Jemanden in die Wüste schicken – das ist in unserer Gesellschaft eine gebräuchliche Redewendung. So würde man beispielsweise ungeliebte Politiker häufig gerne „in die Wüste schicken“, sich ihrer also gleichsam entledigen. Wenn in der Politik etwas schief läuft, dann wird oft statt der wirklichen Ursache des Übels einfach ein „Sündenbock“ gesucht. Auch dieser Begriff ist in unserem Sprachraum gang und gäbe.
Beide Begriffe, „in die Wüste schicken“ und „Sündenbock“, sind biblischen Ursprungs. Sie gehen auf das Ritual des großen Versöhnungstages (3. Mose 16) zurück, bei welchem der Hohepriester des Volkes Israel vor Gott alle Sünden und Vergehen des Volkes bekennt und diese unter Handauflegen auf einen Ziegenbock überträgt. So wird der Ziegenbock zum „Sündenbock“ für das Volk Israel (3. Mose 16, 20ff.). Anschließend wird das Tier wortwörtlich „in die Wüste geschickt“, damit es die aufgeladenen Sünden weit fort trage.
Dieser „Eliminationsritus“, wie er im Alten Testament in 3. Mose 16 beschrieben wird, ist Gegenstand dieser Arbeit. Nach einer literarkritischen und formgeschichtlichen Annäherung an das Ritual vom Jom Kippur, so der hebräische Name des Versöhnungstages, wird dann im Wesentlichen der Sündenbockritus mit seinen unterschiedlichen Facetten und unter verschiedenen Blickwinkeln verstärkt in das Zentrum der Untersuchungen treten.
Ein weiterer Schwerpunkt dieser Arbeit liegt in der Untersuchung der Intertextualität von 3. Mose 16. Dementsprechend wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich ein solcher Eliminationsritus wie der am großen Versöhnungstag auch an anderen Stellen des Alten Testaments wieder findet. Die Textstellen 3. Mose 14, 4-7 sowie 5. Mose 21, 1-9 sollen dazu näher analysiert und kritisch hinterfragt werden.
Abschließend soll am Ende der Arbeit kurz ein Bezug zum Neuen Testament hergestellt und die Bedeutung des Sündenbockritus für die heutige Lebenswelt und die christliche Lehre nachvollzogen werden.
Die vorliegende exegetische Untersuchung beruht auf der Bibelübersetzung von Martin Luther in der revidierten Fassung von 1984. Dementsprechend beziehen sich auch die Abkürzungen der Bibelstellen sowie die Schreibung der biblischen Eigennamen auf diese Übersetzung. Aufgrund meiner nicht vorhandenen Hebräisch-Kenntnisse muss auf eine genauere textkritische Untersuchung verzichtet werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Das Ritual vom Jom Kippur (3. Mose 16)
- Annäherung an den Text
- Der narrative Rahmen des Textes
- Abgrenzung der beschriebenen Sühneriten
- Der sozialgeschichtliche Kontext des Textes
- Der Sündenbockritus
- Die Vorbereitung des Sündenbockritus
- Der Ritus am lebenden Bock und der Gestus der Handaufstemmens
- Das ,,Sündenbock\"-Motiv in der heidnischen Ritualtradition
- Asasel und der Sündenbock
- Die Intertextualität von 3. Mose 16
- Die Symbolik des Vogelrituals bei der Reinigung von Aussätzigen (3. Mose 14, 4-7)
- Die Sühnung des von unbekannter Hand verübten Mordes (5. Mose 21,1-9)
- Die Bedeutung des Sündenbockmechanismus für die heutige Lebenswelt und das Neue Testament: Jesus Christus als Sündenbock der Welt
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit dem Ritual des großen Versöhnungstages (3. Mose 16) im Alten Testament, insbesondere mit dem Sündenbockritus. Sie analysiert den Text literarkritisch und formgeschichtlich, untersucht die Intertextualität des Rituals mit anderen Stellen des Alten Testaments und erforscht die Bedeutung des Sündenbockmechanismus für die heutige Lebenswelt und das Neue Testament.
- Literarkritische und formgeschichtliche Analyse des Rituals vom Jom Kippur
- Untersuchung des Sündenbockritus und seiner verschiedenen Facetten
- Analyse der Intertextualität von 3. Mose 16 mit anderen Textstellen des Alten Testaments
- Bedeutung des Sündenbockmechanismus für die heutige Lebenswelt
- Bedeutung des Sündenbockritus für die christliche Lehre im Neuen Testament
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung führt in das Thema ein und stellt die zentralen Fragestellungen der Arbeit vor. Sie erläutert die Bedeutung des Sündenbockrituals für die heutige Lebenswelt und die christliche Lehre.
- Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem Ritual vom Jom Kippur. Es analysiert den Text literarkritisch und formgeschichtlich, untersucht den narrativen Rahmen und die Abgrenzung der Sühneriten. Im Mittelpunkt steht der Sündenbockritus, dessen Vorbereitung, Durchführung und Bedeutung im heidnischen Kontext beleuchtet werden.
- Kapitel 3 untersucht die Intertextualität des Rituals. Es werden Vergleiche mit anderen Textstellen des Alten Testaments gezogen, insbesondere mit den Ritualen zur Reinigung von Aussätzigen und zur Sühnung von Mordfällen.
Schlüsselwörter
Altes Testament, Jom Kippur, Sündenbock, Versöhnung, Sühne, Ritual, Intertextualität, Heiligkeit, Vergebung, Lebenswelt, Christentum, Neues Testament.
- Quote paper
- Tino Wiesinger (Author), 2006, Eliminationsriten im Alten Testament am Beispiel des Rituals vom Jom Kippur (3. Mose 16), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93135