Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 Was versteht man unter Sprachwandel?
2.2 Was versteht man unter Sprachkritik?
2.3 Das Phänomen des Genitivschwunds
2.4 Kritik an Sick
2.4.1 Kritik an Sicks Meinung zum Genitivschwund
2.4.2 Kritik an Sicks Meinung zu Anglizismen und „making sense“
3 Schluss
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Häufigkeitsvorkommen des Genitivobjekts in verschiedenen Texten von jeweils 500 Sätzen. (vgl. vgl. LINDGREN 1969: 151, in FLEISCHER 2011: 88)
1 Einleitung
„,Früher war alles besser‘, sagen ältere Menschen gern. (...) Wie auch immer man die Vergangenheit bewertet, sicher ist: Früher war einiges anders“ (Sick, 2004, S. 53). Was in diesem Zusammenhang für die Gesellschaft, den Lebensstil der Menschen, Politik oder auch Medizin gilt, gilt ebenso für die Sprache. Sowohl in geschriebener, aber auch in gesprochener Form unterscheidet sich unsere heutige Sprache grundlegend von früheren Varianten. Sprachwandel ist ein Phänomen, welches sich seit Beginn der Sprachbeobachtung fortlaufend wahrnehmen lässt. Die Gründe dafür sind vielseitig: Während in den älteren Formen der deutschen Sprache die Lautverschiebungen eine Rolle spielten, sind es heutzutage Vorgänge wie die Globalisierung und die Digitalisierung, die zu maßgeblichen Veränderungen unserer Art des Sprechens und des Schreibens beitragen. Ein prägnantes Beispiel für den Sprachwandel ist der Wechsel vom Gebrauch des Genitivs zum Dativ. Damit befasst sich auch Bastian Sick, welcher dieses Phänomen und die Ausmaße dieses Wandels in seinem Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ auf humorvolle Art und Weise vorstellt und erklärt. Durch die Popularität seiner Arbeit rückte Sick im Jahr 2004 in den Blickpunkt der Medien und somit auch der Kritiker. Bei seinen Ansichten spalten sich die Meinungen. Während der von der NRZ als „Herr der Genitive“ bezeichnet wurde oder der MDR ihn „Popstar unter den Pflegern der deutschen Sprache“ nannte, geht die Magdeburger Volksstimme einen Schritt weiter: „Gekonnt bringt Bastian Sick Licht ins Dickicht der Sprachverwirrungen. Er erklärt Zweifelsfälle, die jeder selbst nachschlagen könnte. Aber warum selbst blättern, wenn ein begnadeter Unterhalter wie Sick richtiges Deutsch so humoristisch vermitteln kann?“. Offensichtlich bejubeln die Medien Sicks Literatur. Doch es gibt auch negative Kritik an seiner Schrift. Einer der bekanntesten Sick-Kritiker ist André Meinunger, der in seinem Buch „Sick of Sick: Ein Streifzug durch die Sprache als Antwort auf den Zwiebelfisch“ aus dem Jahr 2008 stark an Sicks Auffassungen und Ansichten zweifelt und diese kritisiert. Meinunger, selbst studierter Sprachwissenschaftler aus Berlin, bezeichnet Sicks Vorgehen als unberechtigt. „Es darf aber keinesfalls das Sprachbewusstsein der Menschen dahingehend schärfen und zementieren, dass man jemanden mit Verachtung straft, wenn er oder sie bei Vergleichen als wie verwendet. Woher nimmt man das Recht und das Selbstbewusstsein, das zu tun? Wer und was ist hier der Maßstab? Immerhin hat auch Goethe so geschrieben, der doch wohl als größter deutscher Dichter eine Instanz für die Normierer ist. Welcher Verfall also wäre zu beklagen, wenn man so redete, wie Goethe schrieb?“ (Meinunger, 2008, S. 47). Offenkundig bietet Sprachwandel viele Anhaltspunkte für sowohl positive als auch negative Sprachkritik. Ergo stehen Sprachwandel und Sprachkritik immer in Verbindung.
Anhand des Beispiels des Genitivs, der scheinbar vom Dativ ersetzt wird, lässt sich sehr gut veranschaulichen, was man unter Sprachwandel im Allgemeinen versteht, wie Sprachkritik damit korreliert, welche Ansichten Sick hier vertritt und was an diesen zu kritisieren ist.
