Wunsch und Wirklichkeit beim nachhaltigen Lebensmittelkonsum

Empirische Ergebnisse zur Intensions-Verhaltens-Lücke und zur Rolle von Nachhaltigkeitsinitiativen


Masterarbeit, 2020

176 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Zielsetzung und Fragestellung
1.3 Aufbau der Arbeit

2 Theoretische Grundlagen zum Thema nachhaltiger Lebensmittelkonsum
2.1 Lebensmittelerzeugung und Lebensmittelhandel in Deutschland
2.1.1 Ökonomische Bedeutung und Struktur der Lebensmittelbranche
2.1.2 Aktuelle Entwicklungstrends und Diskussionen
2.2 Nachhaltigkeit und nachhaltiger Konsum
2.2.1 Grundidee der Nachhaltigkeit
2.2.2 Nachhaltigkeitsverständnis im Bereich Lebensmittel
2.2.3 Nachhaltigkeitsbilanz der Lebensmittelwirtschaft
2.3 Konsumentensouveränität und Intentions-Verhaltens-Lücke
2.3.1 Konsumforschung und das Prinzip der Konsumentensouveränität
2.3.2 Neue Rolle des Konsumenten
2.3.3 Die Intentions-Verhaltens-Lücke und ihre Ursachen
2.4 Initiativen für nachhaltigen Lebensmittelkonsum
2.4.1 Informationsplattformen und Beratungsportale
2.4.2 Gütesiegel und Qualitätsstandards
2.4.3 Selbstversorgung, solidarische Landwirtschaft und regionale Netzwerke
2.4.4 Beteiligungs- und Mitbestimmungsmodelle
2.4.5 Vermeidung von Lebensmittelverschwendung und Verpackung
2.5 A-priori-Hypothesen für die empirische Untersuchung

3 Methodik der empirischen Datenerhebung
3.1 Konzeption der empirischen Untersuchung
3.1.1 Forschungsdesign
3.1.2 Gütekriterien der qualitativen und quantitativen Forschung
3.2 Entwicklung der Erhebungsmethoden
3.2.1 Entwicklung des Leitfadens für die Experteninterviews
3.2.2 Entwicklung des quantitativen Erhebungsinstruments
3.2.2.1 Aufbau und Struktur des Fragebogens
3.2.2.2 Operationalisierung der Konstrukte
3.3 Stichprobe der Untersuchungen
3.3.1 Gewinnung von Interviewpartnern
3.3.2 Rekrutierung der Umfrageteilnehmer
3.4 Datenerhebung
3.4.1 Pretests
3.4.2 Durchführungssystematik
3.4.3 Datenerfassung
3.4.3.1 Transkription der Interviews
3.4.3.2 Datenerfassung im Fragebogen
3.5 Auswertung und Interpretation der Daten
3.5.1 Qualitative Inhaltsanalyse der Interviews
3.5.2 Quantitative statistische Auswertung der Onlineumfrage
3.5.3 Computergestützte Auswertung

4 Ergebnisse der qualitativen Experteninterviews
4.1 Qualitative Inhaltsanalyse der Experteninterviews
4.1.1 Verständnis des Problemfelds
4.1.2 Hemmnisse und psychologische Faktoren
4.1.3 Initiativen und Zielgruppen
4.2 Ableitung von ex-post-Hypothesen

5 Ergebnisse der Konsumentenbefragung
5.1 Deskriptive Statistik
5.1.1 Verständnis von nachhaltigem Konsum
5.1.2 Einkaufsverhalten bei Lebensmitteln
5.1.3 Engagement für nachhaltigen Lebensmittelkonsum
5.2 Bewertung der Hypothesen
5.2.1 Wunsch und Wirklichkeit des Lebensmitteleinkaufs
5.2.2 Ursachen der Intentions-Verhaltens-Lücke
5.2.3 Erfolgschancen und Zielgruppen für Nachhaltigkeitsinitiativen
5.3 Bewertung von Reliabilität, Validität und Repräsentativität der Studie

6 Diskussion und Fazit
6.1 Zusammenfassung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse
6.2 Handlunsgempfehlungen zur Überwindung der Intentions-Verhaltens-Lücke
6.3 Limitationen der Untersuchung
6.4 Implikationen für die weitere Forschung

Literaturverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Marktentwicklung bei Biolebensmitteln in Deutschland

Abbildung 2: Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung

Abbildung 3: Nachhaltigkeitsverständnis der Konsumenten

Abbildung 4: Allgemeines Konsumentscheidungsmodell

Abbildung 5: Theorie des geplanten Verhaltens

Abbildung 6: Barrieren beim nachhaltigen Lebensmittelkonsum

Abbildung 7: Abhängigkeitsverhältnisse der Variablen

Abbildung 8: Kategoriensystem der qualitativen Inhaltsanalyse

Abbildung 9: Subjektive Relevanz von nachhaltigem Konsum

Abbildung 10: Nachhaltiges Konsumbewusstsein und -verhalten der Befragten

Abbildung 11: Nachhaltigkeitsverständnis der Befragten

Abbildung 12: Einkaufskriterien der Befragten für Lebensmittel

Abbildung 13: Angaben zum Anteil von Bio-Lebensmitteln

Abbildung 14: Einkaufsorte der Befragten

Abbildung 15: Einkaufsverhalten der Befragten

Abbildung 16: Angaben zu Hemmnissen für einen nachhaltigen Lebensmittelkonsum

Abbildung 17: Bewertung des Wissens über die Nachhaltigkeit von Lebensmitteln

Abbildung 18: Informationsquellen über die Nachhaltigkeit von Lebensmitteln

Abbildung 19: Bekanntheit von Nachhaltigkeitsinitiativen

Abbildung 20: Interesse an Nachhaltigkeitsinitiativen

Abbildung 21: Werteverteilung der Variablen für die Intentions-Verhaltens-Lücke

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Operationalisierung der Konstrukte

Tabelle 2: Liste der durchgeführten Interviews

Tabelle 3: Strukturdaten der Stichprobe (n = 350)

Tabelle 4: Maßnahmenvorschläge der Befragten (n = 158)

Tabelle 5: Einflussfaktoren auf das nachhaltige Bewusstsein und das nachhaltige Einkaufsverhalten

Tabelle 6: Alternative Einflussfaktoren auf die Intentions-Verhaltens-Lücke

Tabelle 7: Einflussfaktoren auf Interesse und Nutzung bestimmter Nachhaltigkeitsinitiativen

1 Einleitung

Nachhaltigkeit ist in der Lebensmittelwirtschaft in Deutschland aktuell allgegenwärtig. Auch die großen Lebensmittelketten haben zuletzt entsprechende Werbekampagnen an den Start gebracht. In einem TV-Spot von EDEKA zum Thema Plastikmüllvermeidung war etwa ein neugeborenes Baby zu sehen, das in Plastik eingewickelt zur Welt kommt (vgl. Rentz, 2019, o. S.). Im Januar 2020 startete die REWE-Kampagne „Schon bewusst“, welche die Kunden zu einem nachhaltigeren Konsumverhalten auffordert (vgl. REWE, 2020, o. S.). Der jüngste Bericht der Bundesregierung zur Ernährungspolitik, Lebensmittel- und Produktsicherheit widmet dem Thema „Nachhaltig produzieren und konsumieren“ ein eigenes Kapitel, in dem es unter anderem um die Reduzierung von Lebensmittelabfällen, die Stärkung des ökologischen Landbaus und die Vermeidung von Kunststoffabfällen geht (vgl. BMEL, 2020a, S. 44-53). Die verschiedenen Initiativen zeigen jedoch nicht nur, dass das Thema nachhaltiger Lebensmittelkonsum auf große Resonanz stößt, sondern auch, dass es offensichtlich noch erhebliche Defizite gibt, für die Politik, Erzeuger, Handel und Verbraucher noch nach Lösungsansätzen suchen.

