"Stalker" von A. Tarkowskij - eine biografische, politische, ästhetische, poetologische und geschichtliche Hinführung zur Gedankenwelt Andrej Tarkowskijs


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

31 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kurzbiographie
2.1 Filmographie
2.2 Historischer Hintergrund

3. Stalker - Stufen der Entstehung
3.1 Stellung von Stalker innerhalb des Gesamtwerks
3.2 Vorbilder des Autors
3.2.1 Literarische Einflüsse
3.2.2 Politische Einflüsse
3.2.3 Persönliche Einflüsse
3.3 Epochengebundenheit von Stalker
3.4 Selbstaussagen des Autors
3.4.1 Ästhetische Positionen des Autors
3.4.2 Politische Positionen des Autors
3.4.3 Poetologische Positionen

4. Interpretation

5. Rezeptionsergebnisse des Films

6. Die ästhetische Aktualität von Stalker und des Films allgemein

7. Resümee

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In meiner Hausarbeit beschäftige ich mich mit der Frage, unter welchen biographischen und geschichtlichen Umständen, unter welchen filmhistorischen, ästhetischen und poetologischen Einflüssen Andrej Tarkowskijs Arbeit sich entwickelt hat. Dabei gehe ich im besonderen auf seinen Film Stalker aus dem Jahre 1979 ein, der auf dem Höhepunkt seiner stilistischen Arbeit entstand. Meine Filmanalyse geht hauptsächlich auf die inhaltliche Ebene des Films ein, wobei sie ein Versuch darstellen soll, Tarkowskijs persönliche Weltvorstellung zu eröffnen. Es scheint so, dass in Tarkowskij Werk fortwährend dasselbe Problem in je verschiedenen Variationen bearbeitet wird: Der Zwiespalt des Menschen in Geist und Materie. Dies werde ich auch unter Berücksichtigung anderer Interpretationen zu verdeutlichen suchen. Zum Schluss werde ich auf die Rezeptionsergebnisse von Tarkowskijs Werk eingehen und versuchen, den Aktualitätsbezug aufzeigen.

2. Kurzbiografie

Andrej Tarkowskij kam am 4. April 1932 als Sohn eines berühmten Dichters, Arseni Tarkowskij, an der Wolga zur Welt. Der Vater verließ die Mutter mit zwei Kindern einige Jahre nach dem Krieg, in dem er ein Bein verloren hatte. Andrej und seine Schwester wuchsen wegen der Evakuierung bei Verwandten auf. In der Sekundarstufe besuchte Andrej eine Musikschule, später auch eine Malklasse. 1952 fing er ein Studium der Arabistik im Institut für orientalische Sprachen an. Von 1954 bis 1956 war er als Landvermesser auf geologischer Reise in Sibirien. Dieser Beruf diente wohl auch seinem Gespür für Landschaftsaufnahmen und ihre Verwandlungsvariationen zu bestimmten Jahres- und Tageszeiten. 1956 begann er ein vierjähriges Studium an der WGIK (Filmhochschule) in Moskau. Sein Dozent war Michail Iljitsch Romm (1901-1975). Romm war einer der künstlerisch aktivsten der älteren sowjetischen Regisseure. Einen Namen konnte er sich durch den Film Der gewöhnliche Faschismus machen – ein Dokumentarfilm, der die Massenpsychologie des Nationalsozialismus darzustellen versuchte[1]. Im Gegenteil zu seinen meist berühmt gewordenen Schülern gestaltete er reines Genre- und Erzählkino, das durchweg zuschauerorientiert blieb. Er engagierte sich für seine Schüler, protegierte sie auch finanziell und setzte sich für ihre Filme ein, auch wenn sie ihm inhaltlich fern lagen.[2].

Tarkowskij hörte gerne Bach und liebte die deutsche Literatur und Malerei der Romantik, besonders E.T.A. Hoffman und Novalis. Ein Zeugnis dafür ist das nicht verfilmte Drehbuch Hoffmanniana von 1976. 1977 inszenierte er sogar eine Aufführung von Hamlet im Londoner Theater.

