Der Vater-Tochter-Inzest in Heinrichs von Neustadt "Apollonius von Tyrland". Ein Tabu in mittelhochdeutscher Literatur


Thèse de Master, 2020

80 Pages, Note: 1,8


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.2 Methodische Überlegungen

2 Inzest
2.1 Geschichtlicher Überblick über den Inzest
2.2 Historischelnzestverbote
2.3 Der Inzest als Forschungsproblem
2.4 Inzest und Ehebruch

3 Inzest und Tabu
3.1 Tabu-Begriff
3.2 Der ethnologische Tabu-Begriff
3.3 Tabu-Verständnis im 20. Jahrhundert
3.4 InzesttabuundEmotionen
3.4.1 Vater-Tochter-Inzest als Tabu
3.4.2 Vater-Tochter-Inzest und Emotion

4 Der Inzest im Kontext von Ehe und Verwandtschaft des frühen Mittelalters
4.1 Begründung des Inzestvergehens im frühen Mittelalter
4.1.1 Töchter als Bräute
4.1.2 Töchter ohne Mutter
4.1.3 Ent-schuldigte Väter, verurteilte Mütter
4.2 Der tabuisierte Personenkreis
4.3 Illegitime Beziehungen
4.3.1 Der Geschwisterinzest
4.3.2 Der Mutter-Sohn-Inzest
4.3.3 DerVater-Tochter-Inzest

5 Heinrich von Neustadt: Apollonius -von Tyrland
5.1 Vorlage: Historia Apollonii regis Tyri
5.2 Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland
5.2.1 PrologundExposition
5.2.2 Verstorbene Mütter, teuflische Liebe und Frau Minne
5.2.3 Der Inzest als Sieg und Niederlage
5.2.4 Das Rätsel
5.2.5 Das Vergessen von Differenzen
5.3 Apollonius Bearbeitungen
5.3.1 Leipziger Apollonius
5.3.2 Heinrich Steinhöwels Apollonius
5.3.3 Zwischenfazit: Apollonius-Vassvmgcn

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Familie, Verwandtschaft, Genealogie - wichtige Themen, die in der mittelalterlichen Kultur und Literatur eine zentrale Rolle spielen. Allerdings dominieren häufig die Konflikte: Väter fehlen, Mütter sterben, Geschwister kommen sich zu nahe und Töch­ter werden missbraucht. Die Missbrauchsthematik ist in mittelalterlicher Literatur häu­fig mit dem Inzest verbunden. Er gehört zu den dunklen Seiten der Mediävistik und regt dazu an, sich mit «etwas Abseitigemja vielleicht sogar Abgründigem, [...] Rät­selhaften, etwas bislang unentdeckt oder unbeachtet Gebliebenem auf dem Gebiet der Mediävistik, der Mittelalter-Forschung und angrenzenden Feldern» zu beschäftigen.1

Die heute «vielfach soziobiologisch begründete Ablehnung des Inzests war im Bewusstsein der Menschen des 15. Jahrhunderts tief verankert».2 Alte Erzählungen warnten zwar stets vor inzestuösem Verhalten, dennoch waren Inzestgeschichten For­schungsgegenstand der Gebildeten zujener Zeit. Der Humanist und Bamberger Dom­herr Albrecht von Eyb erzählt am Ende seines 1472 geschriebenen Traktats eine abschreckende Geschichte, welche vom Vater-Tochter-Inzest handelt. Dabei zeugt ein mächtiger Kaiser mit seiner Tochter einen Sohn, namens Albanus, der wiederum Jahre später seine eigene Mutter zur Frau nimmt.

Der Inzest als universales Phänomen findet bereits im Alten Testament Erwäh­nung, in dem geschrieben ist: «Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten nähern» (Lev 18,6), was als «Blutschande» (Lev 18,20) gebrandmarkt wird und unrein macht.3 Auch in den Suppliken4 findet der Begriff regelmässig Erwähnung. Doch was ist darunter zu verstehen? Mit dem Wort Inzest bezeichnen Kanonisten «eine ge­schlechtliche Verbindung von zwei im verbotenen Grad miteinander verwandten Per­sonen»:5

Ausjedem Geschlechtsverkehr, egal ob das Paar zu diesem Zeitpunkt verheiratet war (affinitas legitima) oder nicht (affinitas illegitima) entsteht eine affinitas superveniens. Schläft also ein Mann mit einer Frau, entsteht die affinitas zwischen dem Mann und allen Blutsverwandten der Frau, der Mann wird in demselben Grad, wie die Frau zu einer dritten Person blutsverwandt ist, zu dieser Person verschwägert.6

Das kanonische Recht hatte im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts ein explizites In­zestverbot formuliert, auf der Basis «älterer Konzilkanones und in Analogie zu den Ehekanones des IV. Laterankonzils».7 Aus diesen Entscheidungen geht hervor, dass eine inzestuöse Handlung «Verlobung nichtig macht und dem schuldigen Teil eine Heirat verboten ist».8 Eine bereits bestehende Ehe hingegen wird durch ein inzestuöses Vergehen nicht aufgelöst. Dennoch, der schuldige Teil «darf [...] vom Partner den Geschlechtsverkehr, das debitum coniugale, nicht mehr verlangen und ihm bleibt nach dem Tod des Partners eine weitere Ehe untersagt».9

Heutzutage versteht man unter dem Inzest «die Kindererzeugung bzw. Begat­tung in engerer Blutsverwandtschaft im gesetzlich verbotenen Sinne, während er die Inzucht als die Kindererzeugung bzw. Begattung in weiterer Blutsverwandtschaft im gesetzlich erlaubten Sinne definiert».10 Durch die verschiedenen Gesetzgebungen, die sich innerhalb der Ländern unterscheiden, sind «die Begriffe Inzucht und Inzest nicht einheitlich, sondemje nach den strafgesetzlichen Bestimmungen wechselnd.»11

Die Inzestthematik sorgt im historischen Kontext fortwährend für ein Span­nungsverhältnis von Universalität und Alterität. Die Forschung vertritt dabei sowohl eine Inzestscheu als auch eine Inzestneigung, wobei insbesondere der Vater-Tochter­Inzest «zu einem Kembestand der zum Teil recht unterschiedlich ausgeprägten kultu­rellen Verbote zu gehören scheint, was nicht zuletzt für die Inzestverbote des Mittel­alters und der Moderne gilt».12 Dabei gibt es wesentliche Unterschiede imjeweiligen Verständnis von Inzest, die unter anderem Themen wie Verbote, Emotionen und Tabuverständnis betreffen. Der literarische Motivkomplex ,Inzest und Tabu’, dessen bemerkenswerte Wirkungsgeschichte «immer auch mit Fragen - und Schwierigkeiten - der ,Zeitenwende’ sowie der Epochenkonstitution verknüpft ist», scheint hierbei not­wendig zu sein. Ausgehend von dieser theoretischen Grundlage soll der Vater-Toch­ter-Inzest in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland untersucht werden.

