Multiliteralität

Wie kann Englischunterricht den Veränderungen begegnen, die eine global vernetzte Welt aus wachsender sprachlicher und kultureller Vielfalt bereit hält?


Examensarbeit, 2008

54 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Begriff Multiliteralität
2.1 Multiliteralität im Ausland

3. Kulturelle Hintergründe als Potenzial im Klassenraum

4. Europaidentität - kulturelle Vielfalt in deutschen Klassenräumen

5. Fremdsprachenkompetenzen für Multiliteralität

6. Warum Multiliteralität in deutsche Schulen gehört

7. The New London Group - Ursprung des Konzeptes „A Pedagogy of Multiliteracies“
7.1 Bedeutungsmuster - Designing Social Futures
7.2 Das „Design“-Konzept der New London Group zur Theorie und Unterrichtsmethodik
7.2.1 Situated Practice
7.2.2 Overt Instruction (Lehrkontext)
7.2.3 Critical Framing (kritisches Hinterfragen)
7.2.4 Transformed Pratice (umgesetzte Praxis)

8. Anforderungen an die Lehrperson
8.1 Multiliteralität fördern - mögliche Ansätze
8.2 Ideenansätze für Multiliteralität im Fremdsprachenunterricht
8.2.1 Multiliterale Umgebung schaffen
8.2.2 Muttersprachler einsetzen
8.2.3 Multiliteralitätsprojekte schaffen
8.2.4 Sprachzentren für die einzelnen Sprachen
8.2.5 Information über Wissenshorizont der Schüler
8.2.6 Neue Medien einsetzen
8.2.7 Einbeziehen von weiteren Muttersprachlern
8.2.8 Übersetzungen in authentische Situationen
8.2.9 Schülererfahrungen und Vorwissen

9. Die Praxis
9.1 Multiliteralität in der Grundschule - Beispiel Texas
9.2 Unterrichtsbeispiele aus eigener Praxis
9.3 Unterrichtsbeispiel „Good Will Hunting“ im methodischen Konzept von Multiliteralität

10. Studie zu Multiliteralität in der Sekundarschule - Simulationsvorlage IDEELS

11. Forschungshypothesen und Forschungsbeschreibung
11.1 Auswertung der Fragen
11.2 Zusammenfassung der statistischen Ergebnisse
11.3 Erklärungsansätze

12. Schlussbetrachtung
12.1 Multiliteralität in deutschen Klassenräumen - Ein Ausblick

13. Literatur

1. Einführung

Diese Arbeit zeigt die Ursprünge von Multiliteralität auf und beschreibt in diesem Zusammenhang Praxisbeispiele, die auf multiliteralen Konzepten aufgebaut sind und bereits im Ausland mit Erfolg angewendet werden. Vor diesem Hintergrund wird der Einzug von Multiliteralität in deutsche Klassenräume diskutiert, einerseits im Hinblick auf Europaidentität, aber auch aus dem Blickwinkel einer kommunikativ immer enger miteinander verbundenen Welt, die von kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit geprägt ist. Was bedeutet Multiliteralität, und kann das methodische Konzept, das sich hinter dem Begriff verbirgt, zum Beispiel durch die Bewusstmachung autonomer Lernstrategien, die Herausbildung selbstkritischer Fähigkeiten, oder die Reflexion neuen Wissens auf bereits vorhandenes Wissen, in der Folge auch die Türen zu Erfolgen in der PISA[[1]] oder DESI[[2]] öffnen?

Die Schüler in Deutschland wachsen heute in einer Welt auf, die in Bezug auf verschiedene Kulturen, Sprachendiversifikation und Kommunikationswege sehr eng zusammen gerückt ist. Es ergeben sich dadurch auf der einen Seite eine Reihe von Möglichkeiten und Chancen zur frühen Bewusstmachung für Andersartigkeit und zur frühen Vorbereitung der Schüler auf die technologischen, sprachlichen und kulturellen Herausforderungen. Auf der anderen Seite bergen die Geschwindigkeit und die Variabilität, mit denen sich diese Veränderungen ergeben, auch eine Menge Risiken, sodass einer gewissenhaften und gründlichen Vorbereitung auf die Herausforderungen eine besonders große Bedeutung zukommt.

