Leseprobe
Inhalt
Aktuelle Anamnese
Biographische & soziale Anamnese
Psychopathologischer Befund
Diagnostik
Therapieziele
Therapieverlauf
Ergebnis
Kritische Reflexion des Falles
Literaturverzeichnis
Aktuelle Anamnese
Bei dem Erstgespräch berichtete die Patientin, sie leide täglich mehrere Stunden an andauernden Sorgen und sei vermehrt unruhig und angespannt. Sie habe große Angst, dass ein Mitglied ihre Familie plötzlich schwer erkranke und infolge dessen versterbe. Sie habe Angst, dass sie oder ihre Familie in einen Unfall verwickelt seien und habe auch Angst davor, in Urlaub zu fahren. Seit etwa zwei Jahren leide sie an diesen Ängsten. Anfang 2017 habe auch „der Körper verrückt“ gespielt und sie habe an Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel sowie Kribbeln in Armen und Beinen gelitten. Sie sei überzeugt gewesen, an Multipler Sklerose erkrankt zu sein und habe sich bei ihrem Neurologen vorgestellt, der jedoch keine organische Ursache gefunden habe. Seitdem sei sie nicht mehr beim Arzt gewesen, da es „sowieso keinen Befund gebe“ und „Zeitverschwendung“ sei. Gelegentlich verspüre sie erneutes Kribbeln in den Extremitäten und habe auch immer wieder die Sorge, an Thrombose erkrankt zu sein. Sie fühle sich reizbar und sei ständig in der Erwartung, dass eine Katastrophe geschehe. Im letzten Jahr habe sie zwei Panikattacken erlitten. Die Ursache ihrer Ängste sehe die Patientin in ihrer ängstlichen, überbehütenden Mutter. Weiterhin verstärke Stress die Beschwerden. Als Ziel für die ambulante Therapie wünsche sie sich ein angstbefreites Leben.
Biographische & soziale Anamnese
Die Patientin sei als Einzelkind bei beiden Eltern aufgewachsen. Die Patientin sei schon immer schüchtern und unsicher gewesen. Die Mutter habe ihre gesamte Aufmerksamkeit der Patientin gewidmet und sei sehr überbehütend gewesen. So sei die Mutter beispielsweise auf dem Spielplatz immer mit dabei gewesen und habe aufgepasst, dass nichts passiere. Die Mutter habe sich viele Sorgen gemacht und sich durch häufige Anrufe bei der Patientin rückversichert, dass alles in Ordnung sei. Teilweise habe die Mutter auf vermeintliches Fehlverhalten für die Patientin unerklärlicherweise sehr nachtragend und mit „Liebesentzug“ reagiert. Dies habe in der Patientin starke Gefühle von Verunsicherung, Angst, Hilflosigkeit und auch Schuld ausgelöst. Der Vater hingegen sei ruhig und ausgeglichen und für die Patientin die wichtigste Bezugsperson gewesen.
Die Patientin habe nach dem erfolgreichen Abschluss des Abiturs eine Ausbildung als Verwaltungsfachangestellte absolviert. Sie sei seit 2007 verheiratet und in der Ehe gebe es keine Probleme. Sie habe zwei Töchter (geb. 2010, geb. 2014) und wohne mit ihrer Familie in einem Einfamilienhaus. Zu den Eltern bestehe wöchentlicher Kontakt. An Ressourcen benennt die Patientin Tennis, Unternehmungen mit der Familie und mit Freunden, Yoga und Nähen.
Psychopathologischer Befund
Zum Aufnahmegespräch erscheint eine altersangemessen gekleidete, gepflegte 39-jährige Patientin. Sie ist bewusstseinsklar und allseits orientiert. Die Patientin tritt freundlich und mitteilungsbereit, jedoch auch sichtlich angespannt in Kontakt. Auffassung, Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis sind im Gespräch unauffällig, subjektiv berichtet die Patientin über störende Konzentrationsprobleme. Im formalen Gedankengang geordnet bei Neigung zu sorgenvollen Gedankenkreisen, inhaltlich eingeengt auf die wiederkehrenden Sorgen. Kein Anhalt für wahnhaftes Erleben oder Ich-Störung, keine Zwänge. Stimmung teilweise gereizt, teilweise niedergeschlagen, häufiges Weinen, die emotionale Schwingungsfähigkeit ist ausreichend erhalten. Der Antrieb ist etwas reduziert, Psychomotorik und Mimik sind adäquat. Die Patientin ist klar distanziert von Suizidalität und akuter Eigen- oder Fremdgefährdung.
Diagnostik
Zu Beginn der Behandlung wurde der Patientin das Klinisch Psychologisches Diagnosesystem 38 (KPD-38, Forschungsstelle für Psychotherapie, Universitätsklinikum Heidelberg) ausgeteilt. Die Ergebnisse der Patientin spiegeln die hohe Belastung hinsichtlich psychischer Beeinträchtigungen wider, was sowohl dem Bericht der Patientin als auch unserem klinischen Eindruck maßgeblich entsprach.