Die Geschichte vom König Apollonius von Tyrus (Historia Apollonii regis Tyri) gehört zwar nicht zur grossen Literatur der Antike, dennoch ist sie eine Erzäh­lung, deren Verfasser wir nicht kennen, die «jahrhundertelang gelesen, bearbeitet, und in fast allen Sprachen übertragen worden» ist.13 Wir finden sie beispielsweise in der berühmten Sammlung der Gesta Romanorum und auch bei Shakespeare, denn dieser bediente sich in seiner Romanze Pericles, Prince of Tyre ebenfalls des Stoffes.14 Sie handelt vom «Schicksal eines reichen und aus königlichem Haus stammenden Tyrers namens Apollonius, der ais junger Mann in Antiochia die Tochter des Königs Antio­chus heiraten will».15 König Antiochus, nach dem auch die Stadt selber benannt wurde, erfasstejedoch selber ein unnatürliches Verlangen nach seiner eigenen Tochter.

Somit beginnt der Roman mit einem Vater-Tochter-Inzest, dessen Konfliktpo­tential, „in der Binnenhandlung [...] ins Monströse gesteigert [wird], die Wunderwesen des Orients verbindet eine ,artübergreifende sexuelle Begierde’, das Thema der ge­störten Sexualität durchzieht die âventiuren“,16

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich im ersten Teil mit einer theoretischen Aufarbeitung der Thematik, um so eine Grundlage zu schaffen, die dann in einem zweiten Schritt eine genaue Untersuchung der Inzestepisode in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland ermöglicht. Dabei sollen verschiedene Aspekte betrachtet werden, die den Inzest motivieren und somit möglicherweise rechtfertigen.

1.1 Forschungsstand

Aus germanistischer Seite wurde die Gattungszugehörigkeit des Apollonius von Tyr­land, für den Heinrich von Neustadt «Episoden und Motive aus anderen literarischen Stoffen aufgreift», immer wieder kontrovers diskutiert.17 Einerseits wird dem Roman mangelnde Erzähllogik zugesprochen, seine «offensichtliche Kompilationstechnik vorgeworfen und ein schlüssiger übergeordneter Handlungsrahmen abgesprochen».18 Ausserdem spricht man von einer «Verwilderung des Romans», der im Laufe des «mehrfachen Abschreibens, Übersetzens, Bearbeitens und Adaptierens seiner spätan­tiken Vorlage» entstanden ist.19 Andererseits betrachtet man Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland als einen Roman, der über eine «übergeordnete, vor allem heilsgeschichtliche Spannung» verfügt.20

Die unterschiedlichen Urteile verweisen letztlich auf den schwierigen Zugang mit diesem mittelhochdeutschen Text. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich Beiträge zwar immer wieder mit einzelnen Aspekten seiner Interpretation, eine «systemische literaturwissenschaftliche Erschließung» existiert jedoch noch nicht.21 Grund dafür könnte sein, dass der Roman heutzutage nur vergleichsweise wenige Le­ser findet.

Vergleicht man den mittelalterlichen und modernen Inzestdiskurs, fällt auf, dass folgende Aspekte oftmals äusser Acht gelassen werden: «[D]ie Missbrauchsthe­matik, der Vater-Tochter-Inzest und Emotionen».22

Das mittelalterliche Kirchenrecht blendet sexuellen Missbrauch fast gänzlich aus. Die einzige Ausnahme, «die sich im weitesten Sinne als Missbrauchsdelikt lesen lässt, nämlich den ‘Fall Theutberga‘ (9. Jahrhundert), die von ihrem Mann, dem frän­kischen König Lothar II., der vorehelichen Unzucht mit ihrem Bruder Hugbert bezich­tigt wird».23 In theologischen und kirchenrechtlichen Schriften findet der Begriff ‘Missbrauch4 (abusus) zwar Verwendung, meint allerdings «nicht den gewalttätigen Übergriff eines Familienmitglieds auf ein anderes, sondern den Missbrauch der gött­lich gefügten Verwandtschaftsordnung durch inzestuöse Handlungen».24

Der Vater-Tochter-Inzest steht ebenfalls «im Schatten der weitreichenden Ehe­hindernisse»25:

Zwar ist er im Kirchenrecht stets mitgemeint, mitunter wird auch zwischen Inzest innerhalb der näheren und der weiteren Verwandtschaft unterschieden, so zum Beispiel in einigen Straf­normen des weltlichen Rechts oder bei Thomas von Aquin. Doch lässt sich ein Vater-Tochter­Inzest im Konkreten in den Gerichtsakten des Mittelalters nur schwerlich nachweisen, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass das mittelalterliche Inzestrecht auf die Ordnung der Ehe fixiert ist, eine Heirat zwischen Vater und Tochter aber wohl kaum angestrebt worden sein dürfte.26

Jegliche Emotionen, die mit einem Vater-Tochter-Inzest einhergehen, werden eben­falls komplett weggelassen. Umso interessanter erscheint demnach die Frage, wie sich die mittelalterliche Literatur, insbesondere Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, zu diesem Themenkomplex verhält.

1.2 Methodische Überlegungen

Um eine theoretische Grundlage für die Analyse der Inzestepisode in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland zu schaffen, werden zunächst einige Themenkom­plexe behandelt, die den Inzest und damit verbundene Begrifflichkeiten näher beleuch­ten.

Beginnend mit einer Begriffsdefinition und einem historischen Überblick, werde ich zunächst den Inzest als Tabu betrachten. Dabei wird der Tabu-Begriff sowohl all­gemein aufgearbeitet als auch in Verbindung mit dem Vater-Tochter-Inzest. Darauf folgt die Untersuchung des Inzests im Kontext von Ehe und Verwandtschaft, was für diese Arbeit von grosser Wichtigkeit ist, um einen Rahmen für die Analyse zu schaf­fen. Nach dieser theoretischen Einführung wird nun der Inzest zwischen dem König und seiner Tochter in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland genauestens be­trachtet. Dabei soll nicht nur der Inzest selbst untersucht, sondern vielmehr ein Blick darauf geworfen werden, wie dieser begründet bzw. entschuldigt wird. Welche Rolle spielt dabei die fehlende Mutterfigur? Was treibt König Antiochus an, seine eigene Tochter zu missbrauchen? Ist es eine unnatürliche väterliche Liebe oder nur ein sexu­elles Begehren? Wie wird die Inzestthematik behandelt? Finden Emotionen dabei Er­wähnung?

