Inwieweit wird der Begriff Inklusion durch neoliberale Argumentationsstrukturen begründet?

Eine Analyse der hegemonialen Diskurse Egalität und Exzellenz zur Begründung von Inklusion


Hausarbeit, 2018

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Divergente Verständnisse von Inklusion
2.1 Historische Entwicklung
2.2 Aktuelle Entwicklungen
2.3. Normalismusverständnisse

3. Neoliberale Argumentationsstrukturen in der Begründung von Inklusion
3.1 Neoliberalismus
3.2 Die Humankapitaltheorie im Inklusionsdiskurs
3.3 Einfluss auf den Inklusionsdiskurs
3.4 Individualisierung/ Neue Lernkultur
3.5 Umgang mit dem Begriff Vielfalt
3.6 Chancengleichheit

4. Zwischenfazit
5. Hegemoniale Diskurse
5.1 Vorstellung der Analyse
5.2 Theoretischer Inklusionsdiskurs
5.3 Praxisorientierter Inklusionsdiskurs

6. Fazit

7. Ausblick: Gefährdung des Sozialen durch eine Vereinnahmung des Begriffs Inklusion

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Geht es um die paradigmatische Ausrichtung der Bildungspolitik in Deutschland, so ist der Begriff Inklusion in den letzten Jahren immer bedeutender geworden. Ferner ist ein breiter wissenschaftlicher Diskurs zu dem Thema entstanden, der in sich heterogen erscheint. Mit der Salamanca-Erklärung der UNESCO-Konferenz aus dem Jahr 1994 trat Inklusion als Ziel internationaler Bildungspolitik auf. Spätestens seit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung aus dem Jahr 2008, in der sich die Unterzeichnerstaaten dazu verpflichten, ein inklusives Bildungssystem zur Verfügung zu stellen, ist Inklusion ein bestimmendes Thema bildungspolitischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen in Deutschland und Europa geworden.

Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist, wie unterschiedlich Inklusion verstanden wird und die Frage inwieweit sie durch neoliberale Argumentationsstrukturen begründet wird sowie ausblicksartig, welche bildungspolitischen Maßnahmen daraus folgen. Eine solche Betrachtung soll offenlegen, inwieweit Inklusion einer bestimmten paradigmatischen Orientierung folgt. Eine solche Offenlegung soll es erleichtern, bestimmte Maßnahmen hinsichtlich der ihr zu Grunde liegenden ideologischen Motivation zu analysieren und Ansatzpunkte zu liefern, diese zu kritisieren. Eine solche Kritik wird vielleicht in der Lage sein, die Ausrichtung und Auslegung des Begriffs sowie die praktische Ausgestaltung in der Zukunft zu beeinflussen.

Bei näherer Betrachtung dieser Fragestellung fällt auf, dass bei der Begründung von Inklusion neoliberal orientierte Argumente sehr wohl Eingang in den inklusionsbefürwortenden Diskurs finden. So finden sich immer wieder Argumentationsstrukturen die Inklusion befürworten und sich in ihrer Begründung primär ökonomisch orientieren. Dies überrascht angesichts der von der UNESCO formulierten, als unveräußerlich geltenden Menschenrechte auf Teilhabe1. Diese Form der Begründung von Inklusion legt nahe, das Verhältnis von Inklusion und Neoliberalismus näher zu betrachten und unterschiedliche Argumentationsstrukturen im Fachdiskurs über Inklusion mit dem Ziel zu untersuchen, inwieweit neoliberale Argumentationsstrukturen zur Begründung von Inklusion leitend sind und in welcher Form hier diskursive Kämpfe ausgetragen werden. Es bleibt zu prüfen, inwieweit Inklusion als Instrument neoliberaler gesellschaftlicher Transformation gesehen werden kann. Hierzu sollen exemplarisch einige wissenschaftliche Beiträge zur Inklusionsdebatte betrachtet werden.