Das Problem der russischen Emigranten traf auch ihn und seine Frau. Die Assimilation fiel ihnen schwer und beide litten unter ständigem Heimweh. Tarkowskij lebte 1982 ein Jahr in Italien, um die russisch-italienische Koproduktion für seinen Film Nostalghia zu beenden. Danach beantragte er beim Chef von Goskino eine Verlängerung für drei Jahre, da er in den letzten 22 Jahren nur fünf Filme drehen durfte und nie in der Sowjetunion Anerkennung oder Filmpreise bekommen habe. Diese Bitte wurde nicht angenommen, so bekundete er auf einer Pressekonferenz in Milan, dass er beschlossen habe, politisches Asyl zu beantragen, wobei er dies nicht aus politischen, sondern aus Gründen der künstlerischen Freiheit und ökonomischen Notwendigkeit tue. Sein Traum, Dostojewskijs Der Idiot zu verfilmen, wäre in der UDSSR nie in Erfüllung gegangen . Die Stadt Florenz gab ihm und seiner Frau eine Wohnung. Doch die Schwierigkeit lag darin, dass sich von ihrem Kind Andrej und von Olga, ihrer Tochter aus erster Ehe, sowie von ihrer Mutter trennen musste, denen allesamt eine Ausreise verweigert wurde. Dies war eine gängige Methode, um eine Rückkehr der Ausreisenden zu versichern. Man hielt sie sozusagen als ´Geisel´[3].

Auch Tarkowskijs Gesundheitzustand war Anlass zur Sorge. Von seinem Lungenkrebs träumte er bereits vor der Diagnose: eine schwarze blutende Stelle in seiner rechten Brust. (Sein Hauptdarsteller Anatoli Solonyzin, der sein Debüt in dem Film Andrei Roublev hatte[4] , starb auch an dieser Krankheit.) Tarkowskijs Tagebuch trug ab seiner Chemotherapiebehandlung in Paris den Titel Martyrolog. Gegen Ende seiner Krankheit ließ er sich auch in einer anthroposophischen Klinik in Deutschland behandeln. Er plante 1984/85 einen Film über Rudolf Steiner zu drehen – das Vorhaben scheiterte aber.

Seine Freunde sammelten Geld für seine Behandlung und nach vielen Jahren wurde es ihm kurz vor seinem Tod am 29. Dezember 1989 endlich möglich, nach langjähriger Trennung seinen Sohn und seine Schwiegermutter wiederzusehen. Er liegt im Sainte-Genèvieve-des-Bois, einem Friedhof für russische Emigranten in Paris, begraben.

Tarkowskij war ein Mensch von starker, unnachgiebiger Denkweise. Seine Ansprüche, die er an den Film stellte, konnten ihn zum Teil zu einem »unbequemen« Charakter machen, dem wir aber sein Talent und ihre Verwirklichung verdanken[5].

2.1 Filmographie

- Die Straßenwalze und die Geige (Katok I Skrypka 1960) -> von der Presse gelobt[6]
- Iwans Kindheit (Ivanovvo Detsvtvo 1962) -> Literaturverfilmung der gleichnamigen Erzählung von Wladimir Bogomolow[7] ; Goldner Löwe, Venedig 1962, Preis für die beste Regie in San Francisco, in der UDSSR sechs Jahre lang nicht aufgeführt
- Andrej Rubljow (1966) -> prämiert von der internationalen Filmkritik, Cannes 1969
- Solaris (1972) -> Sonderpreis der Jury, Cannes 1972
- Der Spiegel (Serkalo 1974)
- Stalker (1979)
- Nostalghia (1982-83)
- Opfer (1986)

