Schulbegleitung für Kinder im Grundschulalter mit psychischen Störungen

Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit


Bachelorarbeit, 2020

54 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Schulwesen und Schulpflicht in Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart
1.1 Einführung zum Begriff des Schulwesens
1.2 Kindheit im Kontext von Grundschule – Der Übergang zum „Ernst des Lebens“
1.3 Schule als Lern- und Lebenswelt
1.3.1 Erste Positionsbestimmungen zur Verortung von Schulsozialarbeit

2 Psychische Störungen im Grundschulalter
2.1 Begriffserklärung
2.2 Entstehung und Ursachen – Schule als potenzieller Risikofaktor?
2.3 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
2.4 Persönlichkeitsstörung
2.5 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

3 Schulbegleitung
3.1 Begriffserklärung
3.2 Schulbegleitung als Berufsfeld der Sozialen Arbeit
3.3 Voraussetzungen für das Beantragen der Schulbegleitung
3.4 Handlungsfelder und Qualifikationen von Schulbegleiter*innen
3.5 Kooperationspartner*innen und Kooperationskonfliktstrukturen der Schulbegleitung

4 Fazit: Schulbegleitung im Kooperations- und Handlungskonflikt

5 Ausblick Berufsfeld Schulbegleitung

6 Literaturverzeichnis

Einleitung

Der von Nora Fingscheidt produzierte Film „Systemsprenger“ lockte im letzten Jahr mehr als 600.000 Zuschauer in die Kinos und gewann beim „Deutschen Filmpreis“ als bester Spielfilm.

Die Handlung dreht sich um Benni, die verzweifelt von einem Hilfesystem zum nächsten gereicht wird. Ihr Schulbegleiter Micha setzt sich für das Mädchen ein und unterstützt sie weit mehr, alssie in der Schule zu begleiten (vgl. Peulecke 2020 Internetquelle). Sonderpädagogischer Förderbedarf wird zunehmend von Eltern in Anspruch genommen, was den Zuwachs an Schulbegleiter*innen fordert. Dennoch gibt es bisher keine klar definierten und einheitlichen Arbeits- und Vorgehensweisen für das aufsteigende Berufsfeld (vgl. Lindemann/Schlarmann 2016, S. 264).

In meinem Praxissemester, das ich an einer Grundschule absolvierte, hatte ich die Chance in Kontakt mit Schulbegleiter*innen zu treten. Ich sammelte an praktischer Erfahrung im Feld der Schulsozialarbeit und setzte mich mit psychisch erkrankten Kindern und deren Bedarf und Empfangnahme von Unterstützung auseinander, die selten nach klaren Konzeptionen verlief. Ein Fall blieb mir besonders im Gedächtnis, der mich an die Hauptrollen aus „Systemsprenger“ erinnerte. Ein Mädchen, das unter posttraumatischen Belastungsstörungen litt, fand innerhalb der schulischen Einrichtung wenig Anschluss und ging von Vornherein auf Abstand zu allen Menschen, die ihr begegneten. Mit einer Ausnahme: Ihrem Schulbegleiter konnte sie ein hohes Maß an Vertrauen entgegen bringen. Er saß im Unterricht neben ihr, begleitete sie auf Wandertage und achtete bei jeder Pause auf ihr Wohlergehen. Wenn sie den Unterricht durch auffallendes Verhalten störte und heraus geschickt wurde, spielte er mit ihr vorwiegend in der Schulstation der Schulsozialarbeiter*innen, woran ich mich oft beteiligte. In diesen Momenten konnte ich erkennen, wie sehr das Mädchen Halt und Unterstützung von ihrem Schulbegleiter empfing und dass in diesem Beruf mehr steckt, als die einfache Begriffsbezeichnung. Was für den Schulbegleiter des Mädchens täglich selbstverständliche Arbeit darstellte, war für Nora Fingscheidt der Anlass eine erfolgreiche Geschichte an die Kinoleinwände zu bringen. Dennoch ist das Berufskonzept der Schulbegleiter*innen nicht klar definiert.

In der Sozialen Arbeit steht die Unterstützung des einzelnen Menschen im Fokus. Diese kann nur erfolgreich sein, wenn die hilfeleistende Person ihre Aufgaben und Tätigkeiten kennt, versteht und diese im Unterstützungsprozess des hilfebedürftigen Individuums ständig reflektiert. Wenn die spezifischen Methoden und Zielvorstellungen der Schulbegleitung bis heute nicht klar erfasst werden können, steht dies im Widerspruch zu einer effektiven Hilfeleistung innerhalb der Institution Schule. Infolgedessen halte ich eine Auseinandersetzung mit dem Berufsfeld der Schulbegleitung in Zusammenhang mit Grundschüler*innen, die unter psychischen Erkrankungen leiden mit Blick auf Soziale Arbeit für mehr als angebracht. Diese Thematik ist folglich Gegenstand der vorliegenden Bachelorarbeit.

Das Ziel der Arbeit ist es mithilfe vorliegender Literatur einen theoretischen Einblick in das Berufsfeld zu gewinnen und herauszuarbeiten, vor welchen Herausforderungen Schulbegleiter*innen in ihrer Arbeit mit psychisch erkrankten Kindern stehen und wie sich das Konzept des Arbeitsfelds in der Zukunft entwickeln könnte.

Die Bachelorarbeit unterteilt sich in vier Kapitel. Zu Beginn wird der Begriff des Schulwesens und der Schulpflicht eingeführt und betont, welchen Einschnitt diese Neuerung für Kinder und Jugendliche bedeuteten und bedeuten. In den Blick rücken dabei Grundschule und Grundschüler*innen, um ein allgemeines Verständnis für das Konzept der Schule und ihren Herausforderungen zu vermitteln. Das zweite Kapitel setzt sich mit an Grundschulen anzutreffenden psychischen Störungen auseinander. Die Thematisierung ausgewählter seelischer Erkrankungen, verdeutlicht die psychische Komplexität von Kindern und Jugendlichen. Der allgemeine Begriff der Schulbegleitung wird im dritten Kapitel als Feld Sozialer Arbeit mit Blick auf gesetzliche Festlegungen und Kooperationen dargestellt.

Auf der Basis der vorherigen Kapitel wird abschließend die Rolle des Berufsfelds der Schulbegleitung hinsichtlich rechtlicher Voraussetzungen, Handlungsfelder und Qualifikationen, der Kooperationsbedarfe und Kooperationskonflikte in den Blick gerückt. Daran schließt ein Ausblick auf mögliche Professionalisierungschancen und -hindernisse von Schulbegleitung an. Zusammenfassend soll mit der vorliegenden Arbeit ein allgemeiner Überblick gegeben werden, wie das Arbeitsfeld Schulbegleitung angemessen auf jene Herausforderungen reagieren kann, die Kinder mit psychischen Störungen in der Grundschule stellen und welche Spannungsfelder, Zwangslagen und Konflikte sich dabei immer wieder neu einstellen.

