Gibt es unauflösliche moralische Dilemmata im Utilitarismus John Stuart Mills?


Dossier / Travail de Séminaire, 2008

23 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitende Bemerkungen

2. Moralische Dilemmata

3. Mills Position
3.1. James Mill und Jeremy Bentham
3.2. Mills Abgrenzung von Bentham
3.3. Mills Utilitarismus
3.4. Zwischenfazit

4. Moralische Dilemmata und der Utilitarismus Mills

5. Abschließende Bemerkungen

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitende Bemerkungen

Zur Klärung moralischer Konflikte lassen sich vier Standardpositionen unterscheiden. Diese sind die Position von Thomas von Aquin, wonach die sittliche Weltordnung von Gott stammt, die Pflichtenethik Kants, der Utilitarismus und die Mitleidsethik Schopenhauers. Nachfolgend soll lediglich auf die Position Mills als einer der wirkungsmächtigsten Vertreter des Utilitarismus eingegangen werden. Nur am Rande wird zudem an einigen Stellen auf die Position Kants verwiesen.

Um die Frage nach unauflösbaren moralischen Dilemmata im Utilitarismus zu klären, muss natürlich vorerst der Begriff des moralischen Dilemmas geklärt werden. Ist dies gelungen, muss nachfolgend wenigstens in groben Zügen der Utilitarismus John Stuart Mills veranschaulicht werden, wobei sich hierfür vornehmlich auf den Essay ‚Utilitarianism’ (‚Der Utilitarismus’),[1] welcher teilweise bereits 1861 und vollständig dann zum ersten Mal 1863 erschien, bezogen werden wird. Die Position Jeremy Benthams spielt dabei insofern eine Rolle, als dass sie die Basis ist, auf die John Stuart Mill mit seinem eigenen Standpunkt aufgebaut hat, weshalb dann eben auch Benthams Utilitarismus und Mills Ablösung von diesem thematisiert werden. Um Mills Anschauung dann aufzuschlüsseln, wird sich vorwiegend den ersten beiden Kapitels seines Essays ‚Der Utilitarismus’ gewidmet. Anschließend wird dann hoffentlich die Frage zu beantworten sein, ob es unauflösbare moralische Dilemmata bei Mill gibt. Dies soll mit Hilfe von drei Beispielen geschehen, mit dem Lügendilemma[2], dem Dilemma aus ‚Sophie’s Choice’[3] und abschließend mit Dilemma zur Sterbehilfe bei schwerstbehinderten Neugeborenen[4].

2. Moralische Dilemmata

Ganz allgemein kann man das auf griechische Wurzeln zurückzuführende ‚Dilemma’ als ‚zweiteilige Annahme’ und damit als die Situation bestimmen, in der man zwischen zwei gleich (un-)angenehmen Dingen wählen soll oder muss.[5] In der Antiken Logik werden mit dem positiven und dem negativen Dilemma zwei Standardformen unterschieden. Das positive Dilemma, auch konstruktiv genannt, hat die Form ((p oder non-p) und (wenn p dann q) und (wenn non-p dann q) also q), was auf ein Beispiel angewendet meint: Ein Soldat hat die Wahl zwischen einem ruhmvollen Sieg (p) oder einem ruhmvollen Tod (non p). Folglich muss er den Kampf (q) wählen, da nur dieser ihm beide Wahlmöglichkeiten bietet. Die Standardform des negativen, bzw. destruktiven Dilemmas lautet dagegen ((wenn p (dann q oder r) und (non-q und non-r) also (non p)). Scheint also zum Beispiel im Sommer stark die Sonne (p), bekommt man eine gesunde Bräune (q) oder einen Sonnenbrand (r). Eine dritte Möglichkeit sei ausgeschlossen. Ist nun weder eine gesunde Bräune (non-q), noch ein Sonnenbrand (non-r) feststellbar, kann man daraus schließen, dass im Sommer die Sonne nicht stark geschienen hat (non-p).[6]