1.1 Problemstellung

Neuere Umfragen zum Lebensmittelkonsum legen den Schluss nahe, dass Nachhaltigkeit zu einem wichtigen Einkaufskriterium für Lebensmittel geworden ist und viele Verbraucher auch bereit sind, für nachhaltige Produkte mehr zu bezahlen. Nachhaltiger, verantwortungsbewusster Konsum bedeutet in diesem Zusammenhang die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse, ohne das Leben und die Konsumpotenziale heutiger und künftiger Generationen zu beeinträchtigen, was den allgemeinen Grundsätzen der Nachhaltigkeit entspricht, wie sie die Konferenz von Rio 1992 verabschiedet hat (vgl. UN, 1992, S. 18-23). In einer Befragung von m Science (2019, S. 17, 30) gaben 72 % der Befragten an, dass es ihnen persönlich wichtig ist, nachhaltig zu konsumieren. Immerhin 64 % erklärten, beim Kauf von Lebensmitteln häufig auf Nachhaltigkeit zu achten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine neue Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Qualität (DGQ). Demnach spielt für 71 % der Deutschen Nachhaltigkeit bei Ernährung und Lebensmitteleinkauf eine wichtige Rolle, wobei 35 % auch bereit sind, dafür mehr Geld auszugeben (vgl. DGQ, 2019, o. S.).

Obwohl das Bewusstsein für nachhaltige Entwicklung offensichtlich zu einem Einstellungswandel geführt hat, stellen Experten aber immer wieder fest, dass dies nicht unbedingt Veränderungen im Konsumverhalten zur Folge hat (vgl. Claudy et al., 2013; Terlau & Hirsch, 2015). Daraus resultiert eine Lücke zwischen nachhaltiger Einstellung und tatsächlichem Verhalten. Während beispielsweise 2017 in einer Umfrage 83 % der deutschen Verbraucher angaben, in den letzten vier Wochen immer oder manchmal Biolebensmittel gekauft zu haben, betrug der Marktanteil dieser Waren noch nicht einmal 6 % (vgl. Koros, 2018, o. S.).

Diese immer wieder beobachtete Lücke zwischen dem Wunsch nach nachhaltigen Produkten und dem tatsächlichen Kaufverhalten stellt auf verschiedenen Ebenen ein Problem dar (vgl. Caruana et al., 2016, S. 215 f.). Aus ökologischer Perspektive bleibt das Niveau der Nachhaltigkeit im Lebensmittelsektor unbefriedigend, während es auf politischer Ebene erschwert wird, geeignete Maßnahmen zur Förderung von Nachhaltigkeit zu ergreifen, da es offensichtlich nicht ausreicht, ein entsprechendes Problembewusstsein zu schaffen. Schließlich ergeben sich auch auf betriebswirtschaftlicher Ebene Probleme, da die Überbewertung des Interesses an nachhaltigen Produkten zu Fehleinschätzungen bei der Markteinführung neuer Produkte führen kann. Gleichzeitig lassen sich tatsächlich vorhandene Bedürfnisse und Marktnischen kaum exakt identifizieren. Alle diese Schwierigkeiten sprechen für die Dringlichkeit, nicht nur eine theoretische Antwort auf die Gründe für die vorhandene Lücke zu finden, sondern auch konkrete Maßnahmen zur Überwindung benennen zu können.

Das Phänomen, das sich auch in anderen Bereichen, wie etwa sportlicher Betätigung, zeigt, wird in der Forschung Intentions-Verhaltens-Lücke oder verkürzt auch Haltungs- bzw. Verhaltenslücke genannt (vgl. Frank, 2018, S. 4 ff.). Eine einfache Erklärung könnte sein, dass die Befragten so antworten, um soziale Normen einzuhalten, ohne dass sie gleichzeitig ihren individuellen Konsum anpassen müssen. Studien zum Verbraucherverhalten belegen jedoch, dass die Verbraucher unabhängig von der sozialen Erwünschtheit motiviert sind, nachhaltig zu konsumieren (vgl. Caruana et al., 2016). Es erscheint daher sinnvoller anzunehmen, dass das individuelle Verhalten das Ergebnis widersprüchlicher Einstellungen und Ziele ist, deren psychologisches Zusammenspiel die Forschung erst noch genauer verstehen muss (vgl. Frank, 2018, S. 75 ff.). Zwar gibt es vermehrt Studien, die sich mit dem Problem beschäftigen. Sie kommen aber selten über eine Beschreibung und erste Hypothesen für Gründe hinaus. Beispielsweise wird in der Forschung auf die psychologische Distanz als Erklärungsansatz verwiesen. Damit ist die subjektive Erfahrung gemeint, ob etwas in der Nähe oder weit entfernt ist, wobei zwischen einer räumlichen, zeitlichen, sozialen und hypothetischen Dimension der Distanz unterschieden wird (vgl. Trope et al., 2007, S. 83-95). Entferntere Probleme werden auf einer abstrakteren Ebene betrachtet, was zu unterschiedlichen Gefühlen der Dringlichkeit, Motivation und Präferenzen für Lösungen führt. Werden Umweltprobleme als zeitlich, räumlich, sozial und hypothetisch weit entfernt wahrgenommen, sind die Menschen weniger bereit, ihr Verhalten zu ändern (vgl. Carmi & Kimhi, 2015, S. 2239 ff.).