Inzest

Der Begriff Inzest bezeichnet in der Regel «inkriminierte Beziehungen zwischen Ver­wandten».27 Erst um 1600 lässt sich eine «Verengung auf sexuelle Beziehungen»28 feststellen, und um 1800 auf eine solche zwischen Blutsverwandten im modernen Sinne. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass sich rechtliche und lebensweltliche Vorstellungen über die Legitimität inzestuöser Beziehungen voneinander unterschei­den.29

Sprachgeschichtlich lässt sich das Wort Inzest zunächst als Nominalbildung auf castus (lat. «rein, keusch») zurückführen. Mit dem Negationspartikel in zusammenge­setzt, ergibt es nun die Grundbedeutung «unrein, unkeusch». Neben der Geschlechts­vereinigung mit Verwandten, stigmatisiert das römische Recht den Begriff incestus auch als «1. Unkeuschheit der Vestalinnen30, 2. Entweihung heiliger Stätten und 3. verbotene geschlechtliche Vermischung unter Blutsverwandten bis zum 6. Grade».31 Später wurde der Begriff des Inzests dann spezialisiert, um das Vergehen der Blut­schande näher zu bestimmen. Das Wort incestus ist in mittelhochdeutschen Glossen wie folgt übersetzt: «unkeuschheit mit den magen (magen = Blutsverwandten) vel junckfrawen - sippehur - eebruch - erberaubung vel ememung der junck- frawschafft».32 Für das Mittelalter ergibt sich somit im semantischen Feld «ein weite­rer Gegenstandsbereich, der verschiedene Formen von Unreinheit und Unkeuschheit, körperlicher, moralischer und religiöser Befleckung umfasst, worunter auch der Vater­Tochter-Inzest subsumiert wird».33

Heutzutage hat die Definition von Inzest kaum noch etwas mit der veralteten Bedeutung zu tun. Laut dem Duden versteht man unter einem Inzest den «Geschlechts­verkehr zwischen engsten Blutsverwandten».34 Diese Definition impliziert, dass es sich um verschiedene Inzestkonstellationen innerhalb der Kemfamilie handeln kann, so beispielsweise dem Mutter-Sohn-Inzest, dem Vater-Tochter-Inzest und dem Ge- schwisterinzest. Dabei ist der Vater-Tochter-Inzest «die mit Abstand häufigste Inzest­form, geprägt von einem charakteristischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnis, das ihn von anderen Inzestformen abhebt».35

Moderne Inzestdiskurse werden häufig mit einem Diskurs über Kindesmiss­brauch überblendet. Inzest und Missbrauch sind jedoch nicht gleichbedeutend; auch das Strafrecht unterscheidet strikt zwischen beiden Delikten.36 Ausschlaggebend ist in diesem Kontext der Zusammenhang zwischen Inzest und Emotion:

Psychologie und Psychotherapie beschreiben Scham- und Schuldgefühle, Ekel und Abnei­gung, Angst und Ohnmachtserfahrung, Trauer und Niedergeschlagenheit als typische Reakti­onen auf den Inzest; positive Emotionen wie Zuneigung und Respekt treten erschwerend hinzu; den Tätern wird ein eklatanter Mangel an tiefen und dauerhaften Emotionen attestiert, der nicht selten in der eigenen Sozialisation begründet liegt.37

Siegmund Freud bietet mit seinem «psychoanalytischen Basisnarrativ vom Ödipus­Komplex» eine andere Perspektive: das kindliche Begehren richtet sich als unbewuss­ter Wunsch auf den gegengeschlechtlichen Elternteil, der als «,besetzt‘ und ,verboten‘ erkannt wird, was Neid, Eifersucht und Todeswünsche dem ,besitzenden‘ und Lust und Verlangen dem ,begehrten‘ Elternteil gegenüber hervorruft».38 Diese Annahme ist jedoch aufgrund zahlreicher realer Inzestfälle vielfach kritisiert worden, was «den Va­ter-Tochter-Inzest in besonderer Weise tangiert, agieren doch mehrheitlich Männer als Aggressoren, nicht Töchter als Verführerinnen».39 Sowohl im psychologischen als auch im psychoanalytischen Modell wird deutlich, dass aus moderner Perspektive ein sehr enger Zusammenhang zwischen Inzest und Emotion besteht.40

2.1 Geschichtlicher Überblick über den Inzest

Die Geschlechtsverbindung unter nahen Verwandten gibt ist in der Geschichte schon seitjeher. Dabei treten die ersten Inzestregungen «bei allen Völkern seit frühesten Zei­ten [...] [in] beliebten Mythen und Sagen» auf.41 So war es aus der Göttersage bei den alten Griechen «die erotische Zweieinigkeit der göttlichen Geschwister Zeus und Hera» und bei den alten Ägyptern Isis und Osiris, «die miteinander vermählt, den Ho­ros erzeugten».42 In einer Reihe alter Kultur- und Naturvölker waren «geschlechtliche Verbindungen unter Blutsverwandten nicht allein nicht verboten, sondern geradezu gerne eingegangen, ja mit Hinweis auf göttliche Vorbilder direkt geboten wurden».43 Der Inzest war folglich bei den altern Kulturvölkern, den Ägyptern, Persern und Peru­aners weit verbreitet.

Über die Eheschliessung bei den Ägyptern ist lediglich bekannt, dass die Ehe zwischen Geschwistern schon sehr früh vorkam und als Normalität galt. Oftmals hei­ratete ein Bruder seine Schwester, «da derartige Ehen bei der beanspruchten Göttlich­keit der Pharaonen die einzig standesgemäßen waren».44 So war beispielsweise Kleo­patra die Tochter einer Geschwisterehe, die Enkelin von einem weiteren Geschwister- paar, die Enkelin der Berenike45, die selbst sowohl Nichte als auch Schwester ihres Gemahls war.