2 Hauptteil
2.1 Was versteht man unter Sprachwandel?
Sprache wandelt sich. Sie befindet sich in einem stetigen und permanenten Prozess der Veränderung. Dieser Prozess erfolgt nicht schlagartig, sondern langsam und unbewusst. Trotzdem sind die Unterschiede, die sich bei der Betrachtung von Sprache über die letzten Jahrhunderte hinweg erkennen lassen, gravierend. Für einen Laien gleicht beispielsweise das Althochdeutsche einer Fremdsprache. Es lassen sich auf den ersten Blick nur wenige Parallelen zum Neuhochdeutschen erkennen. Um Vokabeln, Satzbau und Bedeutung eines Althochdeutschen Textes zu verstehen, benötigt es einiges an Zeit, um sich in die Materie einzuarbeiten, da diese Form der deutschen Sprache mit heutigen Regeln und Normen kaum zu ergründen ist. Befasst man sich zum Beispiel mit dem Althochdeutschen „Tatian“, der in der Zeit von Karl dem Großen aus dem Lateinischen übersetzt worden ist, gelingt es nicht, den Text auf Anhieb ins Neuhochdeutsche zu überführen. „Es handelt sich um eine Evangelienharmonie, die vom syrischen Kleriker Tatian bereits im 2. Jh. n. Chr. zusammengestellt und schon früh in andere Sprachen übersetzt worden ist. Auf der Grundlage einer lateinischen Version entstand um 830 in Fulda auch eine althochdeutsche (ostfränkische) Übersetzung (...)“ (Hinterhölzl, Petrova, Solf, 2005, S. 146). Leichter zu entschlüsseln ist das Mittelhochdeutsche. Hier gibt es bereits viele Analogien zum heutigen Deutsch. Zwar sind hier immer noch auffallende Unterschiede vorhanden und ein Gespräch mit Walther von der Vogelweide (um 1170-1230) wäre zum Scheitern verurteilt , jedoch fällt es dem ungeübten Leser bereits um einiges leichter, Bedeutungen oder Vokabeln zu erschließen. Mit einer Person, von der uns etwa 150 Jahre trennen, gäbe es keine fundamentalen Kommunikationsprobleme mehr, allerdings bestehen einige Abweichungen, was die Bedeutung von Vokabeln betrifft. „Merkwürdig nannte man noch zu Goethes Zeiten nicht etwas Seltsames, sondern etwas, das man sich merken sollte, etwas Wichtiges also“ (Keller, 2014, S. 17). Diese Unklarheiten ließen sich jedoch durch Fragen relativ schnell beseitigen, sodass ein Gespräch mit Goethe oder Schiller durchaus zielführender wäre, als eine Unterhaltung mit Walther. Doch auch bei der Betrachtung von Sprache in den letzten 30 Jahren lassen sich viele Differenzen ermitteln. Die vermehrte Nutzung von Anglizismen im Alltag, im Berufsleben und auch bereits in Schulen wäre wohl die markanteste Veränderung unserer Zeit. Anglizismen finden bereits seit vielen Jahrhunderten in der deutschen Sprache ihren Platz und sind von daher keineswegs ein modernes sprachliches Phänomen. Durch gleiche sprachliche Wurzeln ist es nicht verwunderlich, dass die beiden Sprachen Englisch und Deutsch in vielen Bereichen Hand in Hand gehen. Verstärkt wird dieses Phänomen allerdings durch die fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung, die etliche Anglizismen zu den bereits vorhandenen addieren. Das Internet spielt hier eine zentrale Rolle, denn es trägt nicht nur zur schnelleren Verbreitung der englischen Sprache in anderen Ländern bei, sondern entwickelt auch seine eigene Form der Kommunikation: „Die Sprache des Internets kann als gruppenspezifische Sondersprache der Internet-Nutzer betrachtet werden“ (Haase et al. 1997, S.52). In welchem Maße das Einfügen von Anglizismen in unsere Sprache notwendig ist oder nicht, behandelt Bastian Sick im dritten Teil der Reihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“: „Begriffe wie Feedback und Flatrate, Blockbuster und Ranking, Lifestyle und Standing