2.2 Historischer Hintergrund

Tarkowskijs Interesse für die Utopie bekundete sich bereits in seinem Film Solaris. Dies hatte wohl seine Gründe, denn die ganze Welt verfolgte seit dem Ende der sechziger Jahre die rege Weltraumforschung. Es begann mit der Mondlandung 1969, zehn Jahre danach näherte sich die Forschungsraumsonde der NASA, Voyager 1, dem Jupiter, es folgte Voyager 2, der den Menschen herrliche Bilder von Mars; Venus und Saturn mitbrachte. Diese Entsakralisierung des Himmels, sowie die Erforschung und Suche nach anderen Lebensformen und Wesen beschäftigte die Phantasie vieler Wissenschaftler und Künstler. Ebenso damit verbunden waren die Sorge um eine Invasion der Erde von Außerirdischen. Dies bildete auch einen Schnittpunkt der Wissenschaft mit den SF-Autoren[8].

Tarkowskij hatte das Glück, dass nach Stalins Tod 1953 beschlossen wurde, die Filmproduktion zu erhöhen, denn nach dem Krieg wurden nur fünf Filme im Jahr gedreht, so

dass sogar renommierte Regisseure Schwierigkeiten hatten, einen Film zu drehen. 1954 hingegen, bei Tarkowskijs Aufnahme an der WGIK, wurden bereits 45 Spielfilme pro Jahr gedreht. Regisseure wie Segel und Kulitshanow brachten mit neorealistischen Filmen, wie etwa Das Haus, in dem ich wohne oder Wenn die Kraniche ziehen von Kalatosow, Ende der 50er Jahre frischen Wind in die sowjetische Filmkultur, die davor vom Monumentalfilm beherrscht wurde. Kalatosow und sein Kameramann Urussewskij verfremdeten den neorealistischen Stoff mit expressiven Stilmitteln. Ihre Arbeiten wurden zu Markensteinen des Experimentalfilms und genossen großes Interesse bei den Filmfestspielen 1957 in Cannes. Manche führen die formalen Experimente Tarkowskijs auf Urussewskijs „entfesselte Kamera“ zurück[9]. In den sechziger Jahren waren es Grigorij Tschuchraj (geb. 1921) und Marlen Chuzijew, die durch ihre unheroisch, antistalinistisch sozialkritischen Filme zu den Erneuerern des Russischen Films zählten[10].

Die Stummfilm-Ära der zwanziger Jahre war längst vergangen, der Neorealismus und die neue audiovisuelle Neuerung in den sechziger Jahren brachten innovative Möglichkeiten auf die Leinwand. Nun war in aller Welt eine Subjektivität gefragt, die sich im Autoren-Kino manifestierte[11].

Keine Gemeinsamkeiten lassen sich mit den expressiven Bildern eines Eisenstein oder den phantastischen Hyperbeln eines Dowshenko finden[12]. Tarkowskijs Bilder sind wie langsame, fließende Bäche, wenig bevölkert, meist auf dem Land, zwischen flachen Ufern, getragen von einer Poesie, die sowohl der Atmosphäre als auch den wirklichen Gedichten, die einfließen, entstammen.

3. Stalker – Stufen der Entstehung

Wie reift ein Gedanke?
Das ist ein äußerst rätselhafter
und nicht nachvollziehbarer Prozeß.
Er verläuft gleichsam unabhängig von uns,
im Unterbewusstsein, kristallisiert sich
an den Wänden unserer Seele

[...]

hängt seine Einmaligkeit ab,
mehr noch, von ihr hängt
die geheime »Reifezeit« ab,
die dem Bewußtsein verborgen bleibt.[13]

