Praxisanleitung in der Pflege. Unterrichtsmaterial zur theoretischen Weiterbildung

Eine Fallsammlung


Masterarbeit, 2018

171 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Literaturrecherche

3. Die Textanalyse als Methode

4. Die Entwicklung des Berufsfeldes Praxisanleitung

5. Grundlagen der fallorientierten Didaktik
5.1 Fallarten und die Typologie von Fallmethoden
5.2 Problemlösungsorientierte Verfahren
5.2.1 Die Fallmethode
5.2.2 Das Einzelfallprojekt
5.3 Hermeneutisch ausgerichtete Verfahren
5.3.1 Der Falldialog
5.3.2 Die Fallarbeit

6. Normative und didaktische Argumentationslinie
6.1 Normative Rahmenbedingungen
6.2 Die Perspektive der Erwachsenenbildung

7. Zuständigkeitsbereich des Praxisanleiters
7.1 Das Aufgabenfeld von Praxisanleitern des Pflegeberufes
7.2 Kompetenzbereiche im Kontext Praxisanleiterweiterbildung

8. Die konstitutiven Elemente einer Lehr-Lern-Situation
8.1 Der systemische Ansatz als Rahmen einer Lehr- Lern- Situation
8.2 Der innere Systemkreis einer Lehr-Lern- Situation
8.2.1 Der Anleitungsanlass
8.2.2 Erleben und Verarbeiten
8.2.3 Interaktionsstrukturen
8.2.4 Der Lernort Praxis und der Lehr-Lern-Prozess

9. Falldidaktik im Kontext Praxisanleiterweiterbildung

10. Konzeption einer Fallsammlung für die Praxisanleiterweiterbildung
10.1 Das Verfahren der Fallerhebung
10.2 Entwicklung der Analysekriterien
10.2.1 Analysekriterien als Grundlage der didaktischen Aufbereitung

11. Eine Fallsammlung für die Weiterbildung zum Praxisanleiter
11.1 Exemplarische Analyse einer dokumentierten Fallbeschreibung
11.1.1 Falldokument 1.0
11.1.2 Fallbezogene Analyse
11.1.3 Analyse didaktischer Potentiale
11.2 Fälle mit problemlösungsorientierter Zielausrichtung
11.2.1 Der Lernwunsch
11.2.2 Ein Zwischenfall
11.2.3 (K)ein guter Tag zum Anleiten
11.2.4 Konkrete Anweisungen
11.3 Fälle mit hermeneutischer Zielausrichtung
11.3.1 Der Lernwunsch (Variante 2)
11.3.2 Das Zimmer
11.3.3 Die Praxisanleiterin

12. Kritische Reflexion des Arbeitsprozesses

13. Für alle Fälle? Potentiale und Grenzen dieser Arbeit

Literaturverzeichnis

Erfahrungsschatz (Anhang)

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abb. 1: Typisierung fallorientierter Verfahren

Abb. 2: Fallvarianten

Abb. 3: Interaktionsstrukturen einer Lehr-Lern-Situation

Abb. 4: Die Phasen eines Lehr-Lern-Prozesses

Tab. 1: Fallbezogene Darstellung möglicher Fallvarianten und geeigneter Aufgabenstellungen

Tab. 2: Potentiale des Falls für einen Einsatz in der Weiterbildung – Themenschwerpunkt Haftungsrecht

Tab. 3 Potentiale des Falls für einen Einsatz in der Weiterbildung – Themenschwerpunkt Lehr-Lern-Prozess

1. Einleitung

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Dozentin der Praxisanleiterweiterbildung beschäftigte ich mich intensiv mit der Frage, wie sich Unterricht für diesen Lehrgang adressatengerecht und handlungsorientiert umsetzen lässt. Um die praktische Begleitung von Auszubildenden des Pflegeberufes übernehmen zu können, bedarf es umfassender berufspädagogischer Kenntnisse und Fertigkeiten, die zuständige Fachkräfte in einem kurzen Zeitraum von 200 Lehrstunden erlangen müssen (vgl. §2 Abs. 2 KrPflAPrV). Dies erfordert einen inhaltlich begründeten Unterricht, der sich an der Wirklichkeit von Praxisanleitern orientiert sowie ein exemplarisches Lernen ermöglicht.

Im Prozess der didaktischen Vorklärung führte ich verschiedene Recherchen durch, um Anregungen für relevante Themenbereiche und methodische Vorgehensweisen zu erhalten. Dabei wurde deutlich, dass keinerlei Literatur vorliegt, die sich an Dozenten der Praxisanleiterweiterbildung richtet oder sich mit der Lehrgangsgestaltung auseinandersetzt. Diese Tatsache scheint insbesondere dann verwunderlich, wenn man sich mit der zentralen Bedeutung von Praxisanleitern im Kontext der pflegerischen Grundausbildung beschäftigt.

Im Zuge demografischer Veränderungen und des Fachkräftemangels steigen die Anforderungen an Pflegekräfte kontinuierlich an (vgl. Kersting 2014: 486f.). Um auch in Zukunft die professionelle Versorgung von pflegebedürftigen Personen gewährleisten zu können, ist eine qualitativ hochwertige Grundausbildung somit unerlässlich. Praxisanleitern kommt dabei eine besonders verantwortungsvolle Rolle zu: Sie sind die Lehrkräfte der Praxis, die mannigfache Aufgaben übernehmen und als Bindeglied zwischen theoretischem und praktischem Lernort fungieren (vgl. Schewior-Popp 2011: 6ff.). Um diese Tätigkeiten adäquat ausführen zu können, benötigen sie neben pflegerischer Fachexpertise auch umfassende pädagogische Fähigkeiten. Die Weiterbildung soll angehende Praxisanleiter befähigen, Auszubildende trotz schwieriger Arbeitsbedingungen individuell, kompetenzorientiert und ganzheitlich zu begleiten. Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, didaktisch-begründetes Unterrichtsmaterial einzusetzen, das durch einen hohen Praxisbezug die Interessen der Teilnehmer aufgreift und der Vorbereitung auf das zukünftige Handlungsfeld dient

Hierfür scheint die Falldidaktik ein geeigneter Ansatz zu sein. Dieses methodisch-variable Vorgehen, welches eine berufsspezifische Situation in den Mittelpunkt von Unterricht stellt, lernte ich während meines Studiums Lehrerin für Pflege und Gesundheit kennen und setzte es punktuell im Rahmen der pflegerischen Grundausbildung ein. Hierbei stellte ich fest, dass die Fallbearbeitung Schüler dazu anregt, sich vermehrt am Unterricht zu beteiligen. Darüber hinaus gestalteten sich fallorientierte Lehrstunden deutlich lebhafter, da die Auszubildenden miteinander in den Diskurs traten und an eigene Erfahrungen anknüpfen konnten. Wenngleich sich die Praxisanleiterweiterbildung in Inhalt und Umfang von der pflegerischen Grundausbildung unterscheidet, so scheint es doch naheliegend, dass sich die positiven Effekte der Falldidaktik auch für andere Zielgruppen und Bildungswege nutzen lassen. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee eine Fallsammlung zu entwickeln, welche sich auf verschiedene Weise in der berufspädagogischen Weiterbildung integrieren lässt. Zu diesem Zweck wird im Kontext der theoretisch-analytischen Auseinandersetzung der Beruf des Praxisanleiters aus didaktischer Perspektive beleuchtet. Hierbei sollen Potentiale herausgestellt werden, welche die Falldidaktik für die berufspädagogische Weiterbildung aufweist und somit erste Anregungen zur Unterrichtsgestaltung geben. Im Anschluss werden in Zusammenarbeit mit Praxisanleitern und Auszubildenden des Pflegeberufs Fälle erhoben, in denen diese ihre Erfahrungen bezüglich herausfordernder Lehr-Lern-Situationen schildern.

Ziel dieser Arbeit ist es, aus verschiedenen Perspektiven einen Einblick in das Feld der Praxisanleitung zu erhalten und auf Basis dieser Erkenntnisse Lehrmaterialien zu konzipieren. Diese sollen jedoch nicht nur eine kompetenzübergreifende Förderung ermöglichen, sondern ebenso einen Beitrag dazu leisten, die Weiterbildung theoriegestützt und adressatenorientiert gestalten zu können. Handlungskompetente Praxisanleiter sind ein zentraler Bestandteil der praktischen Pflegebildung und übernehmen eine Vielzahl verantwortungsvoller Tätigkeiten. Demzufolge sollte auch ihre Schulung, ebenso wie alle weiteren fachspezifischen Bildungsgänge, in der Pflegepädagogik Berücksichtigung finden.

2. Literaturrecherche

In diesem Kapitel wird die Vorgehensweise bei der Literaturrecherche dargestellt.