Letztlich geht es aber nicht nur darum, die Ursachen für Barrieren und Hindernisse zu ergründen, die sich etwa in der konkreten Einkaufsituation zeigen. Vielmehr stellt sich die praktische Frage, wie die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach nachhaltigen Produkten und einem gegensätzlichen Kaufverhalten geschlossen werden kann. Aus diesem Grund will sich diese Arbeit nicht auf die Diskussion und Überprüfung theoretischer Erklärungsmodelle beschränken, sondern auch konkrete Ansätze der Überwindung berücksichtigen. Schon heute versuchen verschiedene öffentliche, private und unternehmerische Initiativen, hier neue Perspektiven zu eröffnen, sie erfordern aber zugleich das aktive Engagement der Konsumenten. Noch fehlt es an Untersuchungen, die sich detailliert und systematisch mit der Wirkung und Akzeptanz solcher Initiativen beschäftigen, die darauf abzielen, die Konsumentensouveränität zu stärken. Gerade der Aspekt, wieviel Aufwand die Konsumenten insgesamt für nachhaltigen Lebensmittelkonsum betreiben wollen, scheint dafür entscheidend. Diese Bereitschaft, durch eigenes Handeln zum Schließen der Intentions-Verhaltens-Lücke beizutragen, ist daher der zentrale Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit.

1.2 Zielsetzung und Fragestellung

Ziel dieser Masterthesis ist es, einen Beitrag zum besseren Verständnis des Konsumentenverhaltens im Bereich nachhaltiger Lebensmittelkonsum zu leisten. Dazu dient eine quantitative Befragung von Verbrauchern, die auf einer umfangreichen Literaturanalyse sowie einer qualitativen Vorstudie in Form von Experteninterviews aufbaut. Über das Nachhaltigkeitsverständnis und das Einkaufsverhalten der Konsumenten hinaus ist dabei von besonderem Interesse, inwieweit aktuelle private, öffentliche und unternehmerische Initiativen dazu beitragen, dass die Verbraucher mehr nachhaltige Lebensmittel konsumieren. Vor dem Hintergrund der geschilderten Problemstellung steht dabei die folgende Forschungsfrage im Mittelpunkt: „Welche Initiativen für nachhaltigen Lebensmittelkonsum sind in der Lage, einen Beitrag zur Schließung der Intentions-Verhaltens-Lücke zu leisten?“

Ausgehend von dieser zentralen Fragestellung will die Arbeit untersuchen, inwiefern die Konsumenten gewillt sind, von der Konsumentensouveränität aktiv Gebrauch zu machen, d. h. durch ihre Konsumentscheidungen Art und Umfang der Produktion zu bestimmen, und wo sie zusätzlichen Aufwand scheuen. Zur Beantwortung der Forschungsfrage sind verschiedene Teilaspekte zu berücksichtigen, die sich aus der unterstellten Wirkungskette ergeben. Zentrale Komponenten sind das Nachhaltigkeitsbewusstsein der Konsumenten, ihr konkretes Einkaufsverhalten und die unterschiedlichen praktischen und theoretischen Ansätze, wie beides zusammenhängt bzw. zusammengebracht werden kann. Erstens gilt es daher zu ermitteln, was die Konsumenten unter nachhaltigem Lebensmittelkonsum verstehen und wie sich dadurch ihr Einkaufsverhalten verändert. Zweitens ist zu überprüfen, inwiefern sich tatsächlich von einer Intentions-Verhaltens-Lücke sprechen lässt und welche Faktoren dafür ursächlich sein könnten. Drittens schließlich gilt es die verschiedenen Typen von Initiativen zu identifizieren, die es im Bereich nachhaltige Lebensmittelwirtschaft gibt, um ihre Wirkung und Erfolgschancen bewerten zu können. Dabei lassen sich verschiedene Stufen des Engagements vom Vertrauen auf staatliche Labels über die Recherche nach Informationen bis hin zur solidarischen Landwirtschaft unterscheiden. Ein Beispiel ist etwa die Initiative „Du bist hier der Chef“, die das Ziel verfolgt, Produkte auf den Markt zu bringen, welche die durch Umfragen erhobenen Kundenbedürfnisse genau abbilden (vgl. Du bist hier der Chef, 2020, o. S.). Idealerweise ist es am Ende der Arbeit möglich, Zielgruppen für solche Initiativen herauszuarbeiten und zugleich die Grenzen in Bezug auf die Bereitschaft der Konsumenten aufzuzeigen, sich aktiv um nachhaltigen Lebensmittelkonsum zu bemühen.