1 Schulwesen und Schulpflicht in Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart

1.1 Einführung zum Begriff des Schulwesens

Der Begriff der Schulpflicht wurde erstmals 1619 in der Weimarischen Schulordnung schriftlich festgehalten. Dies führte zum geregelten Schulbesuch der fürstlichen Untertanen. Die Landesfürsten stellten fest, dass die Bildung ihrer Untertanen ihre Leistungsfähigkeit im Militär und in der Politik beeinflusste. Schule begann eine Rolle bei der Sicherheit des Staats zu spielen (vgl. Kuß 2020 zitiert nach Puhr 2005, S. 3).

Nach Diederich und Tenorth geht aus einem Bericht von 1772 hervor, wie sich das Schulwesen als Einheit erstmals vom Leben und der Gesellschaft abspaltet und dies als Anfang des neuen Sozialsystems in Hinsicht auf die Schultheorie dargestellt wird (vgl. Diederich/Tenorth 1997, S. 15). Die „Weimarische Schulordnung“ lieferte die Basis für viele darauf aufbauende Schulgesetze. Jedoch konnte sich 1845 die „Schulordnung für die Elementarschulen in der Provinz Preußen“ durchsetzen, die verlangte, dass jedes Kind mit spätestens sieben Jahren am Unterricht einer Schulinstitution teilnehmen muss, solange es nicht zuhause unterrichtet werden kann. Die Besuchspflicht der gemeinschaftlichen Grundschule wurde erst 1919 im Artikel 146 in der Weimarer Reichsverfassung fixiert (vgl. Fölling-Albers 2019, S. 476). Gegenwärtig variiert die Schulpflicht nach Bundesländern in Deutschland (vgl. Kuß 2005, S. 3).

Diederich und Tenorth legen dar, wie sich das moderne Schulwesen von allen bisherigen Konzepten abgrenzt, indem es alle Kinder und Jugendlichen einbezieht und sie zum täglichen Gang zur Schule für mehrere Jahre staatlich verpflichtet. Die Schulpflicht wurde zwischen 1870 und 1920 durchgesetzt (vgl. Diederich/Tenorth 1997, S. 15).

Kinder gewinnen mit dem Besuch der Grundschule ihre erste praktische Schulerfahrung und erlernen dort umfangreiche Verhaltensweisen und den Umgang mit Mitschüler*innen und Lehrfachkräften innerhalb der Schule. Die Klassenverbände in der Grundschule erfassen die Schüler*innen eines definierten Gebietes, sind in ihrer Zusammensetzung zufällig und nicht das Ergebnis einer Auswahl wie in weiterführenden Schulen.

Der Unterschied zwischen Grundschulen und weiterführenden Schulen liegt darin, dass in der Grundschule ausschließlich Kinder unterrichtet werden, während weiterführende Schulen Kinder und Jugendliche lehren, die dort zu jungen Erwachsenen heran reifen. Die Grundschule vermittelt die „Grundlegende Bildung“ und bereitet Schüler*innen auf die weiteren Schulstufen vor (vgl. Heinzel 2002, S. 541). Bis heute hat das Konzept der Grundschule eine Vielzahl an Veränderungen durchlaufen. Ab Ende des vorigen und seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird Bildung wieder vermehrt in der Öffentlichkeit diskutiert. Im Gegensatz zu den bildungspolitischen Auseinandersetzungen der 1960er bis 1970er Jahre im Westen Deutschlands über Bildungsnotstände, Chancengleichheit, Demokratisierung sowie Emanzipation, überwiegen heute ökonomischen Erwägungen (vgl. Fuchs/Reuter 2000, S. 13). Fuchs und Reuter halten fest, dass „Bildung auf dem Prüfstand steht mit Blick auf ihre Kosten, Effizienz, Leistung und Verwertbarkeit“ (Fuchs/Reuter 2000, S. 13).

Zudem gibt es Veränderungen gegenüber der Weimarer Zeit bei Art und Verfügbarkeit der Arbeitsutensilien sowie der Anzahl der Schüler*innen innerhalb einer Klasse und bei der Zusammenführung der Geschlechter im Rahmen des Klassenverbunds.

Allgemeine Lockerungen der Lehr- und Erziehungsmaßnahmen, inklusive der Aufhebung der Prügelstrafe, schufen eine angenehmere Atmosphäre innerhalb der Schule und Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen veränderten sich.

Die Weimarer Grundschule legte unter anderem formal größeren Wert darauf, die Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen. Dies wird im zeitgenössischen Schulkonzept aufgenommen und mithilfe von demokratischen Methoden der Mitbestimmung, z.B. beim Klassenrat oder bestimmten Lehrinhalten umgesetzt. Die heute bestehende Grundschule basiert auf den Konzepten der Weimarer Schule, wird jedoch als freier, demokratischer und liberaler angesehen. Die Schulinstitution verändert sich mit dem Wandel der Zeit.

Aus diesen Veränderungen geht zugleich hervor, dass zwar aufgebaute Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen vielfach erstrebenswert und förderlich sein mögen, gleichzeitig jedoch der Lehraufwand komplexer und anspruchsvoller geworden ist und somit in einzelnen Fällen zu körperlichen und psychischen Problemen der pädagogischen Fachkräfte führen kann. Gegenüber der vielfältigen schulischen Neuerungen stehen ebenso Faktoren, die mit den Umbrüchen der Zeit fortbestehen. Dazu zählen die Schulpflicht und die festgelegten Zeit- und Lehrstoffstrukturen, die den Alltag sowie die Wissenskenntnisse der Schüler*innen weitgehend beeinflussen. Aufgrund des rapide gestiegenen technischen Fortschritts, prognostiziert Fölling-Albers, dass das zukünftige Schulmodell einen weitgehenderen Entwicklungsprozess durchläuft und parallel dazu nur geringe Anteile der heutigen Lehrvision beibehalten werden (vgl. Fölling-Albers 2019, S. 488ff.). Weiterhin ist festzuhalten, dass die Aufgaben des Bildungssystems und der Bildungspolitik nicht nur die Vorbereitung auf das Berufsleben beinhalten. Hinzukommen gesellschaftliche Aspekte wie die Erziehungsaufgabe der Schule. Erziehungsfragen rücken aufgrund der heranwachsenden Verhaltensauffälligkeiten (Aggressivität, Vandalismus, Gewalt etc.) von Schüler*innen und der Integration von Immigrant*innen in das Blickfeld (vgl. Fuchs/Reuter 2000, S. 15). Neben der erzieherischen Funktion und dem Bildungsauftrag gewannen Wettbewerbsfähigkeit der Schule sowie die Vermittlung von interkultureller Bildung, von Rechtskenntnissen und von Umweltbildung an Bedeutung (vgl. Fuchs/Reuter 2000, S. 17).

