In seiner Rezension von Iwan Turgenjews „Neuland“ kritisiert Theodor Fontane den trostlosen Schluss, der den Selbstmord des Protagonisten schildert: „wie traurig, wie unbefriedigend! Es fehlt alles Versöhnliche, kaum eine Zukunftsperspektive.“ Das kann nur erstaunen, wenn man den Ausgang des Romans „Stine“ vor Augen hat: Nachdem sein Heiratsantrag von der Näherin Stine zurückgewiesen wurde, vergiftet sich der junge Adlige Waldemar; Stine erkrankt an einer vermutlich tödlich verlaufenden Krankheit. Fontane stellt an ein dichterisches Werk die Anforderung, dass die Realität zu verklären sei. Doch wie sehr wird seine Verklärungstheorie in „Stine“ wirklich umgesetzt? Inwieweit verklärende Tendenzen sich trotz des trostlos anmutenden Endes in Fontanes „Stine“ nachweisen lassen, soll in der vorliegenden Arbeit an ausgewählten Aspekten untersucht werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Was ist Verklärung?
2.1 Der Verklärungs-Begriff
2.2 Fontanes Verklärungskonzept
3 Analyse der verklärenden Tendenzen in Fontanes „Stine“
3.1 Der Erzähler – Eine schwebende Figur
3.2 Die Raumgestaltung – Ein sprechendes Universum
3.3 Intertextuelle Bezüge – Die poetischen Vorfahren
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In seiner Rezension von Iwan Turgenjews „Neuland“[1] kritisiert Theodor Fontane den trostlosen Schluss, der den Selbstmord des Protagonisten schildert: „wie | traurig, wie unbefriedigend! Es fehlt alles Versöhnliche, kaum eine Zukunftsperspektive.“[2] Das kann nur erstaunen, wenn man den Ausgang des Romans „Stine“ vor Augen hat: Nachdem sein Heiratsantrag von der Näherin Stine zurückgewiesen wurde, vergiftet sich der junge Adlige Waldemar; Stine erkrankt an einer vermutlich tödlich verlaufenden Krankheit.
Wie an späterer Stelle noch zu erläutern ist, stellt Fontane an ein dichterisches Werk die Anforderung, dass die Realität zu verklären sei. Doch wie sehr wird seine Verklärungstheorie in „Stine“ wirklich umgesetzt?
Inwieweit verklärende Tendenzen sich trotz des trostlos anmutenden Endes in Fontanes „Stine“ nachweisen lassen, soll in der vorliegenden Arbeit unter der Fragestellung „Prosaischer Realismus oder poetische Verklärung? – Theodor Fontanes ,Stine’ im Lichte seiner Realismustheorie“ an ausgewählten Aspekten untersucht werden.
Nach einer Abgrenzung des Fontane’schen Verklärungs-Begriffes von der allgemeinen Definition soll offen gelegt werden, wie Erzählerfigur, Raumgestaltung und intertextuelle Bezüge des Romans zu einer Verklärung beitragen.
2 Was ist Verklärung?
2.1 Der Verklärungs-Begriff
Den Begriff „Verklärung“ sucht man im Brockhaus[3] vergebens. Nur in der Verbindung „Verklärung Jesu“ ist ein Eintrag zu verzeichnen; und die „religiöse Sphäre“[4] ist es auch, aus der der Begriff stammt.
In den drei synoptischen Evangelien wird berichtet, wie Jesus mit den Aposteln Petrus, Jakobus und Johannes auf einen Berg steigt, auf dem er verwandelt wird: sein Gesicht verändert sein Aussehen, und seine Kleider werden leuchtend weiß. Auch erscheinen die Propheten Mose und Elija. Bald darauf spricht eine Stimme aus einer Wolke und erklärt Jesus zu Gottes „geliebtem Sohn“ (bei Lukas: „auserwähltem“), auf den die Jünger hören sollen. Danach verbietet Jesus den Aposteln, über das Vorgefallene zu sprechen (bei Lukas schweigen sie freiwillig) und kehrt mit ihnen zu den anderen Jüngern zurück.[5]
An dieser Stelle gilt es einige Punkte festzuhalten, die im Zusammenhang mit Fontanes Übertragung des Verklärungs-Begriffes auf die Literatur wichtig erscheinen: Verklärung bedeutet Verwandlung. Deutlicher ist das auch an der lateinischen Entsprechung transfiguratio zu erkennen.[6] Es tritt etwas Transzendentes hinzu, das die irdische Wirklichkeit heller und reiner macht und ihr ein neues Aussehen gibt. Wohlgemerkt findet keine Entrückung ins Jenseits statt; Jesus (als Objekt der Verklärung) kehrt danach in seine bisherige Welt zurück. Dadurch wird klar, dass „Verklärung“ nicht bedeuten kann, der Realität völlig enthoben zu sein.
Eingang in die Literaturtheorie fand der Verklärungs-Begriff mit dem Realismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere durch Fontane, wobei das Phänomen seit 1850 unter verschiedenen Bezeichnungen in der Dichtungstheorie stets präsent war.[7]
In diesem Kontext soll nun Fontanes spezifisches Verständnis von diesem Begriff genauer dargelegt werden.