Um eine derartige Betrachtung durchführen zu können, sollen in einem ersten Schritt unterschiedliche Inklusionverständnisse herausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck wird auf die historische Bedeutung des Begriffs sowie kurz auf seine normativen Bezugspunkte eingegangen. Ferner werden unterschiedliche Verständnisse und Begründungsansätze von Inklusion im aktuellen wissenschaftlichem Diskurs vorgestellt und betrachtet, inwiefern diese an neoliberale Ideologien anschlussfähig sind. Inklusion erscheint auf diese Weise nicht als einheitlich definierter Begriff, sondern als eine Art Vision, die sich aus verschiedenen Ansätzen speist und auf sehr unterschiedliche Art und Weise umgesetzt werden könnte und wird. In vielen der vorgestellten Beiträge finden sich sowohl neoliberal- als auch normative, an den Menschenrechten orientierte, Argumente.

In einem zweiten Schritt wird versucht, diese unterschiedlichen Verständnisse zu systematisieren. Hierzu dient der Ansatz von Ulrich Bröckling & Tobias Peter als Analyseeinheit. Hier sollen die vorher identifizierten Inklusionsverständnisse unter den beschriebenen hegemonialen Diskursen von Egalität und Exzellenz so weit wie möglich subsumiert werden. Diese Arbeit beinhaltet keine Diskursanalyse wie sie Bröckling und Peter durchführten, sondern versucht, Aspekte der durchgeführten Analyse auf den Diskurs von Inklusion zu übertragen. Ziel dieser Systematisierung soll eine differenziertere Betrachtung von unterschiedlichen Inklusionsverständnissen und ihren Begründungen sein. Ferner sollen mögliche Konsequenzen im politischen Kontext ausblicksartig skizziert werden. Ziel der Arbeit ist es nicht, ein einheitliches Verständnis zu entwickeln, sondern die unterschiedlichen Ansätze mit ihren Begründungen zu identifizieren, Kämpfe um Deutungshoheit aufzuzeigen und Effekte einer möglichen Vereinnahmung aufzuzeigen.

Gleichzeitig wird mit Blick auf mögliche Überschneidungen der Begründungsstrukturen erkennbar, in welchen Punkten die jeweilige Position geschärft werden müsste, um einer möglichen Vereinnahmung durch die jeweils andere Seite zu entgehen. Daran anschließend, soll am Schluss der Arbeit ausblicksartig auf die Gefährdung des Sozialen als Folge von neoliberaler Ausdeutung von Inklusion eingegangen werden.

2. Divergente Verständnisse von Inklusion

2.1 Historische Entwicklung

Im Folgenden soll erst kurz auf die historische Entwicklung des Begriffs Inklusion eingegangen und nachfolgend divergente Verständnisse und Begründungen desselben exemplarisch vorgestellt werden.

Historisch betrachtet lässt sich konstatieren, dass der Begriff Inklusion relativ neu in pädagogischen Debatten ist. Mit wenigen Ausnahmen existiert erst seit der Salamanca-Erklärung ein reger Diskurs zu dem Begriff Inklusion. In Kanada, was als Mutterland der inklusiven Schule gilt, gab es vereinzelt schon vorher Publikationen, in denen der Begriff auftauchte und inhaltlich diskutiert wurde (vgl. Sander, 2002, S. 145 f.). In den USA wurde der Begriff ebenfalls schon früher verwendet. In der Publikation von Reynolds aus dem Jahr 1976 wurde der Begriff bereits in den 1970er Jahren in Abgrenzung zum sogenannten „Mainstreaming“ und den dort vorherrschenden Selektionsmechanismen diskutiert (vgl. Reynolds, 1976, zit. n. Hinz, 2008, S.34).

Im deutschsprachigen Raum dominierte bis 1994 und darüber hinaus der Terminus „Integration“ die Debatte. Dahinter stand eine schon seit längerem existierende Bewegung.

Unter dem Begriff der Integrationsbewegung wurden hauptsächlich Eltern, Lehrer*Innen, Wissenschaftler*Innen aus dem Bereich der Sonderpädagogik und der allgemeinen Pädagogik sowie Selbstvertretungsgruppen von Menschen mit Behinderung gefasst, deren Ziel es war, „schulische und gesellschaftliche Nichtaussonderung von Menschen mit Behinderung“ voranzubringen (Prengel, 1995, S. 139).

In Folge der Salamanca-Erklärung wurde in Deutschland der Begriff „Integration“ weitgehend durch „Inklusion“ ersetzt.