Behinderte Kinder, vor allem jene mit tatsächlichen oder vermeintlichen psychischen Störungen wurden meist aus der Regelschule ausgelagert. Dies änderte sich mit der Einführung der inklusiven Schule, die aufgrund der Behindertenrechtskonvention (2009) umgesetzt werden konnte (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen 2020 Internetquelle). Münkler und Münkler stellen kritisch heraus, dass Bildungsforscher darüber klagen, dass die größten Reformvorhaben im Bildungsbereich nicht auf Forschungsimpulse zurückgingen und zumeist ohne empirische Evidenz erfolgt seien. Als Beispiele werden etwa die Einführung der achtjährigen Gymnasialzeit, die Ausstattung mit Tablets und die inklusive Schule genannt. In der Regel sind diese Reformen auch nicht von Implementationsstudien begleitet worden, sodass man über die Umsetzung der Vorhaben und deren Effekte keine wissenschaftlich gesicherten Kenntnisse hat (vgl. Münkler/Münkler 2019, S.238).

1.2 Kindheit im Kontext von Grundschule – Der Übergang zum „Ernst des Lebens“

Kindheit wurde und wird häufig, so das Fazit jahrzehntelanger Forschung, nicht aufgrund von biologischen und natürlichen Gegebenheiten, wie Entwicklungsprozessen oder Bedürfnissen der Kinder definiert, sondern wird primär oder zumindest parallel dazu von der Gesellschaft interpretiert. Im Mittelalter wurde die Kindheit nicht als selbstständige Lebensphase anerkannt und Kinder wurden als „kleine Erwachsene“ angesehen, die frühzeitig bei elterlichen Tätigkeiten mitwirkten. Philippe Ariés beschreibt in seiner 1960 veröffentlichten Studie, dass die Moderne den Begriff der Kindheit erschaffen hat. Seine Erkenntnisse sorgen für Diskussionsstoff in der Kindheitsforschung und regen Wissenschaftler an, den Begriff der Kindheit neu zu betrachten. Daher verändert sich die Definition der Kindheit fortlaufend. Diese variiert in jedem Zeitalter und durchläuft gesellschaftliche Prozesse (vgl. Bründel/Hurrelmann 2017, S. 9).

Die Entwicklungsphase der Kinder in den Grundschuljahren spielt eine entscheidende Rolle. Sie ist nicht zuletzt davon abhängig, wie ihre bisher aufgebaute psychische Grundlage ist.

Wenn das Kind eine sichere Bindung entwickeln konnte, kann im Optimalfall eine stabile motorische, kognitive, soziale und intakte emotionale Wachstumsphase realisiert werden. Falls die Entwicklung im Kindergarten bereits durch Diversität beeinflusst wurde, kann dies erst in der Grundschule deutlich werden, wenn sich die Schüler*innen mit den Anforderungen des neuen Umfelds auseinandersetzen müssen (vgl. Brisch 2016, S. 12).

Mit fünf oder sechs Jahren besuchen Kinder zum ersten Mal die Grundschule. Sie haben bis zu diesem Zeitpunkt individuell vielfältige und kontrastreiche Erfahrungen in Kindertagesstätten oder Kindertagespflegen sammeln können. Durch den Kontakt zur außerfamiliären Gegenwart konnten sie weitere Beziehungen aufbauen und das Gefühl von kurzzeitigen Trennungen von den Eltern kennen lernen, das ausschlaggebend für die weitere Entwicklung des Selbstvertrauens und des Selbstbewusstseins des Kindes ist.

Doch der Übergang zur Grundschule stellt die Kinder vor neue Herausforderungen. Voraussichtlich werden sie von den sozialen Kontakten getrennt, die sie sich innerhalb der Kindertagesstätte aufgebaut haben. Auch der Alltag wird nun in einem neuen Umfeld mit anderen Erwachsenen und Kindern durch bisher unbekannte Strukturen bestimmt.

Des Weiteren wird von den Schüler*innen ein erhöhtes Maß an Konzentration und Auffassungsgabe abverlangt, das ihnen bisher nicht vertraute Lehrpersonen vermitteln. Kinder stehen mit dem Beginn des Grundschulalters vor komplexen Herausforderungen bezüglich ihrer Verhaltens-, Interaktions- und Kommunikationstechniken. Diese Zeit ist fundamental und offenbar eine der tiefgreifendsten und lehrreichsten Erfahrungen für die bevorstehende Entwicklung eines Menschen (vgl. Bründel/Hurrelmann 2017, S. 118).

Diese Übergangsphase kann erfolgreich verwirklicht werden, wenn Kindertagesstätte und Schule abgestimmt agieren, durch Planung und Struktur Konflikte vorbeugen sowie effektive Lern- und Entwicklungsprozesse fördern. Entscheidend für einen gelungenen Übergang ist der Anteil an Mitbestimmung der beteiligten Person. In diesem Zusammenhang handelt es sich um ein minderjähriges Kind, das aufgrund seines Reifegrades und der festgelegten Schulpflicht wenig Mitspracherecht bezüglich des Zeitpunkts des Schuleintritts erhält. Aufgrund dessen ist eine langfristige und ausführliche Vorbereitungszeit für Kinder und ihren Eltern von hoher Relevanz. Dieser Vorbereitungsprozess beginnt am Ende des Kindergartens und dauert bis zu einem halben Jahr innerhalb der Anfangsschulzeit. Anpassungsfähigkeiten werden nicht nur von den jungen Schüler*innen, sondern auch vom jeweiligem sozialen Umfeld erwartet. Der neue Tagesrhythmus betrifft ebenso die Erziehungsberechtigten der Kinder. Die Bring- und Abholzeiten sind weniger flexibel als in den Kindertagesstätten, sodass berufliche Tätigkeiten der Eltern an die Schulzeiten angepasst oder weitere Betreuungsformen organisiert werden müssen. Während die Kinder sich vorerst innerhalb der Klasse neue Kontakte aufbauen, gilt auch für die Eltern neue Beziehungen zu Lehrkräften und Erzieher*innen zu knüpfen, wobei sich Gesprächsmöglichkeiten und Kommunikationsrhythmen von der Kindertagestätte unterscheiden. Folglich durchläuft ein Kind den Übergangsprozess gemeinsam im Familienorganismus, der sich ebenfalls den neuen Schulstrukturen anpassen muss, um kommende Lernfortschritte bestmöglich und nachhaltig zu unterstützen (vgl. Braun 2015, S. 10-16). Insgesamt heben alle genannten Autoren die Bedeutsamkeit des Wechsels von der Kindertagesstätte zur Grundschule hervor. Brisch verweist auf die Relevanz der psychischen Stabilität, die im Vorschulalter heranwächst, da zukünftige Herausforderungen der Kinder darauf aufbauen.

