„Geht man […] davon aus, dass der Held nicht nur verschiedene Altersstufen und Existenzformen durchläuft, sondern auch einen Prozess geistiger Reifung durchmacht [, also træclîche wîs wird] (4,18), in dem er an Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis zunimmt […], bietet es sich an, Wolframs Parzival als gattungsgeschichtliche Präformation des neuzeitlichen Entwicklungsromans zu deklarieren.“ Der Erzähler erzählt eine Geschichte vom anfangs tumpen Parzival, der am Ende Gralskönig wird. „Die Figur wandelt sich von einem unreflektierten, infantilen und draufgängerischen Charakter zum vorbildlichen Repräsentanten der Gralsgesellschaft. […] Die Annahme liegt nahe, dass diese Veränderung innerhalb eines Entwicklungsprozesses stattfindet, der in der zitierten Prologäußerung vorweg genommen wird.“
Diesen erstmals dezidiert nachzuverfolgen, ist das Anliegen der Dissertation von Ruth Sassenhausen, auf welche ich mich in dieser Arbeit beziehen werde. Nach einer Abgrenzung des Entwicklungs- vom Bildungsroman verfolgt sie mit Hilfe der Entwicklungspsychologie und den antiken/mittelalterlichen Vorstellungen des menschlichen Entwicklungsprozesses denjenigen des Parzival, welcher sich direkt aus dem inhaltlichen Aufbau des Werkes ergibt. Das Wolfram von Eschenbach diesen akzentuiert, untermauert sie dabei durch den Vergleich mit dem Perceval von Chrétien de Troyes. Legitimationsgrundlage für eine literaturpsychologische Analyse des Inhaltes bietet das Postulat des Sternheimer Symposions von 1985: „Eine Wissenschaft, die sich als Kulturwissenschaft versteht, kann nicht weiterhin historische Verhaltensweisen ignorieren und die Psyche des mittelalterlichen Menschen in ihrer Forschung ausklammern.“
Parzivals Entwicklung lässt sich im Groben in drei verschiedene Entwicklungsstufen einteilen: seine Kindheit in Soltane mit der Erziehung durch seine Mutter Herzeloyde, die Ritterlehre bei Gurnemanz und die religiösen Unterweisungen bei Trevrizent. Diese entsprechen den drei ineinandergreifenden Phasen in der Identitätsgenese von Parzival: tumpheit, Artusritterschaft, Gralskönigtum.
[...] Die Figur des Parzival werden soll daher im epischen Kontext seiner gesellschaftlichen Determinanten analysiert.
Inhaltsverzeichnis
- træclîche wîs werden – ein menschlicher Entwicklungsprozess
- Wolfram von Eschenbach und sein Parzival
- Die biographische Struktur des Entwicklungsromans
- infantia: pränatale und postnatale Determinanten für Parzivals Entwicklung
- pueritia/adolescentia: Erziehung und Beginn der Identitätskrise
- Aufwachsen in der Einöde Soltanes
- Parzivals Eintritt in die Welt
- Jeschute
- Sigune
- Ither und der Artushof
- Die Erziehung des Helden durch Gurnemanz
- adolescentia: von der tumpheit zur Erkenntnis
- Die erste Liebe: Condwiramurs
- Die Überforderung in Munsalvæsche
- Vergangenheitsbewältigung
- Die zweite Begegnung mit Sigune
- Die zweite Begegnung mit Jeschute
- Die Blutstropfenszene
- Gesellschaftlicher Erfolg und Krisis: Aufnahme in die Tafelrunde und Verfluchung durch Cundrie
- Selbsterkenntnis und Läuterung
- Die dritte Sigune-Episode
- Trevrizent
- iuventus: Persönlichkeitskonsolidierung, Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung
- Fazit
- Die Darstellung des menschlichen Entwicklungsprozesses in Wolframs Werk
- Die Rolle der Erziehung und der Begegnungen mit verschiedenen Figuren in Parzivals Entwicklung
- Die Verbindung von Entwicklungspsychologie und mittelalterlichen Vorstellungen des menschlichen Entwicklungsprozesses
- Die Einordnung des Parzival in den Kontext der gattungsgeschichtlichen Entwicklung des Entwicklungsromans
- Die Analyse von Parzivals Verhalten und Befinden im Kontext seiner gesellschaftlichen Determinanten
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Entwicklung des Protagonisten Parzival in Wolframs von Eschenbachs gleichnamigem Roman. Ziel ist es, den Weg des Helden von der kindlichen Tumpheit hin zur Erkenntnis und schließlich zur Gralskönigswürde zu analysieren.
Zusammenfassung der Kapitel
Die ersten beiden Kapitel des Romans beschäftigen sich mit der Vorgeschichte Parzivals und erläutern seine Familienverhältnisse. Kapitel III bis VI, IX und XV-XVI fokussieren auf Parzival selbst. In diesen Kapiteln wird seine Kindheit in Soltane, seine Erziehung durch seine Mutter Herzeloyde, seine Ritterlehre bei Gurnemanz und seine religiösen Unterweisungen bei Trevrizent dargestellt.
Kapitel VII-VIII und X-XIV widmen sich den Abenteuern Gawans, einem wichtigen Nebencharakter, der für den Leser Einblicke in die Welt der Artusritter und die höfischen Sitten bietet.
Schlüsselwörter
Entwicklungsroman, Wolfram von Eschenbach, Parzival, Gralskönig, Artusritter, höfische Gesellschaft, mittelalterliche Literatur, Identitätsentwicklung, Erziehung, Entwicklungspsychologie, mittelalterliche Weltbild.
- Citar trabajo
- Marlen Frömmel (Autor), 2008, Vom "bon fîz, scher fîz, bêâ fîz" zum Gralskönig Parzival, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93811