sind heute fast schon selbstverständlich. Aber brauchen wir sie wirklich? Für die meisten Dinge gibt es schließlich ein ebenso gutes deutsches Wort. Man muss nur danach suchen. Und wo es bislang keines gab, da kann man auch eines erfinden“ (Sick, 2006, S.581). Hier deutet Sick bereits an, dass Anglizismen gleichermaßen durch deutsche Wörter ersetzt werden können und sich deren Verbreitung auf diese Art stoppen ließe. Er kann an dieser Stelle ein gutes konkretes Beispiel nennen, denn dieses Ziel verfolgt auch der Verein Deutsche Sprache (VDS) mit seiner Aktion „Lebendiges Deutsch“, die versucht deutsche Äquivalente zu englischen Wörtern zu finden (Sick, 2006, S. 583). Fakt ist jedoch, dass sich Veränderungen in der Sprache nicht verhindern oder vermeiden lassen. Diese Art der Anstrengungen verlangsamen den Prozess vielleicht sporadisch, können jedoch auf lange Sicht nichts dagegen ausrichten und sich nicht durchsetzen, denn die Veränderung der Sprache ist genau so unausweichlich wie die Veränderung der Gesellschaft, die sie nutzt. „Alle Kriterien der Beurteilung einer ganzen Sprache greifen nicht und sind willkürlich. Eine Sprache ist eben nicht beurteilbar. Sie ist da, wie die Natur. Sie ist hinzunehmen, ihre Veränderung ergibt sich“ (Heringer, 1982, S. 11) und „gerade weil Sprache lebendig ist, gibt es immer bestimmte Stellen, an denen das Sprachsystem 'wackelt', an denen Verwendungsweisen veralten und neue sich etablieren (Schneider, 2005, S.4). Sprachwandel ist also etwas Natürliches, das man nicht verhindern, verändern oder abwerten darf. Des Weiteren muss sich unser Sprachsystem stets aktualisieren, um auf dem neusten Stand zu bleiben. Sprachproduzenten müssen sich im Bestfall an den aktuellsten Stand der Sprache halten, um normgerechte und „angemessene“ Sprache hervorzubringen. Brächte man heute zum Beispiel ein Buch auf den Markt, das sich nach den Rechtschreibregeln der 80er Jahre richtete und zudem vor Rechtschreibfehlern nur so wimmelte, veranlasse dies natürlich zu Kritik an der verwendeten Sprache. Doch was versteht man überhaupt unter dem Begriff „Sprachkritik“?
2.2 Was versteht man unter Sprachkritik?
Die Wissenschaft der deutschen Sprache umfasst viele verschiedene Aspekte. Angefangen mit Semiotik und Semantik, befasst sie sich außerdem mit Phonetik, Phonologie, Graphematik, Orthographie, Morphologie, Syntax, Pragmatik und Textlinguistik. Die Sprachwissenschaft hat die Aufgabe, Sprache objektiv zu erforschen, zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären. Alles, was darüber hinaus Sprache bewertet und über sie urteilt, wird als Sprachkritik bezeichnet. Kritik an der Sprache kann unterschiedliche Dimensionen haben. „Wer Sprachkritik übt, kritisiert eine unangemessene Sprachverwendung. Sprachkritik ist in unserem Verständnis ein Instrument der Reflexion, das eine begründete Sprachbewertung erlaubt (...)“ (Arendt & Kiesendahl, 2011, S. 9). Kritik an der Sprache kann und darf also von jedem geübt werden, Hauptsache die Argumente sind fundiert und reflektiert. Das wichtigste bei der Sprachreflexion ist es, dass sie nicht nur von außen kommentiert werden kann, sondern auch von innen. Sprachkritik beginnt also schon bei der Sprachproduktion. Indem der Sprachproduzent sich fragt, ob die produzierte Sprache in ihrer Form und in ihrem Kontext angemessen ist, kritisiert er sozusagen schon die eigene Sprache. Somit kann die Sprache verbessert und der Ausdruck optimiert werden. Das Ergebnis bezeichnet man dann im besten Fall als „gutes Deutsch“. Doch ab wann ist Deutsch „gutes Deutsch“? Und wer entscheidet über