Bründel und Hurrelmann sowie Braun zeigen ganz deutlich, wie fundamental der Übergang von Kindertagestätte zur Grundschule ist, wobei Bründel und Hurrelmann besonders auf die geforderten Fähigkeiten der Schüler*innen eingehen und Braun zusätzlich die Folgen für das gesamte Umfeld der Kinder beschreibt.

Aufgrund der genannten Faktoren zur Übergangsgestaltung ergibt sich die Frage, wie diese gestaltet werden kann und welche Voraussetzungen der Lebensraum Schule garantieren muss.

1.3 Schule als Lern- und Lebenswelt

In der Pädagogik besteht der Anspruch Schule als Lebens- und Lernort zu gestalten. Diederich und Tenorth verweisen somit auf zwei zentrale Aspekte der Schulinstitution. Schüler*innen lernen und leben in der Schule. Beide Autoren vermitteln überdies Aufschlüsse darüber, wie Orte des Lernens charakterisiert und aufgebaut werden sollten und in welchem Verhältnis Leben und Schule zueinander stehen.

Einerseits kann die Schulinstitution als sicherer Raum betrachtet werden, der Kinder vor der zukünftigen Realität schützt. Andererseits kann der Eintritt in die Schule schon als ernsthafter Schritt in die Erwachsenenwelt angesehen werden (vgl. Diederich/Tenorth 1997, S. 18). Unabhängig von Betrachtungsweisen und individuellen Ansichten fungiert die Schule als „Zwischenstation im Lebenslauf“ (Diederich/Tenorth 1997, S. 18). Die Institution Schule steht in Kritik, dass sie sich nicht hinreichend der Realität des Lebens stelle, sondern die Schüler*innen von der Wirklichkeit abtrenne und sie mit theoretischen Darstellungen des Lebens abfertige. Hinsichtlich der echten (zeitlichen wie räumlichen) Trennung von Familie und Freunden aus dem Kindergarten sowie der an der Schule von Kindern zu lösenden Aufgabe soziale Kontakte zu finden und sich an das neue Umfeld und dessen Regeln anzupassen, scheint die Schule aufgrund der realen Herausforderungen wiederum lebensnah (vgl. Diederich/Tenorth 1997, S.18).

Maulini setzt sich in seinem Referat zur Thematik des Unterrichts ebenfalls mit der Gegenüberstellung von Schule und Leben auseinander. Als Lernort gilt für Kinder keine örtliche oder räumliche Beschränkung. Sie haben die Möglichkeit jederzeit und allerorts durch theoretische oder praktische Ansätze Wissen zu erlangen. Die Schule dient dabei als primärer Lehrraum, der Schüler*innen im Unterricht methodisch gelenkte Vorgehensweisen in Gegenüberstellung mit sozial vorbestimmten Erkenntnissen vermittelt. Die Intention der Schulpflicht ist die Wissensvermittlung in einem vom Alltag geschützten Raum, der die Kinder auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten soll. Daraus ergibt sich jedoch der Widerspruch, dass das gesammelte, theoretische Wissen nur bedingt der Alltagsrealität der Kinder entspricht.

Dieser Gegensatz führt zu der Diskussion, ob Schuleinrichtungen Schüler*innen mit standardisierten Wissens- und Verhaltenskonzepten lehren, oder zum kritischen Hinterfragen der Tatsachen anregen sollten (vgl. Maulini 2013, S. 149ff.). „Was benötigen Kinder, um die Fähigkeiten zu erwerben, die sie später im Leben dringend brauchen?“ (Friedrich 2013, S. 16). Friedrich stellt sich diese Frage und setzt sich mit dem Begriff der Bildung auseinander. Anhand von Intelligenztests wird der Intelligenzquotient ermittelt, der als Maßstab für Bildung angesehen wird. Ein hoher Intelligenzquotient gilt gleichermaßen als Grundlage für eine erfolgreiche Schul-und Berufsexistenz. Nachträglich konnte jedoch festgestellt werden, dass die durch den Intelligenztest anerkannten Kompetenzen nicht ausreichend für eine Bewältigung des Alltags sein müssen. Robert Sternberg teilt diese Annahme und erklärt, dass die „Erfolgsintelligenz“ auf praktischen, kreativen und analytischen Kompetenzen basiert. Kinder müssen erlernen, Ausdauer und eigenständige Motivation zu entwickeln sowie Triebe zu kontrollieren und Ideen in ihr Umfeld einzubringen (vgl. Friedrich 2013, S. 16).

Doch unter welchen Umständen haben Kinder die Möglichkeit diese Fähigkeiten zu entfalten? Opp sieht die Institution Schule als grundlegendes Element für eine positive Lernentwicklung der Schüler*innen. Die Kinder verbringen jeden Schultag nah beieinander in engen Klassenräumen, wodurch ein Konfliktpotenzial aufgrund der räumlichen Kapazität sowie sozialer Unstimmigkeiten entstehen kann. Um dem vorzubeugen, ist es erforderlich, Schüler*innen Bewegungsmöglichkeiten zu bieten und wechselnde Lernorte zu schaffen, da die Schule nicht nur als Lehr-, sondern auch als Lebenswelt dient. Die Pädagogik beschäftigt sich anhand des Begriffs der Lebenswelt mit dem Alltag von Kindern und Jugendlichen, einschließlich kindgerechter Unterrichtsmethoden. Die Bedeutung der Lebenswelt ergibt sich aus realitätsnahem Lernen, welches auf bestehender Praxis und Erkenntnis basiert. Dies steht nur im Konflikt zueinander, wenn erlernte Theorie und erlebte Umwelt widersprüchlich sind (vgl. Opp 2015, S. 15f.). Opp erkennt aufgrund dieser Tatsache, dass „Schule ein Ort menschlicher Entwicklung ist, aber die Orientierung an kindlichen Lebenswelten die Aufgaben der Schulen nicht einfacher, sondern schwieriger machen“ (Opp 2015, S. 16). So stehen vorgegebene Lehrpläne, unterschiedliche Lebensbedingungen und durch Zufall bestimmte Erfahrungen im Lebensverlauf in einem Spannungsverhältnis zueinander. Lehrkräfte unterrichten Grundschulkinder ohne ihr familiäres Umfeld oder ihre biographischen Erfahrungen hinreichend zu kennen und können entsprechende Sachverhalte nicht in die Lehrpläne mitaufnehmen.