Dadurch ergibt sich bereits, dass die Veränderungen nicht nur auf die Schüler zukommen, sondern dass ebenso an die Lehrperson neue Anforderungen gestellt werden. In einigen englischsprachigen Ländern gibt es bereits nachweisbare Erfolgsverbindungen zwischen dem Konzept der Multiliteralität und schulischem Erfolg bei Schülern. In dieser Arbeit werden daher Unterrichtsbeispiele für Multiliteralität vorgestellt, und es wird ein Zusammenhang mit möglichen Auswirkungen auf den traditionellen Englischunterricht hergestellt.

2. Begriff Multiliteralität

Es liegt bisher noch keine eindeutige Definition des Begriffes Multiliteralität vor. Auch die Autoren der New London Group (1996), deren Multiliteralitäts-Konzept in Kapitel 7 dieser Arbeit ausführlich erläutert wird, geben keine Definition des Begriffes. Sie beschreiben aber, dass der Begriff zum einen die Vielzahl an Kommunikationsmedien und -wegen beinhaltet, die uns in der heutigen Zeit sowohl im Alltag als auch im Schul- und Berufsleben begleiten und zum anderen die wachsende Zahl kultureller und sprachlicher Vielfalt (vgl. New London Group 1996: 4).

Bach (2007) formuliert seine vorläufige Definition des Begriffes Multiliteralität als die Fähigkeit, mit einer Sprache so sicher umgehen zu können, dass man in ihr kommunizieren, organisieren und strukturieren kann, sich also Wissen selbst in einer Sprache aneignen und dieses Wissen dann auch im zielorientierten Dialog mit anderen anwenden kann (vgl. Bach 2007: 23). Ein Bestandteil dieser Selbstorganisation sei der Erwerb von multimedialer Kompetenz, also der Fähigkeit, Informations- und Kommunikationstechnologien verwenden zu können (ebd.).

Sowohl die Kommunikationstechnologien als auch die wachsende Anzahl an Kulturen haben unseren Alltag bereits verändert, und sie werden unser Leben in Zukunft in noch größerem Umfang beeinflussen. Das Internet ermöglicht beispielsweise die Informationsbeschaffung und den kommunikativen Austausch weltweit, ohne zeitliche Verzögerungen in Kauf nehmen zu müssen. Die Vielfalt der Kulturen begegnet uns im Alltag in verschiedenster Weise. Die Europäische Union erweitert sich beispielsweise um immer mehr Teilnehmerländer. Es entstehen dadurch immer mehr Möglichkeiten, seine beruflichen Perspektiven auch im europäischen Ausland zu suchen. Im Sport ist kulturelle Verschiedenartigkeit heute längst ein fester Bestandteil und wird von den Medien werbewirksam genutzt. Aber auch ein Blick in die multikulturellen Klassenräume verdeutlicht die Veränderungen im Zuge der Globalisierung.

Aufgrund dieser komplexen Anforderungen an multiliterale Lerner können die Unterrichtsmethoden nicht mehr auf standardisierte Fähigkeiten ausgerichtet sein, sondern müssen sich einer variablen und diversifizierten Lebensweise anpassen.

2.1 Multiliteralität im Ausland

Der kulturelle Hintergrund der Schüler in Ländern wie Australien, den USA, Großbritannien und Kanada scheint offensichtlich verschiedenartig genug für die Anwendung multiliteraler Konzepte im Englisch- und Fremdsprachenunterricht. Die kulturellen unterschiedlichsten Herkünfte der Schüler werden dabei in den Fokus der Unterrichtseinheiten gerückt. Nicht das reine Erlernen einer zentralen Sprache durch grammatikalisch eng vorgegebene Strukturen bestimmt den Unterricht, sondern die Kommunikation auf den verschiedenen Ebenen der Muttersprachen der Kinder. So wird jeder Kultur im Unterricht Beachtung geschenkt, und die Kinder lernen mehr über die kulturellen Hintergründe ihrer Mitschüler und erfahren gleichzeitig Wissenswertes über andere Länder, deren Sprachen und Kulturen.