angemessenen und unangemessenen Sprachgebrauch? Maßgeblich für die amtliche deutsche Rechtschreibung ist der Rechtschreibduden. Der Duden beinhaltet und registriert die normierte Variante aller deutschen Wörter aus allen deutschen Orthographien. Eine Schreibweise, die davon abweicht, wird als Rechtschreibfehler bezeichnet. Darüber hinaus gibt es noch weitere Bände des Dudens, welche unter anderem guten Stil, Grammatik oder Aussprache festhalten. „Gegenstand der Duden-Grammatik ist die gesprochene und geschriebene deutsche Standardsprache (Hochsprache) der Gegenwart. Mit ,Standardsprache‘ ist die überregionale und institutionalisierte Verkehrs- oder Einheitssprache gemeint, die den Interessen der ganzen Gesellschaft dient. Innerhalb des Gesamtgefüges der Existenzformen der deutschen Sprache kommt ihr Leitbildfunktion zu, weil sie - im Gegensatz zu den Mundarten, lokalen Umgangssprachen und Gruppensprachen - Trägerin und Vermittlerin von Kultur, Wissenschaft und Politik ist, in der Literatur, in den Medien, in der Schule, Universität und Kirche und in allen öffentlichen Bereichen verwendet wird“ (DudenGrammatik, 1984, S.8). Der Duden ist somit die populärste Bemühung, „schlechtes Deutsch“ zu vermeiden und durch Setzung eines Standards die Kommunikation in der deutschen Sprachgemeinschaft zu vereinfachen. Dies ist auch das Ziel von Bastian Sick, der nach eigenen Angaben „gegen falsches Deutsch und schlechten Stil zu Felde “ ziehen will (Sick, 2004, S.9). In seinem Buch „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ setzt sich Sick kritisch in über 50 Kolumnen mit Phänomenen des gegenwärtigen Sprachgebrauchs auseinander. Hier finden sich unter anderem Kritik an dem Gebrauch des Superlativs in Medien und Politik (S. 48), Missbilligung der falschen Verwendung des Plurals bei Fremdwörtern (S. 57) oder die richtige Benutzung von verschiedenen Präpositionen (S. 120). Doch wie der Titel schon impliziert, steht im Fokus von Sicks Werk die Veränderung des Gebrauchs von Genitiv und Dativ in der deutschen Sprache, welche Sick stark kritisiert. Doch ist dies wirklich der Fall? Birgt diese Veränderung Gefahren für die deutsche Sprache oder führt sie sogar zu deren Verfall?
2.3 Das Phänomen des Genitivschwunds
Ganz simpel erklärt bezeichnet man als „Genitiv“ den zweiten Fall und somit eine Deklinationsform in der deutschen Sprache. Der Genitiv markiert in den typischsten Fällen Attribute, wie zum Beispiel „das Haus des Nachbarn“ oder „der Klang einer fernen Glocke“. „Daneben tritt der Genitiv auch bei Ergänzungen von Präpositionen, Adjektiven und Verben auf, sowie in bestimmten adverbiellen Funktionen“ (s. Wikipedia: Genitiv). Den dritten Fall in der deutschen Grammatik nennt man „Dativ“. Es ist des Dativs Aufgabe, den Empfänger eines Gegebenen zu bezeichnen. Daher nennt man den dritten Kasus auch den „Wem-Fall“ . In dem Satz „Die Jacke gehört dem Vater“ wäre das sogenannte Dativ-Objekt folglich „dem Vater“. Nun ist es allerdings so, dass der Dativ den Genitiv zu ersetzen scheint. „Im Deutschen als einer flektierenden Sprache spielt Kasus immer noch eine große Rolle, er wird allerdings zunehmend abgebaut. Insbesondere der Genitiv scheint von diesen Abbautendenzen betroffen zu sein“ (Pittner, 2014, S.1). Als „Genitivschwund“ wird das zuvor bereits erwähnte und von Sick so stark kritisierte Phänomen bezeichnet. Auch Sprachwissenschaftler sind sich mittlerweile einig, dass der Dativ den Genitiv ersetzt. „Der Genitivschwund und stellt ein Problem dar, das in der deutschen Sprachwissenschaft heftig diskutiert wird. Es scheint, als verliere vor allem die Jugend die Fähigkeit, den Genitiv korrekt zu benutzen und wende sich lieber anderen Konstruktionen, wie dem possessiven Dativ, zu. Viele interpretieren dies als Verkümmerung der deutschen Sprache. Es handelt sich jedoch nicht um ein Phänomen, das erst in jüngster Vergangenheit auftrat.