1.3.1 Erste Positionsbestimmungen zur Verortung von Schulsozialarbeit

Laut Opp ist eine feste Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Sozialpädagogik, die für das soziale Wohlbefinden der Kinder verantwortlich ist und der Schulpädagogik, die für erfolgreiche Lernprozesse der Schüler*innen sorgt, innerhalb der Schule von fundamentaler Bedeutung (vgl. Opp 2015, S. 16). Winkler stellt fest, dass der Begriff der Sozialpädagogik trotz vielfältiger Literatur nicht mit einer präzisen Definition zu fassen ist und Sozialpädagogik unter anderem als Grundlage der Kinder- und Jugendhilfe verstanden werden kann (vgl. Winkler 2018, S. 1355f.). Gegenüber Opps Auffassung der klaren Zuständigkeitsteilung steht Specks Standpunkt der Zusammenarbeit: „Schulsozialarbeit agiert an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Schule und stellt die intensivste Form der Kooperation zwischen beiden Institutionen dar.“ (Speck 2014, S. 46.)

Insgesamt erkennen die angeführten Autor*innen Divergenzen zwischen Lern- und Lebenswelten, da beide Komponenten im Kontrast zueinander stehen und sich doch überschneiden. Darüber hinaus führen jedoch Diederich und Tenorth aus, dass eine Abtrennung von Realität und Schule nicht zwangsläufig zu einer lebensfernen Lehre führen muss. Die von Opp und Speck aufgeführte Andeutung eines Kooperationskonflikts wird in Kapitel 3 näher besichtigt und vermittelt einen Einblick in die Widersprüche der Institutionen.

Kinder durchlaufen im Wechsel vom Kindergarten zur Grundschule und innerhalb der kommenden Schuljahre eine Vielfältigkeit an Herausforderungen. Diese können durch äußere soziale, wie durch individuell gegebene psychische Faktoren, darunter psychische Störungen beeinflusst werden. Speziell mit dem Einflussfaktor der psychischen Störungen bei Kindern im Grundschulalter, setzt sich das folgenden Kapitel auseinander.

2 Psychische Störungen im Grundschulalter

2.1 Begriffserklärung

„Von einer psychischen Störung wird gesprochen, wenn ein Individuum ein Erleben und/oder Verhalten zeigt, welches von den in einer Gesellschaft für gültig gehaltenen Normen abweicht.“ (Höwler 2006, S. 10). Abweichendes Verhalten von gültigen Normen wird in zeitgenössischen Gesellschaften, in verschiedenen Milieus, nach Alter, Geschlecht, Region etc. unterschiedlich definiert. Zudem gibt es zwischen Gesellschaften divergierende Vorstellungen von abweichendem und normgerechtem Verhalten.

Höwlers Bestimmung gilt unter der Voraussetzung, dass diese entsprechenden Handlungsweisen dauerhaft sind und Lebewesen sowie das betreffende Umfeld mit daraus resultierenden Konsequenzen beeinflusst werden. Aufgrund der Komplexität des Verhaltens und Erlebens von Kindern und Jugendlichen, ist es nötig dies genauer zu betrachten.

„Verhalten“ stellt sich als das Zusammenspiel aller von außen, in der Fremdbeobachtung wahrnehmbaren Sinnesausdrücke dar. Der Begriff des Erlebens wird wiederum so definiert, dass das Individuum nur selbst wahrnehmen kann, welche Prozesse in ihm ablaufen. Diese können nicht von der Umwelt beobachtet, jedoch vom Betroffenen mithilfe der Selbstbeobachtung an Außenstehende offenbart werden. Anzeichen einer gesteigerten affektiven Erregung sind zum Großteil auf psychiatrische Störungen bei Kindern und Jugendlichen zurückzuführen (vgl. Höwler 2006, S. 10f.). Dabei ist zu beachten, dass zwischen einer psychischen Störung und der Auseinandersetzung mit Problemsituationen während der Pubertät ein Kontrast gesetzt werden muss. Nicht jede psychische Beschwerde kann laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie als gesundheitliche Erkrankung anerkannt werden (vgl. Höwler 2006, S. 20).

Doch was wird explizit unter „Gesundheit“ verstanden? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte 1946, Gesundheit sei „ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und wird nicht allein durch das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen“ charakterisiert (Ehlers/Legewie 2000, S. 359). Die Sozialgerichte definieren indes körperliche oder geistige Verfassungen als regelwidrige Zustände, wenn insofern aus ihnen Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit resultieren (vgl. Litsch/Hoyer 2020 Internetquelle). Diese Definition gleicht dem Muster eines Technikschadens, das sich auf ein Leiden des Körpers (Infektion, Knochenbruch etc.) übertragen lässt. Eine Erkrankung der Psyche kann nicht durch das „Defekt-Modell“ definiert werden, da keine sichtbaren Verletzungen am Körper vorliegen, die eine Krankheit durch medizinische Gutachten belegt hätten. Psychische Störungen sind keine regelwidrigen Verfassungen der Individuen, sondern stehen in Verbindung mit den instabilen Beziehungen zwischen den Betroffenen und ihrem Umfeld (vgl. Ehlers/Legewie 2000, S. 359).

Die Feststellung, ob es sich um einen regelwidrigen Zustand im Sinne des Sozialrechts handelt, obliegt grundsätzlich der zuständigen medizinischen Fachkraft. In der Realität dominiert jedoch die Laiendiagnose erfolgt die Behandlung verhältnismäßig oft durch Angehörige des Familien-, Freundes,- und Bekanntenkreises. Hierbei wird der medizinische Rat erst beim Scheitern der privaten Hilfeleistung in Anspruch genommen. Als zusätzlicher Faktor der Beeinträchtigung gilt die Arbeitsunfähigkeit, obwohl sich über diesen Einwand streiten lässt, da Kinder und Rentner*innen ohne Krankheitsbefund in unseren Breiten nicht zur Arbeit herangezogen werden und daher nicht unter die Kategorien arbeitsfähig/arbeitsunfähig subsumiert werden.

Die Weltgesundheitsorganisation erkennt Gesundheit, wie bereits erwähnt, als Gesamtheit aller physischen wie auch psychischen und sozialen Verfassungen an und bezieht das subjektive Wohlergehen des Individuums mit ein.