Ziel dieser Masterthesis ist die Entwicklung didaktischen Materials, welches sich in der theoretischen Weiterbildung von Praxisanleitern einsetzen lässt. Daher fokussierte die erste Recherche Quellen, die sich inhaltlich mit dem Thema Praxisanleitung in der Pflege auseinandersetzen. Die Suche erfolgte überwiegend systematisch und wurde auch während des Schreibprozesses fortgesetzt. Da es sich bei Praxisanleitung um eine fachspezifische Weiterbildung handelt, wurde die Recherche zunächst mittels Livivo durchgeführt. Die dort gewonnen Suchergebnisse wurden im zweiten Schritt mit den Treffern der Datenbanken Pubmed und GBV abgeglichen und gegebenenfalls ergänzt. Folgende Suchbegriffe wurden verwendet und unterschiedlich kombiniert: Pflege; Praxisanleitung; Praxisanleiter; Weiterbildung; praktische Ausbildung; Kompetenzen.

Da Praxisanleiter im Ausbildungsgesetz von 2003 erstmalig als Voraussetzung für die praktische Pflegebildung ausgewiesen sind, wurden Quellen einbezogen, welche nach 2002 erschienen sind. Bei mehrfach verlegten Publikationen wurde – sofern zugänglich – die aktuelle Auflage verwendet. Nicht berücksichtigt wurde Literatur, welche die Praxisanleitung in anderen Ländern thematisiert. Grund für diesen Ausschluss sind maßgebliche Unterschiede hinsichtlich der Ausbildungsgestaltung und des Gesundheitssystems im internationalen Vergleich. Bei Sichtung der ermittelten Literaturquellen sind neben Doppelungen, alle Texte ausgeschlossen worden, welche gezielte Anleitungen zu Pflegetechniken beschreiben, sich auf andere Berufe des Gesundheitswesen beziehen oder sich an Auszubildende der Pflegeberufe richten. Es ist festzustellen, dass wenige Monografien, jedoch zahlreiche Artikel erschienen sind, welche vorwiegend Stellungnahmen oder Anleitungskonzepte beinhalten und daher nur bedingt für diese Arbeit genutzt werden konnten. Aus diesem Grund wurde ergänzend die non-stochastische Suche mittels Google.de und das Schneeballprinzip durchgeführt.

Der zweite Schwerpunkt der Literaturrecherche dient der Darstellung von Inhalten der Falldidaktik. Hierbei handelt es sich um einen Themenbereich, der nicht spezifisch für die Pflegebildung ist, sondern in vielen pädagogischen Kontexten Anwendung findet. Daher wurde zur systematischen Literaturrecherche das Fachportal Pädagogik und der Onlinekatalog der Technischen Universität Dortmund genutzt. Folgende Suchbegriffe wurden sowohl als Schlagworte, als auch zur freien Suche verwendet: Erwachsenenbildung; Berufsbildung; Falldidaktik; Fallorientierte Didaktik; Fallarbeit; Fallmethode; Fallsammlung; Kasuistik.

Da die Schlagwortsuche eine übersichtliche Zahl an Treffer erzielte, erfolgte keine Begrenzung des Suchzeitraums. Jedoch wurde die deutsche Sprache bevorzugt. Quellen, welche sich auf spezifische Schulfächer von Grund- und weiterführenden allgemeinbildendenSchulen oder Hochschuldidaktik beziehen, wurden nicht berücksichtigt. Ebenso wurde Literatur ausgeschlossen, welche Fallsammlungen zu einem bestimmten Thema, vollständige Fallanalysen oder Fallstudien im Forschungskontext beschreiben. Weitere Recherchen mit identischen Suchbegriffen erfolgten in der Datenbank Livivo, um Material mit pflegerischem Fokus berücksichtigen zu können. Trotz der Kombination verschiedener Suchbegriffe konnten insgesamt wenig relevante Quellen ermittelt werden, so dass auf das Schneeballsystem zurückgegriffen wurde. Hierbei erwies sich das Werk Fallorientierte Didaktik in der Pflege als hilfreich (vgl. Hundenborn 2007).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz umfassender Suche keine Literatur gefunden wurde, welche sich mit der didaktischen Gestaltung der Weiterbildung auseinandersetzt. Alle gesichteten Werke richten sich insbesondere an Praxisanleiter, Pflegeeinrichtungen oder Pflegekräfte im Allgemeinen und können daher nur begrenzt genutzt werden. Literatur, welche den Einsatz von fallorientierter Didaktik für die Praxisanleiterweiterbildung beschreibt, wurde mit den oben beschriebenen Recherchevorgängen ebenfalls nicht gefunden. Auch wenn die oben genannten Recherchen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, erscheint eine Auseinandersetzung mit der berufspädagogischen Weiterbildung aus didaktischer Perspektive notwendig, um eine zielführende Lehre gewährleisten zu können.

3. Die Textanalyse als Methode

Um didaktisches Material für die Praxisanleiterweiterbildung entwickeln zu können, bedarf es zunächst der theoretisch-analytischen Auseinandersetzung. Ziel dieses Teils dessenist es ,die Potentiale der fallorientierten Didaktik im Kontext der Praxisanleitung darzustellen, Anregungen zur fallbezogenen Unterrichtsgestaltung zu geben und den zielführenden Einsatz der entwickelten Fallsammlung zu erleichtern.

Die theoretische Erarbeitung erfolgt deduktiv, auf Grundlage der hermeneutischen Textanalyse, da dieses Verfahren der Autorin vertraut ist und sich durch seine klare Struktur und detaillierte Quellenbetrachtung bereits bei vorherigen, theoretischen Arbeiten bewährt hat. Diese Methode ermöglicht das Verstehen und Interpretieren offensichtlicher und implizierter Sinnstrukturen. Vorrausetzungen hierbei sind sowohl konkrete Fragestellungen als auch die Offenlegung des auktorialen Vorverständnisses, da diese Faktoren die anschließende Textinterpretation maßgeblich beeinflussen. Die Hermeneutik geht davon aus, dass durch die Auseinandersetzung mit neuen Quellen dieses Vorwissen erweitert wird und zu einem erweiterten Textverständnis führt. Diese Wechselwirkung wird als hermeneutischer Zirkel bezeichnet und begleitet den gesamten wissenschaftlichen Prozess (vgl. Kron 2011: 208ff.). Für die Textinterpretation werden die methodologischen Regeln nach KLAFKI berücksichtigt (vgl. Rittelmeyer/ Parmentier/ Klafki 2001: 132ff.).

Zu Beginn dieser Arbeit wird eine Gliederung erstellt, welche mit der Klärung des persönlichen Vorverständnisses zu den jeweiligen Oberpunkten einhergeht. Im Anschluss hieran erfolgt die Formulierung von Leitfragen, vor deren Hintergrund die Quellen kritisch analysiert werden und wie folgt gewählt wurden:

- Wie hat sich der Beruf des Praxisanleiters entwickelt?
- Welche Aspekte umfasst die Falldidaktik und wie lassen sich diese Erkenntnisse für die Praxisanleiterweiterbildung nutzen?
- Lässt sich der Einsatz fallorientierter Lehre für diesen Lehrgang theoriegestützt legitimieren?
- Welche Aufgaben übernehmen Praxisanleiter und welche Kompetenzen benötigen sie, um diese Anforderungen erfüllen zu können?
- Aus welchen konstitutiven Elementen besteht eine Lehr-Lern-Situation ?
- Welche Potentiale weisen die unterschiedlichen Verfahren einer fallbezogenen Lehre im Kontext Praxisanleiterweiterbildung aus?

Diese Überlegungen sind jedoch nicht als übergeordnete Forschungsfragen zu verstehen, sondern dienen lediglich der Orientierung.

Im Rahmen der Quellenanalyse werden zunächst einzelne Textteile und formelle Aspekte betrachtet. Des Weiteren werden neben der Quellenart, der Zielgruppe, des Zeitpunktes der Veröffentlichung und gesellschaftlicher Zusammenhänge, ebenso das primäre Interesse des Autors berücksichtigt. Argumentationen werden nachvollzogen und kritisch überprüft. Anschließend erfolgt eine inhaltliche Strukturierung der Literatur und die Extrahierung relevanter Textpassagen. Die Erkenntnisse der unterschiedlichen Quellen werden sowohl untereinander, als auch mit den oben aufgeführten Leitfragen in Bezug gesetzt, um textübergreifende Zusammenhänge darstellen zu können. Die Zitation relevanter Literatur erfolgt in dieser Thesis nach der Harvard-Methode1 (vgl. Bahr/ Frackmann 2011).