Was die inhaltlichen Dimensionen des Inklusionsbegriffs anbelangt, trug die internationale Auseinandersetzung dazu bei, den Begriff in der deutschen Fachdiskussion zu etablieren und in der aufkommenden Begriffskontroverse um Integration und Inklusion zu bestärken. Dennoch hat sich der Inklusionsbegriff in Deutschland primär durch die inhaltliche Abgrenzung und Gegenüberstellung zum Integrationsbegriff präzisiert und inhaltlich aufgeladen (vgl. Köpfer, 2012). Inhaltlich dominierte in der Debatte vor allem die politische Dimension des Begriffs, sodass eine Änderung des Verhaltens sowie strukturelle Veränderungen der Gesamtgesellschaft gefordert werden müssten (vgl. Becker, 2015, S. 54 f.). Die paradigmatischen Grundsätze solcher Veränderungen zu erkennen kann eine konkretere Kritik an bildungspolitischen Maßnahmen ermöglichen, die über eine allgemeine Ideologiekritik hinausgeht.

2.2 Aktuelle Entwicklungen

Die Diskussion, diese Begriffe synonym zu verwenden, zeugt davon, dass es im Diskurs sehr unterschiedliche Verständnisse dieser Begriffe existieren. Einige Ansätze weisen große Ähnlichkeiten zu dem Verständnis von Integration auf, da häufig von „Inklusion in etwas“ gesprochen wird. Ich möchte hierbei nicht weiter auf die inhaltliche Komponente der Begriffskontroverse eingehen, da diese für diese Arbeit nicht weiter von Bedeutung sein wird.

Stattdessen soll hier dargestellt werden, inwieweit unterschiedliche Verständnisse von Inklusion ausdifferenziert und begründet werden.

Hinz fasst die neuere Entwicklung des Diskurses wie folgt zusammen:

„Und wie bei jedem Begriff, der eine neue Orientierung repräsentiert und damit allzu schnell zum unscharfen bis konturlosen Modebegriff wird, ist es auch bei Inklusion so, dass inzwischen nahezu alles als Inklusion deklariert wird, was sich positiv und fortschrittlich darstellen möchte. Das ist logisch und gleichzeitig dramatisch, weil damit die inhaltliche Klarheit dessen, was Inklusion ursprünglich als Innovationsperspektive bedeutet, immer mehr verloren geht“ (Hinz, 2013).

Die Schwierigkeit, dass der Begriff Inklusion im wissenschaftlichen Diskurs nicht klar definiert ist, gestaltet einerseits die Suche nach Begründungsstrategien als extrem schwierig, da sich diese unter Umständen nicht auf denselben Gegenstand beziehen. Andererseits lässt es die Hypothese plausibel erscheinen, dass sowohl im wissenschaftlichen als auch im politischen Diskurs Kämpfe um Deutungshoheit sowie um die politische Umsetzung im Gange sind. Im Zuge dessen steht häufig der Vorwurf der Vereinnahmung eines Begriffs durch eine bestimmte Seite im Raum.

Hierzu stellt sich mir erst einmal die Frage, ob es nicht doch einen Grundkonsens gibt, was Inklusion bedeuten soll. Bei einigen Vertreter*innen beinhaltet der Begriff immer auch eine politische Dimension bzw. gesellschaftspolitische Bedeutung (vgl. Jahr, 2017; Becker, 2015; Schildmann, 2017; Prengel 1995). Diese bezieht sich in den meisten Fällen darauf, Menschen unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit wertzuschätzen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen (vgl. Prengel, 1995, S. 418 f.). Diese Vorstellung steht nach einer ersten Betrachtung in Konflikt zu der von Wettbewerb dominierten, meritokratisch orientierten Gesellschaftsstruktur. Dieser Widerspruch wird auch von einigen Vertreter*innen klar formuliert. So merkt Prengel an, dass sich der Inklusionsdiskurs gegenüber „leistungsbezogener Hierarchiebildung“ abgrenzen müsse (vgl. Prengel, 2014, zit. n. Dammer, 2015, S. 23). Auch Wocken moniert, dass die Ideologie des Kapitalismus und des Neoliberalismus nicht mit der Philosophie von Inklusion vereinbar sei (vgl. Wocken, 2011, zit. n. Dammer, 2015, S. 23).