Ehlers und Legewie widmen sich dem Kern des seelischen Wohlbefindens und konkretisieren, dass es nicht im Bereich des Möglichen liegt, zwischen psychischer und physischer Gesundheit eine klare Grenze zu ziehen. Auf der Basis einer umfangreichen Literaturrecherche zieht die Psychologin Jahoda den Schluss, dass sich weder körperliche, noch seelische Gesundheit konkret definieren lassen. In Folge dessen kann psychische Gesundheit nicht die Abwesenheit von psychischer Erkrankung sein. Ein weiterer wesentlicher Grund für Jahodos Einwand besteht darin, dass die Voraussetzungen für ein seelisches Gebrechen kulturell bedingt und individuell eingestuft werden. Jahoda ist dennoch der Auffassung, dass eine positive Begriffserklärung von seelischer Gesundheit trotz aller Einwände bedeutsam ist. Jahoda selbst schlägt vor, seelische Gesundheit an bestimmte Merkmale zu binden: 1. Stabiles Selbstvertrauen mit realitätsgetreuer Selbsteinschätzung. 2. Psychische Entwicklung des Individuums. 3. Vereinigung positiver Eigenschaften mit negativen Einflüssen zur Ich-Identität. 4. Initiative zum selbstständigen Handeln. 5. Realistische Wahrnehmung der Umwelt. 6. Fähigkeit, Ansprüchen der Umwelt gerecht zu werden.

Gegenüber Jahodas Ansatz merken Ehlers und Legewie kritisch an, dass es den genannten Aspekten an wissenschaftlicher Untermauerung und inhaltlicher Einheit fehle. Ebenso widerspreche sich Jahoda selbst, da ihre Kriterien zur positiven Gesundheit gleichermaßen kulturabhängig von der jeweiligen Gesellschaft sind. Zudem werde der Betroffene in den Fokus gestellt und die Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt würden unterbelichtet. Zusammenfassend halten sie fest, Jahodas Merkmale könnten für Einzelfälle der Psychotherapie gelten, aber sie ließen sich nicht als universelle Aspekte der Prävention und Gesundheitsfürsorge verallgemeinern (vgl. Ehlers/Legewie 2000, S. 359f.).

Auf der Basis von Einschätzungen der WHO sind circa 450 Millionen Menschen von psychischen Störungen betroffen, wobei primär in Industrie- und Schwellenländern die Zahl der Erkrankten steigt. Dies liegt zum einen an der zunehmenden Dichte und Intensität von Untersuchungen und Messungen und zum anderen an den wachsenden Ansprüchen an die Arbeiter*innen sowie der Beschäftigtenzunahme. Die Erkrankungsquote steigt auch in Deutschland. Hier leben circa 3-4 Millionen Kinder, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, wovon sich 30-45% in stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung befinden. Die Krankheitsrate bei Kindern und Jugendlichen ist mit der Anzahl betroffener Erwachsener vergleichbar. Besonders häufig ist das nachweisliche Vorkommen von Angststörungen, dicht dahinter liegen dissoziale Störungen, wobei Betroffene die schwerwiegendsten Prozesse durchlaufen. Geschlechterspezifische Differenzen zeigen sich bis zum 13. Lebensjahr, da ein höherer Anteil an betroffenen Jungen erfasst wird, die an seelischen Erkrankungen leiden. Im Verlauf des Jugendalters nähern sich die Werte zwischen den Geschlechtern wieder an (vgl. Höwler 2006, S. 24).

Die Begriffe der seelischen und geistigen Gesundheit sind gesetzlich und durch die Weltgesundheitsorganisation definiert. Höwler setzt sich genauer mit den Begrifflichkeiten des Verhaltens und des Erlebens auseinander, um die komplexen Handlungsmuster von Kindern und Jugendlichen nachzuvollziehen. Sie erkennt an, dass nicht jede seelische Unpässlichkeit als psychische Störung zu werten ist. Ehlers und Legewie hinterfragen, ob eine präzise Definition der Begrifflichkeiten, aufgrund der Differenzen und zugleich Parallelen der Kernaussagen von psychischer sowie physischer Gesundheit, möglich ist.

2.2 Entstehung und Ursachen – Schule als potenzieller Risikofaktor?

Kinder stehen im Übergangsprozess vom Kindergarten zur Grundschule vor einer Summe an persönlichen Herausforderungen. Besteht zu dieser Zeit und in bevorstehenden Schuljahren ein besonders hohes Risiko an psychischen Störungen zu erkranken?

Ein Teil der Schulanfänger*innen geht mit positiven Erwartungshaltungen an die neuen Herausforderungen der Grundschule heran. Diese Einstellung steigert das Selbstvertrauen und die Eigenständigkeit der Kinder. Der andere Teil betritt die Schule mit Ängsten vor Misserfolgen und Prüfungssituationen und hat bereits vor Beginn der ersten Schulstunde die Lernfreude verloren (vgl. Kammermayer/Martschinke 2006, S. 125).

Lehrkräfte berichten, dass Lernstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivität und Aggressivität, unter denen immer mehr Schüler*innen leiden, zum Alltag in der Schule gehören. Besonders Jungen sind davon betroffen. Mädchen haben häufig mit Depressionen und Ängsten zu kämpfen, worüber jedoch seltener gesprochen wird, da Betroffene ihr Leiden weniger nach außen präsentieren (vgl. Bilz 2008, S. 9).

Die Pädagogik setzt sich seit längerer Zeit mit der Problematik auseinander, wie Kinder vor schulischen Misserfolgen bewahrt werden können. Basis für diese Auseinandersetzung ist eine Untersuchung der Risikofaktoren, die bestimmte Entwicklungsprozesse der Schüler*innen beeinflussen. Jedes Kind beginnt die Schullaufbahn auf der individuellen Grundlage seiner bisherigen Erfahrungen und Eindrücke sowie gegebenen Möglichkeiten aus dem familiären Umfeld. Folglich ist es unvermeidlich, dass die Startchancen der Schulanfänger*innen gravierend voneinander abweichen. Eine stabile Grundlage kann für einen erfolgreichen Schulstart stehen, doch ist keine Garantie, eine durchgehend positive Lern- und Persönlichkeitsentwicklung zu durchlaufen.