Bei den Israeliten waren jegliche inzestuöse Verbindungen durch die mosai­sche Gesetzgebung46 strengstens verboten. Damit waren die «Ehen in gerader Linie der Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft, unter Geschwistern, zwischen Tante und Neffen, ferner mit dem Weib des Bruders, außer zu Leviratszwecken47 ».48 Verstosse gegen dieses Gesetz wurden schwer gebüsst. Hierbei findet das bekannte Vater-Tochter-Verhältnis zwischen Lot und seinen Töchtern Erwähnung, bei der die beiden Töchter ihrem Vater Wein zu trinken geben und dann mit ihm schlafen, um seine Samen zu erhalten.

Die Abscheu der Griechen gegenüber dem Inzest wird bei König Ödipus deut­lich: König Ödipus erschlug seinen Vater und Lais und «heiratete ohne sein Wissen und Wollen seine Mutter Jocaste, mit der er vier Kinder zeugte».49 Die Griechen wer­ten dieses Verhalten als Blutschande50.

Auch bei den Römern war der Inzest gesetzlich verboten. Das Verbrechen des inzestuösen Verhaltens entsteht nach römischem Recht «aus der geschlechtlichen Ver­bindung zweier Personen, zwischen denen die Ehe wegen zu naher Verwandtschaft verboten ist».51 Alle Glieder derselben Familie waren ursprünglich «einem einzigen Haupte unterstellt, das sich die Schwiegersöhne aus der gens52 wählte».53 Sie galten als seine Kinder, weshalb eine Ehe untereinander strengstens verboten war. Die Ver­urteilung inzestuösen Verhaltens erfolgte sowohl durch die christliche Kirche als auch die weltliche Obrigkeit.54 Im alten Germanien hingegen verhielt man sich dem Inzest gegenüber anders: Die meisten indogermanischen Völkerschaften hatten keine beson­dere Scheu vor ehelichen Verbindungen unter Blutsverwandten; ebenso wenig kann­ten sie «strikte endogame Heiratsregeln».55 Lediglich Ehen zwischen «Aszendenten56 und Deszendenten sowie zwischen Geschwistern»57 waren verboten. Über das Straf­verfahren inzestuöser Verfahren ist hierbei nichts Sicheres bekannt.

In den mittelalterlichen Stadtrechten unterscheiden sich die Strafandrohungen für inzestuöses Vergehen. So ging man im alten Nürnberg wie folgt vor:

[D]er Inzest [war] ein sehr häufig begangenes Verbrechen, das stets mit dem Leben gesühnt wurde. Außer mit den allernächsten Blutsverwandten war Blutschande denkbar mit der Stieftochter, der Nichte, der Schwägerin, mit zwei Verschwisterten, mit einer Frau und ihrer Tochter. Der Versuch stand der vollendeten Tat gleich; die reguläre Strafe war das Schwert. [...] In Verbindung mit anderen Verbrechen trat Strafverschärfung ein, wie z.B. das angebliche Ölsieden bei Notzucht an der Mutter. Entferntere Verwandte strafte man milder, ebenso den passiveren Teil. Sonst wurde weder Alter noch Jugend berücksichtigt.58

Im Laufe der Geschichte gibt es sowohl bei der Entstehung der Inzestscheu als auch bei der Entwicklung der Abneigung gegen den Inzest die verschiedensten Auf­fassungen.59

2.2 Historische Inzestverbote

Im Mittelalter gilt der Inzest selbst zwar als universales Phänomen, allerdings lassen sich die Inzestverbote nicht verallgemeinern.60 Sie können zunächst als kirchliche Ehe­verbote beschrieben werden, «die ausgehend vom Frühmittelalter eine zunehmende Ausweitung und Radikalisierung erfahren».61

In erster Linie bildet die Bibel die Bezugsquelle der mittelalterlichen Inzest­verbote, «die maßgeblich im Buch Levitikus sanktionierte Verbindungen anführt».62 Dabei fällt der Vater-Tochter-Inzest unter das «allgemeine Gebot, nicht mit einer Blutsverwandten zu schlafen [...], konkretisiert in dem Verbot, mit der Tochter oder Enkeltochter einer Frau, mit der man verkehrt, eine Verbindung einzugehen».63 Über­dies werden weitere blutsverwandte Frauen gelistet: «Mütter [...], Schwester und Halbschwestern [...] sowie Tanten [...], wobei die Adressaten der Verbote stets Män­ner, die Zielobjekte stets Frauen sind, so dass eine spezifische Geschlechterordnung aufscheint».64 Die levitischen Vorschriften beziehen sich hierbei nicht nur auf den Be­reich der Blutsverwandtschaft (consanguinitas), wie etwa die modernen Definitionen von Inzest, sondern auch auf Verbindungen innerhalb der Schwägerschaft (affinitas) wie beispielsweise die Ehefrau des Onkels oder des Sohnes. Das Verwandtschaftsver­hältnis der affinitas «gründet dabei auf der una caro-Lehre, der zufolge Mann und Frau durch den Beischlaf zu ‘einem Fleiscü werden».65 Dieser Zusammenschluss zweier Blutkreisläufe bedeutet, dass «die Verwandtschaftsgrade, innerhalb derer Heirat nicht möglich ist», sich übermässig ausdehnen.66 Bereits in der Schöpfungsgeschichte wird dieser Gedanke formuliert und später im Neuen Testament bestätigt. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts geschieht dann folgendes:

[D]er Bischof und Kirchenlehrer Basilius von Caesarea [übertragt] die una caro-Lehre auf die Inzestverbote und passt sie der christlichen Lehre an, derzufolge die ‘Einheit des Fleisches‘ eine ewige, über den Tod hinaus gültige ist. In der Konsequenz werden die Verwandtschafts­typen consanguinitas und affinitas fortan gleichgestellt.67

Neben der Bibel stellt das römische Recht eine weitere «legislative Ursprungslinie der Gesetzgebung im Mittelalter» bereit, welches zeitgleich eine schrittweise Erweiterung der Eheverbote einsetzt, die «mit den frühen Konzilien im 6. Jahrhundert vorangetrie­ben wird».68 Es kam die geistliche Verwandtschaft hinzu, «die bei Taufe und Firmung zwischen den leiblichen Eltern und den Paten entstand und gleichfalls ein Heiratsver­bot nach sich zog».69

2.3 Der Inzest als Forschungsproblem

Im Rahmen der Forschungsgeschichte zum Inzest ist es neben der Rechtswissenschaft vor allem die Soziologie und Sozialanthropologie, die sich immer wieder mit diesem Thema befasst hat. Dabei werden «[verschiedene gesellschaftliche Systeme der Ge­genwart aber auch der Vergangenheit [...] nach diesem Phänomen befragt, um den Ursachen des Inzestverbotes näher auf die Spur zu kommen».70 Drei Autoren bilden mit ihrer «kulturphilosophische[n] und -anthropologische[n] Theoriebildung»71 einen zentralen Stellenwert für den Zusammenhang von Inzest und Tabu.