2.3. Normalismusverständnisse

Hier stellt sich die Frage, was die Philosophie von Inklusion ist bzw. wie leistungsbezogene Hierarchiebildung vermieden werden kann. Theoretisch widmet sich der Diskurs hier häufig dem Bereich des Normalismus. „Unter Normalismus versteht man die Gesamtheit der Verfahren und Institutionen, durch die in modernen Kulturen Normalitäten (und ihr Gegenteil: Anormalitäten) produziert und reproduziert“(Link, 1995, S.201).

Im bundesdeutschen Schulsystem, welches eher protonormalistisch orientiert ist, geht es darum, Grenznormen festzulegen, anhand derer selektiert werden soll (vgl. Link, 1995, S.38 f.). Link führte ebenfalls den Begriff Transnormalismus ein, der im Inklusionsdiskurs immer wieder auftaucht. Im Rahmen dieses Konzeptes sind keine Normgrenzen mehr vorgesehen (vgl. Link, 1995, S.394). Folglich fordert dieses Konzept eine radikale Wende, indem eine Abkehr von einem kategorialen Denken gefordert wird (vgl. Thiemann, 2012, S 169 f.). Es kann aber eher als philosophische Vorstellung gesehen werden, da kein politisch bedeutender Akteur in letzter Konsequenz fordert, sich von Normorientierungen zu verabschieden. Stattdessen äußern sich Inklusionsbefürworter, die sich am Konzept des Transnormalimus orientieren, eher so, dass Inklusion als Utopie verstanden werden solle, diese aber als Orientierungspunkt für politische Interventionen diene. Hinz spricht in Bezug zu diesem Thema von „Inklusion als Nordstern“ (Hinz, 2014, S. 18). Der praxisorientierte Inklusionsdiskurs orientiert sich normalimustheoretisch betrachtet nicht mehr primär am Konzept des Transnormalismus sondern eher am flexiblen Normalismus (Schildmann, 2017, S. 87 f.). Dieser stellt einen Raum dar, in dem es zwar Normgrenzen gibt, dieser jedoch gewisse Normalitätspektren zulässt und die Grenzen flexibel hält (vgl. Link, 1995, S. 395). In Bezug auf Inklusion bedeutet dies aber auch, dass eine vollständige Akzeptanz von Menschen mit Behinderung als gleichwertig in Anlehnung an dieses Konzept nicht denkbar wäre, da es weiterhin eine Abgrenzung zwischen normal und nicht-normal vorsieht.

3. Neoliberale Argumentationsstrukturen in der Begründung von Inklusion

3.1 Neoliberalismus

Neoliberalismus steht für eine seit den 1930er-Jahren entstandene Lehre, die den Markt als Regulierungsmechanismus gesellschaftlicher Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse verabsolutiert. In ihm bündeln sich philosophische, rechts- und politikwissenschaftliche, soziologische und historische Stränge zu einem strategischen Projekt der Durchsetzung einer individualistischen Marktgesellschaft (vgl. Butterwegge et al., 2008, S. 12). Es gibt Denkschulen, die den Staat in einer etwas unterschiedlichen Rolle sehen (siehe hierzu: Butterwegge et al., 2008). Zentral ist die Orientierung an einer marktorientierten Gesellschaftsordnung in der, der Staat für die Wahrung der entsprechenden Gesellschaftsstruktur als verantwortlich angesehen wird.

Den Gedanken, dass es sich beim Neoliberalismus nicht um eine ausschließlich destruktiv wirkende Übergangsideologie, sondern um ein politisches Projekt mit institutionellem Fundament handelt, das zur „Revitalisierung“ des Kapitalismus beiträgt, indem es neue ökonomische und soziale Strukturen schafft, haben inzwischen Autoren unterschiedlichster theoretischer und politischer Provenienz formuliert. Darüber hinaus tritt Neoliberalismus als Ideologie hinter kapitalistischen Umstrukturierungen als flexibles finanzmarktgetriebenes Entwicklungsmodell auf, was über enorme Wachstumsdynamiken verfügt. (vgl. Bieling et al., 2001, S. 8).