Tarkowskijs Stalker entstand 1979 in der UdSSR als eine Produktion von Mosfilm. In Deutschland wurde er durch den Verleih ,Freunde der deutschen Kinemathek´ verteilt. Die Regie und das Dekor führte Andrej Tarkowskij selbst, assistiert von M. Tschungonowa. Als literarische Vorlage diente ihm eine Erzählung der Brüder Arkadi und Boris Strugazki, Picknick am Wegesrand. Kameramänner waren Aleksander Knjashinskij, N. Fudim und S. Naugolnych. Die Musik ist von Eduard Artemjew[14]. Produktionsleiter war Alexandra Demidowa. Die Darsteller sind Alissa Freindlich in der Rolle der Frau des Stalkers, Aleksandr Kajdanowskij in der Hauptrolle als Stalker, Anatolij Solonyzin als Schriftsteller, Nikolaj Grinko als Wissenschaftler, die beide zu seinen Lieblingsschauspielern gehörten[15], Natasha Abramova, als die Tochter des Stalker und seine Frau. Für die Rolle der Frau hatte Tarkowskij zunächst auch seine eigene Frau vorgeschlagen, später entschied er sich jedoch gegen diese Besetzung. Die Crew wurde erst nach der staatlichen Anerkennung bezahlt, was eine noch größere Belastung für Regisseur und Mitarbeiter bedeutete[16]. Die Gedichte sind von Arsenij Tarkowskij und Fjodor Tjutschow. Der Film hat eine Länge von 163 Minuten und 146 Einstellungen[17]. Die deutsche Erstaufführung fand am 16.02.1981 im Internationalen Forum des Jungen Films in Berlin statt[18].

Die Hälfte des Films oder sogar der ganze Film musste wegen eines technischen Defekts ein zweites Mal gedreht werden. Es wurde auch erzählt, dass Tarkowskij selbst die erste Version verbrannt hätte. Während des Drehs kam es zu persönlichen Auseinandersetzungen mit dem Kameramann und dem Set-Designer, die beide gefeuert wurden. Man erzählt auch, dass Tarkowskij all dies zum Anlass nahm, um die Produktion zu beenden und das Skript neu zu schreiben, da er sowieso nicht damit zufrieden gewesen sei. Somit wurde es zu einer einmaligen Situation in der russischen Filmgeschichte. Der Film durchlief einen Genrewechsel (wobei das Tarkowskij nicht gerne hörte): von einem Science-Fiction Film zu einer moralisch-philosophischen Parabel[19]

3.1 Stellung von Stalker innerhalb des Gesamtwerks

Der internationale Durchbruch kam gleich mit seinem ersten Spielfilm Iwans Kindheit, der den dreißigjährigen in der Elite des Weltkinos einen Ehrenplatz erbrachte[20]. In Iwans Kindheit begegnen noch formalistische Elemente, durch welche die Trennung von Poesie und Prosa im Film erkennbar wird. In dieser Phase sieht man den Übergang von der Prosastruktur der Erzählung zu poetischen Stilmitten des Films, wie subjektive Kameraführung, Montage, Handlungsstränge, die nur assoziativ aber nicht thematisch miteinander verbunden sind, Echo- oder Reimwirkung der Motive, frei und vieldeutige Interpretationsmöglichkeiten, die mit einfacher Logik nicht ergründbar sind, die Allegorie. Jedoch sind heutzutage solche Unterteilungen nicht mehr typisch. Vielmehr ist eine Koexistenz und Durchdringung der Genres zu beobachten. Diese Etikettierungen bereiteten dem Regisseur sein Leben lang Sorgen, denn für ihn waren seine Filme lediglich »Abbildungen«, »das Filmband Abbild des Lebens«[21].

Anfang der sechziger Jahre wurde weltweit die Fiktion zugunsten eines dokumentarischen Kinos etwas vernachlässigt, die Rolle des Geschichtenerzählers überließ man den Massenmedien. Durch Andrej Rubljow gelang es Tarkowskij eine Biografie durch die Augen eines Dichters darzustellen und dabei die geschichtlichen Ereignisse mit einzuweben[22]. Er forderte für diesen Film eine emotionelle Rezeptionsweise, die er naturalistisch nannte[23]. Jedoch wurde der Film als »zu schwierig« eingestuft und erreichte sein Publikum erst Jahre später.