“ (Schätzle, 2013). Schon hier wird die gängige Meinung der Kritiker zu dieser sprachlichen Auffälligkeit deutlich, nämlich, dass der Wechsel vom Genitiv zum Dativ sprachlichen Verfall markiert. Dieser spezifische Sprachwandel wird in den meisten Fällen negativ bewertet und kritisiert. Außerdem wird suggeriert, dass die Tage des Genitivs gezählt seien und er künftig vollständig aus der deutschen Sprache verschwinden werde. Die Zahlen sprechen hier eine klare Sprache, denn auch „als Objekt zu Verben ist der Genitiv auf dem Rückzug. Während im Mittelhochdeutschen noch ca. 260 Verben, sind es heute nur noch 56 Verben. Dazu gehören Verben aus dem Rechtsbereich wie verdächtigen, bezichtigen, anklagen, beschuldigen, überführen, zeihen. Der Genitiv ist bei diesen Verben noch relativ stabil“ (Pittner, 2014, S.2). Der Genitivschwund wird als neuartige und sprachlich zweitklassige Abart präsentiert. Nicht nur Experten sehen die Sprache bedroht, sondern auch der Durchschnitts-Bürger zeigt sich besorgt. Im Rahmen eines Artikels über verschiedene Aspekte des Sprachwandels wurde eine Umfrage durchgeführt. Auf die Frage „Was halten Sie von dem Sprachwandel?“ antworteten 65% der Leser, dass die Sprache dadurch verunstaltet werde. Bastian Sick vertritt die gleiche Ansicht. Laut ihm werde der Genitiv vor allem im bayrischen Dialekt nicht ernst genommen und es werde bedenklich, „wenn ,wegen dem‘ Dialekt auch die Hochsprache verflacht“ (Sick, 2004, S.21). Die Fakten sehen allerdings anders aus. Es ist eine Tatsache, dass der Genitiv schon früh zu schwinden begann. Im Zuge einer Betrachtung morphosyntaktischer Phänomene des Sprachwandels in deutschen Dialekten am Institut für deutsche Sprache und Literatur in Köln wurden verschiedene Texte von jeweils 500 Wörtern auf die Häufigkeit des Genitivobjekts untersucht. Folgendes wurde dabei festgestellt: In Texten des Dichters Otfrid von Weißenburg, der um 800 n. Chr. tätig war, beträgt die Häufigkeit des verwendeten Genitivobjekts 9,4%, während sie im Nibelungenlied (1203) bereits um 0,4% gesunken ist. Nach weiteren 300 Jahren in den Schriften von Martin Luther zeigt sich eine drastische Senkung auf 3,6%. In Goethes Werken um 1800 beträgt der Prozentsatz des verwendeten Genitivobjekts nur noch niedrige 1,2%, während er mit 0,2% in der aktuellen Zeitschrift „Zeit“ fast gänzlich verschwunden ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Häufigkeitsvorkommen des Genitivobjekts in verschiedenen Texten von jeweils 500 Sätzen. (vgl. vgl. LINDGREN 1969: 151, in FLEISCHER 2011: 88)1
Durch die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigt sich also, dass der Genitivschwund keinesfalls ein modernes Sprachphänomen ist, sondern schon zu früheren Zeiten überregional auftrat.
Demzufolge ist Sicks Argumentation, es handele sich beim Genitivschwund um ein aktuelles, dialektspezifisches Phänomen hinfällig.
2.4 Kritik an Sick
Für die folgende Sprachkritik wird nicht nur der erste Teil von Sicks Reihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ in den Blickpunkt gerückt, sondern auch die Folgen 2 und 3. Im Fokus der folgenden kritischen Auseinandersetzung stehen neben Sicks Meinung zum Genitivschwund auch seine Ansichten zu Anglizismen und der damit einhergehenden „Sinn ergeben oder Sinn machen?“ - Frage.