Courtney Cazden (2000) berichtet beispielsweise von einer Grundschulklasse in Brookline, Massachusetts, einem Vorort von Boston an der Ostküste der USA. Die Lehrerin führte für die Kinder aus verschiedenen Sozialschichten und kulturellen Herkünften eine sogenannte „sharing time“ (vgl. Cazden 2000: 322) ein, in der die Kinder die Möglichkeit bekamen, persönliche Geschichten vor der Klasse vorzutragen. Die Lehrerin selbst hielt sich während der sharing time passiv im Hintergrund auf. Vom Stuhl der Lehrerin aus erzählten die Kinder zuerst ihre Geschichte und begannen dann Fragen an die Klasse zu stellen. Die Mitschüler wiederum gaben Kommentare an den Erzähler. Die Lehrerin beobachtete deutliche Veränderungen in der Art und Weise wie die Kinder miteinander kommunizierten, sowohl beim Reden als auch beim gegenseitigen Zuhören. Die unterschiedlichen qualitativen Voraussetzungen der Kinder waren bei dieser Unterrichtsmethode durchaus gewollt. So bekam auch eine 6-jährige Schülerin mit erheblichen sprachlichen Problemen ihre sharing time.

Sinn und Zweck dieser Unterrichtseinheit war, den Kindern die Möglichkeit zu geben, persönliche Geschichten zu erzählen. Die Schüler erhalten dadurch einen geschützten Raum und die Zeit, um sicherer in ihrem Auftreten zu werden, Ängste und Hemmungen abzubauen und ein Gefühl für Kontrolle zu bekommen. Darüber hinaus erhält die Lehrperson wichtige Informationen für die Unterrichtsgestaltung. Wenn die Kultur der Lehrperson während des Schuljahres Teil des Bewusstseins der Kinder wird, so müssen zunächst die Kulturen der Kinder im Bewusstsein der Lehrperson verankert sein (vgl. Bernstein 1990: 56). Nach diesem „Leitsatz“ konnte die Lehrerin auch ihrem Unterrichtsziel nachgehen und eine Kultur und Gemeinschaft im Klassenraum entwickeln, in der alle Kinder einen wichtigen Teil einnehmen.

Dies ist nur ein Beispiel, wie durch Multiliteralitätsprojekte Vorerfahrungen und aktuelles Wissen von Schülern genutzt und ihre affektiven (also gefühlsbezogenen) und soziokulturellen Identitäten in den Unterricht mit einbezogen werden. Mit diesem Fundus an Wissen können dann im Unterricht Räume geschaffen werden, in denen die Kinder sich neues Wissen durch Riskieren und Vertrauen leichter und vor allem authentischer aneignen können. Weitere Praxisbeispiele folgen in dieser Arbeit.

3. Kulturelle Hintergründe als Potenzial im Klassenraum

Einer der wichtigen Gründe für die Einführung von Multiliteralitäts-Projekten in deutsche Klassenräume ist die Nutzung des Potenzials, das verschiedene kulturelle Hintergründe mitbringen. Es soll nicht versucht werden, die Klasse auf einen (womöglich noch den kleinsten gemeinsamen) Nenner zu bringen, sondern umgekehrt muss die Klasse bereits als Einheit gesehen werden, die gemeinsam mit der Lehrperson die verschiedenen kulturellen Hintergründe und sprachliches Vorwissen aufarbeitet. Auf der einen Seite dient diese Art der Beachtung vorhandenen Wissens der Horizonterweiterung der Schüler. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch die frühe Bewusstmachung der Andersartigkeit. Durch das Aufmerksammachen auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Kulturen, lernen die Kinder diese Verschiedenartigkeit bereits früh als natürlichen Bestandteil der Gesellschaft kennen. Kulturellen Konfliktsituationen und Auseinandersetzungen, die aufgrund von Missverständnissen und mangelndem Wissen über andere Kulturen entstehen, wird auf diese Weise entgegenwirkt. Bernstein (1990) formuliert es treffend, indem er sagt, wir müssen „die Beziehung zwischen sozialer Klasse und pädagogischem Erfolg schwächen“ (Bernstein 1990: 79).