Stalker entstand nach seinem autobiografisch angelegten Film Der Spiegel. Dieser Film stellte sich erst nach über zwanzig verschiedenen Montage-Varianten und etlichen Schnittkorrekturen als kohärentes Ganze dar. Tarkowskij meinte, es habe sich um eine Abrechnung hauptsächlich mit sich selbst gehandelt, weniger mit seinen Eltern[24]. Davor beschäftigte er sich schon einmal mit utopischen Themen wie in seinem Science-Fiction-Film Solaris, nach dem gleichnamigen Roman des Polen Stanislaw Lem. Auch hier erlaubte sich Tarkowskij einen äußerst freien Umgang mit der literarischen Vorlage. In diesem Film ging es darum, den ethischen Aspekt von Wissenschaft zu durchleuchten: imaginiert wird die Kontaktaufnahme von einigen Kosmonauten zu einem gigantischen Stern inmitten des Universums, der aus einem erkennenden Verstand, in Form eines Ozeans besteht. Tarkowskij war fest davon überzeugt, dass dieser Film ein Publikumserfolg wird[25].

Tarkowskij versucht, den transzendente Moment einzufangen, in dem der Mensch für den Kosmos, wie bei Dostojewskij[26], Bedeutung gewinnt. Das Motiv des »Märtyrer des Gewissens« wird sich, wie ein roter Faden durch Tarkowskijs Werk ziehen.

Nach seiner schweren Herzerkrankung begann er im Jahre 1976 mit den Dreharbeiten zu Stalker, ursprünglich einer Science-Fiction Story mit Mystery-Elementen, wie es Tonino Guerra nannte, dessen dritte Version1979 Tarkowskij erst befriedigte[27]. In dem Interview mit Tonino sagte er, dass Stalker auf jeden Fall eine Fortführung der Idee seiner vorherigen Arbeiten sei. Die Idee des Starken-Schwachen oder Schwachen-Starken sei hier nochmals präzisiert worden. Das Motiv liegt schon in Iwans Kindheit zugrunde: Iwan büßt im Krieg seine Kindheit ein, gewinnt aber an Stärke, so dass er gegenüber anderen Personen Oberhand behält. In Andrej Rublov werden wir mit einem Mönch konfrontiert, der seine Särke entwickeln muß, während er die Zerstörung und Umwälzung seines Landes nicht nur am eigenen Leib erlebt, sondern auch überlebt und des weiteren seine innere schöpferische Kraft zur Geltung bringt. In Solaris ist die Hauptperson ein kleiner Bourgeois, ein Psychologe, der nichts Besonderes vom Leben erwartet. Erst in dem Konflikt mit seinem Gewissen beweist er wahre menschliche Größe, indem er die materialisierten Menschen aus seinem Unterbewusstsein mit seiner menschlichen Würde und Liebesfähigkeit ´bekämpft´. Ebenso in Tarkowskijs Film Der Spiegel: Ein alter kranker Mann erinnert sich an sein Leben und die Menschen, die ihn liebten, welche er aber glaubt, selbst nicht ebenso gerecht geliebt zu haben. Tarkowskijs Helden sind eben keine Helden aus Stahl und Hohlheit, unimitierbare Geschöpfe der Phantasie, sondern lebendige, leidende, erkenntnis- und entwickelungsfähige Wesen.

3.2 Vorbilder des Autors

Während seines Studiums an der WGIK wurde Tarkowskij maßgeblich von Luis Buñuel und Ingmar Bergman beeinflusst, deren Filme zur damaligen Zeit großes Aufsehen erregten. Über Buñuel sprach er als einen „mir besonders nahestehenden Filmkünstler“. Mit ihm verband ihn das poetische Bewußtsein, welches keine Erklärung für die ästhetische Struktur benötigt. Die einmalige Lebendigkeit und die emotionale Überzeugungskraft seien die Stärken der Kunst.