Die theoretische-analytische Auseinandersetzung hat verschiedene Schwerpunkte. Zuerst erfolgt eine Standortbestimmung der Praxisanleiterweiterbildung und die Darstellung allgemeiner Kriterien der fallorientierten Didaktik, um dem Leser notwendige Hintergrundinformationen zu geben, die zur Verständlichkeit der weiteren Ausführungen beitragen sollen. Um den Einsatz von falldidaktischem Material für die Praxisanleiterweiterbildung legitimieren zu können, werden sowohl normative als auch pädagogische Vorgaben zur Lehrgangsgestaltung analysiert. Darüber hinaus wird der Zuständigkeitsbereich von Praxisanleitern skizziert und die Kompetenzbereiche beleuchtet, welche im Rahmen der Schulung gefördert werden müssen. Diese Ausführungen sollen einen Einblick in die Wirklichkeit von Praxisanleitern geben und bei der didaktischen Analyse der erhobenen Praxisfälle eingebunden werden. Da die Falldidaktik ein berufsspezifisches Situationsverständis bedarf, werden im weiteren Verlauf konstitutive Merkmale einer Lehr-Lern-Situation erarbeitet, welche ebenfalls im Rahmen der Fallinterpretation Anwendung finden. Als Grundlage hierfür dient der systemische Ansatz von HUNDENBORN/ KREIENBAUM/ KNIGGE-DEMAL (vgl. Hundenborn 2007: 42ff.).

Die Erkenntnisse, die mittels der theoretisch-analytischen Auseinandersetzung gewonnen werden, stellen das Fundament für die Entwicklung des fallbezogenen Lehrmaterials dar. Zum einen geben sie allgemeine Informationen bezüglich des Berufsfeld Praxisanleitung. Zum anderen legen sie Kriterien offen, unter denen die entwickelten Fälle betrachtet werden können. Darüber hinaus dienen die nachfolgenden Ausführungen der Skizzierung falldidaktischer Potentiale für die berufspädagogische Weiterbildung und geben Anregungen für die Anwendung der beigefügten Fallsammlung.

Zur Prüfung auf sprachliche Verständlichkeit und Korrektur grammatikalischer Fehler wird diese Arbeit von einer Person gegengelesen und gegebenenfalls mit Anmerkungen versehen. Textänderungen erfolgen nur durch den Autor.

Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit die männliche Sprachform verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen implizieren gleichermaßen beide Geschlechter. Die Begrifflichkeit Gesundheits- und Krankenpflege meint, ebenfalls die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege. Die Bezeichnung Pflegeberuf umfasst alle drei pflegerischen Kernberufe und somit auch zusätzlich die Altenpflege. Die Darstellung landesrechtlicher Vorgaben bezieht sich in dieser Arbeit auf Nordrhein-Westfalen.

4. Die Entwicklung des Berufsfeldes Praxisanleitung

Der Bezeichnung des Praxisanleiters ist insbesondere in Ausbildungsberufen des Gesundheitswesens zu finden. Sie Der Begriffbeschreibt eine Person, die jemanden das Ausführen einer bestimmten Handlung lehrt beibringt eine Handlung auszuführen. Unter einer Praxisanleitung wird somit eine Einweisung in die berufliche Praxis, durch speziell ausgebildetes Personal, verstanden (vgl. Wied/ Warmbrunn (Hg.) 2012: 666). Ziel dieser Anleitungist jedoch hierbeinicht die Vermittlung einer Handlung einzelnen Fertigkeit, sondern die Gestaltung eines ganzheitlichen Lernprozesses, der Menschen an pflegerische Tätigkeiten heranführt (vgl. Körner 2013: 14f.). Im Gegensatz zu anderen Berufsausbildungen war die praktische Begleitung von Auszubildenden des Pflegeberufes lange Zeit nicht gesetzlich vorgeschrieben (vgl. Mamerow 2016: 7). Bis 2003 implizierte eine abgeschlossene Pflegeausbildung automatisch das Recht, Lernende praktisch anzuleiten. Eine pädagogische Zusatzqualifikation oder fundierte Berufserfahrungen waren nicht notwendig. Auch gab es keine rechtlichen Vorgaben zur Umsetzung der praktischen Ausbildung (vgl. Mensdorf 2014: 17). In dieser Konsequenz erfolgte die Begleitung von Auszubildenden unstrukturiert und ohne didaktischen Hintergrund. Neben der mangelnden Kooperation zwischen Schulen und Praxisstätten gab es kaum bewusst initiierte Lernsituationen. Schüler wurden insbesondere für Hilfsarbeiten eingesetzt und dienten der Aufrechterhaltung des Stationsablaufes. Da dies zu erheblicher Kritik an der Umsetzung des Theorie-Praxis-Transfers führte, wurden bald erste Überlegungen getroffen, Pflegekräfte berufspädagogisch weiterzubilden (vgl. Körner 2013: 16). Bereits in den 1970er-Jahre entwickelte der Deutsche Verband für Pflegeberufe (DBfK) diesbezüglich Qualifizierungsmaßnahmen, welche nach der Wiedervereinigung in ganz Deutschland aufgegriffen wurde. Dennoch lief die wurdenPraxisanleitung enhäufig nebenbei durchgeführt, da keinerlei gesetzliche Vorgaben vorhanden waren. Auch der Vorstand der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) forderte 1992 in einem Positionspapier Qualifizierungsmaßnahmen für Personen, welche die praktische Ausbildung begleiten (vgl. Quernheim 2017: 76ff.). Als Berufsbezeichnung wurde der Begriff Mentor vorgeschlagen. Diese Mentoren sollten zwar weiterhin in den Stationsablauf integriert sein, darüber hinaus jedoch aauch zusätzlichSchüleranleitungen durchführen. Weiterhin wurde ein Personalschlüssel von 1:10 und acht Anleitstunden pro Woche empfohlen, was jedoch selten Umsetzung in Pflegeeinrichtungen fand wurde jedoch selten von den Pflegeinrichtungen umgesetzt(vgl. Quernheim 2017: 82f.).

Im Jahr 1996 wurde dann in Hessen in Hessen schlussendlichdie Berufsbezeichnung Praxisanleiter eingeführt und mittels einer Weiterbildungsrichtlinie geschützt. Für die theoretische Zusatzqualifikation wurden 460 Stunden veranschlagt, konkrete Aufgabenbereiche ausgewiesen und Inhalte der theoretischen Weiterbildung formuliert. Die Richtlinie wurde jedoch nicht bundeseinheitlich übernommen, so dass sich diese Überlegungen ebenfalls nicht durchsetzen konnten (vgl. Mamerow 2016: 9).

Erst mit Einführung der aktuellen Gesetze für die pflegerischen Kernberufe (2003/2004) wurde die Übernahme der Anleitung durch entsprechend geschulter Fachkräfte bundeseinheitlich und verpflichtend eingeführt (vgl. ebd.: 7). Den Gesetzen ist keine Angabe hinsichtlich dem Verhältnis von Schüler zu Praxisanleitern zu entnehmen. Es wird lediglich gefordert, dass ein angemessenes Verhältnis hinsichtlich der eingesetzten Auszubildenden herrschen soll Diesenormative Regelung stellte einen Fortschritt dar , blieb jedoch aufgrundder undifferenzierten Tätigkeitszuweisung hinter den Forderungen der Berufsverbände zurück(vgl. §2 Abs. 2 KrPflAPrV; §2 Abs. 1 AltPflAPrV ebd. ).Bis heute hat ). Auch eine Freistellung von anderen pflegerischen Tätigkeiten wird nicht erwähnt. Dies hat zur Folge, dass Pflegeeinrichtungen, die an der Lehre von Pflegekräften beteiligt sind, mind e stens einen Praxisanleiter nachweisen müssen, jedoch nicht verpflichtend sind, diese hinsichtlich des Stationsablaufes zu entlasten oder mehrere Fachkräfte einer Station für diese Aufgabe zu qualifizieren.d ies zur Folge, dass Pflegekräftezwar berufspädagogisch ausgebildet werden, jedoch weiterhin in unk laren Strukturen arbeiten. Demnach sind in manchen Institutionen zentrale Praxisanleiter für die praktische Ausbildung freigestellt , in anderen Pflegeeinrichtungenwiederum erfolgen Anleitungen weiterhin parallel zur pflegerischen Tätigkeit . Seit einigen Jahren steigt zwar die Anzahl hauptamtlicher Praxisanleiter, in vielen Pflegeeinrichtungen sind berufspädagogische Fachkräfte jedoch weiterhin in den Stationsalltag integriert. Dies hat zur Folge das trotzSchlussfolgernd herrscht trotzgesetzlicher Vorgaben zur praktischen Ausbildung von Pflegesch ülernein Mangel an Praxisanleitern und zeitlichen Freiräumen für Anleitsituationen vorherrscht gezielte Anleitungen(vgl. Quernheim 2017: 76f.). Auch die demografische n Entwicklungen, die mit einem gesteigerten Bedarf an pflegerischer Versorgung einhergehen, wirken sich auf das Handlungsfeld der Praxisanleiter aus. Durch d as erhöhte Arbeitsaufkommen und den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen steigen die Anforderungen an Pflegepersonen kontinuierlich underschweren die gezielte Anleitung von Pflegeschülern. Damit Praxisanleitertrotz diese n Arbeitsbedingungenihre Aufgaben wahrnehmen können , müssen sie neben pflegeri scher Handlungskompetenz , auch umfassende pädagogische Kenntnisse vorweisen (vgl. Schulte 2017: 12ff. ). Vor diesem Hintergrund wi rd fortlaufend eine Ausweitung der Praxisanleiterweiterbildung diskutiert und die Verbe sserung der Arbeitsbedingungen von zuständigen Fachkräften gefordert (vgl. Quernhe im 2017: 78; 82 ; vgl. D Bf K 2014: 1ff. ). Mit dem neuen Pflegeberufegesetz , welches 2020 in Kraft tritt,wird der zeitliche Rahmen der Praxisanleiterweiterbildungauf 300 Stunden erhöhtund eine jährliche Fortbildung von 24 Stunden verpflichtend vorgeschrieben. Weiterhin müssen 10% der praktischen Ausbildung in Form von Anleitungen durchgeführt werden (vgl. BMFSFJ 2018: 9f.). E ine normative Vorgabe hinsi chtlich Aufgabenverteilung, Personalschlüssel oder Freistellung für Anleit situationen istdagegen nicht zu erwarten (vgl.Quernheim 2017 : 78; vgl. Mamerow: 49f. ).