Prinzipiell besteht die Meinung, dass «der Inzest als Verbot, einen nahen Ver­wandten zu ehelichen»72 alle gesellschaftlichen Systeme durchzieht, nur diejeweilige Ausprägung ist unterschiedlich. Durch seine allgegenwärtige Präsenz in Gesellschaf­ten beansprucht der Inzest universale Geltung. Die Theorien, wie und weshalb die In­zestthematik ein solch bedeutendes kulturübergreifendes Phänomen darstellt, nehmen immer weiter zu und sind kaum noch zu überschauen.73

Grundsätzlich lassen sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht zwei Strömun­gen als Erklärung erkennen. Zunächst sind verschiedene Soziologen bzw. Sozialanth­ropologen der Meinung, dass “das Inzestverbot vornehmlich die Institution ist, die Verwandte schafft“.74 Der Gedankengang dabei ist folgender:

Indem bestimmte Mitglieder der eigenen Verwandtschaft für eine Eheschließung tabuisiert sind [...], ist nur eine Heirat außerhalb der eigenen Verwandtengruppe möglich. Diese negative Ausrichtung des Inzestes, gerade nicht die eigene Schwester oder Mutter zu ehelichen, bein­haltet letztlich die positive Implikation, die eigene Familie zu öffnen sowie Bande und Allian­zen außerhalb derselben zu schaffen.75

Neben dieser Ansicht gibt es auch Vertreter, die das Inzesttabu als «Schritt der Menschheit zur sozialen Organisation»76 begreifen, denn:

Es regele Beziehungen zwischen den Geschlechtern, aber auch innerhalb eines gesellschaftli­chen Systems als Ganzes. Das Inzestverbot, so Bronislaw Malinowski bereits 1934, rühre ‘in­nerhalb der biologischen Familie von einem inneren Widerspruch zwischen unvereinbaren Ge- fühlen‘ her. Es bringe die Inkompatibilität von elterlicher bzw. geschwisterlicher Liebe und der sexuellen Begierde zueinander zum Ausdruck. Die Existenz des Verbots schließt ein Ge­schlechtsverhältnis ebenso wie eine Heirat direkt aus. Es stellt Spielregeln in einem bestimmten gesellschaftlichen System auf, die ein verbindliches Verhalten einerseits einfordem, anderer­seits aber vor allem Orientierung bieten und das Leben so erleichtern.77

Auch Bronislaw Malinowskis Ansatz ist letztlich gegen eine Vertauschung von so­zialen Rollen, sondern strebt vielmehr eine soziale Stabilisierung der Gesellschaft an. Der Soziologe Edmund Leach fügt dem hinzu, dass die Funktion des Inzest-Tabus darin bestehe, «ein Durcheinander der sozialen Rollen zu verhindern».78 So kann bei­spielsweise eine Frau, «die zur Mutter in der eingeheirateten Familie geworden ist, [...] aufgrund ihres klar definierten Status als Mutter nicht mehr Heiratsobjekt eines anderen Familienmitglieds werden».79 Nur Frauen, die noch keine derartige Funktion in der Familie übernommen haben, können das. Diese Theorie beinhaltet zwei Voraus­setzungen, die für die frühmittelalterliche Problematik entscheidend sind: Einerseits geht Leach davon aus, «dass es die Frau ist, die als Fremde in die Familie eintritt und als solche die Unreinheit an sich trägt».80 Sie ist diejenige, die noch gereinigt werden muss. Andererseits setzt diese Denkweise «eine Konstruktion von Verwandtschaft vo­raus, welche die Frau als Fremde in die Familie ihres Mannes eintreten und erst im Laufe der Zeit, nämlich im Mutterwerden, zum echten Mitglied der neuen Verwandt­schaft werden lässt».81

Diese bislang lückenhaften und unbefriedigenden Antworten auf den Inzest als ein allgemeinmenschliches Phänomen werden von dem Rechtshistoriker Uwe Wesel wie folgt zusammengefasst:

[B]is heute ist der genaue Zusammenhang und sind die Gründe von Exogamie nicht geklärt. Man kann nur sagen, beide sind universale Prinzipien, Grundlage menschlicher Existenz. Es gibt sie überall, wo Menschen Zusammenleben, aber auch ein Wirrwarr verschiedener Regeln, Vorstellungen und Sanktionen. Unterschiedlich ist die Reichweichte des Verbots, die Intensität der Sanktionen und unterschiedlich sind in verschiedenen Gesellschaften die Vorstellungen über seine Gründe. Das Durcheinander ist so groß, daß in letzter Zeit seine Universalität wieder in Zweifel gezogen werden konnte.82

Aus soziologischer Perspektive lässt sich zusammenfassend sagen, dass die kulturelle Deutung des Inzests sich auf die Feststellung beschränkt, dass der Inzest «durch seine Allgemeingültigkeit zwar zum Naturmerkmal, durch die Vielfalt seiner Form aber zur Kulturerscheinung‘ wird».83 Somit leistet er «den Übergang vom Na­turzustand zum Kulturzustand, sozusagen als Bindeglied zwischen naturgegebener Blutsverwandtschaft und kulturstiftender Allianz oder Ausheirat».84 Da die Inzestthe­matik ein sehr komplexes System ist, welches von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird, muss stets der gesamte Kontext analysiert werden, in den der Inzest eingebunden ist.85

2.4 Inzest und Ehebruch

In mittelhochdeutschen Romanen gehört die Eheschliessung zu einem handlungsstruk­turierenden Element. Die Suche nach dem passenden Ehegatten bringt jedoch zwei Problemkomplexe der Partnerschaft mit sich: den Inzest und den Ehebruch. Der Inzest stellt «ein gesellschaftsübergreifendes Tabu dar, indem das Inzestverbot als Schnitt­punkt zwischen Natur und Kultur gewertet wird, welches die Individuen in Verwandte und Nichtverwandte unterteilt und damit potenzielle Paarungspartner markiert».86 Diese Thematik erhielt insbesondere durch das Entscheidungsverbot der christlichen Lehre gesellschaftliche Relevanz.