Es dürfte im Rahmen einer Masterthesis kaum möglich sein, eine abschließende Antwort auf die übergreifende Frage zu geben, wie die Lücke zwischen dem Wunsch nach nachhaltigen Produkten und dem gegensätzlichen Kaufverhalten geschlossen werden kann. Heruntergebrochen auf spezifische Wirkungszusammenhänge und bereits existierende praktische Lösungsversuche ist es jedoch möglich, empirische Belege zu finden, inwieweit die aktuellen Bemühungen ausreichend sind, um die Intentions-Verhaltens-Lücke zu überwinden. Hier sind konkrete Antworten auf folgende Fragen zu erwarten: Was macht nachhaltigen Lebensmittelkonsum aus Sicht von Experten und Konsumenten aus? Welche Hindernisse und Hemmnisse stehen einem stärker nachhaltigen Lebensmittelkonsum entgegen? Welche möglichen Ursachen für die Intentions-Verhaltens-Lücke spiegeln sich in der Selbstwahrnehmung der Konsumenten wider? Wie nehmen die Verbraucher unterschiedliche Arten von privaten, unternehmerischen oder öffentlichen Initiativen wahr? Während es bei den ersten beiden Fragen vor allem darum geht, vorhandenes Wissen zu systematisieren und zu überprüfen, sollen mit den letzten beiden Fragen bestehende Wissenslücken geschlossen werden. Die Beantwortung im Rahmen einer empirischen Studie erfordert es, im Laufe der Arbeit messbare Variablen aufzustellen und Wirkungsnetze statistisch zu untersuchen. Die genaue Vorgehensweise wird im Methodenteil ausführlich erläutert.

1.3 Aufbau der Arbeit

Methodisch beruht die Untersuchung auf drei Bausteinen. Neben der Auswertung der Sekundärliteratur sind dies eine qualitative Vorstudie in Form von kurzen Experteninterviews und eine quantitative Befragung mittels Onlinefragebogen. Die im theoretischen Teil anhand von Studien und Berichten erarbeiteten Grundlagen dienen dazu, a-priori-Hypothesen abzuleiten, die als Ausgangspunkt der eigentlichen Untersuchung dienen. Auf dieser Grundlage wurde eine qualitative Vorstudie durchgeführt, die aus fünf leitfadengestützten Interviews mit Experten zum Thema nachhaltiger Konsum bestand. Ziel war es, den Gegenstandsbereich zu präzisieren, Indikatoren zu bestimmen und ex-post-Hypothesen abzuleiten, die sich quantitativ untersuchen lassen. Die daraufhin erfolgte Onlineumfrage anhand eines teilstandardisierten Fragebogens hat letztlich die Aufgabe, diese Hypothesen mithilfe statistischer Methoden zu überprüfen und auf diese Weise die Beantwortung der Leitfrage zu ermöglichen. Dazu wird die quantitative Auswertung zusammen mit den Resultaten der Interviews genutzt, um neues Wissen zu generieren und als Forschungsergebnisse zu präsentieren.