Der Lehrer soll zunächst Beobachter und Ethnograph („Ethnographie = Völkerbeschreibung“) der Schüler sein, damit er sich ein besseres Verständnis davon machen kann, was der Schüler kann. Es ist dabei wichtig, wie Cazden (2000) beschreibt, dass sich der Lehrer auf die Stärken und nicht auf die Schwächen der Schüler konzentriert (vgl. Cazden 2000: 322-323). Die Fähigkeiten des Sprechens und des Hörverstehens stehen dabei unter besonderer Beobachtung. Diese Vorgehensweise des Lehrers mag eigenartig erscheinen und nicht einfach umzusetzen zu sein, aber Lehrer die Außenseiter in Bezug auf die Kultur der Schüler sind, werden noch weitaus mehr Schwierigkeiten haben, beim Schüler Quellen zwischen dem vorhandenen Wissen und dem neu zu lernenden Wissen zu finden. Die Lehrperson muss sich im Klaren darüber sein, dass jeder Schüler solche Quellen von Vorwissen besitzt und in den Klassenraum mitbringt. Es liegt in der Verantwortung der Lehrperson, zu versuchen diese zu verstehen. Das Beispiel der Brookline School veranschaulicht den Stellenwert der kulturellen Beachtung im Klassenraum.

4. Europaidentität - kulturelle Vielfalt in deutschen Klassenräumen

Kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Nationen bekommen im Hinblick auf die EU-Erweiterung ein immer stärkeres Gewicht. Mit der stetig weiter wachsenden EU und der immer internationaler werdenden Klassenräume auch bei uns in Deutschland, ist eine Einführung der Multiliteralität und der damit verbundenen methodischen und didaktischen Konzepte überfällig geworden. Europa will sich politisch und wirtschaftlich stark präsentieren, um auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben und um diese Konkurrenzfähigkeit weiter ausbauen zu können.

Hinderlich für diese angestrebte Stärke ist dabei jedoch die von Thalmaier (2007) aufgeführte geringe Europaidentität. Ihrer Ansicht nach sind sowohl eine unzureichende institutionelle Struktur als auch ein strukturelles Defizit in Bezug auf eine einheitliche Demokratie die Gründe für eine mangelnde Identifikation mit der Europäischen Gemeinschaft (vgl. Thalmaier 2007: 4). Besonders auf der Ebene der institutionellen Struktur krankt laut Thalmaier, die Wahrnehmung einer europäischen Gemeinsamkeit (ebd.). Es müssen daher Ausbildungssituationen und Kommunikationsanlässe geschaffen werden, die es den europäischen Bürgern erleichtern, sich dieser Wahrnehmung überhaupt bewusst zu werden und sie dann zu schärfen.

Die Europäische Union (EU) verfolgt seit Jahrzehnten eine auf Europaidentität gerichtete Politik. Immer mehr Staaten sollen der EU beitreten, um ein stärkeres Gemeinschaftsgefüge in die Welt zu tragen. Nur kann die gewollte Identifikation der Bürger mit der EU erst dann eintreten, wenn sie im europäischen Raum auch kommunizieren können, das politische Gemeinwesen akzeptieren und sich mit ihm legitimieren.

Die Förderung europäischer Mehrsprachigkeit ist dabei eines der Ziele des Gemeinsamen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001) und damit ein wichtiger Bestandteil auf dem Weg zu einem europäischen Identifikationsprozess. Immer mehr Staaten mit immer mehr kulturellen und sprachlichen Unterschieden bedeuten aber vor allem im Bildungssektor eine Bereitschaft, sich auf die zukünftig wachsende Diversifikation in Europa einzustellen und die Herausforderungen anzunehmen.

Für den schulischen Kontext bedeutet dies konkret, dass die im Klassenraum vorhandenen unterschiedlichen Kulturen und Sprachen nicht ignoriert werden dürfen, sondern eine Bewusstmachung der Andersartigkeit aufgezeigt werden muss. Der Klassenraum bietet mit der vorhandenen Diversifikation der Herkünfte den optimalen Ort für eine Förderung nicht nur von Europaidentität sondern darüber hinaus für die Förderung eines Toleranzdenkens und eines Wir-Gefühls.