Der Ehebruch als Vergehen hingegen beruht «auf gesellschaftlichen Konven­tionen, was sich letztlich in der praktizierten Doppelmoral des Mittelalters und der frühen Neuzeit manifestiert».87 In der christlichen Lehre wird der Ehebruchjedoch bei beiden Partnern als Todsünde bewertet und ist dementsprechend «integraler Bestand­teil des theologischen Diskurses; in den Ehedidaktiken des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit spielt er allerdings keine große Rolle, da er als Tabu selbstverständlich ist».88 Dort wo der Ehebruch dennoch thematisiert wird, kommen Autoren «je nach Zielgruppe und Sichtweise zu unterschiedlichen Ergebnissen»89: Der Ehediskurs, wel­cher an beide Geschlechter gerichtet ist, gibt beiden Parteien die gleiche Schuld, wenn «Streit und Hass schließlich dazu führen, dass einer von beiden sich anderen Partnern zuwendet».90 Somit hatten auch Frauen das Recht, die Untreue ihres Gatten anzupran­gern oder konnten infolge einer lieblosen Ehe fremdgehen. Durchaus geläufiger war jedoch der misogyne Diskurs, der davon ausging, «dass Frauen auf der einen Seite sexuell unersättlich und deshalb zu beaufsichtigen seien, während Männer auf der an­deren Seite den vielfältigen Verlockungen nicht widerstehen koönnten».91 Die Frau musste also den Ehebruch des Mannes akzeptieren, während der Mann verhindern musste, dass seine Ehegattin eine Gelegenheit bekam, ihren Neigungen zu folgen.92 Männer konnten sich ihre Freiheiten herausnehmen, doch ein Fehltritt seitens der Frau wurde mit einer Entehrung bestraft. Das Ertappen von handgreiflichen Taten auch mit dem Tod, konnte doch die persönliche Ehre des Mannes wiederhergestellt werden, indem er selbst die Beleidigung rächte. Das kanonische Recht hingegen «lehnte solche Rache ab, denn 'im Kirchenrecht ist eine private Sühnung des Ehebruchs prinzipiell fremd'».93

Im Rahmen der Ehevorstellungen des Mittelalters gehört der Inzest auch zu einer wichtigen Thematik; ihn traf ein absolutes Verbot. Während die Bibel «nur den geschlechtlichen Umgang mit den nächsten Angehörigen [verurteilte], so weitete das frühe Mittelalter das Inzestverbot bis zum siebten Verwandtschaftsgrad aus».94 Wer «innerhalb dieser Grade, deren Anzahl erst 1215 reduziert wurde, heiratete oder ge­schlechtlichen Umgang hatte, galt als vom Makel des Inzestes besudelt».95 Auchjener, der mit einem Gottesverwandten, beispielsweise einer Nonne, oder «mit jemandem aus seiner geistlichen Verwandtschaft, etwa mit Pate oder Patin, bzw. Patensohn oder Patentochter, in sexuelle Beziehung trat»96, wurde inzestuös. Gelegentlich glaubte man sogar, den Beteiligten die «weitere Ehefähigkeit absprechen zu müssen», da sie «zu beschmutzt» waren.97 Das Eheverständnis im Mittelalter und den damit verbun­denen Inzestkomplex versucht der französische Historiker wie folgt zu erklären: [...] das Blut fortzupflanzen, ohne daß sich seine Qualität veränderte, ohne daß es, wie man damals sagte, 'degenerierte', seine genetische Kraft verlöre».98 Darin scheint auch ein wichtiger Hinweis für die Angst vor dem Inzest zu liegen; «dieser bewirkte eine Ver­schmutzung, eine pollutio des Blutes, wie es beispielsweise die Synode von Tribut in einer langen Liste von Fällen zum Ausdruck brachte».99 Man fürchtete, dass diese Verschmutzung die Essenz des Blutes zerstörte, «was sich dann durch die in der ge­schlechtlichen Vereinigung bewirkte Vermischung des Blutes weiter übertrug».100

Inzest und Tabu

Der Inzest wird oft als das Paradebeispiel für Tabus angeführt. Siegmund Freud schreibt in seiner kulturphilosophischen Abhandlung Totem und Tabu (1913) folgen­des über den Tabubegriff:

Wenn ich die Eindrücke meiner Leser richtig abzuschätzen weiß, so getraue ich michjetzt der Behauptung, sie wüßten nach all diesen Mitteilungen über das Tabu erst recht nicht, was sie sich darunter vorzustellen haben und wo sie es in ihrem Denken unterbringen können. [...] Aber andererseits fürchte ich, eine eingehendere Schilderung dessen, was man über das Tabu weiß, hätte noch verwirrender gewirkt, und darf versichern, daß die Sachlage in Wirklichkeit recht undurchsichtig ist.101

Hierbei spricht er etwas an, was heute noch von Bedeutung ist, und zwar, dass das Word Tabu ein verwirrender Begriff ist. Zum einen hängt es damit zusammen, dass er einer fremden Sprache und Kultur (dem Polynesischen) entnommen ist, und zum an­deren, dass «das Tabu etwas Undefinierbares, der Erfahrung Unzugängliches be­schreibt».102 Folglich waren sich europäische Ethnographen nicht einig darüber, ob tapu ‘heilig‘ oder ‘unrein‘ meint. Der Hermeneutiker PAUL RlCffiR begreift das Tabu als etwas Anziehendes und Gefürchtetes zugleich. Vor diesem Hintergrund ist Freuds Passage über den verwirrenden Begriff des Tabus zu verstehen: «Die Undeutlichkeit, ja geradezu Unheimlichkeit des Begriffs setzt die Produktion von Mythen in Gang [,] [djenn mit dem Berühren der Ebene des Tabus setzt zugleich das Erzählen ein, das sich in einer narrativen Struktur niederschlägt».103 In seiner Schrift Totem und Tabu knüpft Freud die Vorstellung vom Tabu eng an die Inzestthematik und stellt sich da­mit «in eine Traditionslinie der episteme des 20. Jahrhunderts».104