Diese Eigenschaften lassen den Neoliberalismus als diffuses Konstrukt erscheinen und gestalten eine Erfassung von neoliberalen Argumentationsstrukturen als schwierig. In der Einleitung zum Sammelband „Gouvernementalität der Gegenwart“ heißt es dazu:

“Wie diffus „Neoliberalismus“ als Gegner auch sein mag, zwei Grundannahmen finden sich in nahezu allen kritischen Analysen: Zum einen wird der Neoliberalismus als ein interessengeleitetes, manipulatives „falsches Wissen“ behandelt, das sich durch „innere Widersprüche“ auszeichne […]. Zum anderen machen die Kritiken als zentrales Charakteristikum des Neoliberalismus […] das Zurückdrängen des vom Staat verkörperten Gemeinwohls durch den Markt, die Ausdehnung der Ökonomie in die Politik aus.“ (Bröckling et al., 2000, S. 18)

Gerade mit der Ausdehnung der Ökonomie in die Politik ist häufig eine Orientierung hin zu mehr Wettbewerb und mehr sozialer Ungleichheit verbunden. Diese Ausdehnung der Ökonomie lässt sich zudem gut nachweisen, da sie ein zentrales Merkmal neoliberaler Ideologie aufgreift: Die Humankapitaltheorie. Diese Arbeit wird sich exemplarisch mit einigen Fassetten neoliberaler Ideologie auseinandersetzen, wobei die Humankapitaltheorie zentral sein wird

3.2 Die Humankapitaltheorie im Inklusionsdiskurs

Die Humankapitaltheorie dient häufig als ideologische Legitimationsgrundlage und fungiert hier als Indikator für den Einfluss neoliberaler Ideologie in den Diskurs.

„Die Neoliberalen weisen […] darauf hin, dass das, was Bildungsinvestition genannt werden soll oder jedenfalls die Elemente, die in die Bildung des Humankapitals eingehen, viel mehr umfassen als das bloße Lernen auf der Schule oder die bloße Berufsausbildung. Die Gesamtheit der kulturellen Reize, die das Kind empfängt, sind Faktoren im Prozess der Humankapitalbildung. Auf diese Weise gelangt man zu einer Analyse der Lebensbedingungen des Kindes, […] die man berechnen und bis zu einem gewissen Grad in Zahlen ausdrücken kann, die man jedenfalls in Begriffen von Investitionsmöglichkeiten in menschliches Kapital messen kann“ (Foucault, 2010, S. 199).

Es geht also darum, den Menschen als Ressource zu betrachten und für den Markt verwertbar zu machen. Die flexible und widerstandslose Anpassung an den Markt und seine Verwertungsbedingungen erscheinen hier als die Berufung des Menschen (vgl. Ribolits, 2008, zit. n. Herbst, 2015, S. 29).

„Vernunft reduziert sich unter diesen Umständen auf »instrumentelle Vernunft«, sie ist nur noch Mittel der Zweckerreichung, anstatt dem Hinterfragen und der Kritik des Zwecks selbst zu dienen “ (Ribolits, 2008, zit. n. Herbst, 2015, S. 30).

Lernen erscheint unter dieser Prämisse, nicht wie im humanistischen Sinne, als etwas mit Eigenwert, sondern wird als Investition in das eigene Humankapital verstanden. Es geht also nur noch darum, die Anforderungen des Marktes zu bedienen.

Ferner wandeln sich die Anforderungen des Marktes schnell, was eine Anpassung der Teilnehmer*innen erfordert. Es sollen nachgiebige, formbare Identitäten entwickelt werden, die dazu befähigen, mit ständig wechselnden Anforderungen in einem globalisierten, informations- und kommunikationstechnologisch gestalteten Arbeits- und Konsummarkt umzugehen. Die Anpassung und der Umgang ersetzen in diesem Falle die Konfrontation, denn es geht um einen spielerischen Umgang mit sozialen Zwängen, nicht um die intellektuelle Auseinandersetzung mit selbigen. Zentral ist hier die möglichst optimale Selbstbehauptung des Subjekts, nicht der Widerstand der gesellschaftlichen Zumutungen (vgl. Bernhard, 2003, zit. n. Herbst, 2015, S. 30).

Hierbei entsteht ein Wettbewerb, sich den variablen Anforderungen des Marktes am besten und am schnellsten anzupassen. Dieser Wettbewerb wird hier auch als Motor für Innovation verstanden. Ferner zeugt dieses Verständnis von einer starken Individualisierungstendenz und einer Orientierung hin zur Eigenverantwortung.