Für alltägliche Belange sind nun weniger die logischen, sondern vor allem die praktischen Dilemmata von Interesse. Diese werden als Situationen verstanden, in welchen sich zwischen zwei widersprechenden Handlungs­optionen entschieden werden muss, wobei für jede der Optionen starke oder sogar zwingende Gründe sprechen. Es sind hier strategische Dilemmata von echten Dilemmata zu unterscheiden. Strategische Dilemmata sind insofern keine echten Dilemmata, weil sie bei Kenntnis aller relevanten Informationen lösbar wären. Für den Protagonisten eines strategischen Dilemmas stellt die Situation aber eben doch die Wahl zwischen zwei sich widerstreitenden Handlungsoptionen dar.[7] Ein klassisches Beispiel für das strategische Dilemma ist das sogenannte Gefangenendilemma, welches durch Mitarbeiter der RAND Corporation, einer us-amerikanischen Denkfabrik, in den 1950ern ent­wickelt wurde und in der Folge im Rahmen der Spieltheorie besonders wirkmächtig wurde. Zwei einer gemeinsamen Straftat dringend verdächtige Personen werden demnach getrennt voneinander befragt und ihnen werden folgende Optionen unterbreitet, welche auch beiden bekannt sind: Sollte nur einer der Gefangenen die gemeinsame Tat gestehen, kommt er als Kronzeuge ohne Strafe davon, wohingegen der andere voll verurteilt wird. Wenn beide Gefangenen die Aussage verweigern, reichen die Beweise trotzdem für eine teilweise Bestrafung aus, die dann beide gleichermaßen trifft. Und wenn schließlich beide Gefangenen die Tat gestehen, gibt es zwar mildernde Umstände für das Geständnis, doch beide werden der vollen Tat angeklagt.[8] Die Aussage verweigern und Gestehen sind hier die zwei sich aus­schließenden Handlungsoptionen, für welche jeweils gute Gründe sprechen und die jeweils unangenehme Folgen haben können. Die Unbekannte ist hier eben die Handlungs­absicht des jeweiligen Komplizen. Stünde fest, wie dieser handelt, wäre es keine Dilemma-Situation mehr, da dann logisch die Entscheidung zu Gunsten der in der Konstellation jeweils geringeren Strafe ausfallen würde.

Echte Dilemmata weisen dahingegen jeweils zwingende Gründe für sich aus­schließende Handlungs­alternativen auf, wobei eine Alternative auch Handlungsverweigerung sein kann, aber trotzdem eine Entscheidung unvermeidbar ist. Daher werden also dringend Gründe für eine Alternative gesucht, wobei jedoch bereits jede Handlungsoption zwingende Gründe für sich reklamieren kann. Der Grund für die Schwierigkeit der Entscheidung liegt also nicht in der Unklarheit bedeutender Parameter wie beim strategischen Dilemma, sondern in den sich ausschließenden aber jeweils zwingenden Gründen selbst. Echte Dilemmata können nun je nach Art der Gründe nochmals unterschieden werden, so zum Beispiel in ethische, pragmatische, ästhetische oder auch moralische Dilemmata.[9]

Von Interesse ist im Rahmen dieser Arbeit nun vor allem ja das moralische Dilemma, welches natürlich dem Namen entsprechend dadurch gekennzeichnet ist, dass mindestens eine der sich ausschließenden Handlungsalternativen eine moralische Begründung, also zum Beispiel eine moralische Pflicht oder einen moralischen Wert, aufweist. Ein vermischtes moralisches Dilemma liegt also dann vor, wenn sich eine Handlungsalternative moralisch begründet, die andere dagegen zum Beispiel ästhetisch. Bei reinen moralischen Dilemmata hat der Handelnde nach McConnell für jede der Handlungsalternativen moralische Gründe, doch ist es ihm nicht möglich, beide zu verwirklichen. Die Moral verlangt also beide Hand­lungen, der Handelnde wäre auch fähig, beides jeweils einzeln zu tun, kann allerdings nicht beides tun. So begeht der Handelnde unabhängig von seiner Wahl einen Verstoß gegen Moralprinzipien, macht also in jedem Fall etwas falsch.[10]