3.1 Tabu-Begriff

Im umgangssprachlichen Verständnis wird der Begriff Tabu als «Bezeichnung für all jene ‘verbotenen4 Themen, Bereiche, Dinge benutzt, über die man nicht sprechen kann und die man nicht tut, deren Verbot (Tabuierung, Tabuisierung) aber im allgemeinen weder rational legitimiert noch funktional begründet ist».105 Besonders auffällig ist, dass der Begriff sehr ambivalent ist: Einerseits sollen Tabus nämlich verabschiedet werden, da sie als überflüssig und anachronistisch gelten. Andererseits wird jedoch nach einer Weidereinführung gerufen. Im Grunde genommen sollen Tabus helfen «dem Verfall der Prinzipienmoral entgegenzuwirken»106, denn ein Tabu erscheint dann, wenn «Krisen und Verfallserscheinungen in der modernen Gesellschaft beklagt werden und von Wertewandel und Werteverlust die Rede ist».107 Meistens wird der Begriff des Tabus «an die Vorstellung sexueller Freiheit oder aber Regulierung ge­bunden»:

Einerseits sollen Tabus fallen, damit sich Menschen verwirklichen und in Tabuzonen vordrin­gen können, andererseits wird - beispielsweise angesichts der Kinderpomographie und anderer Sexualstraftaten - vehement nach Tabus in Form von verschärften Gesetzen und härteren Stra- fengerufen.108

Hierbei gehen die beiden Redeweisen von einer ähnlichen Prämisse aus, und zwar der, dass «die Idee der Freiheit mit der des Tabus unvereinbar sei, ja, daß sie sich sogar kontradiktisch gegenüberstehen».109 So wird das Tabu als «Sanktionsmacht verstan­den, das ein Herrschaftsinstrument ist und aus dem Weg geräumt oder aber als Regu­lierungsprinzip und Verbot bestätigt werden muß».110 Das Tabu ist gleichzeitig aber auch ein subjektives Empfinden, weshalb Emotionen wie Scheu und Scham stets mit dem Tabu assoziiert werden. Ohne das Tabu würde «Bewußtsein für die Endlichkeit und Abgründigkeit des Lebens»111 verloren gehen. Von Hoff nimmt an, dass sich der Begriff des Tabus, ähnlich wie der Begriff der Würde, gegen eine eindeutige Defini­tion sperrt. Es hält das Leben in Spannung und bewahrt somit seinen geheimnisvollen Charakter. Der ambivalente Charakter des Inzest-Tabus erweist sich für die literari­schen Inzest-Fälle als fundamental:

[O]hne Inzest-Tabu gibt es auch keinen Inzest, womit in methodischer Hinsicht zunächst nicht mehr als eine ,Koinzidenz’ (nicht aber eine Kausalität’) von Verbot und Übertretung, von Grenze und Überschreitung behauptet werden soll. Anders gesagt: vordringlich „die literari­sche Produktivität des Verbotenen“ ist es, die interessiert.112

Die englische Anthropologin Mary Douglas definiert den Inzest als ein Pro­totyp der Verunreinigung. Ihrer Auffassung zufolge besteht die Funktion des Tabus darin, «Grenzen zu setzen und damit Ordnung in eine sonst chaotische Wahrnehmung zu bringen».113 Letztlich sei es nicht wichtig, was in einer Gesellschaft «als unrein und abscheulich betrachtet wird, wesentlich ist vielmehr, daß symbolische und moralische Grenzen gezogen werden».114 Binäre Unterscheidungen (rein/unrein, gut/böse, hei- lig/profan) ordnen nämlich die Welt und halten Identitätsmuster für die Menschen be­reit.

3.2 Der ethnologische Tabu-Begriff

Der Begriff Tabu kommt ursprünglich aus der Sprache des indigenen Volks des Maori in Neuseeland, der Maori-Sprache. Dabei ist die etymologische Bedeutung des Wortes tapu auf ta (‘bezeichnen4) und^w (‘ausserordentlich4) zurückzuführen. Normalerweise wird er verwendet, «um Wesen und Sachen, die nicht berührt werden dürfen, zu be­zeichnen, da sie in irgendeiner Weise als außergewöhnlich gelten».115 Setzt man sich jedoch genauer mit dem Phänomen auseinander, wird schnell klar, dass man sich nicht einig darüber war, ob der Begriff tapu Bereiche des Heiligen oder Unreinen meint.116 Diese Doppeldeutigkeit ist das charakteristische und gleichzeitig faszinierende an dem Begriff. Mit Tabu ist normalerweise «etwas Heiliges oder Göttliches gemeint, das überlieferungsgemäß ein Meiden erfordert».117 So wird in vielen Völkern das Berüh­ren von Toten und der ihnen zugehörigen Dinge als gefährlich angesehen und daher vermieden, doch auch Wörter können tabu sein. Tabus decken sich folglich in ihrem «Bedeutungsumfang nicht mit dem Lateinischen ‘sacer‘, wie verschiedentlich ange­nommen wurde».118 Dennoch beruhen zweifellos etliche Tabuvorstellungen auf reli­giösen Anschauungen. Ausserdem können Tabus auch «zeitlich begrenzt sein oder aufgehoben werden, weshalb auch bei vielen Tabuvorschriften durchaus profane Ge­sichtspunkte maßgebend sein können».119 So gibt es Unterschiede innerhalb der Ta­buierungen:

Es gibt zum Beispiel Tabuierungen, die den Sinn haben, persönliches Eigentum zu schützen, also aus rechtlichen Erwägungen erwachsen sind. Auch soziale, wirtschaftliche und anderer Gründe führen zu Tabumaßnahmen. In verschiedenen Kulturen besteht ein enger Zusammen­hang zwischen ‘Mana‘ und ‘Tabu‘; während das Mana eher die positive Energie und heilige Elemente beschreibt, verweist das Tabu auf einenverdrängten und negativen Bereich.120

[...]


1 Bulizek, Die dunklen Seiten, S. 9.

2 Schmugge, Ehenvor Gericht, S. 61.

3 Vgl. Angenendt, Ehe, S. 94.

4 Bittschrift an den Papst zur Erlangung eines Benefiziums. «Supplik» auf Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Supplik (Abrufdatum: 10.09.2019).

5 Schmugge, Ehenvor Gericht, S. 61.

6 Ebd. S. 61.

7 Schmugge, Ehenvor Gericht, S. 61.

8 Ebd. S. 62.

9 Ebd. S. 62.

10 Többen, Inzest, S. 2.

11 Ebd. S. 2.

12 Hagemann, Vater-Tochter-Inzest, S. 2.

13 Waiblinger, Historia Apollonia regis Tyri, S. 6.

14 Vgl. ebd. S. 6.

15 Ebd. S. 6.

16 Hagemann, Inzestthematik, S. 144.

17 Krenn, Minne, S. 13.

18 Ebd. S. 13.

19 Ebd. S. 14.

20 Ebd. S. 14.

21 Achnitz, Babylon, S. 239.

22 Hagemann, Vater-Tochter-Inzest, S. 14.

23 Ebd. S. 14.

24 Ebd. S. 14.

25 Ebd. S. 14.

26 Ebd. S. 14.

27 Jäger, Enzyklopädie, S. 1089.

28 Ebd. S. 1089.

29 Vgl. ebd. S. 1089.

30 Eine römische Priesterin der Göttin Vesta (Göttin des Herdfeuers). «Vestalin» auf Duden online. URL: https://duden.de/rechtschreibung/Vestalin (Abrufdatum: 10.11.2019).