Konkret formuliert kann dies wie folgt aussehen: „Das Ziel muss sein, mit der Allgemeinbildung die Befähigung zu immer neuer Anpassung, zum rationalen Verarbeiten von neuen Situationen zu schaffen und flexible Denkschemata für alle großen Wissenschaftsrichtungen zu stiften“ (Wirtschaftswachstum, 1966, zit. n. Dammer, 2015, S. 25). Ulrich Bröckling fasst dieses Denkmuster unter dem Begriff „unternehmerisches Selbst“ zusammen (Bröckling, 2007, zit. N. Dammer, 2015 S. 26).

Da dieses Modell sich am Markt orientiert und grundsätzlich gewinnmaximierend und optimierend arbeitet, versucht es, das „Humankapital“ zu maximieren. Falls Menschen über keinen oder einen eingeschränkten Zugang zum Markt verfügen, werden Potenziale nicht genutzt. In dieser Logik gedacht, erscheint es nur konsequent, dass versucht wird, möglichst viele Menschen in den Markt zu integrieren, sie fit für den Wettbewerb zu machen und dabei flexible innovative Wege zu gehen.

Als Kritik an dem Modell sei hier angemerkt, dass es die Ordnung des Marktes als unveränderlich darstellt. Die Idee, dass diese Ordnung wieder von Menschen durch eine andere ersetzt werden könne, wird als Option aufgegeben (vgl. Herbst, 2015, S. 29).

3.3 Einfluss auf den Inklusionsdiskurs

Dieser Charakteristik folgend ist es schwer, nachzuvollziehen, wie neoliberale Argumentationsstrukturen Eingang in Argumentationen zur Begründung von Inklusion finden. Erst einmal scheint die Anerkennung aller Mitglieder als gleichwertig als Voraussetzung für eine Gesellschaft, in der Inklusion gelingen soll.

Neoliberale Konzepte fordern hingegen einen Wettbewerb, der wiederum soziale Ungleichheit legitimiert. Hieran anschließend kann ein Widerspruch zur bundesdeutschen Gesellschaftsordnung festgemacht werden. Diese ist, zumindest vordergründig, am Leistungsprinzip orientiert und privilegiert beziehungsweise diskriminiert Menschen, je nachdem wie viel Leistung sie erbringen. Dieses Vorgehen kann als eine teilweise Exklusion interpretiert werden (vgl. Lütje-Klose et al., 2017, S. 6; Groß & Hövermann, 2015, S. 41 f.). Es bleibt fraglich, welches Verständnis vorherrschen soll: Ein Fördern und Fordern, um sich besser anzupassen oder eine Akzeptanz des Nicht-Normalen.

Einen exemplarischen Nachweis, dass neoliberale Argumentationsstrukturen Eingang in Inklusion befürwortende Argumentationen finden, zeigt Herbst (2015) auf.

„Hierbei fielen besonders die Kopplung von Bildung und verwertungsrelevantem Kompetenzerwerb, das Anlegen von Effizienzkriterien der Kapitalverwertung auf Lernprozesse, das Nutzen des erweiterten Qualifikationsbegriffs und die Kopplung von Bildung und volkswirtschaftlichem Nutzen auf. […] Zusammenfassend lässt sich also nach der Analyse der Texte sagen, dass neoliberale Argumentationsstrukturen Eingang in Inklusion befürwortende Argumentationen finden. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass der Erfolg des Inklusionskonzeptes in derzeitigen Debatten, auch in Zusammenhang mit Kraftanstrengungen im Zuge neoliberaler Transformationen gesehen werden muss. Maßnahmen für Inklusion werden also auch von AkteurInnen eingeleitet, deren Ziel die Gestaltung der Gesellschaft unter neoliberalem Vorzeichen ist. Dabei erfährt der Inklusionsbegriff jedoch spezifische Umformungen “ (Herbst, 2015, S.46).

Leider werden diese „spezifischen Umformungen“ hier nicht konkret ausdifferenziert. Er sieht in diesen Begründungsansätzen eine Umformung des Begriffs an sich. Angesichts dessen, dass der Begriff im Rahmen dieser Arbeit nicht definiert wird bzw. hier nicht ein bestimmtes Verständnis als maßgebend angesehen werden soll, wird im Rahmen dieser Arbeit von unterschiedlichen Verständnissen und Begründungen gesprochen. Dennoch ist hier eine Wandelbarkeit in der Definition und der Begründung des Begriffs festzustellen.