Diese Elemente bestimmen auch den Aufbau der Arbeit. Im Anschluss an die Einleitung werden in Kapitel 2 die theoretischen Grundlagen und der Forschungsstand erarbeitet. Dabei werden zentrale Begriffe wie Nachhaltigkeit und Konsumentensouveränität definiert sowie die Bereiche Lebensmittelwirtschaft, Konsumverhalten und nachhaltiger Konsum näher beleuchtet. Am Ende des Kapitels werden verschiedene Arten von Initiativen vorgestellt, die sich für mehr Nachhaltigkeit beim Lebensmittelkonsum einsetzen. Aus dem theoretischen Teil werden a-priori-Hypothesen für die empirische Untersuchung abgeleitet, deren Methodik in Kapitel 3 näher erläutert wird. Dabei geht es um die Konzeption und das Forschungsdesign der qualitativen Vorstudie sowie der Konsumentenbefragung auf der Basis einschlägiger Fachliteratur (vgl. Lamnek & Krell, 2016; Döring & Bortz, 2016; Atteslander, 2010; Willis, 2005). Schwerpunkte sind die Struktur des Fragebogens, die Operationalisierung der Konstrukte und die verwendeten Fragentypen und Bewertungsskalen. Gegenstand des Kapitels sind daneben die Eckpunkte der Datenerhebung und -analyse.

Die Ergebnisse der qualitativen Vorstudie werden im vierten Kapitel geschildert. Die qualitative Inhaltsanalyse der durchgeführten Experteninterviews erlaubte es dabei, ex-post-Hypothesen zu entwickeln und den Fragebogen der Konsumentenbefragung weiter zu präzisieren. Deren Resultate werden in Kapitel 5 vorgestellt, wobei in zwei Schritten vorgegangen wird. Zunächst werden mit Mitteln der deskriptiven Statistik das Verständnis von nachhaltigem Konsum, das Einkaufsverhalten bei Lebensmitteln und das Engagement für nachhaltigen Lebensmittelkonsum nachgezeichnet. Anschließend werden die zuvor entwickelten Hypothesen mithilfe von Regressions- und Varianzanalysen überprüft und die gewonnenen Erkenntnisse bewertet. Das abschließende sechste Kapitel dient der Zusammenfassung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse. Zum einen werden dabei Ansätze zur Überwindung der Intentions-Verhaltens-Lücke aufgezeigt, zum anderen aber auch Limitationen der Untersuchung und Implikationen für die weitere Forschung diskutiert.

2 Theoretische Grundlagen zum Thema nachhaltiger Lebensmittelkonsum

Um den Begriff des nachhaltigen Konsums, der im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, genauer zu erfassen, werden im Folgenden Grundlagen in den für die Fragestellung relevanten Wissensbereichen gelegt. Basis dafür sind aktuelle Erkenntnisse der Konsumentenforschung und der Umweltpsychologie sowie für das Thema relevante Statistiken und Umfrageergebnisse. Nach einem kurzen Überblick über die Lebensmittelwirtschaft in Deutschland (Kapitel 2.1) wird auf das Nachhaltigkeitskonzept und das Verständnis von nachhaltigem Konsum eingegangen (Kapitel 2.2). Ein weiterer Schwerpunkt stellt der Bereich Konsumverhalten und Konsumentensouveränität dar, wobei insbesondere auf das Phänomen der Intentions-Verhaltens-Lücke eingegangen wird (Kapitel 2.3). Am Ende des Kapitels werden verschiedene Typen von Initiativen vorgestellt, die sich aktuell mit der Förderung des nachhaltigen Lebensmittelkonsums beschäftigen (Kapitel 2.4). Ziel ist es, einen Überblick über den Forschungsstand zu geben, auf dem die Konzeption der eigenen empirischen Datenerhebung aufbauen kann.

2.1 Lebensmittelerzeugung und Lebensmittelhandel in Deutschland

Unter Lebensmittelwirtschaft wird im Allgemeinen die gesamte Produktkette vom Acker bis auf den Teller verstanden. Legt man diese Definition zugrunde, arbeiten aktuell etwa 5,7 Millionen Beschäftigte in rund 700.000 Betrieben, um die über 82 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sowie auch Kunden im Ausland mit Lebensmitteln zu versorgen (vgl. Lebensmittelverband Deutschland, 2020a, o. S.). Dies beinhaltet die Landwirtschaft, deren Aufgabe die Gewinnung pflanzlicher und tierischer Rohstoffe ist, die Lebensmittelindustrie, welche diese Erzeugnisse weiterverarbeitet, den Lebensmittelgroß- und -einzelhandel sowie das Gastgewerbe. Im Folgenden werden überblicksartig Struktur sowie Zukunftstrends der Branche skizziert.