2.2 Fontanes Verklärungskonzept
In seiner Schrift „Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848“ hebt Fontane den Realismus hervor als das ausschlaggebende Phänomen seiner Zeit, die „des Spekulierens müde“ sei und nach objektiven Erkenntnissen verlange.[8] Dieser Realismus äußert sich seiner Meinung nach nicht nur vor allem in der Kunst, sondern „er ist die Kunst“.[9] Zum künstlerischen Schaffen bedarf es für Fontane zuerst der empirischen Wirklichkeit: Realismus sei „die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst“[10] und umfange daher alles, was wirklich sei. Gleichzeitig deutet sich in der Betonung des „Element[s] der Kunst“, in dem diese Widerspiegelung stattzufinden habe, bereits an, dass er unter Realismus mehr versteht als nur „die bloße Sinnenwelt“ und „das bloß Handgreifliche“.[11] Jenes Mehr ist es, das Fontane mit dem Begriff der „poetischen Verklärung“ zu fassen sucht.
Trotz der großen Bedeutung der Verklärung für Fontanes poetologisches Konzept lässt sich der Begriff anhand von Fontanes spärlichen Aussagen kaum klar bestimmen.[12] Vielmehr weist er verschiedene Schichten auf.
Als kunsttheoretischer Begriff bezeichnet Verklärung zum einen den besonderen Charakter des Kunstwerkes, der es von der Wirklichkeit außerhalb der Kunst unterscheidet.[13] Wolfgang Preisendanz versteht Verklärung in diesem Sinne als „Schreibweise“, die ein Werk zur Kunst erhebt und „den Unterschied zwischen dem vom Leben gestellten Bilde und dem dichterischen Gebilde nicht verwischt, sondern verbürgt“.[14]
Zum anderen bildet die Verklärung eine Art Gegenbegriff zum Hässlichen. Als hässlich und unpoetisch gilt im Realismus generell „ein unangenehmer, […] roher oder grausamer Tatbestand“[15], wie zum Beispiel Krieg, Armut, schlechte Ehe- und Familienverhältnisse, Krankheit oder der Tod. Wenn der Realismus „alles wirkliche Leben“ widerspiegeln soll, so muss er natürlich auch das Hässliche mit einbeziehen. Auch Fontane spricht dem Hässlichen seine Daseinsberechtigung in der Kunst nicht ab. Wogegen er sich aber ganz entschieden wendet, ist eine Kunst, „deren Niedrigkeit im Ueberwiegen des Hässlichen und der Misere deutlich wird“.[16] Das Problem besteht also nicht im Vorhandensein des Hässlichen in der Dichtung, sondern in dessen Überbetonung, dessen überproportionalem Anteil an der dargestellten Welt, der nicht der Wirklichkeit entspricht und das Werk dadurch unglaubwürdig macht.[17] Fontane ist der Meinung, dass es ein Überwiegen des Hässlichen, zum Beispiel in einem Charakter, zwar geben könne, aber die Kunst habe „nicht Ausnahmefälle, sondern Durchschnittscharaktere zu zeichnen“[18], da es die Aufgabe des modernen Romans sei, „ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Widerspiel des Lebens ist, das wir führen“.[19] Hier nähert Fontane sich scheinbar der antiken Poetik an, die das Allgemeine als philosophischer und ernsthafter über das Besondere stellt.[20] Dabei muss aber angemerkt werden, dass er keinesfalls das Besondere „als Repräsentant des ,Allgemeinen’ versteht“[21], sondern lediglich den Stoff für sein Besonderes nicht gerade aus der Peripherie des Vorkommenden schöpfen will.
Wie aus Fontanes Äußerungen ersichtlich wird, wendet er sich also nicht generell gegen die Darstellung des Hässlichen in der Kunst, sondern gegen eine bestimmte Technik der Darstellung; wichtiger als das „Was“ ist ihm das „Wie“: „Realismus ist die künstlerische Wiedergabe (nicht das bloße Abschreiben) des Lebens.“[22] Um nun hässliche Tatbestände insoweit künstlerisch angemessen wiederzugeben, dass der Leser „freudig mitgeht“[23], müssen sie poetisch verklärt werden.
Diese künstlerische Verklärung des Hässlichen kann auf verschiedene Weisen erfolgen. Marie Luise Gansberg versteht die Verklärungstendenz als künstlerisches Ordnungsprinzip, das dem Geschehen einen Sinn gibt und „die Welt ins Rechte rückt, […] und zwar indem [es] ,die gemeine Wirklichkeit’ reinigt und veredelt“.[24] Der einzige Unterschied zwischen dem „erlebten“ und dem „erdichteten Leben“ besteht daher, wie Fontane selbst schreibt, in der stärkeren „Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung“[25] des letzteren. Dies läuft auf das Aufzeigen des menschlich Sinnhaften im scheinbar sinnlosen Weltgeschehen und auf die abschließende Versöhnung, die „Zukunftsperspektive im fiktiven Geschehensablauf“[26], hinaus.
