worte als Ansatz für den späteren betörenden Gesang gedeutet werden.22 Auch ihre außergewöhnliche Schönheit, die alle Männer in den Bann zieht, könnte als Indiz für die ihr später zugeschriebenen übernatürlichen Kräfte gesehen werden.

Ob die Loreley nun Selbstmord begangen hat oder nicht, bleibt ungeklärt. Sie stürzt sich zwar in den Rhein, aber ob es als freiwilliger Sprung definiert werden kann, bleibt ungewiss. Dementsprechend hätte sie die Ritter absichtlich in den Tod gelockt, was wiederum dem Motiv der femme fatale entsprechen würde. Nichtdestotrotz wird im Gedicht nicht eindeutig geklärt, ob sie ein übernatürliches Wesen ist oder nicht.

Die Loreley tritt noch ein weiteres Mal in Brentanos Werk auf, aber dieses Mal als ein übernatürliches Wesen. Welche Entwicklung die Ursprungsgestalt erfahren hat, und ob sie dem klischeehaften Bild der auf dem Felsen singenden Meerjungfrau nun näherkommt, wird im nächsten Punkt erörtert.

2.1.2 Die Loreleygestalt im Rheinmärchen

Die Rheinmärchen wurden von Brentano zwischen 1810 und 1812 geschrieben und erst 1846 posthum veröffentlicht. In diesem Gedichtzyklus wird die Loreleyfigur ein zweites Mal von Brentano aufgegriffen. Der Titel deutet bereits daraufhin, dass sich das Geschehen in der Nähe des sagenumwobenen Rheins abspielt. Die Märchen beinhalten mehrere zusammenhängende Handlungsstränge, die gemeinsam eine vollständige Geschichte darstellen. Um die Loreleygestalt in diesem Werk charakterisieren zu können, ist ein Blick auf das Kapitel Das Märchen von dem Hause Starenberg und den Ahnen des Müllers Radlaufs23 unvermeidbar. Da das Märchen eine sehr umfangreiche Handlung hat, wird nicht sein vollständiger Inhalt wiedergegeben, sondern nur auf die Textstellen verwiesen, die für die Charakterisierung der Loreleyfigur bedeutend sind.

In diesem Märchen ist Radlauf Müller Erzähler und zugleich Hauptfigur der Handlung. Er schildert, wie er auf der Reise von seiner Herkunft sowie dem Familienfluch erfährt und außerdem seiner Mutter - der Frau Lureley - begegnet. Hier erscheint die Loreley zum ersten Mal in einer nixenähnlichen Gestalt. Als ihr Sohn Radlauf auf einem Boot segelt, wird er von ihr in die Tiefe des Sees bis zum Abgrund gezogen. Gleichzeitig wird die Frau Lureley hier mit dem Sinken des Schiffes in Verbindung gebracht, eine immer wiederkehrende Handlung des Loreleymotivs. Außerdem gibt Frau Lureley an dieser Textstelle ihr übernatürliches Wesen deutlich zu erkennen. Als Radlauf von seiner Reise erzählt, beschreibt er sie in folgenden Worten:

Ich wendete meine Augen nach dem Fels, da sah ich eine wunderschöne junge Frau sitzen; ganz schwarz ihr Röcklein, weiß ihr Schleier, blond ihre Haare, und in tiefster Trauer; sie weinte heftig, und kämmte ihre langen Haare.24

In diesem Textausschnitt wird die Loreleygestalt in typischer Weise geschildert - als traurig auf einem Felsen sitzende Sirene mit langen blonden Haaren. Darüber hinaus erfährt man im Märchen, dass ihr Gatte Christel sie heimlich beobachtete und ihre Nixengestalt erkannt hat, während sie sich entblößte. Einerseits kann sie ihre Gestalt von Nixe oder Sirene zu „einem hessischen Bauernmädchen“25 verwandeln und andererseits wird ihr die Mutterrolle zugeschrieben. Demzufolge ist sie zur Hälfte ein menschliches und zur Hälfte ein übernatürliches Wesen, das der Beschreibung entsprechend einer Meerjungfrau ähnelt. Laut ANDERSEN ist eine Meerjungfrau eine Bewohnerin des Meeres mit einem menschlichen Oberkörper und einem Fischschwanz als Unterkörper.26 Als sirenenhafte Gestalt singt Frau Lureley, um die Leute von dem Nibelungenschatz, der tief im Wasser vergraben ist, fernzuhalten. Außerdem ist es ihre Aufgabe als übernatürliches Wesen, den Nibelungenhort zu hüten und die Schiffer vor einer größeren Gefahr zu bewahren.27 Das Singen der Frau Lureley hat im Märchen keine tragische Folge, wie z.B. bei Heinrich Heine, der seine Loreleygestalt singen lässt, um die Männer in den Tod zu locken.