Später kamen auch Federico Fellini, Akira Kurosawa und vor allem André Bresson[28] hinzu. Über den letzteren sagte er in einem Interview mit Tonino Guerra, dass allein der Gedanke an Bresson, seine asketische einfache Klarheit, nicht seine Werke ihn inspirierten, indem sie ihn aufforderten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Insgesamt steht Tarkowskij unter dem Einfluss des Filmkunstkinos (Programmkinos) seit den 50er Jahren. Nouvelle Vague oder Neue Welle standen für elitäres Kino, im Gegensatz zum populären. Federico Fellini, Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini prägten die visuelle Landschaften des neuen Kinos. John Cassavettes prägte in der USA Ende der 50er Jahre das Aufkommen des Autorenkinos.

3.2.1 Literarische Einflüsse

Wie oben bereits erwähnt, ist die literarische Vorlage für den Film Stalker das Buch Picknick am Wegesrand der Brüder Strugazki, die in der Tradition der osteuropäisch, russischen SF- Autoren wie Stansislav Lem oder Josef Nesvadba stehen. Sie gehören einer gleichsam philosophischen Richtung dieser Literaturgattung an[29]. Eine verschlungene, kafkaeske Logik verbindet sie im besonderen mit Stanislaw Lem[30]. Tarkowskij meinte selbst, dass nur die zwei Worte „Zone“ und „Stalker“ übernommen wurden und er aus der Geschichte etwas völlig anderes erschaffen habe.

Nach Hans Günther Pflaum beginnt der Film gleich zu Beginn mit einem Märchenmotiv. Eine Anzeige berichtet über die »Zone«, die wie das Motiv der »siebten Tür« im Märchen nicht überschritten werden darf. Man kann auch an die eigene Interpretation eines bedeutenden literarischen Bildes denken: Der christliche Topos des »hortus conclusus« klingt hier an; begriffen als ein abgeschlossener, abgegrenzter Garten, der eine Begegnungsstätte mit dem Übernatürlichen darstellt. Doch hat dieser Raum bei Tarkowskij seine idyllische Dimension verloren und ist nur durch die Überwindung aller existentiellen Bedrohungen einzunehmen[31].

Nach Peter Hamm steht Tarkowskijs Stalker inhaltlich in der Tradition der großen russischen Schriftsteller, wie Tolstoi oder Dostojewski, die in dem Glauben lebten, dass Russland bei der Apokalypse eine zentrale Rolle einnehmen würde. Die »Suche nach der Erlösung der Menschheit« stand meist im Zentrum ihrer Romane. Im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen, wie Flaubert, Balzac, etc., die stets säkular blieben. Diesen eklatanten Unterschied sieht man bei den Filmen von Tarkowskij und Kubrick[32]. Der nicht verwirklichte Plan Dostojewskijs Der Idiot[33] sowie Marcel Prousts Leben zu verfilmen[34], spricht ebenso für seine Beeinflussung durch die russische Tradition. Er war überzeugt davon, dass »die Filmkunst Werke hervorzubringen vermag, die den Romanen Dostojewskijs und Tolstojs ebenbürtig sind«[35].

Seine Begegnung mit dem damals zeitgenössischen Schriftsteller Wladimir Bogomolow, der die literarische Vorlage für Iwans Kindheit lieferte, stellte sich trotz aller Härten, einen gemeinsamen Konsens zu finden, als äußerst fruchtbar für Tarkowskijs Arbeit dar. Er musste sich nun gegenüber einem berühmten Literaten behaupten und seine Position als Autoren-Filmer festigen[36].