Auf dem Penn State Worry Questionnaire (PSWQ-D) erreichte die Patientin überdurchschnittliche Werte in Bezug auf die „pathologische Besorgnis“ (Summenscore 56, Cutoff > 54). Dies entsprach dem klinischen Eindruck vor dessen Hintergrund die Diagnose einer Generalisierten Angststörung (F41.1) gestellt wurde.
Therapieziele
- Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung
- Erarbeiten eines psychosomatischen Krankheitsmodells
- Ausführliche Psychoedukation zu Ängsten und zu der Generalisierten Angststörung
- Identifikation aufrechthaltender Faktoren (Vermeidungs- und Rückversicherungsverhalten), Konfrontation mit den Sorgen sowie Modifikation des dysfunktionalen Verhaltens
- Verbesserung der Wahrnehmung und des Ausdrucks eigener Emotionen und Bedürfnisse
- Erarbeitung und Etablierung von Abgrenzungsstrategien gegenüber der Mutter
- Erarbeitung funktionaler kognitiver Strategien im Umgang mit den Sorgen
- Ressourcenaktivierung
Therapieverlauf
Die Patientin erschien pünktlich und zuverlässig zu den vereinbarten Terminen. In Folge einer ausführlichen Anamnese und aufbauend auf ausführlicher Psychoedukation (Becker & Margraf, 2016, Linden, 2013) wurde gemeinsam ein individuelles Erklärungsmodell der psychosomatischen Beschwerden unter der Berücksichtigung prädisponierender, auslösender und aufrechterhaltender Faktoren erarbeitet. Diese Erarbeitung und somit eine erste Konfrontation mit angstauslösenden Faktoren löste bei der Patientin starke Gefühle von Angst und Unsicherheit sowie vermehrtes Weinen aus, welches sie als anstrengend, aber auch als sehr erleichternd erlebte. Über den gesamten Therapieverlauf füllte die Patientin ein Sorgentagebuch angelehnt an Becker und Margraf (2016) aus, wodurch eine genaue Beobachtung sowie eine Analyse auslösender und aufrechthaltender Faktoren der Sorgen möglich war. Bereits nach kurzer Zeit konnte eine Verringerung des Sorgenauftretens sowie der Intensität verzeichnet werden. Als auslösend konnte eine andauernde Überlastungssituation der Patientin identifiziert werden, da sie versuchte, „alles perfekt zu machen“ bezüglich Kinder, Haushalt, Beruf sowie Hobbies und Vereinen. An aufrechthaltenden Mechanismen konnten vor allem Vermeidungsverhalten sowie Rückversicherungen und Kontrollverhalten identifiziert sowie kritisch hinterfragt und schließlich das Verhalten auf gedanklicher sowie auf Verhaltensebene modifiziert werden. Die Sorgen der Patientin manifestierten sich in mehreren Hauptbereichen (Tod des Vaters, tödlich verlaufende Erkrankung in der Familie oder bei sich selbst sowie ein (Auto-)Unfall von einem Familienangehörigen) und in mehreren Doppelstunden wurden Sorgenkonfrontationen durchgeführt, um eine Habituation zu erreichen. Die Konfrontationen lösten starke Gefühle von Angst, Unsicherheit und Schuld aus, denen sich die Patientin stellte und die im Laufe der Konfrontation an Intensität nachließen. Die Patientin übte diese Konfrontationen regelmäßig für sich und konnte hiervon sehr profitieren. Die übermäßigen Schuldgefühle konnten biografisch durch ein nachtragendes und vorwurfsvolles Verhalten der Mutter eingeordnet werden und die Patientin erkannte, dass die Mutter auch heute noch viel Einfluss auf ihr Verhalten und ihre Emotionen habe. Durch eine sokratische Gesprächsführung konnte dies kritisch hinterfragt werden (Stavemann, 2008). Gemeinsam wurden Strategien zur Abgrenzung eingeübt und die Patientin konnte diese gewinnbringend anwenden. Sie erlebte hierdurch eine Erleichterung sowie eine Reduktion der Schuldgefühle. Weiterhin konnten kognitive Strategien gemeinsam erarbeitet und von der Patientin gewinnbringend angewandt werden (Realitätsüberprüfung, Entkatastrophisieren, Gedanken zu Ende denken). Zum Ende der Therapie wurde die Frequenz der therapeutischen Sitzungen reduziert, sodass die Patientin die Möglichkeit hatte, erlernte Strategien im Alltag zu erproben und mögliche Schwierigkeiten im Nachhinein zu besprechen.
Ergebnis
Im Rahmen der Therapie konnte die Patientin ihr Krankheitsverständnis vertiefen und ein Erklärungsmodell ihrer Beschwerden erarbeiten. Es konnten auslösende sowie aufrechthaltende Faktoren in Form von Vermeidung und Rückversicherung erarbeitet werden und die Patientin konnte sich im Rahmen von Expositionen ihren Ängsten stellen und hierdurch ein Gefühl von Sicherheit entwickeln („Ich bin den Anforderungen des Lebens gewachsen“). Sie konnte ihre Emotionswahrnehmung verbessern und übte sich darin, diese Emotionen zuzulassen und auch auszudrücken. Im Laufe der Therapie gelang es der Patientin zunehmend besser, sich gegenüber den Forderungen und Vorwürfen ihrer Mutter abzugrenzen.
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