Bereits in der Grundschule sind verschiedenste Muttersprachen und kulturelle Herkünfte vorhanden (siehe Beispiel Brookline). Ihnen muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn das reine Erlernen von Sprachen ignoriert wichtiges Potenzial auf dem Weg zu einer Europaidentität und Europakompetenz. So gehört unabdingbar auch die Fähigkeit, sich über die verschiedenen europäischen Kulturen austauschen zu können und Unterschiede und Gemeinsamkeiten im gemeinsamen Diskurs herausarbeiten zu können, zu den Eckpfeilern einer Identifikation mit Europa.

5. Fremdsprachenkompetenzen für Multiliteralität

Der Begriff Fremdsprachenkompetenz hat in den letzten Jahren vor allem auch im Hinblick auf den Wegfall vieler europäischer Grenzen und im Zuge der Verbreitung des Internet eine neue Bedeutung bekommen. So formuliert Bach (2003), dass durch Sprachkompetenz Strategien für ein lebenslanges Lernen entwickelt und gefördert werden (vgl. Bach 2003: 270). Nicht also die bloße Fähigkeit, schriftliche Texte in einer Zielsprache möglichst grammatikalisch einwandfrei deuten und interpretieren zu können, beschreibt den Begriff der Fremdsprachenkompetenz, sondern mindestens zu gleichen Teilen auch die Fähigkeit, authentische Sprachanlässe zu verstehen, sowie reale interkulturelle Situationen in der Zielsprache verarbeiten und ausprobieren zu können. Sprache begegnet uns heute im alltäglichen Leben in unzähligen Situationen, wie zum Beispiel im Fernsehen, im Internet, auf Werbeplakaten, im Supermarkt, aber eben auch, bedingt durch die Ausweitung der Europäischen Union und die Öffnung der Grenzen zu vielen Nachbarstaaten, durch die steigende mehrkulturelle Gesellschaft. Durch Letzteres wird Sprache nicht nur mehr und mehr Teil unseres privaten Lebens, sondern auch unseres beruflichen Alltags.

Im Umkehrschluss bedeutet das, dass im Unterricht heute schon früh mehr Wert auf mündliche Sprechanlässe gelegt werden muss. Wichtig ist dabei, dass diese Sprechanlässe die im Klassenraum vorhandene Mehrsprachigkeit berücksichtigt. Wenn bereits mehrere Sprachen im Klassenraum vorhanden sind, herrscht sozusagen ein optimales Verhältnis von Angebot und Nachfrage vor, welches lediglich genutzt werden muss. Eine solche Situation eines perfekten Marktes wäre beispielsweise für die Wirtschaft wünschenswert, ist dort jedoch, im Gegensatz zum Klassenraum, nicht realisierbar.

Ein Ziel des Sprachenlernens ist das Verstehen des Fremden (vgl. Meißner 2007: 4). Nur bedarf es dazu mehr als der bloßen Aneinanderreihung von Sprachvermittlungskompetenzen, wie grammatischen Regeln oder Vokabellisten. Fremdverstehen impliziert vor allem die Fähigkeit, eigenes Wissen zu dem neu zu erwerbenden Wissen in Beziehung setzen zu können und so ein Sprachbewusstsein zu bekommen. Kompetenz in der Zielsprache kann sich dann am besten entwickeln, wenn der Bestand an Wissen genutzt wird, um Sprachhypothesen aufzustellen und diese dann selbst auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können (ebd.).

Auch das Bewusstsein über andere Kulturen wird auf die gleiche Weise geschult. Wenn Perspektivenwechsel vom eigenen Standpunkt zum fremden erfolgen und Vergleiche zwischen dem Bekannten und dem Fremden, sowie zwischen verschiedenen Informationen eines neu zu erwerbenden Wissens und eines anderen (gerade neu erworbenen) Wissens gezogen werden können, ist Fremdverstehen möglich.