Tarkowskij hat sich auch bestimmt mit dem berühmten Aufsatz Poesie und Prosa in der Kinematographie vom Begründer des Formalismus, Viktor Schklowski (geb. 1893), beschäftigt. Dieser Literaturtheoretiker und Prosaist begründete in den zwanziger Jahren die formalistische Schule der russischen Literaturwissenschaft. Für den Film war er ebenso relevant, da er die Kategorien Prosa und Poesie gleichzeitig auch für den Film verwendete. Die Form der Bearbeitung sei vordergründig, nicht der Unterschied zwischen den Gattungen, der nichts mit dem Stoff zutun habe. Sie unterscheiden sich durch den Rhythmus und »[...]das Überwiegen der technisch-formalen Elemente (im poetischen Film) über die inhaltlichen Momente. Die formalen Elemente bestimmen die Komposition des (poetischen) Films«[37].

Ebenso wissen wir, dass er während seines Studiums an der Filmhochschule André Bazins Auffassung vom Film teilte[38]. Bazin (1918-1958) galt als der bedeutendste Filmkritiker nach dem Zweiten Weltkrieg und war der geistige Begründer der Nouvelle Vague. Er gründete die Cahier du Cinema in der große Regisseure, wie Claude Chabrol, François Truffaut und Jean-Luc Godard, um nur einige zu nennen, veröffentlichten. Sie stellten sich gegen das Kommerzkino, standen aber einigen Hollywood-Regisseuren wie Alfred Hitchcock, Orson Welles oder Nicholas Ray offen gegenüber. Bazin entwickelte, auf der Grundlage der theoretischen Arbeiten Edmund Husserls zur Phänomenologie, eine Theorie des filmischen Realismus. Für Tarkowskij war vielleicht die Ausnutzung der Tiefenschärfe in langen filmischen Einstellungen interessant, um komplexe Handlungsabläufe darzustellen. Ebenso war ihm daran gelegen, die Darstellung der Realität, wie er es immer wieder in seinen eigenen theoretischen Schriften beteuerte, mit minimalem technischem Aufwand umzusetzen.

Wie Alain Resnais, der mit zeitgenössische Romanciers wie Marguerite Duras oder Alain Robbe-Grille arbeitete, machte Tarkowskij seine Erfahrungen mit sowjetischen Romanciers: Bogomolow, die Brüder Strugazki oder Lem. Die reiche Fülle der Erfahrung und die literarische Vielfalt der formalen Analyse, sowie narrative Konstruktionen bereicherte und inspirierte sein filmisches Schaffen, ein Phänomen, das sich bis in die heutige Zeit in den filmtheoretischen Aussagen Alexander Sokurovs zeigt.

Zuletzt muss noch erwähnt werde, dass Tarkowskij trotz seiner „Zurückhaltung gegenüber Analogien zu anderen Kunstarten“ das japanische Haiku, dem Wesen des Films am nächsten verwandt sah. Dies erkannte vor ihm bereits Sergej Eisenstein[39].

[...]


[1] Vgl. Felicitas Allardt-Nostitz (Hrsg.): Andrej Tarkowskij. Film als Poesie- Poesie als Film. Bonn 1981, S. 151f.

[2] Vgl. Ebd., S. 27.

[3] Vgl. Vida T Johnson. und Graham  Petrie: „Tarkovsky“. In: Goulding, Daniel J. (Hrsg.): Five

Filmmakers. Indianapolis 1994, S. 2 f.

[4] Paul Davay, Stalker, le nouveau film d´ A. Tarkovski.

[5] Vgl. Felicitas Allardt-Nostitz (Hrsg.): Andrej Tarkowskij. Film als Poesie- Poesie als Film. Bonn 1981, S. 32.

[6] Vgl. Ebd., S. 32.

[7] Vgl. Ebd., S. 35.

[8] Brian W. Aldis: Der Milliarden-Jahre-Traum. Die Geschichte der Science Fiction. Bergisch Gladdbach 1990, S. 682 f.

[9] Felicitas Allardt-Nostitz (Hrsg.): Andrej Tarkowskij. Film als Poesie- Poesie als Film. Bonn 1981, S. 23 ff.