Gleichermaßen können Kinder, die mit weniger günstigen Bedingungen zum ersten Mal die Schule betreten, die Herausforderungen effektiv und zuversichtlich meistern. Es ist möglich, dass diese Schüler*innen neben den problemfördernden Komponenten, hauptsächlich präventive Schutzmaßnahmen der Schulinstitution erfahren (vgl. Drechsler/Kammermeyer/Martschinke 2006, S. 140). Daher ist es wichtig die risikofördernden und risikomildernden Merkmale zu erkennen und für das Wohlergehen der Schüler*innen zu nutzen. Dies verdeutlichen Drechsler, Kammermeyer und Martschinke mit der Aussage: „Je mehr über das komplexe Bündel von Risiko- und Schutzfaktoren für die schulische Entwicklung bekannt ist, desto besser sind die Chancen, geeignete Maßnahmen zur Reduktion von Risiko- und zur Stärkung von Schutzfaktoren einzuleiten.“ (Drechsler/Kammermeyer/Martschinke 2006, S. 140f.). Denn diese Faktoren prägen den Entwicklungsverlauf von Kindern.

Das Individuum und seine Umwelt begegnen sich in einer vielschichtigen Wechselbeziehung. Die Risikoaspekte gründen sich auf genetische Anlagen und Eigenschaften, wie das Aktivitätslevel, das Denkvermögen und die Fähigkeit, sich nicht ablenken zu lassen. Mithilfe dieser Elemente lässt sich die Resilienz der Kinder gegenüber den risikoreichen Einflüssen aus der Umwelt bestimmen. Die psychische Widerstandsfähigkeit muss sich ein Kind mit der bewussten Auseinandersetzung der Umwelt aneignen. Die „Stressoren“ beziehen sich auf soziale und wirtschaftliche Aspekte der gesellschaftlichen Struktur sowie Beeinträchtigungen durch das familiäre Umfeld. Die Schutzfaktoren können ebenfalls auf der Basis dieser Merkmale ermittelt werden (vgl. Petermann/Petermann 2005, S. 39).

Nach Höwler „versteht man unter einem Risikofaktor in der Medizin eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Krankheit bzw. Störung zu erwerben, wenn bestimmte physiologische oder anatomische Eigenschaften, genetische Prädispositionen und/oder Umweltkonstellationen vorliegen.“ (Höwler 2006, S. 5). Das Zusammenspiel aus biologischen, psychischen und sozialen Entwicklungsfaktoren von Kindern und Jugendlichen, bestimmt die Wahrscheinlichkeit, an psychischen Störungen zu erkranken (vgl. Höwler 2006, S. 5).

Die allgemeinen sowie die im Zusammenhang mit Schule stehenden Risikofaktoren werden von Drechsler, Kammermeyer und Martschinke auf Grundlage von Petermann zusammengefasst: Eingeschränkte Lernmöglichkeiten, Migrationshintergrund, Probleme bei der Sprachentwicklung, problematisches Temperament und Einschränkungen durch chronische sowie neuropsychologische Erkrankungen. Bezüglich der psychischen Widerstandsfähigkeit gelten als risikofördernde Aspekte negatives Sozialverhalten, niedriges Selbstvertrauen sowie geringe Selbstwirksamkeit. Betrachtet man das familiäre Umfeld des Kindes, sind folgende Charakteristika von Bedeutung: Niedrige sozioökonomische Stellung, geringfügiger Bildungsstand, andauernde familiäre Spannungen und ein alleinerziehendes Elternteil. Innerhalb der Schule treten risikofördernde Merkmale wie Zurückweisung durch Kinder des gleichen Alters, hoher Leistungsdruck, schwieriges Verhältnis zwischen Schüler*innen und Lehrkräften und Spannungen im internen Klassenkontext, wie zu hohe Anzahl der Kinder auf.

Die Risikofaktoren bezüglich der Bindungen zwischen Kindern und ihrem Umfeld sind nicht erfasst, da von Betroffenen keine direkte Auskunft zu erhalten ist (vgl. Drechsler/Kammermeyer/Martschinke 2006 S. 143).

Hedi Friedrich weist – mit Blick auf die Schule und Bildung – der Qualität der Beziehungen/Bindungen eine bedeutende Rolle zu. Forschungen zu den Gebieten der Bindung, der Resilienz und der Neurophysiologie sowie Neurobiologie betonen die bedeutende Rolle der Beziehungserfahrungen für die Lern- und Intelligenzentwicklung sowie der Gesamtheit der kindlichen Persönlichkeitsentfaltung. Die Bindungsforschung untersucht, wie Kinder vorerst zur Mutter und später zu anderen Bezugspersonen Beziehungen aufbauen. Wenn dies gelingt und das Kind konstant stabile Beziehungen erlebt, gibt dies Sicherheit und Grundvertrauen für zukünftige Herausforderungen. Insofern Kinder Bindungen dieser Art unzureichend oder gar nicht erfahren, kann Stress und Aufregung dazu führen, dass die Verarbeitung von Eindrücken im Gehirn blockiert wird. Dies kann im Extremfall zum Rückgang der kindlichen Entwicklung führen. Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig, dass Kinder in ihrer Umwelt Zuverlässigkeit, Unterstützung und Empathiefähigkeit erleben. Diese Basis bietet ihnen die Chance, Fähigkeiten zur Schul- und Alltagsbewältigung zu entwickeln (vgl. Friedrich 2013, S. 18ff.).

Zu den risikomildernden Faktoren zählt allgemein die gesteigerte Lernfreude. Darunter fallen Talente, Interesse an Aktivitäten, hohes Denkvermögen und eine flexible, aktive sowie offene Art. Voraussetzungen für Resilienz sind gesteigertes Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit, positives Sozialverhalten sowie ein gleichaltriger Freundeskreis und optimale Sprachkenntnisse. Im Vordergrund steht hierbei die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt und der daraus resultierenden Bewältigungsstrategie. Innerhalb der Familie gelten als risikomildernd ein positives Erziehungsklima, Zusammenhalt, stabile Bindungen und eine gute Ausbildung sowie Fachwissen der Mutter. Im Zusammenhang mit der Schule sind folgende Aspekte als Schutzfaktoren zu erkennen: Ein positiver Klassenkontext und entsprechendes Klassenklima, zusätzliche Fördermaßnahmen, bedürfnisorientierte Übergangsgestaltung im Anfangsunterricht und individuelle Einstellungen der Lehrkräfte (vgl. Drechsler/Kammermeyer/Martschinke 2006 S. 145).

Psychische Störungen können also aufgrund einer Vielzahl an Risikofaktoren entstehen. Drechsler, Kammermeyer und Martschinke erfassen auf der Grundlage von Petermann diese krankheitsfördernden Maßnahmen und stellen sie den Schutzfaktoren gegenüber. Friedrich sieht einen besonders grundlegenden Punkt im Beziehungsaspekt zwischen Kindern und ihrem Umfeld. Entscheidend ist die psychische Grundlage der Schulanfänger*innen, welche in ihrer bisherigen Entwicklung entstanden ist. Die Herausforderungen der Grundschule werden auf Basis dieser Grundlage bewältigt. Innerhalb der Schulinstitution erleben Kinder und Jugendliche eine Vielfalt an Risiko- und Schutzfaktoren. Bilz hebt darauf ab, dass psychische Störungen dennoch Normalität im Schulalltag geworden sind. Um die Komplexität und Auswirkungen von psychischen Störungen zu verstehen, setzt sich das folgende Kapitel mit drei ausgewählten Erkrankungen auseinander, die häufig im Schulalltag vorkommen.