Abschließend kann gesagt werden, dass es sich Zusammenfassend ist festzustellen, dassb ei der es sich bei derZusatzqualifikation zum Praxisanleiter um eine junge Weiterbildunghandelt , deren Bedeutung für eine erfolgreiche Ausbildung von Pflegeschülern un um stritten ist . Dennoch findet diese Berufsgruppe im Kontext berufspolitischer Überlegungen wenig Berücksichtigung . Im Vergleich zu anderen Fachweiterbildungen erscheint der Bereich der Praxisanleitung wenig ausgearbeitet. Diesspiegelt sich auch in der Literaturrecherche wieder, bei der keinerlei Lehrmaterialien ermittelt werden konnten . n jungen beruflichen Schwerpunkt handelt.Aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Verpflichtung, ausgewählte Fachkräfte berufspädagogisch weiterzubilden, besteht jedoch Bedarf an didaktischen Quellen, die zur qualitativ-hochwertigen Schulung von Praxisanleitern genutzt werden können. Dozenten der Weiterbildung sind gefordert, einen pädagogisch-begründeten Unterricht zu planen, der die Wirklichkeit von Praxisanleitern aufgreift und sie befähigt, trotz häufig ungünstiger Rahmenbedingungen, die umfassende Betreuung von Pflegeschülern professionell zu gestalten. Unter Berücksichtigung der geringen Laufzeit der Weiterbildung von 200 Stunden ist didaktische Reduktion und exemplarisches Lehren unerlässlich. Aufgrund ihres hohen Praxisbezugs und der Orientierung an realen Situationen erscheint daher die Falldidaktik, welche in den verschiedenen Bildungszweigen des Gesundheitswesens großen Zuspruch findet, auch für die Praxisanleiterweiterbildung ein zielführender Ansatz zu sein. Daher werden nachfolgend die zentralen Elemente dieses didaktischen Prinzips vorgestellt.

5. Grundlagen der fallorientierten Didaktik

Die Arbeit mit Fällen ist in verschiedenen Fachdisziplinen wie Jura, Theologie und Medizin seit vielen Jahrhunderten etabliert. Im Kontext Pädagogik hat der Einsatz von Fallbeispielen erst in den letzten Jahren, insbesondere in der Lehrerbildung, an Bedeutung gewonnen und wird immer häufiger zu universitären Lehrzwecken eingesetzt (vgl. Steiner 2004: 10). Auch in der Grundausbildung der pflegerischen Kernberufe findet dieses Verfahren, aufgrund der engen Verknüpfung von Praxis und Theorie, großen Zuspruch (vgl. Dieterich/ Reiber 2014: 21). Trotz der Popularität herrscht in der pädagogischen Literatur keine Einigkeit darüber, wie die Falldidaktik zu definieren ist. Dies spiegelt sich auch in der Vielzahl von Termini wider. Es wird unter anderem von Fallbeispiel, Fallarbeit, Fallmethode, Fallgeschichten und Fallstudien gesprochen, die jedoch nicht immer synonym verstanden werden können (vgl. Hundenborn 2007: 35). Auch die Begriffe Kasuistik oder kasuistischen Vorgehen werden in diesem Zusammenhang verwendet (vgl. Steiner 2004: 10). So existieren sowohl unterschiedliche Bezeichnungen, die den gleichen Sachverhalt meinen, als auch identische Begriffe, die für unterschiedliche Methoden verwendet werden. Die Fallstudie beispielsweise kann zum einen verschiedene didaktische Verfahren beschreiben und zum anderen einen Forschungsansatz darstellen (vgl. ebd.). Durch diese Begriffsvielfalt wird Lehrkräften eine gezielte Auswahl geeigneter Literatur und Methodik für fallorientierten Unterricht erschwert (vgl. Hundenborn 2007: 35). Unabhängig von der Terminologie lässt sich jedoch zusammenfassen, dass alle Verfahren, die der Falldidaktik zugeordnet werden, die Bearbeitung eines Falls in das Zentrum des Unterrichtsgeschehens setzen (vgl. Steiner 2004: 10). Um diese Methoden jedoch nutzen zu können, muss geklärt werden, was unter einem Fall im Detail zu verstehen ist. Das Wort entstammt dem lateinischen Begriff casus und wird je nach Fachdisziplin unterschiedlich ausgelegt. Aus pädagogischer Perspektive versteht man darunter in der Regel „(…) das Besondere eines Allgemeinen (…)“ (Steiner 2004: 14).

STEINER definiert einen Fall unter anderem folgendermaßen:

Ein Fall ist ein Ereignis oder ein Ereigniskomplex mit interagierenden Personen in einem imaginiertem oder real abgegrenzten Raum-Zeit-Gefüge, wobei aber diese Begebenheit aus einem Ereignisstrom nur dann zum >> Fall<< wird, wenn sie für mindestens ein erkennendes Subjekt ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückt (2014: 8).

Dieser Beschreibung nach sind Fälle reale oder konstruierte Begebenheiten, die sich aus mehreren Ereignissen und Gedanken zusammensetzen, so dass sie in ihrer Dimension einem Prozess gleichen. Es ist zu betonen, dass eine Situation erst dann zu einem Fall wird, wenn sich ein Mensch des Ereignisses bewusstwird, darüber nachdenkt oder es verbalisiert (vgl. ebd.).

Auch die Didaktik ist ein Begriff, der unterschiedlich ausgelegt werden kann. Sein Ursprung liegt im griechischen Sprachraum und meint die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Lernen und Lehren. Die Didaktik gilt als Teildisziplin der Pädagogik und befasst sich sowohl mit Rahmenbedingungen, personellen Einflüssen, Begründungszusammenhängen als auch mit der Gestaltung, Durchführung und Evaluation von Unterricht (vgl. Arnold et al. 2001: 85).

In Konklusion kann die fallorientierte Didaktik (auch Falldidaktik) als Sammelbezeichnung für das Lernen und die Lehre an einer konkreten Situation verstanden werden (vgl. Dietrich/ Reiber 2014: 22).

Ihr übergeordnetes Ziel besteht darin, eine als besonders gekennzeichnete Situation besser zu verstehen, aus ihr zu lernen und dieses Wissen bei ähnlichen Erlebnissen nutzen zu können (vgl. Steiner 2004: 43). Durch fallorientierten Unterricht können berufsrelevante Ereignisse aufgegriffen, bearbeitet und reflektiert werden, so dass neben Handlungskompetenzen auch die berufliche Identitätsbildung gefördert wird. Dabei sind Erfahrungen, Vorwissen und Kompetenzen der Personen, die sich mit dem Fall auseinandersetzen, von großer Bedeutung (vgl. ebd.; vgl. Hundenborn 2007: 27f). Im Kontext Falldidaktik lassen sich zu diesem Zweck verschiedene Situationstypen und fallbezogenen Verfahren einsetzen, die nachfolgend erläutert werden.