[10] Vgl. Ebd., S. 152 f.

[11] Vgl. Ebd., S. 38.

[12] Vgl. Ebd., S. 46.

[13] Andrei Tarkovskij: Lichtbilder. München 2004, S. 45.

[14] Hans Günther Pflaum: „Der Stalker“. In: Filmdienst, 06.05.1981, S. 12.

[15] Vgl. Felicitas Allardt-Nostitz (Hrsg.): Andrej Tarkowskij. Film als Poesie- Poesie als Film. Bonn 1981, S. 166.

[16] Vgl. Vida T. Johnson und Graham  Petrie: „Tarkovsky“. In: Daniel J Goulding (Hrsg.): Five

Filmmakers. Indianapolis 1994, S. 5.

[17] Felicitas Allardt-Nostitz (Hrsg.): Andrej Tarkowskij. Film als Poesie- Poesie als Film. Bonn 1981, S. 162.

[18] Robert Fischer: „Stalker“. In: Evangelischer Filmbeobachter, 1981, S. 8.

[19] Vgl. Vida T. Johnson und Graham  Petrie: „Tarkovsky“. In: Daniel J. Goulding (Hrsg.): Five

Filmmakers. Indianapolis 1994, S. 31f.

[20] Vgl. Maja Josifowna Turowskaja: Andrej Tarkowskij. Film als Poesie- Poesie als Film. Bonn 1981, S. 39.

[21] Vgl. Ebd., S. 15 ff.

[22] Vgl. Ebd., S. 40.

[23] Vgl. Ebd., S. 51.

[24] Vgl. Ebd., S. 67.

[25] Vgl. Ebd., S. 52.

[26] Vgl. Ebd., S. 58.

[27] Vgl. Ebd., S. 7.

[28] Vgl. Ebd., S. 27.

[29] Vgl. Ebd., S. 51.

[30] Brian W. Aldis: Der Milliarden-Jahre-Traum. Die Geschichte der Science Fiction. Bergisch Gladdbach 1990, S. 680.

[31] Hans Günther Pflaum: „Der Stalker“. In: Filmdienst, 06.05.1981, S. 12.

[32] Vgl. Ebd., S. 12.

[33] Felicitas Allardt-Nostitz (Hrsg.): Andrej Tarkowskij. Film als Poesie- Poesie als Film. Bonn 1981, S. 8.

[34] Vgl. Ebd., S. 74.

[35] Ebd., S. 8.

[36] Vgl. Ebd., 37.

[37].Vgl. Ebd., S. 20.

[38] Seine wichtigsten Texte wurden in den vier Sammelbänden "Qu'est-ce que le cinéma ?" (Was ist Film ? bzw. Was ist Kino ?) publiziert. 1975 erschien eine "Edition definitive", die wiederum eine Auswahl der wichtigsten Artikel der vier Bände darstellt.

[39] Andrej Tarkowski: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Leipzig und Weimar 1989, S. 74.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
"Stalker" von A. Tarkowskij - eine biografische, politische, ästhetische, poetologische und geschichtliche Hinführung zur Gedankenwelt Andrej Tarkowskijs
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Kunsthistorisches Institut)
Veranstaltung
Von der lebenden Photographie zum Gesamtkunstwerk. Meilensteine der Filmkunst
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
31
Katalognummer
V93831
ISBN (eBook)
9783640100705
ISBN (Buch)
9783640858798
Dateigröße
549 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stalker, Tarkowskij, Hinführung, Gedankenwelt, Andrej, Tarkowskijs, Photographie, Gesamtkunstwerk, Meilensteine, Filmkunst
Arbeit zitieren
M. A. Sara Ehsan (Autor:in), 2007, "Stalker" von A. Tarkowskij - eine biografische, politische, ästhetische, poetologische und geschichtliche Hinführung zur Gedankenwelt Andrej Tarkowskijs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93831

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