Frau Lureley, die Zauberinne, Ist schönes Leibs und kluger Sinne, Hoch hebt sich ihres Schlosses Zinne. (...) Sie ist die Hüterin vom Hort, Sie lauscht und horchet immerfort, und höret sie ein lautes Wort, Singt, tut ein Schiffer einen Schrei, So ruft die Töchter sie herbei, Und siebenfach schallt das Geschrei Zum Zeichen, dass sie wachsam sei.28

Frau Lurelay ist im Gegensatz zur Lore Lay in Brentanos Ballade Zu Bacharach am Rheine kein bürgerliches Mädchen, sondern eine erwachsene Frau von „schönem Leib und klugem Sinn“29. Wie auch andere Loreleygestalten, ist sie von Traurigkeit und Liebesleid geprägt, weil ihr Ehegatte sie mehrmals betrogen hat. Trotz allem bewahrt sie Ruhe und scheint ihr Schicksal hinzunehmen.

Bemerkenswert sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem bürgerlichen Mädchen aus Bacharach und der Wassernixe im Rheinmärchen. Beide Figuren leiden unter Liebeskummer, sind unbeschreiblich schön und haben fast den gleichen Namen. Jedoch ist das übernatürliche Wesen der jungen Lore Lay in Brentanos Ballade noch unklar, auch sitzt sie noch nicht auf dem berühmten Felsen und singt eine Melodie. Beim Vergleich fällt auf, dass Frau Lureley dem klischeehaften Bild der Loreley mehr entspricht als ihrer Vorfahrin aus Brentanos Ballade. Bei Frau Lureley in den Rheinmärchen wird besonders der übernatürliche Charakter durch ihre Wandlung vom menschlichen Wesen zur Wassernixe deutlich dargestellt. Außerdem sind bestimmte Verhaltensweisen zu erkennen, die sich später als Grundmerkmale der klischeehaften Loreleygestalt herausstellen. Sie kämmt ihre langen blonden Haare, während sie traurig auf dem Felsen sitzt und ein Lied singt. Abgesehen davon, vergleicht man die letzte Strophe „Lureley/ Lureley/ Lureley“ (XXV, 1-3) von Brentanos Loreleygedicht Zu Bacharach am Rheine mit dem Namen der Frau Loreley in Brentanos Rheinmärchen, so kann eine Übereinstimmung festgestellt werden. Demzufolge könnte das Echo eine Anspielung auf eine neue Loreleygestalt sein: Aus der Zauberin Lore Lay wird die Wassernixe - Frau Lureley. Dementsprechend kann die Frau Lureley als eine Weiterentwicklung der angeblichen Zauberin aus Bacharach betrachtet werden.

Abschließend ist zu sagen, dass Brentano mit der Loreley eine Kunstfigur geschaffen hat, die sich im Laufe der Epoche zu einem weltbekannten romantischen Motiv entwickelte. Welche literarischen Einflüsse Brentano möglicherweise zu seiner Erfindung angeregt haben, wird im nächsten Abschnitt näher erläutert.

2.2 Ursprungsgeschichte - vom Mythos zur romantischen Kunstfigur

Ob die bereits existierenden mündlich überlieferten Sagen Brentano zur Entwicklung der Loreleygestalt bewegt haben, kann man nicht nachweisen. Vor den Zeiten des Loreleymotivs gab es zahlreiche Sagen über unglückbringende und männermordende Frauen, man denke an Odysseus und die Sirenen30 Doch laut Minaty suchte der Dichter Inspiration in den Metamorphosen von Ovid31, in welcher der Mythos der Nymphe Echo und Narziss niedergeschrieben ist.32 Er beschreibt, wie die Nymphe Echo nur die an sie gerichteten letzten Worte wiederholen kann, weil sie von einer Göttin bestraft wurde. Außerdem verliebte sie sich in Narziss, der ihre Liebe nicht erwiderte und sie abwies. Während sie in unendlichen Kummer verfällt, verwandelt sich die Nymphe Echo in einen Felsen, behält jedoch ihre schöne Stimme. Demzufolge ist sie wie versteinert und das einzige das überlebt, ist der Wiederhall.