2.3 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Lehrkräfte müssen sich in der Schule immer häufiger mit hyperaktiven Kindern und Jugendlichen befassen. Das pädagogische Personal steht vor der Herausforderung, sich angemessen mit auffälligen Verhaltensweisen, mangelnder Anteilnahme am Unterricht und dem daraus resultierenden Leistungsabfall der betroffenen Schüler*innen auseinanderzusetzen (vgl. Höwler 2006, S. 212). Nach Höwler ist „das psychiatrische Syndrom dadurch gekennzeichnet, dass Probleme mit der Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität bestehen.“ (Höwler 2006, S. 212). Es gibt drei unterschiedliche Subtypen der Erkrankung: Die Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung (ADHS), die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) und die Hyperkinetische Störung (HKS). Die meisten Kinder und Jugendlichen leiden an einer Mischung aus unaufmerksamen und hyperaktiven Verhaltensmustern.

Heute gilt ADHS alias „Zappelphillip-Syndrom“, als die häufigste Grundlage von psychischen Verhaltensstörungen und schulischen Leistungsschwierigkeiten von Schüler*innen. Jungen leiden circa 2 bis 3-mal mehr an den Störungen als Mädchen. Studien dokumentieren, dass bei 40-80% der Betroffenen, die Störungen weit über die Pubertät hinausgehen und in einem Drittel der Fälle bis in das Erwachsenenalter anhalten. Im Falle eines Aufmerksamkeitsdefizits und/oder einer Hyperaktivitätsstörung können weitere Beeinträchtigungen wie Legasthenie, Dyskalkulie oder Tic-Störungen in Erscheinung treten.

Nach heutigem Wissensstand leiden die Betroffenen bei einer ADHS-Diagnostik unter einer neurochemischen Regulationsstörung im Frontalhirn, basierend auf genetischer Veranlagung. Neurotransmitter wie Dopamin und Noradrenalin werden vom Körper selbst hergestellt und lösen die Weiterleitung der Reize aus. Bei Symptomen der ADHS-Störung sind die Ausschüttung und die Aufnahme der Botenstoffe aus dem Gleichgewicht geraten. Inwiefern problematische Erziehungsmethoden, hohe Leistungsanforderungen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten psychische Störungen beeinflussen oder verursachen, wird untersucht.

Bisher wurden drei Kernsymptome der Erkrankung festgelegt: Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität. Die Unaufmerksamkeit geht mit leichter Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit, Tagträumerei und mangelnder Konzentrationsfähigkeit der Betroffenen einher. Die Impulsivität äußert sich, wenn Schüler*innen andere permanent unterbrechen und stören. Die betroffenen Kinder handeln aus dem Affekt, ohne vorzeitig das Ausmaß ihrer Vorgehensweise zu erkennen. Die Selbststeuerungsfähigkeit sowie die Frustrationstoleranz der Schüler*innen ist niedrig. Ebenso leiden die Kinder unter einer Antriebslosigkeit und es fällt ihnen schwer, selbstständig Strukturen und Ordnung in ihren Alltag zu bringen. Die Hyperaktivität bringt Verhaltensmuster wie hohen Bewegungstrieb, motorische und verbale Folgen und Ungeschicklichkeit in der Fein- und Grobmotorik hervor.

Die Auswirkungen der Kernsymptome betreffen nicht nur den Lern- und Entwicklungsprozess des betroffenen Kindes, sondern auch das soziale Umfeld, wie den Klassenverband. Die auffälligen Verhaltensweisen werden von Lehrkräften und Erzieher*innen häufig als störend aufgefasst. Durch das abweichende Verhalten werden Schüler*innen oft zu Außenseiter*innen und es fällt ihnen schwer, soziale Anerkennung und Freundschaften in der Schule zu erfahren.

Zu den Begleitsymptomen gehören psychische Entwicklungsverzögerungen und seelische sowie körperliche Kraftlosigkeit. Betroffene können extrem durch andere beeinflusst werden und verspüren einen starken Sinn für Gerechtigkeit gegenüber ihren Mitmenschen. Bei jungen Betroffenen wird eine hohe Verkehrsunfallrate als eine weitere Begleiterscheinung in Zusammenhang mit der ADHS-Diagnostik gebracht.

Eine Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung wird laut der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme anerkannt, wenn folgende Merkmale vorliegen: 1. Das betroffene Kind leidet eindeutig unter den drei Kernsymptomen. 2. Die Erkrankung muss sich vor Beginn des 7. Lebensjahr geäußert und mehr als ein halbes Jahr, über zwei Lebensbereiche (zum Beispiel Schule und Familie) erstreckt haben. 3. Eine Beeinträchtigung durch das Syndrom liegt in der Schule oder Ausbildung vor.

Die Basisdiagnostik beinhaltet neben der Kernsymptomfeststellung eine körperlich-neurologische Untersuchung, eine detaillierte Anamnese des Familienstammbaums und die Diagnose-Checkliste (ADHS-DCL), welche von Eltern und Lehrkräften ausgewertet wird. Diese Untersuchungen und weitere psychologische Gutachten sowie Intelligenz- und Aufmerksamkeitstestverfahren sollen einer Fehldiagnose und der daraus resultierenden ungeeigneten Behandlung entgegen wirken. Fälschlicherweise wird teilweise bei hochbegabten Kindern die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung diagnostiziert, da sie aufgrund der psychischen und/oder physischen Unterforderung ein Verhalten zeigen, das Parallelen zu den Mustern des ADHS-Syndroms aufweist (vgl. Höwler 2006, S. 212ff.).

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Ende der Leseprobe aus 54 Seiten

Details

Titel
Schulbegleitung für Kinder im Grundschulalter mit psychischen Störungen
Untertitel
Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit
Hochschule
Hochschule Neubrandenburg
Note
2,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
54
Katalognummer
V925149
ISBN (eBook)
9783346246509
ISBN (Buch)
9783346246516
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schulbegleitung, Psychische Störungen, Grundschule, Kinder, Schulsozialarbeit, Kinder- und Jugendhilfe, Schulassistenz
Arbeit zitieren
Maxi Koch (Autor:in), 2020, Schulbegleitung für Kinder im Grundschulalter mit psychischen Störungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/925149

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