2.1.1 Ökonomische Bedeutung und Struktur der Lebensmittelbranche

Die grundsätzliche Relevanz der Lebensmittelbranche lässt sich anhand einiger Zahlen gut belegen. Die gesamte Wertschöpfung von 199,5 Milliarden Euro (2018) entspricht etwa 6,6 % des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Der Lebensmitteleinzelhandel für sich genommen machte zuletzt einen Umsatz von 208,5 Milliarden Euro (2018). Die 5,7 Millionen Erwerbstätigen in der Lebensmittelwirtschaft machen rund 12,4 % der Erwerbstätigen in Deutschland insgesamt aus. Die größten Gruppen sind dabei das Gastgewerbe (2,4 Millionen Beschäftigte) und der Lebensmitteleinzelhandel (1,2 Millionen Beschäftigte) (vgl. Lebensmittelverband Deutschland, 2020a, o. S.). Damit ist die Lebensmittelwirtschaft ein ökonomisch wichtiger Faktor, zumal er für die Grundversorgung der Bevölkerung essenziell ist.

Die Strukturen innerhalb der Branche sind sehr unterschiedlich. Während das Gastgewerbe und auch die Landwirtschaft eher kleinteilig strukturiert sind, hat der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) in den letzten Jahrzehnten einen starken Konzentrationsprozess durchlaufen. Zwar gab es laut Handelsverband Deutschland (vgl. HDE, 2018, S. 5) im Jahr 2017 knapp 37.000 LEH-Geschäfte, der Umsatz konzentriert sich jedoch auf vier Unternehmensgruppen, nämlich Edeka, REWE, die Schwarz-Gruppe (u. a. Lidl) sowie ALDI Nord/Süd, die zusammen auf einen Marktanteil von über 85 % kommen (vgl. Rehse, 2020, o. S.). Für Einkäufe im Bereich der sogenannten Fast Moving Consumer Goods (FMCG) nutzte 2018 die überwiegende Mehrheit der Verbraucher Discounter (90,6 %) und Supermärkte (87,5 %) (vgl. HDE, 2018, S. 14).

Jeder Deutsche verbraucht statistisch gesehen jährlich rund eine halbe Tonne Lebensmittel. Zu den wichtigsten Gruppen gehören Gemüse (99,6 kg), Getreide (78,0 kg), Obst (65,1 kg), Kartoffeln (57,9 kg), Milch (52,2 kg) und Zucker (33,8 kg). Hinzu kommt ein Pro-Kopf-Verzehr von 59,1 kg Fleisch, darunter 34,1 kg Schwein, 10,9 kg Rind und 13,8 kg Geflügel (vgl. BLE, 2019, o. S.; BLE, 2020a, S. 20). Aus diesen Zahlen ergibt sich ein von Produkt zu Produkt sehr unterschiedlicher Selbstversorgungsgrad Deutschlands. Statistisch gesehen lag die Agrarproduktion 2018 bei Zucker (160,7 %), Kartoffeln (138,0 %), Fleisch (115,6 %) und Milch (111,0 %) deutlich über dem Eigenbedarf, bei anderen Produkten wie Getreide (91,0 %), Eiern (71,9 %), Gemüse (35,7 %) und Obst (22,4 %) dagegen teilweise deutlich darunter (vgl. BLE, 2020b, o. S.). Damit ist die Lebensmittelwirtschaft in Deutschland erheblich vom Im- und Export verschiedener Lebensmittel abhängig. Im Jahr 2017 wurden Agrarprodukte im Wert von 85,6 Milliarden Euro eingeführt und im Wert von 73,3 Milliarden Euro ausgeführt (vgl. BMEL, 2018, S. 5). Hier zeigt sich, dass die deutsche Lebensmittelwirtschaft eng in den Weltmarkt eingebunden ist, was zwangsläufig Fragen in Bezug auf Nachhaltigkeit und die Möglichkeiten lokaler Initiativen aufwirft.