Ferner kann eine Verklärung durch Abschwächung und Euphemisierung erreicht werden, also durch den „vermehrten Gebrauch von dämpfendem, mildem, womöglich schönem und edlem Wortmaterial“.[27] Dieser Strategie nahe stehend sind auch die Vermeidung hässlicher Darstellungen und das lediglich vage Andeuten unschöner Inhalte.[28]
Eine weitere Form der Verklärung ist der Humor, der für Fontane jedoch als künstlerisches Mittel weniger bedeutend ist denn als allgemeine Weltanschauung. Der Dichter, der bei der Ironie, der Spöttelei, der Satire stehen bleibt, ist noch kein guter Humorist im Sinne Fontanes. Wahrer Humor ist für ihn vielmehr durch das heiter-resignierte Darüberstehen, die Distanzierung, die „Heiterkeit trotz allem“, gekennzeichnet und lässt sich mit der Sentenz „Ride si sapis“ zusammenfassen.[29] Durch eben jene Distanz schaffende Heiterkeit kann der Humor versöhnende (und damit verklärende) Wirkung haben.
Bei alledem wird deutlich, dass es bei Fontanes Verklärungskonzept eigentlich um die Vermittlung zwischen zwei Polen – zwischen Wahrheit und Schönheit – geht.
[...]
[1] In dem Roman geht es um einen jungen russischen Studenten und Poeten, der für Freiheit und Gleichheit kämpft. Im Haus der Adelsfamilie, bei der er Hauslehrer ist, lernt er eine junge Frau kennen, die diese Ideale noch energischer vertritt. Sie fliehen, um zu heiraten und ihre Ideen zu verwirklichen. Bald stellt sich jedoch heraus, dass die Bauern, für die sie sich einsetzen, mit Undank reagieren und die Frau sich mehr zu einem Freund des Protagonisten hingezogen fühlt. Daraufhin erschießt er sich.
[2] Fontane, Theodor: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Band 1. Aufsätze und Aufzeichnungen, hrsg. von Jürgen Kolbe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969 (=Werke, Schriften und Briefe. Sämtliche Werke. Abteilung 3, Band 1), S. 519f.
[3] Brockhaus Enzyklopädie. Neunzehnter Band: TRIF–WAL, 17., völlig neubearbeitete Aufl., Wiesbaden: Brockhaus 1974, S. 519.
[4] Preisendanz, Wolfgang: „Voraussetzungen des poetischen Realismus in der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts“, in: Brinkmann, Richard (Hrsg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974 (=Wege der Forschung, Band CCXII), S. 469.
[5] Vgl. Mt 17,1–9; Mk 9,2–10; Lk 9,28–36.
[6] Vgl. Preisendanz, Wolfgang, a.a.O., S. 469.
[7] Greter, Heinz Eugen: Fontanes Poetik, Bern: Lang 1973 (=Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Literatur und Germanistik, Band 85), S. 89.
[8] Vgl. Fontane, Theodor: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Band 1. Aufsätze und Aufzeichnungen, a.a.O., S. 236.
[9] Ebd., S. 238.
[10] Ebd., S. 242.
[11] Ebd.
[12] Vgl. Greter, Heinz Eugen, a.a.O., S. 95.
[13] Vgl. ebd., S. 102.
[14] Preisendanz, Wolfgang, a.a.O., S. 469.
[15] Gansberg, Marie Luise: Der Prosa-Wortschatz des deutschen Realismus unter besonderer Berücksichtigung des vorausgehenden Sprachwandels 1835–1855, Bonn: Bouvier 21966 (=Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Band 27), S. 129.
[16] Greter, Heinz Eugen, a.a.O., S. 91.
[17] Vgl. ebd., S. 91f.
[18] Ebd., S. 92.
[19] Fontane, Theodor: Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes, hrsg. von Hans-Heinrich Reuter, Berlin: Aufbau-Verlag 1969, S. 335, zit. nach: Greter, Heinz Eugen, a.a.O., S. 93.
[20] Vgl. Aristoteles: Poetik, übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1999, S. 29f.
[21] Jung, Wolfgang: Das „Menschliche“ im „Alltäglichen“. Theodor Fontanes Literaturtheorie in ihrer Beziehung zur klassischen Ästhetik und seine Rezeption der Dichtungen Goethes und Schillers, Frankfurt am Main / Bern / New York: Lang 1985 (=Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur), S.50.
[22] Fontane, Theodor: Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes, a.a.O., S. 137, zit. nach: Greter, Heinz Eugen, a.a.O., S. 91f.
[23] Ebd., S. 148, zit. nach: Greter, Heinz Eugen, a.a.O., S. 92.
[24] Gansberg, Marie Luise, a.a.O., S. 127.
[25] Fontane, Theodor: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Band 1. Aufsätze und Aufzeichnungen, a.a.O., S. 569.
[26] Aust, Hugo: Theodor Fontane: „Verklärung“. Eine Untersuchung zum Ideengehalt seiner Werke, Bonn: Bouvier 1974, S. 17.
[27] Gansberg, Marie Luise, a.a.O., S. 129.
[28] Vgl. Greter, Heinz Eugen, a.a.O., S. 100.
[29] Vgl. ebd., S. 102–105.
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