Inklusionsverständnisse wie die oben beschriebenen „spezifischen Umformungen“ sind im wissenschaftlichen Diskurs weit verbreitet und gehen meist von einem etwas anderen Inklusionsverständnis aus. Inklusion wird hier als Inklusion von außen in eine bestehende Struktur verstanden. Oftmals wird Inklusion in eine Leistungsgesellschaft als Ziel ausgegeben. Es geht darum, einer möglichst großen Gruppe Zugang zur marktorientierten Konsumgesellschaft zu ermöglichen (vgl. Deziabel, 2017; Dammer 2015; Groß & Hövermann, 2015). Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wo sich Elemente befinden, die an neoliberale Ideologien anschlussfähig sind und sich in der Begründung von Inklusion wiederfinden.

In der politischen Diskussion lassen sich ähnliche Elemente wiederfinden. So wird oft über die Abschaffung des Sonderschulwesens diskutiert, aber nur sehr selten über die Abschaffung des segregierenden Schulsystems der Bundesrepublik. Dies legt die Vermutung nahe, dass es im Rahmen dieser Maßnahme nur darum geht, Menschen fit für den Bildungswettbewerb der Regelschule zu machen, nicht aber die leistungsbezogene Hierarchiebildung als Problem zu identifizieren und abzubauen.

Nach dieser Vorstellung, welche Rolle neoliberale Ideologien in der paradigmatischen Ausrichtung von bildungspolitischen Maßnahmen spielen sowie dem kurzen Ausblick, wie Inklusion aus einer solchen Perspektive begründet wird, wird im Folgenden dargestellt, welche Elemente, die gemeinhin als inklusiv angesehen werden, von unterschiedlichen Perspektiven divergent begründet werden.

3.4 Individualisierung/ Neue Lernkultur

Schaut man sich den inklusionsbefürwortenden Diskurs einmal genauer an, so fällt auf, dass dieser oft Formen von individuellem Lernen fordert. Hierbei geht es darum, möglichst vielen unterschiedlichen Lerner*innen möglichst gemäß ihrer Bedürfnisse gerecht zu werden. Die Umsetzung solcher Maßnahmen wird einerseits damit begründet, dass man das Menschenrecht auf Teilhabe umsetzt, allen Menschen den Umgang miteinander ermöglicht und sozialen Austausch fördert.

Das soziale Lernen wird hier als Eigenwert behandelt und dient zudem dem Zweck einer Solidarisierung. Es wird aus einer Perspektive heraus argumentiert, in der das Allgemeinwohl zentral ist (vgl. Dammer, 2015, S. 24). Dies ist sicher ebenfalls als Ausgangspunkt für Reformbestrebungen zu sehen, die Einfluss auf das Bildungssystem hat.

Andererseits wird häufig angeführt, dass das menschliche Potenzial möglichst voll ausgeschöpft werden soll und der Zustand, das Menschen, die ausgesondert werden und nicht an der „Leistungsgesellschaft“ partizipieren können, ineffizient ist. In diesem Zuge kann eine Beschulung von SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf2 in Regelschulen als Versuch gesehen werden, diesen Kindern mittels individuellen Lernwegen dahin zu bringen, am Bildungswettbewerb teilnehmen zu können. Eine solche Maßnahme kann also durch beide Perspektiven begründet werden.

3.5 Umgang mit dem Begriff Vielfalt

Dammer fasst den Diskurs zu Vielfalt folgendermaßen zusammen: Vielfalt wird oftmals als Ressource wahrgenommen (vgl. Dammer, 2015 S. 27). So verwundern Aussagen, wie die Vielfalt und die Verschiedenheit von Menschen sei ein enormes und oft verkanntes Potenzial, keineswegs (vgl. Schmidt, o. J., zit. n. Dammer, 2015, S. 27). Ferner führt Dammer an, dass Vielfalt in neoliberal geprägten Diskursen oftmals als „human ressources“ bezeichnet werde und immer eine messbare Nützlichkeitserwartung beinhalten (Dammer, 2015, S. 28). Im theoretisch orientierten Inklusionsdiskurs findet sich zum Punkt Vielfalt eine universelle Wertschätzung von Vielfalt. Man wertschätzt also die These, dass Vielfalt selbst wertvoll sei, ohne dies genauer zu begründen (vgl. Dammer, 2015, S. 27).