So lässt sich eine Parallele zu Brentanos Lore Lay in Zu Bacharach am Rheine feststellen, denn sie klagt auch über Liebeskummer, weil sie von ihrem Liebsten abgewiesen wurde. Deshalb stürzt sie sich in den Rhein und was von ihr bleibt, ist das dreifache Erklingen ihres Echos aus dem Felsen. Ein intertextueller Bezug zum Echo-Mythos lässt sich ebenfalls in Brentanos Rheinmärchen feststellen, denn die Frau Lureley wiederholt sieben Mal die zuletzt an sie gerichteten Worte „Wer hält sie auf?“33. Diese Textstelle könnte darauf hinweisen, dass Brentano möglichweise mit dem antiken Echo-Mythos vertraut war und sich bei seiner Erfindung davon inspirieren ließ.

[...]


1 Zitiert nach: Kraß, Andreas: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt a. Main 2010, Peritext.

2 Bemerkung: Heinrich Heine beschrieb sich selbst als „entlaufender Romantiker" in einem Briefwechsel mit seinem Freund Karl August Varnhagen.

3 Heine, Heinrich: Die Heimkehr In: Heinrich Heine. Gesammelte Werke. Köln 2017, S. 171-172.

4

5 Kunisch/ Kopmann (Hg.): Eichendorffs Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Stuttgart 1884, Band 3., S. 201.

6 Heine: Gesammelte Werke, S. 171 - 172.

7 Kästner, Erich: Gesang zwischen den Stühlen. Gedichte. Zürich 1985., S. 21- 22.

8 Lentwojt, Peter: „Die Loreley in ihrer Landschaft. Romantische Dichtungsallegorie und Klischee. Ein literarisches Sujet bei Brentano, Eichendorff, Heine und anderen." In: Europäische Hochschule (Hrsg.). Deutsche Sprache und Literatur. Frankfurt a. Main. 1998, S. 15.

9 Clemens, Brentano: Rheinmärchen. Erstdruck 1846. (Die Orthografie dieser Ausgabe wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst und die Interpunktion behutsam modernisiert.) Berlin 2014.

10 Vgl. Lentwojt: Die Loreley in ihrer Landschaft, S. 20-30.

11 Vgl. Liebhart, Karin: Frau und Wasser -Wasserfrauen. In: Haberl, H. / Strohmeier, G. (Hrsg.): Kulturlandschaftsforschung. Wien-New York, 1999, S. 66.

12 Lentwojt: Die Loreley in ihrer Landschaft.

13 Höhn, Gerhard. Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3. Aufl. Stuttgart 2004.

14 Heine: Gesammelte Werke, S. 171-172.

15 Frühwald, Wolfgang / Gajek, Bernhard / Kemp, Friedhelm (Hg.): Clemens Brentano. Werke. München 1968, S. 115-118.

16 Clemens: Rheinmärchen.

17 Ebd., S. 83.

18 Vgl. Lentwojt: Die Loreley in ihrer Landschaft, S. 116 - 117.

19 Ebd., S. 51.

20 Ebd., S. 51.

21 Bemerkung: Zu Heines Lebzeiten war das Gedicht in seinem Gedichtzyklus titellos nummeriert, später wurde der erste Vers zur Betitelung des Gedichts verwendet.

22 Vgl. Lentwojt: Die Loreley in ihrer Landschaft, S. 52 - 56.

23 Brentano: Rheinmärchen, S. 93. - 204.

24 Brentano: Rheinmärchen, S. 105.

25 Ebd., S. 201.

26 Vgl. Kraß: Meerjungfrauen, S. 350-351.

27 vgl. Lentwojt: Die Loreley in ihrer Landschaft, S. 161.

28 Brentano: Rheinmärchen, S. 83.

29 Brentano: Rheinmärchen, S. 116.

30 Vgl. Kraß: Meerjungfrauen, S. 20.

31 P. Ovidius Naso: Ovid Metamorphosen. Epos in 15 Büchern. Übersetzt und hg. von Hermann Breitenbach mit einer Einleitung von L.P. Wilkinson, 2. Aufl. Berlin 1964.

32 Vgl. Minaty, Wolfgang (Hg.): Die Loreley. Gedichte, Prosa, Bilder: ein Lesebuch. Frankfurt a. M. 1988, S. 12.

33 Brentano: Rheinmärchen, S. 85.

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Details

Titel
Das Loreleymotiv bei Heinrich Heine. Entwicklung und Dekonstruktion
Veranstaltung
Sprachwissenschaften und Literaturwissenschaften
Note
18
Autor
Jahr
2020
Seiten
47
Katalognummer
V924102
ISBN (eBook)
9783346260857
ISBN (Buch)
9783346260864
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heinrich Heine, Loreleymotiv, Dekonstruktion, 19. Jahrhundert, Romantik, Klassik
Arbeit zitieren
Ayla Bajrami (Autor:in), 2020, Das Loreleymotiv bei Heinrich Heine. Entwicklung und Dekonstruktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/924102

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