5.1 Fallarten und die Typologie von Fallmethoden

Wie bereits erwähnt, gibt es sowohl für den Fallbegriff als auch für die fallorientierten Methoden verschiedene Bezeichnungen. Im pädagogischen Kontext wird ein Fall als konkrete Situation verstanden, die von einem Individuum als besonders wahrgenommen wird oder etwas Unbekanntes beinhaltet, das beim Subjekt für Irritation sorgt (vgl. Steiner 2014: 245). Dieses einzelne Erlebnis steht immer in einer Beziehung zum Allgemeinen, so dass jeder Fall z war situativ einzigartig ist, jedoch in unterschiedlicher Weise auf einen allgemeinen Sachverhalt, wie beispielsweise eine Norm, hinweist. Gleichzeitig benötigen Lernende gängiges Allgemeinwissen, um einen Fall bearbeiten zu können (vgl. Steiner 2004: 14).

Wenngleich diese Aspekte auf jeden Fall zutreffen, der zu pädagogischen Zwecken eingesetzt wird, kann die Wechselbeziehung zwischen allgemeinen und situativen Sachverhalten unterschiedlich sein. STEINER hat daher eine Klassifizierung vorgenommen, nach der sich fünf verschiedene Fallarten bestimmen lassen:

Der Störfall hat seinen Ursprung insbesondere in der Rechtswissenschaft und Medizin. Er beinhaltet ein Ereignis, dass von einer allgemeinen Normvorstellung abweicht oder diese in beliebiger Art und Weise beeinflusst. Der Grund für die Bearbeitung einer solchen Situation liegt hierbei in der Abweichung von gewohnten Strukturen (vgl. Steiner 2004: 23). Personen, die in einem Störfall handeln, streben die Anpassung an das Allgemeine – die Norm – an (vgl. Hundenborn 2007: 36).

Als Exemplum ist eine Situation zu bezeichnen, die für einen allgemeinen Sachverhalt steht. Hiermit ist nicht ausschließlich die Abweichung von der Regel gemeint, sondern ein Geschehen, das in seiner Struktur immer Elemente des Generellen enthält und somit als Beispiel für bestimmte Gesetzmäßigkeiten dienen kann (vgl. Steiner 2004: 24ff.).

Der Fall als Problem meint das Handeln in berufspraktischen Situationen, welche mit vorhandenem Wissen und bestehenden Fertigkeiten nicht zu bewältigen sind. Er erfordert eine neue Problemlösung, die bei erfolgreichem Einsatz auf weitere Ereignisse übertragen werden kann und somit zu einer Erweiterung des allgemeinen Wissens führt (vgl. Steiner 2004: 44).

Situationen, die bereits eine allgemeingültige Problemlösung offerieren, werden als paradigmatische Fälle bezeichnet. Sie stellen eine Musterhandlung dar und dienen insbesondere Berufsanfängern als Vorbild. Anhand einer solchen gelösten Problemsituation besteht die Option, neue Erlebnisse auf Ähnlichkeiten zu überprüfen und Handlungen gegebenenfalls zu übernehmen (vgl. ebd.: 32ff.).

Die letzte von STEINER (2004) beschriebene Fallart ist das Narrativ oder auch die Fallgeschichte, welche sowohl wichtige Erlebnisse als auch Gefühle und Erfahrungen umfasst, die anderen Personen als Erkenntnisquelle dienen. Hier werden mehrere Ereignisse beschrieben, die sich in ihrer Abfolge auch über einen größeren Zeitraum erstrecken können und insgesamt mehr subjektive Elemente als Fakten und Normen aufweisen (vgl. Hundenborn 2007: 38).

Alle oben aufgeführten Falltypen können sowohl auf realen Begebenheiten beruhen als auch fiktiv zu Lehrzwecken erstellt sein und mit unterschiedlichen methodischen Varianten bearbeitet werden. Welche Fallart und welche Methode gewählt werden, steht in Abhängigkeit zum jeweils angestrebten Lernziel. Hier werden zwei übergeordnete Perspektiven unterschieden: Zum einen gibt es Verfahren, die sich mit der Bearbeitung schwieriger Geschehnisse befassen und mit deren Hilfe die Problemlösung und Entscheidungsfindung trainiert werden sollen. Hierzu bedarf es offen gestalteter Situationsbeschreibungen, die vom Lernenden in Form von Handlungsvorschlägen beendet werden müssen (vgl. Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 16ff.). Zum anderen können hermeneutische Fähigkeiten gefördert werden. Anhand von Fällen, die abgeschlossene Geschehnisse beschreiben und eine getroffene Entscheidung skizzieren, werden unterschiedliche Sichtweisen eingenommen, eingehend betrachtet und Verhaltensweisen interpretiert. Dies trägt insbesondere zu einem vertieften Situationsverständnis bei und fördert die Fähigkeit, variierende Perspektiven einzunehmen (vgl. ebd.). Somit lässt sich die Vielzahl an fallbezogenen Methoden zunächst in hermeneutisch und problemlösungsorientierte Verfahren unterteilen (vgl. Steiner zit. nach Hundenborn 2007: 38f.).

Eine weitere Differenzierung lässt sich vor dem Hintergrund der Fallbeteiligung vornehmen. Zunächst kann eine Situation von einem, mehreren oder allen Lernenden einer Gruppe erlebt worden sein. Hier sind die Fallträger nicht nur außenstehende Beobachter, sondern gleichzeitig auch direkte Akteure. Dies bietet den Vorteil, dass es sich bei den eingebrachten Erlebnissen immer um eine reale Begebenheit handelt, zu der im Unterrichtsverlauf Rückfragen gestellt werden können. Des Weiteren wird durch die gemeinschaftliche Auseinandersetzung das eigene situative Handeln reflektiert und somit die personale Kompetenz geschult. Diese Fälle werden in der Regel jedoch mündlich vorgetragen und können daher nur in der jeweiligen Lerngruppe verwendet werden (vgl. Steiner zit. nach Hundenborn 2007: 39f.).

Sind die Lernenden nicht am Geschehen beteiligt, sondern wird die Situation vom Lehrer zu Unterrichtszwecken ausgewählt und gegebenenfalls bearbeitet, bezeichnet man diesen als didaktischen Fall oder auch Papierfall. Dieser wird mit unterschiedlichen Medien, wie beispielsweise Text oder Hörspiel, dokumentiert und ist somit für verschiedene Unterrichtsstunden und Lerngruppen beliebig oft einsetzbar (vgl. ebd.).

Unter Berücksichtigung der Zielausrichtung und Beteiligung der fallbearbeitenden Personen lassen sich vier fallbezogene Verfahren identifizieren: Die Fallmethode, der Falldialog, das Einzelfallprojekt sowie die Fallarbeit. Trotz unterschiedlicher Förderungspunkte eignen sich diese gleichermaßen zum Erwerb von Handlungskompetenzen (vgl. Steiner 2004: 172ff.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Typisierung fallorientierter Verfahren (Darstellung angelehnt an HUNDENBORN 2007: 40).

Die in Abb. 1 dargestellten Falltypen sind jedoch nicht als eigenständige Methoden zu verstehen. Vielmehr strukturieren sie die zahlreichen fallbezogenen Vorgehensweisen und bieten somit eine erste Orientierung bei didaktischen Überlegungen. Die verschiedenen Kategorien, welche eine Einteilung von Methoden nach Intention und Teilnahme der Lernenden ermöglicht, ergeben ein idealtypisches Raster, welches Mischvarianten grundsätzlich nicht ausschließt (vgl. Steiner 2004: 173). Da jeder der vier Falltypen aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften unterschiedliche Potentiale für einen adressatengerechten, praxisorientierten Unterricht aufweist, werden diese in den folgenden Abschnitten hinsichtlich ihrer zentralen Bestandteile erläutert. Hinsichtlich des begrenzten Umfangs dieser Arbeit wird auf eine detaillierte Darstellung methodischer Umsetzung verzichtet.

5.2 Problemlösungsorientierte Verfahren

Im Mittelpunkt problemlösungsorientierter Verfahren steht eine Situation, die beim Individuum Irritation und Verwunderung auslöst und nicht intuitiv bewältigt werden kann. Dieses Geschehen wird als Problem bezeichnet und steht in direkter Abhängigkeit zu den jeweiligen Akteuren, da Geschehnisse erst dann als Herausforderung wahrgenommen werden, wenn die Vorerfahrungen und Fähigkeiten eines Subjekts nicht zur Problemlösung ausreichen (vgl. Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 8ff.) Herausfordernde Ereignisse sind fester Bestandteil des menschlichen Lebens und treten insbesondere in bildungsspezifischen Kontexten auf, in denen notwendige Kompetenzen erst erworben werden müssen. Die Schwierigkeit bei der Bewältigung von beruflichen Herausforderungen lässt sich auf die Individualität von Situationen zurückführen. Durch ihre einzigartigen, zufallsbedingten Komponenten entsteht eine Differenz zwischen bereits bekannten Handlungsmöglichkeiten und neu aufgetretener Problematik (vgl. Dieterich/Reiber 2014: 25). Das Geschehen kann somit nicht ohne weitere Überlegungen abgeschlossen werden, sondern bedarf eines Problemlösungsprozesses. Dieser setzt sich aus Situationsanalyse, Zielbestimmung, Strategieentwicklung, Lösungsversuch und Evaluation zusammen und muss insbesondere von Novizen im Unterricht eingeübt werden (vgl. Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 11). Hierfür eignen sich unter anderem zwei Falltypen, die STEINER als Fallmethode und Einzelfallprojekt bezeichnet. Diese werden nachfolgend vorgestellt (vgl. Steiner 2004: 172ff.).