Die hier angesprochenen Perspektivenwechsel sind Teil autonomer Lernprozesse, bei denen es darauf ankommt, dass der Lerner seine Sprachbewusstheit und die Lernbewusstheit miteinander verbindet. Die selbst erarbeiteten Lernprozesse werden mit dem Lernerfolg immer wieder verglichen und auf ihre Tauglichkeit überprüft. Auf die gleiche Weise können auch Vergleiche zwischen Sprachen und Kulturen angestellt werden (vgl. Raabe 1998: 7).

Als ein praktisches Unterrichtsbeispiel zeigt Meißner (2007) unter anderem, wie Muttersprachen in verschiedenen Übungen in den Fremdsprachenunterricht einbezogen werden können. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Wichtigkeit von sogenannten „Sprachbrücken“ (Meißner 2007: 6). Fremdwörter seien demnach (noch) nicht Teil des Wortschatzes. Um Verbindungen zwischen deutschem Wort und Fremdwort herzustellen, schlägt Meißner daher vor, eine Sensibilisierung herbeizuführen, indem die Schüler Wortlisten in Deutsch und der Zielsprache nach bestimmten Kategorien zusammenstellen. Nicht nur wird dadurch für die Schüler eine autonome Lernsituation aufgezeigt, sondern gleichzeitig erfolgt eine Erweiterung des Wortschatzes mittels einer selbst erarbeiteten Lernmethode.

6. Warum Multiliteralität in deutsche Schulen gehört

Die bestehenden Multiliteralitäts-Konzepte verdeutlichen schon durch die aktive Teilnahme der Schüler, dass sie dem Begriff der Bildung weitaus näher stehen als dem Begriff der Erziehung. Immer ist der Lerner selbst in die Wissenserarbeitungsprozesse mit eingebunden. Dies erscheint auch mir einer der wesentlichen Punkte zu sein, der den Begriff Erziehung zumindest im Hinblick auf das Lernen als nicht mehr zeitgemäß erscheinen lässt. Moderne Unterrichts-Konzepte enthalten vielmehr Techniken, bei denen sich jeder Lerner sein Wissen durch die aktive Auseinandersetzung mit der entsprechenden Materie selbst aneignet, wie zum Beispiel das Lerntagebuch (De Florio-Hansen 1999), das Portfolio (Nieweler 1997), oder die Selbstreflexion eigener Fehler (Kleppin 2000).

Wesentlicher Bestandteil der Herangehensweise an neues Wissen sind dabei immer die Prozesse der Bedeutungsaushandlung. Erst durch dieses Aushandeln und Hinterfragen bekommen die Inhalte für jeden Einzelnen ihre unverkennbaren und wirksamen Sinnzusammenhänge. Das Wissen, dass auf diese Weise entsteht, ist bedeutungsvoll für den jeweiligen Lerner und kann nun leichter in anderen Kontexten angewendet und mit ihnen in Beziehung gebracht werden, als dies der Fall wäre, wenn Wissen „anerzogen“ und bedeutungsleer nach bestimmten vorgegebenen Schemata gelehrt wird.

Die Fähigkeit, durch kommunikative Anlässe neues Wissen auszuhandeln und sich zu erschließen, muss in den heute vielfach multikulturellen Klassenräumen genutzt werden, um Mehrsprachigkeit und Multiliteralität zu fördern. Der Begriff Multiliteralität umfasst neben der Fähigkeit, sich in mehreren Sprachen ausdrücken zu können, vor allem auch die Möglichkeit, sich in ihnen kommunikativ und zielsicher bewegen zu können. Darüber hinaus sollen die Schüler lernen, sich der multimedialen Kommunikationswege in mehreren Sprachen bedienen und sprachliche Unterschiede erkennen zu können und dann im Folgenden auszuhandeln. Kulturelle und sprachliche Barrieren werden dadurch abgebaut bzw. entstehen gar nicht erst.