31 Többen, Inzest, S. 1.

32 Ebd. S. 1.

33 Hagemann, Vater-Tochter-Inzest, S. 3.

34 «Inzest» aufDuden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Inzest (Abrufdatum: 11.11.2019).

35 Hagemann, Vater-Tochter-Inzest, S. 4.

36 Vgl. Archibald, Incest, S. 5.

37 Hagemann, Vater-Tochter-Inzest, S. 4.

38 Ebd. S. 4f.

39 Ebd.S.5.

40 Vgl. ebd. S. 5.

41 Többen, Inzest, S.l.

42 Többen, Inzest, S.l.

43 Ebd. S. 2.

44 Ebd. S. 2.

45 Berenike war eine ägyptische Königin (58-55 v. Chr.) aus der Ptolemäerdynastie (Ptolemäer = Mit­glieder der makedonisch-griechischen Dynastie).

46 Das mosaische Gesetz ist das Gesetz, das Mose den Kindern Israel vermittelte - auch als moralische Grundlage für Christen.

47 Die Leviratsehe ist die Ehe eines Mannes mit der Frau seines kinderlos verstorbenen Bruders (um einen Erben für den Verstorbenen zu zeugen; im Alten Testament und bei Naturvölkern). «Leviratsehe» auf Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Leviratsehe (Abrufdatum: 30.09.2019).

48 Többen, Inzest, S. 4.

49 Többen, Inzest, S. 5.

50 Die Sprache der Griechen kennt zwar keinen gleichbedeutenden Begriff der Blutschande, aber den­noch drücken sie den Begriff durch klar bezeichnende Umschreibungen aus. (Vgl. Többen, Inzest, S. 5)

51 Többen, Inzest, S. 9.

52 AltrömischerFamilienverband. «Gens» aufDudenonline. URL: https://www.duden.de/rechtschrei- bung/Gens (Abrufdatum: 24.11.2019).

53 Többen, Inzest, S. 9.

54 Vgl. ebd. S. 9f.

55 Ubl, Inzestverbot, S. 78.

56 Vorfahr, Verwandter in aufsteigender Linie. «Aszendent» aufDuden online. URL: https://www.du- den.de/rechtschreibung/Aszendent (Abrufdatum: 24.11.2019).

57 Ubl, Inzestverbot, S. 78.

58 Többen, Inzest, S.13.

59 Vgl. ebd. S. 16.

60 Vgl. Angenendt, Ehe, S. 94.

61 Hagemann, Vater-Tochter-Inzest S. 5.

62 Ebd.S.5.

63 Ebd. S. 5.

64 Ebd.S.5.

65 Ebd. S. 5.

66 Angenendt, Ehe, S. 94.

67 Hagemann, Vater-Tochter-Inzest, S. 6.

68 Hagemann, Vater-Tochter-Inzest, S. 6.

69 Angenendt, Ehe, S. 94.

70 Weber, Gesetz, S. 192.

71 vonHoff, Familiengeheimnisse, S. 55.

72 Weber, Gesetz, S. 192.

73 Vgl. ebd. S. 192.

74 Ebd. S. 192.

75 Ebd. S. 192.

76 Weber, Gesetz, S. 193.

77 Ebd. S. 193.

78 Ebd. S. 193.

79 Ebd. S. 193.

80 Leach, Kultur und Kommunikation, S. 97.

81 Ebd. S. 96.

82 Wesel, Geschichte des Rechts, S. 20f.

83 Weber, Gesetz, S. 194.

84 Ebd. S. 194.

85 Vgl. ebd. S. 194.

86 Schönhoff, Wandel derKonzepte, S. 62.

87 Ebd. S. 62.

88 Ebd. S. 62f.

89 Ebd. S. 63.

90 Schönhoff, Wandel der Konzepte, S. 63.

91 Ebd. S. 63.

92 Vgl. ebd. S. 63.

93 Angenendt, Geschichte der Religiosität, S. 290.

94 Ebd. S. 290.

95 Ebd. S. 290.

96 Ebd. S. 290.

97 Ebd. S. 290.

98 Duby, Ritter, Frau und Priester, S. 45.

99 " Angenendt, Geschichte der Religiosität, S. 290.

100 Ebd. S. 290.

101 Freud, TotemundTabu, S. 314.

102 vonHoff, Familiengeheimnisse, S. 29.

103 Ebd. S. 29.

104 Ebd. S. 29.

105 Ebd. S. 30.

106 vonHoff, Familiengeheimnisse, S. 30.

107 Ebd. S. 30.

108 Ebd. S. 30.

109 Ebd. S. 30.

110 Ebd.S.3O.

111 Ebd. S. 30.

112 Endres, Inzest und Tabu, S. 450.

113 vonHoff, Familiengeheimnisse, S. 35.

114 vonHoff, Familiengeheimnisse, S. 35.

115 Ebd.S.32.

116 Vgl. Bamard/Spencer, Encyclopedia, S. 542.

117 vonHoff, Familiengeheimnisse, S. 32.

118 Ebd.S.32.

119 Ebd.S.32.

120 Ebd. S. 32f.

Fin de l'extrait de 80 pages

Résumé des informations

Titre
Der Vater-Tochter-Inzest in Heinrichs von Neustadt "Apollonius von Tyrland". Ein Tabu in mittelhochdeutscher Literatur
Université
University of Basel  (Philosophisch-Historisches Institut)
Note
1,8
Auteur
Année
2020
Pages
80
N° de catalogue
V934132
ISBN (ebook)
9783346274670
ISBN (Livre)
9783346274687
Langue
allemand
Mots clés
Heinrich von Neustadt, Inzest, Apollonius, Tabu, Geschwister, Vater, Tochter, Mittelalter
Citation du texte
Valdrina Stublla (Auteur), 2020, Der Vater-Tochter-Inzest in Heinrichs von Neustadt "Apollonius von Tyrland". Ein Tabu in mittelhochdeutscher Literatur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/934132

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