5.2.1 Die Fallmethode

Unter der Kategorie Fallmethode versteht STEINER (2004) fallorientierte Verfahren, die eine Förderung problemlösender Kompetenzen anstreben. Fälle, die hier eingesetzt werden, wurden von den Schülern nicht aktiv miterlebt, sondern vom Dozenten zum Erreichen eines spezifischen Lernziels bewusst ausgewählt. Demzufolge müssen sie nicht zwingend auf realen Begebenheiten beruhen, sondern können auch konstruierter Natur sein. Ungeachtet ihres Ursprungs steht im Zentrum der Fallbearbeitung eine Situation, welche von Lernenden, aufgrund fehlender Teilnahme am Geschehen, objektiv betrachtet werden kann (vgl. Hundenborn 2007: 56). Dieser Fall liegt in der Regel in dokumentierter Form vor und muss bestimmte Kriterien erfüllen, um für Lehrzwecke geeignet zu sein. So verweisen MUSTER-WÄBS/ RUPPEL/ SCHNEIDER auf die Ausführungen von REETZ, der folgende Bedingungen formuliert:

1. Situative Repräsentation: Der Fall spiegelt einen relevanten Wirklichkeitsausschnitt wider, welcher für die Lernenden von Bedeutung ist.
2. Wissenschaftliche Repräsentation: Der Fall beinhaltet allgemeingültige Elemente und lässt sich unter Bezugnahme wissenschaftlicher Erkenntnisse bearbeiten.
3. Bedeutsamkeit: Der Fall hat für die Lernenden eine subjektive Bedeutung und spricht sie in ihren persönlichen Interessen an.
4. Fasslichkeit: Der Fall entspricht dem Kenntnisstand der Lernenden und regt in seiner sprachlichen Gestaltung zur Bearbeitung an (vgl. REETZ 1988 in: Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 25).

Können Dozenten nicht auf fertige Fallschilderungen zurückgreifen, sondern setzen eigene Erlebnisse, Geschichten, Biografien oder Interviews ein, bedarf es zunächst einer gründlichen didaktischen Aufbereitung. Ausgewählte Texte müssen neben einer geeigneten Erzählperspektive und sprachlicher Einfachheit so aufgebaut sein, dass sie von den Lernenden verstanden werden können, die Lösung jedoch nicht direkt erkennbar ist (vgl. Hundenborn 2007: 57f.).

Wenngleich die oben genannten Kriterien eines geeigneten Falls obligat sind, kann der jeweilige inhaltliche Schwerpunkt einer Situation unterschiedliche Phasen des Problemlösungsprozesses aufweisen. Je nach Fallvariante sind Lernende aufgefordert, Probleme zu identifizieren, deren Entstehung zu hinterfragen, Ziele zu setzen oder Lösungen zu entwickeln. Weiterhin kann an einem lückenhaften Fall das Beschaffen fehlender Information eingeübt werden. Ein augenscheinlich abgeschlossener Fall wiederum eignet sich zur Bewertung getroffener Entscheidungen und Handlungen (vgl. Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 51). Welche Aufgabe an die Lernenden gestellt wird, ist demnach abhängig von der Beschaffenheit einer Situationsschilderung. Unter anderem hat HUNDENBORN auf Grundlage der Ausführungen von KAISER (1985), KOSIOL (1969) und PANKRATZ (1987) eine Matrix erstellt, welche verschiede Fallvarianten nach Fallaufbau und Aufgabenstellung systematisiert (vgl. Hundenborn 2007: 72).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Fallvarianten (leicht modifiziert nach Hundenborn 2007: 72; unter Bezugnahme von Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 23).

Je nach Erfahrung des Dozenten und der jeweiligen Lerngruppe kann eine einzelne Situation mehrere Ansatzpunkte aufweisen oder auch über eine gesamte Lernreihen ausgebaut werden (vgl. Hundenborn 2007: 68). Die oben dargestellte Tabelle eignet sich demzufolge nicht nur zur inhaltlichen Analyse eines Textes, sondern auch um seine didaktischen Potentiale zu identifizieren.

Wie bereits erwähnt, sind der Fallmethode verschiedene didaktische Vorgehen zuzuordnen, die sich je nach Fallvariante besonders eignen. Ein etabliertes Verfahren zur Förderung problemlösender Kompetenzen ist beispielsweise der Siebensprung nach WEBER (2004). Dieser setzt sich – gemäß seiner Bezeichnung – aus sieben Schritten zusammen und unterteilt den fallbezogenen Lernprozess sowohl durch gezielte Aufgabenstellung als auch variierende Teillernziele (vgl. Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 45ff.). Auch die Fallstudie nach KAISER (1983) besteht aus mehreren Phasen und bietet unterschiedliche Ansätze zur gezielten Fallbearbeitung (vgl. ebd.: 50ff.).

Mit welchen Mikromethoden und Sozialformen die einzelnen Bearbeitungsschritte durchgeführt werden, kann vom Dozenten bestimmt werden. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass im Kontext Fallmethode die Bearbeitung in Kleingruppen als besonders effektiv erachtet wird. Die Schüler bekommen hierdurch die Möglichkeit, Lernprozesse eigenverantwortlich zu organisieren und strukturieren. Darüber hinaus können sozial-kommunikative Fähigkeiten wie Kompromissbereitschaft und Diskursfähigkeit gefördert werden. Dozenten übernehmen bei diesem methodischen Vorgehen eine überwiegend begleitende Funktion (vgl. Hundenborn 2007: 87).

In Konklusion kann gesagt werden, dass Schülern mithilfe der Fallmethode ein Erproben problemlösender Fertigkeiten innerhalb eines geschützten Raumes ermöglicht wird (vgl. Dieterich/ Reiber 2014: 26f.). Hierbei profitieren sie von den Erfahrungen anderer Personen und können anhand der objektiven Auseinandersetzung Entscheidungsprozesse analysieren, eigene Handlungsmöglichkeiten entwickeln und sich innerhalb der Lerngruppe austauschen. Ein Nachteil dieser Verfahren liegt in der mangelnden Beteiligung der Lernenden am Geschehen. Dies hat zur Folge das Lösungsansätze zwar theoretisch ermittelt, jedoch in dieser Situation nicht mehr praktisch umgesetzt werden. Das Geschehen wird durch gefundene Lösungswege somit nicht verändert. Um auch die Phase der Durchführung als Teil des Problemlösungsprozesses einüben zu können, bedarf es realer und aktueller Geschehnisse, an denen die Schüler direkt beteiligt sind und bei denen sie aktiv in die Situation eingreifen können.

5.2.2 Das Einzelfallprojekt

Der zweite von STEINER bestimmte Falltypus mit der Intention Problemlösungskompetenzen zu fördern, wird als Einzelfallprojekt bezeichnet (vgl. Steiner 2004: 207). Auch bei diesem Verfahren steht eine Situation, die mit vorhandenen Erfahrungen nicht automatisch bewältigt werden kann, im Mittelpunkt des Lernprozesses. Anders als bei der Fallmethode sind die Lernenden hier jedoch Teil des Geschehens (vgl. ebd.). Sie übernehmen nicht den Part des objektiven Betrachters, sondern sind Akteure, die durch ihre Intervention eine Situation direkt beeinflussen. Im Fokus des Fallgeschehens steht dabei ein reales Problem, welches der Durchführung eines Problemlösungsprozesses bedarf. Eine konkrete Vorauswahl oder didaktische Bearbeitung seitens des Dozenten ist daher oft nicht möglich. Die Fallbearbeitung unterliegt somit Zufallsfaktoren und erhält einen experimentellen Charakter (vgl. ebd.: 209).