2.4.1 Kritik an Sicks Meinung zum Genitivschwund
Wie bereits erwähnt, legt Sick in seiner Literatur besonderen Wert auf Kritik am Genitivschwund. Sick befürchtet so sehr, dass der Genitiv vollständig aus der deutschen Sprache verschwindet, dass er dieses Thema sogar in der ersten und zweiten Folge seines Buchs aufgreift und behandelt. So heißt es in der zweiten Folge, die an die Thematik der ersten anknüpft: „Der Genitiv gerät zusehends aus der Mode. Viele sind ihn überdrüssig. Dennoch hat er in unserer Sprache seinen Platz und seine Berechtigung. Es kann daher nicht schaden, sich seinem korrekten Gebrauch zu erinnern. Sonst wird man dem Problem irgendwann nicht mehr Herr und kann dem zweiten Fall nur noch wehmütig gedenken“ (Sick, 2005, S. 251). Durch die spielerische und gekonnte Formulierung vieler Sätze im Dativ zeigt Sick hier Humor für die Thematik. Dadurch zeichnet sich sein Werk aus und es bietet somit auch großen Unterhaltungswert für die Leser. Sick bringt auf diese Art auch zum Ausdruck, dass er sich bewusst ist, wie viel Angriffsfläche dieses Thema den Kritikern bietet. Während er im ersten Teil seiner „Genitivschwund-Kritik“ das Phänomen noch als dialektspezifisch beschreibt, weitet er das Ganze im zweiten Teil aus. Hier kritisiert er unter anderem den verwendeten Dativ bei Konstruktionen, die grammatikalisch gesehen den Genitiv verlangen: „Die Presse trägt nicht unwesentlich zur Verbreitung des Eindrucks bei, dass der Genitiv vom sprachlichen Spielfeld ausgewechselt und auf die Reservebank geschickt werden soll. ,Als am Mittwoch der Bundestag seinem früheren Präsidenten Hermann Ehlers gedachte, hielt auch Merkel eine Rede‘, konnte man auf einer Internet-Nachrichtenseite lesen. Bleibt nur zu hoffen, dass wenigstens Angela Merkel in ihrer Rede des Verstorbenen im richtigen Fall gedachte“ (S.252). Da Sick im ersten Teil behauptet, die Sprache werde verfallen, wenn sich der dialektspezifische Genitivschwund auf die Hochsprache ausbreitet, scheint dies jetzt der Fall zu sein. Offensichtlich verwendet die genannte Internetseite den falschen Fall, wenn es um das Verb „gedenken“ geht. Weiter schreibt Sick: „Und auch der ,Spiegel‘ scheint den Genitiv für altmodisch zu halten. In einem Artikel über Rechtsextremismus war zu lesen: ,PDS-Fraktionschef Peter Porsch glaubt nur noch mit einem erneuten Verbot dem Problem Herr zu werden.‘ Nicht erst seitdem zerbrechen sich GenitivFreunde den Kopf darüber, wie man des Problems hinter dem Herrwerden noch Herr werden kann“ (S. 252-253). Theoretisch gesehen stimmt das. Wer sich hier nicht an die korrekte Grammatik, wie der Duden sie vorschlägt, hält, begeht einen Fehler. Doch betrachten wir diese Situation praktisch: Ein Autor des Spiegels verfasst den Artikel und hält den Genitiv „für altmodisch“ (Sick, 2005, S. 252). Hier gibt es zwei Möglichkeiten, warum der Autor die von ihm gewählte Ausdrucksweise verwendet. Bei der ersten, von Sick suggerierten Möglichkeit, hat sich der Autor Gedanken gemacht, ob er bei der Konstruktion den Genitiv oder den Dativ verwenden möchte, unabhängig davon, welche der beiden Varianten die grammatikalisch richtige ist. Hat sich der Autor nun für den Dativ entschieden, wird dies seine Gründe haben. Diese könnten sein, dass der Dativ einfach griffiger ist, sich einfacher lesen lässt oder die Sprache so insgesamt nicht derart gehoben wirkt, wie es mit dem Genitiv der Fall wäre. Wäre diese erste Möglichkeit der Fall, so könnte man dem Autor nur zum Vorwurf machen, dass er trotz des vorhandenen Wissens den falschen Fall gewählt hat. Man müsste ihm trotzdem zugutehalten, dass er die Sprache reflektiert hat und zumindest versucht hat, den für ihn optimalen sprachlichen Ausdruck zu kreieren. Bei der zweiten, wahrscheinlicheren Möglichkeit, hat es der Autor des Artikels nicht besser gewusst. Er war davon überzeugt, dass seine Ausdrucksweise die richtige ist und dass es keine offensichtliche Alternative gibt. Wäre dies der Fall, so könnte man ihm zwar vorwerfen, aufgrund mangelnden Fachwissens den falschen Beruf gewählt zu haben, jedoch könnte man ihn nicht anklagen, mutwillig gegen eine grammatische Regel verstoßen zu haben, denn er hat schließlich nach eigenem Ermessen und seinen Fähigkeiten entsprechend geschrieben. Sicks Vorwurf, der Autor habe mit Absicht falsch gehandelt, lässt sich nach dieser Argumentation entkräften, denn selbst wenn dem so wäre, wäre es das gute Recht des Verfassers, nach gründlicher Reflektion eigene, wenn auch aus grammatischer Sicht falsche Sprache zu produzieren.