Schaut man in den Diskurs, der sich mit der momentanen Umsetzung von Inklusion/Integration beschäftigt, so fällt auf, dass häufig eine Kompetenzentwicklung gemessen wird (vgl. Sprörer et al., 2015, S. 297 ff.). Diese Maßnahme orientiert sich ausschließlich an der Nützlichkeit. Das Erreichen von Kompetenzstandards ist das einzige Kriterium, nach dem das Projekt beurteilt wird. Mit dieser Fokussierung ermöglicht man Wettbewerb zwischen dem Projekt und Vergleichsschulen sowie zwischen den Kindern. Diese Untersuchung schafft also eine Grundlage, Leistungen messbar und vergleichbar zu machen.

Im Rahmen der oben genannten Studie wird gemessen, wie Kinder auf die veränderten Bedingungen reagieren. Mit anderen Worten könnte man auch sagen, dass die Maßnahme „Pilotprojekt inklusive Grundschule“ in Hinblick auf die Humankapitalentwicklung untersucht wird.

3.6 Chancengleichheit

Chancengleichheit ist ein Zustand, der von beiden Diskursen gefordert wird. In inklusions-befürwortenden Argumentationen ist dieses Argument von zentraler Bedeutung. Meist wird sich hier normativ an den Menschenrechten orientiert.

„Besonders im Bereich von Bildung und Schule ist eine Realisierung gleicher Bildungschancen in Form von barriere- und diskriminationsfreien Zugangs- und Partizipationsrechten für alle Voraussetzung und Ziel für den immer wieder reflexionsbedürftigen Weg zur Schaffung einer inklusiven Lern- und Lebenswelt. (…) Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen“ (Schuppener et al., 2014, S. 11).

Chancengleichheit soll hier nicht als die Gleichheit von Chancen aller gesehen werden, sondern die Ungleichheiten durch unterschiedliche Chancen berücksichtigen und versuchen diese zu kompensieren. Daher werden in diesem Kontext häufig “barriere- und diskriminationsfreie Zugänge zu Bildung“ erwähnt (vgl. Schuppener et al., 2014, S. 12 f.).

Im neoliberalen Diskurs spielt Chancengleichheit ebenfalls eine zentrale Rolle. Sie dient als Basis und Legitimationsgrundlage. Ohne Chancengleichheit fehlte dem Menschenbild des unternehmerischen Selbst die Legitimationsgrundlage. Denn nur derjenige, der die Möglichkeit bekommt, die entsprechenden Selbststeuerungskompetenzen zu entwickeln, um am Wettbewerb teilnehmen zu können, kann zumindest vordergründig davon überzeugt werden, dass das Produzieren von Gewinnern und Verlierern eine legitimierende Grundlage hat. Andernfalls würden in dieser Logik nicht gerechtfertigte Wettbewerbsvorteile entstehen, die die Legitimität der Ideologie in Frage stellen würden (vgl. Dammer, 2015 S. 33).

In neoliberal geprägten Diskursen wird sich darauf konzentriert, allen die gleichen Möglichkeiten zu geben, um in einer meritokratisch orientierten Gesellschaft bestehen zu können.

[...]


1 In der Unveräußerlichkeit kann ein Widerspruch zum Marktmechanismus festgemacht werden, da auch Teilhabe hier dem Prinzip des Marktes unterworfen wäre.

2 Wird im bildungspolitischen Diskurs oftmals als Inklusion verstanden.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Inwieweit wird der Begriff Inklusion durch neoliberale Argumentationsstrukturen begründet?
Untertitel
Eine Analyse der hegemonialen Diskurse Egalität und Exzellenz zur Begründung von Inklusion
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Erziehungswissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
24
Katalognummer
V937704
ISBN (eBook)
9783346266293
ISBN (Buch)
9783346266309
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Inklusion, Neoliberalismus, Humankapital, Diskursanalyse
Arbeit zitieren
Julius Hüne (Autor:in), 2018, Inwieweit wird der Begriff Inklusion durch neoliberale Argumentationsstrukturen begründet?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/937704

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