Die Situation wird beim Einzelfallprojekt nicht objektiv und rückblickend analysiert, sondern unmittelbar bearbeitet. Zu diesem Zweck werden abwechselnd sowohl Handlungen ausgeführt als auch reflexiv betrachtet (vgl. Hundenborn 2007: 90). Dieses Verfahren ermöglicht Schülern die Erprobung eines ganzheitlichen Problemlösungsprozesses in realen Kontexten, der einen Fall durch aktives Eingreifen verändert. Demzufolge können die Lernenden hierbei auch überprüfen, ob getroffene Entscheidungen den gewünschten Effekt erzielt haben. Durch die Anwendung dieser fallorientierten Vorgehensweisen werden folglich nicht nur die analytischen und fachspezifischen Fähigkeiten geschult. Schüler lernen darüber hinaus ebenso, in unvorhergesehenen Situationen zu entscheiden und ihr eigenes Handeln situativ anzupassen (vgl. ebd.).

Aufgrund der notwendigen Praxisnähe sind Verfahren des Einzelfallprojekts im theoretischen Unterricht kaum zu integrieren. Im Kontext der praktischen Ausbildung können sie jedoch einen wertvollen Beitrag leisten. In diesen Lehrphasen ist es wichtig, Probleme zu thematisieren, die von den Auszubildenden eigenständig erkannt und gelöst werden wollen. Diese Fähigkeiten sind maßgeblich für ihr späteres berufliches Handeln. In diesem Zusammenhang verweisen STEINER (2004) und HUNDENBORN (2007) auf das Konzept von SCHÖN (1983), der drei Handlungstypen der Berufspraxis skizziert: Je nach Vorerfahrung der Akteure, wird entweder implizites Wissen zur Problemlösung genutzt (knowing-in-action), in der Handlung reflektiert und dementsprechend gehandelt (reflection-in-action) oder die eigentliche Situation verlassen, um die Geschehnisse rückblickend betrachten zu können (reflection-on-action). Je erfahrener eine Person auf einem Gebiet ist, desto besser gelingt es ihr, Probleme direkt zu lösen (vgl. Steiner 2004: 208ff; vgl. Hundenborn 2007: 90ff).

Ein möglicher Ansatz von Einzelfallprojekten besteht demnach im Einsatz von Experten als Modell. Durch die Veröffentlichung ihres impliziten Wissens und das Einbeziehen in Entscheidungs- und Reflexionsprozesse können Berufsanfänger von den Erfahrungen der Fachkräfte profitieren. Dabei reicht die alleinige Beobachtung jedoch nicht aus. Gerade in komplexen Situationen müssen Handlungen verbale Erläuterung finden (vgl. Hundenborn 2007: 90-94). Diese Kompetenz – Erfahrungswissen und intuitive Handlungen erklärend zu stützen, um Lernprozesse anzuregen – muss von den erfahrenen Fachkräften erst gelernt werden. Gelingt es ihnen, ihre Handlung zu begründen und in einzelne Tätigkeiten zu splitten, haben Beobachter die Möglichkeit, den Problemlösungsprozess zu verstehen und ihn in ähnlichen Situationen für eigene Handlungen zu nutzen (vgl. ebd.). Ein methodisches Vorgehen aus dem Kontext Einzelfallprojekt, der das Lernen vom Experten aufgreift, ist der Cognitive-Apprenticeship-Ansatz. Dieser beinhaltet sechs verschiedene Schritte, in denen der Schüler bei der Bewältigung einer schwierigen Situation beraten, unterstützt und angeleitet wird, und eignet sich insbesondere für die betriebliche Bildung (vgl. ebd.: 93).

In Konklusion beschreibt das Einzelfallprojekt die praktische Bearbeitung realer Fälle. Im Vordergrund steht hier nicht die rein kognitive Problemlösung, sondern eine von Experten begleitete Durchführung des Problemlösungsprozesses. Die Förderung von Handlungskompetenzen erfolgt durch aktive Intervention seitens der Schüler. Die Umsetzung dieses Falltypus muss jedoch in der Praxis erfolgen und erfordert Fachkräfte, die ihr breites Erfahrungswissen adressatengerecht verbalisieren können und so ihre Fachexpertise an Berufsanfänger weitergeben.

5.3 Hermeneutisch ausgerichtete Verfahren

Die Bewältigung komplexer Situationen fordert die Fähigkeit des betroffenen Akteurs, einen Problemlösungsprozess sicher durchführen zu können. Um Lösungswege zu ermitteln, die für das aktuelle Geschehen geeignet sind, muss ein jeweiliges Geschehen mit seinen individuellen Eigenschaften und Besonderheiten zunächst verstanden werden (vgl. Hundenborn 2007: 96). Ein Ereignis, das Handeln erforderlich macht, umfasst neben allgemeinen auch subjektive Aspekte, die durch die jeweiligen Akteure in die Situation eingebracht werden und in problemlösungsorientierte Überlegungen einbezogen werden müssen (vgl. Dieterich/ Reiber 2014: 75). Insbesondere in unvorhergesehen Momenten gelingt es oftmals nicht, Zusammenhänge und individuelle Entscheidungshintergründe vollständig zu erfassen. Dies liegt darin begründet, dass sich tiefer liegende Sinnstrukturen selten offen zeigen, sondern vielmehr in Form von Widersprüchen, Wiederholungen oder unterlassenen Handlungen deutlich werden (vgl. Hundenborn 2007: 96ff.). Um ein vertieftes Situationsverständnis zu erlangen, bedarf es demzufolge einer detaillierten Analyse abgeschlossener Ereignisse, die ebenso wie ein Problemlösungsprozess im Unterricht eingeübt werden muss. Hierfür eignen sich unter anderem fallorientierte Methoden, die auf Erkenntnisse der Hermeneutik – der Lehre vom Textverstehen – zurückgreifen (vgl. Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 16f.). Dabei wird das jeweilige Geschehen anhand eines hermeneutischen Zirkels detailliert und unter Einbezug individueller Vorerfahrungen interpretiert, um so verborgene subjektive Zusammenhänge und Sinnstrukturen erkennen zu können (-> Kapitel 3; vgl. Hundenborn 2007: 95ff.). Ziel dieses Verfahrens ist es jedoch nicht, aktiv ins Geschehen einzugreifen, sondern vielmehr, Entscheidungsprozesse, Handlungsabfolgen und Verhaltensweisen anhand von in sich abgeschlossenen Fällen rückblickend zu verstehen (vgl. Steiner 2004: 174).

Die hermeneutischen Falltypen eignen sich insbesondere dann, wenn als Ziel des Unterrichts die Förderung reflexiver und verstehender Kompetenzen fokussiert wird. STEINER (2004) bezeichnet diese methodischen Kategorien als Falldialog und Fallarbeit.

5.3.1 Der Falldialog

Dem Falldialog werden fallorientierte Methoden zugeordnet, die eine Analyse von Situationen aus hermeneutischer Perspektive ermöglichen. Eine Beteiligung der fallbearbeitenden Person ist bei diesen Verfahren – ähnlich wie bei der Fallmethode – nicht gegeben. Im Zentrum der Bearbeitung stehen dokumentierte Erlebnisse, die ein bereits abgeschlossene Ereignis aus subjektiver Perspektive skizzieren (vgl. Steiner 2004: 177f). Diese Schilderungen werden auch als geschlossene Fälle bezeichnet und vom jeweiligen Dozenten zu Lehrzwecken ausgewählt (vgl. Muster-Wäbs/ Ruppel/ Schneider 2011: 18).

Das Ziel der Bearbeitung abgeschlossener Ereignisse ist es, den Lernenden die Auswirkung menschlicher Wahrnehmung und Vorerfahrung auf Entscheidungsprozesse zu verdeutlichen. Die Zusammenhänge zwischen Ereignis, Entscheidung und Subjekt sollen bemerkt und nachvollzogen werden können. Wenngleich hier nicht die Handlung im Fokus des Interpretationsvorgangs steht, sondern die Interaktion verschiedener beteiligter Personen, so kann aus einer gewissen Distanz das Deuten und Verstehen menschlicher Verhaltensweisen gefördert und für eigene Erfahrungen genutzt werden (vgl. Kade 1990: 122ff.).

Zu diesem Zweck wird Fallmaterial benötigt, welches möglichst authentisch ein Geschehen beschreibt und dabei die individuelle, persönliche Wahrnehmung beteiligter Akteure widerspiegelt. Geeignete Quellen sind unter anderem autobiografische Texte, persönliche Stellungnahmen, Interviews oder aufgenommene Unterhaltungen (vgl. Hundenborn 2007: 101). Um die Subjektivität solcher Fälle zu gewährleisten, sollte bei dieser Art der Fallbearbeitung auf eine didaktische Aufbereitung verzichtet werden. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass sprachliche Gestaltung, Sprechpausen, Wiederholungen oder Widersprüche Auskunft über die auktoriale Intention, Motivation sowie Entscheidungshintergründe geben (vgl. ebd.). Demzufolge eignen sich die in Kapitel 5.2.1 beschriebenen Kriterien zur Fallauswahl nicht für den Falldialog.