2.4.2 Kritik an Sicks Meinung zu Anglizismen und „making sense“
Wie schon unter dem Punkt „Sprachwandel“ erwähnt, haben viele Anglizismen im Laufe der Zeit Einzug in die deutsche Sprache erhalten. Sick vertritt hier eine klare Meinung, nämlich „dass der Einzelne längst den Überblick verloren hat. Immer häufiger wird daher die Frage laut, ob wir all diese vielen englischen Wörter wirklich benötigen“ (Sick, 2006, S. 581). Natürlich ist es angebracht, eine Grenze zu ziehen zwischen „griffiges, englisches Äquivalent zu einem deutschen Wort“ und „überflüssige Ergänzung“. Doch genau hier liegt das Problem, denn wie unterscheidet man am besten zwischen diesen beiden Termini? Wichtig ist es an dieser Stelle, nochmals zu betonen, dass Anglizismen schon sehr lange in der deutschen Sprache verwendet werden. Durch Kriege oder auch Migration verbreiteten sich diese im Laufe der Jahre. Viele Anglizismen sind schon so lange im Deutschen verankert, dass man deren englischen Ursprung fast nicht mehr ausmachen kann, wie zum Beispiel das deutsche Wort „Keks“, welches vom englischen „cake“ abstammt und schon seit 1915 so im Rechtschreibduden vermerkt ist . Auch durch Digitalisierung und Globalisierung sind etliche Begriffe dazugekommen, wie zum Beispiel Laptop, Browser oder Internet. Sick ist der Auffassung, dass viele dieser neuen Begriffe überflüssig sind: „Aber was an Event toller sein soll als an einer Veranstaltung, ist mir nicht klar. Und ich sage auch nicht Aircondition, wenn ich die Klimaanlage meine. Ich gehe lieber einkaufen, als shoppen, und über meine Texte setze ich statt einer Headline immer noch lieber eine Überschrift (...) (Sick, 2006, S. 582). Hier kann man Sick zustimmen. Würde man jedes deutsche Wort durch das entsprechende englische ersetzen, dann könnte man genauso gut sofort nur noch Englisch sprechen. Doch das ist eben nicht das Ziel der Anglizismen. Sie sollen die deutsche Sprache bereichern und das Sprechen erleichtern, denn bei vielen Ausdrücken wäre die deutsche Variante vergleichsweise umständlich. Bastian Sick schlägt hier auch Alternativen vor: „Als ich das Wort ,Klapprechner‘ zum ersten Mal hörte, habe ich gelacht“ (...) „Inzwischen aber finde ich den Ausdruck ,Klapprechner‘ gar nicht mehr so abwegig und bin auf dem besten Wege, mich richtig daran zu gewöhnen“ (Sick, 2006, S. 584). Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass man eben nicht jeden Anglizismus durch ein deutsches Wort auswechseln kann, da das englische Wort zum einen schon im Sprachgebrauch gefestigt ist und das deutsche Äquivalent in vielen Fällen umständlich und unharmonisch klingt. Des Weiteren führt Sick andere deutsche Wahlmöglichkeiten für Anglizismen auf, die der bereits zuvor genannte Verein Deutsche Sprache vorschlägt: „Auf diese Weise sind bereits diverse kluge Vorschläge zusammengekommen. So wird für den ,Stalker‘ das praktische deutsche Wort ,Nachsteller‘ empfohlen. Statt ,Blackout‘ solle man ,Aussetzer‘ sagen, und für den ,Airbag‘ wurde das Wort ,Prallkis- sen‘ gefunden“ (Sick, 2006, S. 584). Obwohl diese Vorschläge logisch und nachvollziehbar klingen, da sie richtig übersetzt sind, machen sie einen erzwungenen und komplizierten Eindruck, da der Verein Deutsche Sprache eben auf unnatürliche Weise versucht hat, das deutsche Pendant zu bereits „eingebürgerten“ englischen Wörtern durchzusetzen. In Folge 1 von „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ geht Sick mit seiner Anglizismus-Kritik noch weiter. Er bezeichnet den Ausdruck „Das macht Sinn“ als falsches Deutsch, welches von der korrekten englischen Phrase „That makes sense“ abgeleitet wurde: „Herkunftsland dieser Sprachmutation ist wieder einmal ,Marlboro County‘, das Land, wo angeblich alles möglich ist, solange der Strom nicht ausfällt. ,That makes sense‘ mag völlig korrektes Englisch sein, aber ,Das macht Sinn‘ ist alles andere als gutes Deutsch“ (Sick, 2004, S.53). Auf den folgenden zwei Seiten kritisiert Sick nicht nur den Ausdruck an sich sehr scharf, sondern auch alle, die diesen gebrauchen. „Es gibt Menschen, die finden die Phrase ,schick‘, weil ,irgendwie total easy und aktuell mega angesagt‘. Diese Menschen haben ihr Sprachgefühl vor vielen Jahren im Babyhort irgendeiner Shopping-Mall abgegeben und ,voll im Endstress‘ vergessen, es hinterher wieder abzuholen“ (Sick, 2004, S.54). Interessant ist hier eine Beobachtung des Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch, der im Rahmen einer Untersuchung dieses von Kritikern stark thematisierte Phänomen näher betrachtet hat. Stefanowitsch hielt seine Ergebnisse seit 2007 in einem OnlineBlog, genannt „Sprachlog“ fest. Er verweist innerhalb seines Berichts „Max Frisch macht Sinn“ aus dem Jahr 2010 auf den deutschen Dichter Gotthold Ephraim Lessing, der den Ausdruck „Sinn machen“ schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts verwendet hat: „Stattdessen habe ich in der Diskussion auf Gotthold Ephraim Lessing verwiesen, dessen Status als Dichter und Denker unstrittig sein dürfte und in dessen Werken sich die Redewendung gleich zweimal findet: ,Ein Übersetzer muß sehen, was einen Sinn macht‘ Danach beweist Stefanowitsch auch gleich, dass es sich bei „das macht Sinn“ eben nicht um eine stumpfe Übernahme einer englischen Phrase handeln kann und belegt dies auch wieder mit einer Formulierung von Lessing: „Nun ist es wahr, daß dieses eigentlich keinen falschen Sinn macht; aber es erschöpft doch auch den Sinn des Aristoteles hier nicht“. Die Erklärung dazu seitens Stefanowitsch ist nicht nur überzeugend, sondern entkräftet Sicks Argumentation: „Interessant ist im zweiten Zitat der Ausdruck falschen Sinn machen, denn für make wrong sense finden sich zwar vereinzelte Belege auch im Englischen, aber es ist keine gebräuchliche Wendung, sodass man davon ausgehen kann, dass Lessing den Ausdruck nicht einfach imitiert, sondern kreativ verwendet hat.“ Natürlich ist es unmöglich, dass Sick zu den Zeiten seines Werks den erst später veröffentlichten Beitrag gelesen haben kann, doch sollte man davon ausgehen, dass der selbst ernannte „Sprachpfleger“ (Sick, 2004, S.16) sich doch soweit mit der eigenen Sprache beschäftigt haben sollte, dass er seine Behauptungen nicht ohne die notwendigen Nachforschungen blindlings aufgestellt haben sollte. Doch hätte er dies getan, wäre er bei seinen Studien wohl auf die Schriften Lessings gestoßen und hätte seine Argumentation vielleicht noch einmal überdacht oder zumindest nicht ganz so beleidigend formuliert.
[...]
1 Fleischer, Jürg, Schallert, Oliver: Historische Syntax des Deutschen. Eine Einführung. Tübingen: Narr 2011.