Edelstein und Oser sprechen ledig­lich von konfligierenden Wertoptionen, nicht von Sollens­sätzen wie etwa McConnell.[11] Im weiteren Verlauf der Arbeit soll allerdings unter ‚moralischem Dilemma’ sich ausschließende Sollenssätze, konfligierende moralische Pflichten verstanden werden, da die Bezeichnung als Wertekonflikt nicht angemessen erscheint. Dies wird etwa am Beispiel ‚Sophie’s Choice’[12] deutlich, welches ziemlich klar mehr ist, als ein Konflikt von Wertoptionen. Es ist ein Beispiel für ein reines moralisches Dilemma, weil keine der moralischen Handlungs­not­wendig­keiten stärker ist, als die andere und beide Alternativen moralisch sind.

In Styrons Geschichte befindet sich Sophie mit ihren beiden Kindern in einem Konzentrationslager und wird von einer Wache aufgefordert, eines der beiden Kinder zu wählen, welches in der Folge überleben würde, wohingegen das andere getötet würde. Wählt sie keines der Kinder, würden beide getötet. Sophie kann also ein Kind retten, indem sie das andere töten lässt und ist durch die Androhung der Ermordung beider Kinder auch moralisch gezwungen, eines zu wählen. Für das Leben beider Kinder sprechen jeweils die gleichen starken, zwingenden moralischen Gründe, weshalb das moralische Dilemma auch symme­trisch genannt werden kann. Dazu kommt, das bei jeder Entscheidung zu erwartende Schuld­gefühl, welches sich unabhängig von der Wahl einstellt und impliziert, dass jede mögliche Wahl moralisch falsch ist. Sophie muss eines ihrer Kinder opfern, um das Leben des anderen Kindes zu retten und egal für welches Leben sie sich entscheidet, sie wird in jeden Fall eine ungeheure Schuld empfinden, weil sie dafür den Tod des anderen Kindes in Kauf genommen hat, gegen moralische Sollenssätze verstoßen hat. So sieht McConnell auch die Empfindung von Reue und Schuld als wesentlichen Bestandteil echter moralischer Dilemmata. Wenn der Handelnde in einer echten moralischen Dilemmasituation agiert, wird er Schuld empfinden und diese Schuld­empfindung ist auch angemessen. Hätte der Handelnde die andere Hand­lungs­alternative wahrgenommen, wäre er also dem anderen Sollenssatz gefolgt, würde er ebenso Reue und Schuld empfinden. Diese Reue und Schuld wären dann genauso ange­messen.[13]

3. Mills Position

3.1. James Mill und Jeremy Bentham

John Stuart Mills Position ist nicht denkbar ohne die seines Vorgängers und Vorbildes Jeremy Bentham und natürlich spielte auch der Vater James Mill, selbst enger Freund und Anhänger Benthams eine entscheidende vermittelnde Rolle. Daneben gibt es auch verschiedene weitere Vor­läufer, die von John Stuart Mill rezipiert wurden und die so jeweils unterschiedlich Ein­fluss auf seine spätere Position ausübten, so etwa Vertreter der englischen National­ökonomie, die philo­sophischen Radikalen, später die englischen Romantiker und der französische Positivismus, doch sie alle hier zu nennen, wäre wohl zuviel des Guten. Nicht vernachlässigt werden soll trotzdem seine Frau Harriet Taylor, die wohl einen bedeutenden Einfluss auf Mill hatte.[14]