Das Dilemma, in dem sich die EU befindet, die das Ziel ausgegeben hat, Lern- und Arbeitsbereiche für Europäer zu schaffen, ist die Tatsache, dass Literalität eher auf einer nationalen Ebene als auf einer europäischen Ebene gesehen wird und daher einsprachig konzipiert ist (vgl. Bach 2007: 24). Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie haben Deutschland und anderen europäischen Ländern jedoch aufgezeigt, dass Literalität in dieser einsprachigen Konzeption nicht funktioniert.

Auch bei der DESI-Studie („Deutsch Englisch Schülerleistungen International“) von 2006 wurde durch empirische Arbeit belegt, dass diejenigen Schüler Fremdsprachen leichter lernen, die zweisprachig (also durch einen nicht-deutschen Elternteil) aufwachsen. Dagegen schneiden Kinder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch, die also nach und nach zweisprachig aufwachsen, laut der DESI-Studie 2003/2004 in Englisch und in Deutsch schlechter ab (vgl. Klieme 2006: 5-6). Diese Untersuchungen verdeutlichen, dass die Förderung von Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht in Deutschland bisher keinerlei Beachtung findet.

Multiliteralität vereint Aspekte wie die in Folge der Globalisierung immer stärker präsente Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Der Einsatz von Multiliteralitäts-Konzepten im Englischunterricht ist daher längst überfällig. Das Modell der New London Group entspricht dieser Form der Multiliteralität und wird hier in seinen Grundzügen vorgestellt.

7. The New London Group - Ursprung des Konzeptes „A Pedagogy of Multiliteracies“

Mehrfach wurde hier bereits verdeutlicht, dass Migration, verschiedene kulturelle Herkünfte und die weltweite wirtschaftliche Integration ein Umdenken in der Art und Weise, wie Sprachen heute gelernt werden sollen, dringend notwendig machen. Sprachliche Vielfalt bekommt, gerade im Hinblick auf Globalisierung und Arbeitsmärkte, einen immer wichtigeren Stellenwert. Kulturelle und sprachliche Vielfalt sind Begriffe, die sich heute in unzähligen Diskussionen wieder finden. Dies ist ein deutliches Signal dafür, dass sich das Sprachenlernen verändern muss.

Welche Veränderungen ergeben sich konkret für uns privat, in der Öffentlichkeit und in der Arbeitswelt? Die New London Group (im Folgenden NLG) ist eine Gruppe von amerikanischen, britischen und australischen Wissenschaftlern, die mit ihrem Manifest „A Pedagogy of Multilieracies“ der zentralen Frage nachgehen, wie mit dem Unterrichten von Literalität in einer Welt sprachlicher und kultureller Vielfalt sowie weltweiter Vernetzung umzugehen ist.

Bill Cope und Mary Kalanzis (2000), zwei der Autoren der NLG, beschreiben den Menschen als Person, die mit den Veränderungen dreier Lebenswelten konfrontiert ist; der privaten, derjenigen als Person im Staat und der des Arbeitslebens. Die Veränderungen, auf die sich Multiliteralität in diesem Umfeld der Lebenswelten bezieht, sind zum einen die wachsende sprachliche und kulturelle Vielfalt und zum anderen die zunehmenden Kommunikationswege und -technologien (vgl. Cope/Kalanzis 2000: 3).

Konkreter gesagt verlangt die Arbeitswelt heute, dass sich der Mensch mit den neuen Technologien und Kommunikationswegen nicht nur auskennt, sondern sie auch sicher anwenden kann. Darüber hinaus soll er in der Lage sein, neue Kommunikationskulturen zu entwickeln, um den Hierarchie- Veränderungen in der Arbeitswelt begegnen zu können.

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Ende der Leseprobe aus 54 Seiten

Details

Titel
Multiliteralität
Untertitel
Wie kann Englischunterricht den Veränderungen begegnen, die eine global vernetzte Welt aus wachsender sprachlicher und kultureller Vielfalt bereit hält?
Hochschule
Universität Bremen
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
54
Katalognummer
V93473
ISBN (eBook)
9783638063234
Dateigröße
544 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Multiliteralität
Arbeit zitieren
Alexander Meyer-Diekena (Autor:in), 2008, Multiliteralität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93473

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Titel: Multiliteralität



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