Um anhand eines abgeschlossenen Geschehens empathische und interpretative Kompetenzen zu schulen, werden authentische Mitschnitte realer Ereignisse benötigt, in denen Personen ihr persönliches Erleben versprachlichen und so einen Aspekt ihrer Wirklichkeit abbilden. Diese Schilderung bildet jedoch keine generalisierbare Wahrheit ab, sondern ist bereits ein Produkt vorgenommener Interpretation durch den jeweiligen Autor. Damit Lernende den Fall mit einer gewissen Distanz betrachten können, sollen die Akteure anonymisiert werden (vgl. Kade 1990: 112).

Zur Bearbeitung subjektiver Fallschilderungen eignen sich verschiedene Verfahren, die eine detaillierte Analyse einzelner Worte, Sätze und Textpassagen vorsehen sowie die Einnahme verschiedener Perspektiven ermöglichen. So bietet sich unter anderem die Durchführung einer Deutungsmusteranalyse an, deren Vorteil KADE zufolge in der strukturierten Verarbeitung von Elementen einer Handlungssituation liegt (vgl. Kade 1990: 13ff.). Auch die Regeln einer hermeneutischen Textbearbeitung nach RITTELMEYER/ PARMENTIER werden von HUNDENBORN als geeignetes Verfahren beschrieben (vgl. Hundenborn 2007: 113f.).

Die Bearbeitung der Fälle kann sowohl in Einzelarbeit als auch gemeinschaftlich erfolgen. Setzen sich mehrere Personen mit dem gleichen Geschehen auseinander und tauschen sich über ihre Interpretation aus, so werden hierdurch mehrere Perspektiven deutlich. Der kollegiale Austausch kann somit ebenfalls zur Förderung hermeneutischer Kompetenzen beitragen.

Unabhängig von der gewählten Bearbeitungs- oder Sozialform ermöglicht der Falldialog eine reflexive Betrachtung relevanter Ereignissen, ohne dass die Lernenden persönlich betroffen sind. Dies hat den positiven Aspekt, dass Schüler neutral gewonnen Interpretationsergebnisse mit eigenen Erfahrungen verknüpfen und diese neuen Erkenntnisse bei späteren Ereignissen hinzuziehen können. Ein weiterer Vorteil des Falldialogs besteht zudem darin, dass der Dozent das Thema einer Situationsbeschreibung passend zum aktuellen Unterrichtsschwerpunkt auswählen und methodisch einbinden kann. Ebenso ist es möglich, dokumentierte Fälle auch in weiteren Lerngruppen einzusetzen. Hieraus resultiert jedoch der Nachteil, dass persönliche Erfahrungen der Schüler nur im Rahmen des Interpretationsvorganges aufgegriffen werden, nicht jedoch im Zentrum des hermeneutischen Bearbeitungsvorgangs stehen.

5.3.2 Die Fallarbeit

Die vierte und letzte Kategorie fallorientierter Verfahren nach STEINER wird als Fallarbeit bezeichnet und hat ebenfalls eine hermeneutische Intention. Der wesentliche Unterschied zum Falldialog besteht bei dieser Methodengruppe darin, dass die Lernenden nicht objektive Beobachter sind, sondern Akteure des jeweiligen Geschehens. Im Zentrum der Bearbeitung steht bei diesem Typus demnach eine reale Praxissituation, die von einer oder mehreren Personen in den Unterricht eingebracht und reflexiv betrachtet wird (vgl. Steiner 2004: 178). Dabei wählt nicht der Dozent die Situation aus, an der gelernt werden soll. Er kann zwar einen Themenschwerpunkt vorgeben, der Kern des Falls wird jedoch von den praktischen Erfahrungen der Schüler bestimmt. Dies erfordert ein gewisses Maß an Offenheit und Flexibilität (vgl. Hundenborn 2007: 114ff.).

Im Gegensatz zum Falldialog ermöglicht die Fallarbeit neben einer vertieften Auseinandersetzung und Deutung von Sinnzusammenhängen auch die Analyse eigener Handlungen und Verhaltensweisen. Dies trägt bedeutend zur Entwicklung reflexiver Fähigkeiten bei, welche einen wesentlichen Bestandteil von Handlungskompetenz darstellen (vgl. Steiner 2004: 239). Eigene Handlungen rückblickend zu betrachten, ist zwar ebenfalls Bestandteil von Methoden, die dem Einzelfallprojekt zugeordnet werden. Verfahren der Fallarbeit wechseln jedoch nicht zwischen Aktions- und Reflexionsphasen, sondern ermöglichen einen in sich geschlossenen Interpretationsprozess. Hieraus gewonnene Erkenntnisse können in nachfolgenden Praxiserfahrungen gewinnbringend angewendet werden (vgl. ebd.). Die Analyse selbsterlebter Fälle kann mündlich und schriftlich erfolgen und von der betroffenen Person in Einzelarbeit durchgeführt werden. Eine Bearbeitung mit anderen Schülern, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, erscheint jedoch insbesondere unter Berücksichtigung des Perspektivwechsels und der Förderung empathischer Fähigkeiten sinnvoll (vgl. ebd.: 240f).

Für die gemeinschaftliche Bearbeitung existiert eine Vielzahl an Verfahren, die den kollegialen Austausch phasengeleitet initiieren. HUNDENBORN benennt in diesem Zusammenhang unter anderem die Methode der Fallarbeit nach KAISER/ KÜNZEL, die unter Bezugnahme verschiedener Modelle und Konzepte eine systematische Fallbetrachtung ermöglicht (vgl. Hundenborn 2007: 117). Gleichermaßen eignet sich ihr zufolge auch das Konzept des kollegialen Fallverstehens nach SCHRAPPER/THIESMEIER, bei denen die Analyseergebnisse weiterer Personen unterstützend hinzugezogen werden (vgl. ebd.: 131).

Es lässt sich sagen, dass alle von STEINER (2004) bestimmten Falltypen spezifische Potentiale für einen praxisbezogenen Unterricht haben. Fallmethode, Einzelfallprojekt, Falldialog und Fallarbeit werden zwar begrifflich unterschieden, haben jedoch mehrere Berührungspunkte. Wenngleich jede Verfahrensgruppe eigene Besonderheiten hat, so ähneln sich die Typen entweder hinsichtlich ihrer Zielrichtung oder ihres Beteiligungsgrades am Fallgeschehen. Dennoch weist jedes der oben beschriebenen Verfahren spezifische Merkmale auf, welche zur Entwicklung von Handlungskompetenz gleichermaßen wichtig sind. Hier sind zunächst die unterschiedlichen Intentionen von Bedeutung. Um eine herausfordernde Situation bewältigen zu können, bedarf es sowohl der Fähigkeit, einen Problemlösungsprozess durchzuführen, als auch Fertigkeiten der hermeneutischen Interpretation. Vor diesem Hintergrund lässt sich erschließen, dass Personen nur dann mit Hilfe der Falldidaktik handlungsfähig werden, wenn Falltypen beider Zielrichtungen Anwendung finden.

Auch der Grad der Fallbeteiligung sollte variieren. Durch einen Wechsel von Situationen, die zu Lehrzwecken entwickelt wurden, und solchen Geschehnissen, die Lernende selbst erlebt haben, erhält der Unterricht einen abwechslungsreichen und lebhaften Charakter. Durch den Einsatz unterschiedlicher Mikromethoden wird dieses Faktum verstärkt und bietet Spielraum für die didaktische Gestaltung. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass eine zielführende Arbeit an Fällen, ungeachtet ihres Typs, sowohl eine umfassende Vorplanung als auch eine ausreichende Anzahl von Unterrichtsstunden voraussetzt.

Abschließend kann gesagt werden, dass alle vier beschriebenen Verfahren der Falldidaktik aufgrund ihrer Nähe zum praktischen Handlungsfeld sowie ihrer vielfachen Bearbeitungsansätze kombiniert in der Lehrgangsgestaltung Anwendung finden sollten.

[...]


1 Paraphrasen werden wie folgt gekennzeichnet (vgl. Autor Jahr: Seite). Direkte Zitate werden eingerückt und folgend ausgewiesen (Autor Jahr: Seite).

Ende der Leseprobe aus 171 Seiten

Details

Titel
Praxisanleitung in der Pflege. Unterrichtsmaterial zur theoretischen Weiterbildung
Untertitel
Eine Fallsammlung
Hochschule
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
171
Katalognummer
V927357
ISBN (eBook)
9783346257826
ISBN (Buch)
9783346257833
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Praxisanleiterweiterbildung, Unterrichtsmaterial, Gesundheitspflege, Krankenpflege, Fallsammlung
Arbeit zitieren
Dorothee Hennecke (Autor:in), 2018, Praxisanleitung in der Pflege. Unterrichtsmaterial zur theoretischen Weiterbildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/927357

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