Der Erziehung seines Vaters James Mill ist es zuzuschreiben, dass John Stuart Mill schon in sehr frühen Jahren sehr belesen war. In frühester Kindheit bereits der alten Sprachen befähigt, las er Aristoteles ‚Organon’ bereits im zwölften Lebensjahr. Der Vater richtete die Bildung seines ältesten Kindes konsequent auf die kognitive Entwicklung aus, schirmte es von allen weiteren äußeren Eindrücken ab und schuf sich sein ‚Wunderkind’. James Mill war überzeugt den Menschen durch Konditionierungsprozesse beliebig formen zu können und nutzte seinen Sohn zur praktischen Erprobung seiner Ansichten. Erst im Jugend­alter lösten sich die Fesseln der väterlichen Erziehung langsam, obgleich der Vater weiterhin starken Ein­fluss ausübte. Nach einem vierzehnmonatigen Studienaufenthalt in Frankreich im Jahre 1820, er wohnte bei Jeremy Benthams Bruder Sir Samuel Bentham, beschäftigte sich der jugend­liche John Stuart Mill verstärkt mit Jeremy Benthams Ansichten, gründete voller Begeis­terung für die Position im Winter 1822/1823 als Sechzehnjähriger die ‚Utilitarian Society’, womit er sogar zum Namensgeber der Position wurde, da Bentham selbst den Ausdruck ‚Utilitarianism’ nicht nutzte, sondern eher ‚principle of utility’ (‚Nützlich­keits­prinzip’) oder ‚the greatest happiness principle’ (‚Prinzip der größten Glückseligkeit’) gebrauchte.[15] Mill selbst sagt in einer Fuß­note, dass er das Wort ‚utilitarian’ (‚utilitaristisch’) zwar wohl als erster in Umlauf gebracht habe, es aber nicht erfunden, sondern es aus Galts ‚Annals of the Parish’ übernommen habe.[16]

Anfang der 1820er war Mill geradezu belegt von Benthams Utilitarismus, der ihm neben dem eigenen Studium vor allem auch durch den Vater vermittelt wurde.[17] Vor Bentham gab es zwar bereits utilitaristische Positionen, doch erst sein Werk ‚An Introduction to the Principles of Morals and Legislation’ (‚Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung’) von 1789 stellt eine geschlossene utilitaristische Theorie dar und begründet den sogenannten klas­sischen Utilitarismus. Dieser besteht im wesentlichen aus zwei Lehr­sätzen, aus dem hedo­nis­tischen Grundsatz zum einen und dem hedonistischen Kalkül, welches zum größten Glück der größtmöglichen Zahl führen soll, zum anderen.

[...]


[1] Siehe Mill 2000.

[2] Siehe Kant 1956.

[3] Siehe Styron 1983.

[4] Siehe dazu etwa Bucher 2004, Kuhse/Singer 1993 und Wüsthof 2004.

[5] Vgl. ‚Dilemma’ in Schischkoff 1991, S. 142.

[6] Vgl. Mau 1972, S. 247-248.

[7] Vgl. Brune 2006, S. 331-336.

[8] Zum Gefangenendilemma siehe Kuhn 2007.

[9] Vgl. Brune 2006, S. 331-336.

[10] Vgl. McConnell 2006, S. 2.

[11] Vgl. Edelstein/Oser 2001, S.176.

[12] Siehe Styron 1983.

[13] Vgl. McConnell 2006, S. 3 und S. 9-10 und siehe Styron 1983.

[14] Zu den Einflüssen siehe etwa García-Pazos 1999, S. 18-40.

[15] Vgl. García-Pazos 1999, S. 8-13 und Düppen 1996, S. 163-172.

[16] Vgl. Mill 2000, S. 12.

[17] Vgl. Düppen 1996, S. 172.

Fin de l'extrait de 23 pages

Résumé des informations

Titre
Gibt es unauflösliche moralische Dilemmata im Utilitarismus John Stuart Mills?
Université
University of Potsdam  (Institut für Philosophie)
Cours
Das moralische Dilemma
Note
2,0
Auteur
Année
2008
Pages
23
N° de catalogue
V92468
ISBN (ebook)
9783638063678
ISBN (Livre)
9783638950794
Taille d'un fichier
470 KB
Langue
allemand
Mots clés
Gibt, Dilemmata, Utilitarismus, John, Stuart, Mills, Dilemma, Mill, Ethik, Philosophie
Citation du texte
Stefan Grzesikowski (Auteur), 2008, Gibt es unauflösliche moralische Dilemmata im Utilitarismus John Stuart Mills?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92468

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