2.1.2 Aktuelle Entwicklungstrends und Diskussionen

Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) hat Zukunftsszenarien für den europäischen Lebensmittelsektor im Jahr 2035 entwickelt, auf deren Basis 15 Haupttrends für den Lebensmittelsektor identifiziert wurden (vgl. ISI, 2019, S. 19-33). Im Kern lassen sie sich vier Gruppen zuordnen. Erstens geht es um eine Neuorganisation der Produktionsketten, wozu neue lokale Lebensmittelkreisläufe ebenso beitragen wie der Trend hin zu einer Sharing Economy oder die wachsende Marktmacht des Handels. Ein zweiter Schwerpunkt sind veränderte und zunehmend individualisierte Konsummuster. Hierzu zählt das sogenannte Vooking („Vegetarian Cooking“), der Trend zu alternativen Proteinen durch Produkte auf Insektenbasis oder künstliches Fleisch und individuelle Ernährungspläne auf Basis von Nutrigenetics, also der individuellen genetischen Veranlagung. Ein dritter Faktor sind verschiedene Aspekte der Digitalisierung. Das reicht vom Präzisionsackerbau („Precision Farming“) über den Einsatz der Blockchain-Technologie bis zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Ein vierter Trendbereich sind veränderte Anbaumethoden, die einerseits auf innovativen Ansätzen wie „Vertical Farming“ beruhen, andererseits aber auch eine Reaktion auf die Herausforderungen des Klimawandels und zunehmender Wetterextreme darstellen. Vier der 15 Haupttrends lassen sich schließlich dem Bereich Nachhaltigkeit zuordnen. Dabei geht es um die Verringerung von Lebensmittelverschwendung, nachhaltige Lebensmittel für alle, mehr Transparenz durch Gütesiegel und nachhaltige Produktionsketten (vgl. ISI, 2019, S. 21, 24, 30, 32).

Während einige dieser Entwicklungen noch stark nach Zukunftsmusik klingen, zeigt sich bereits in vielen Bereichen, wie technische Innovationen und neue Geschäftsmodelle die Branche verändern. Auch wenn sich der reine Onlinehandel mit Lebensmitteln zumindest in Deutschland bei einem Marktanteil von 1,4 % (2019) noch nicht durchgesetzt hat (vgl. Statista, 2020a, o. S.), haben sich beispielsweise online bestellbare Kochboxen, in denen die Zutaten für ein bestimmtes Rezept zusammengefasst sind, als Nischenmarkt etabliert (vgl. Hutapea & Malanowski, 2019, S. 17 f.). Daneben belegen neue Geschäftsmodelle, die den Fokus auf Nachhaltigkeit legen, dass das Thema nachhaltiger Konsum in der Lebensmittelwirtschaft angekommen ist. Ein Beispiel hierfür sind sogenannte Unverpackt-Läden, in denen Produkte ohne Verpackung verkauft werden (vgl. Kröger et al., 2019, S. 1 ff.). Diese zunehmende Bedeutung von Ökologie und Nachhaltigkeit spiegelt sich auch bei der Erzeugung wider. Von den rund 16,1 Millionen ha landwirtschaftlich genutzter Fläche in Deutschland wurden 2019 etwa 1,6 Millionen ha ökologisch bewirtschaftet. Der Anteil hat sich in den letzten fünf Jahren somit auf 10,1 % verdoppelt (vgl. BÖLW, 2020, S. 12). Parallel dazu ist der Markt für Bio-Lebensmittel kontinuierlich auf ein Volumen von zuletzt 11,97 Milliarden Euro gewachsen, auch wenn der Bio-Anteil am Gesamtlebensmittelmarkt laut Bundesumweltamt (2020, o. S.) noch keine 6 % beträgt (vgl. Abbildung 1). Die Zahlen belegen, dass die Lebensmittelwirtschaft aktuell und in Zukunft am Thema Nachhaltigkeit nicht vorbeikommt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Marktentwicklung bei Biolebensmitteln in Deutschland

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von UBA, 2020a, o. S.

2.2 Nachhaltigkeit und nachhaltiger Konsum

Nachdem bereits deutlich geworden ist, dass das Thema Nachhaltigkeit ein wichtiger Entwicklungstrend der deutschen Lebensmittelwirtschaft darstellt, ist es notwendig, in einem nächsten Schritt genauer zu fassen, was damit gemeint ist und inwiefern Lebensmittelkonsum nachhaltig sein kann.

2.2.1 Grundidee der Nachhaltigkeit

Der heute weit verbreitete Begriff der Nachhaltigkeit hat seinen Ursprung in der Forstwirtschaft. Um eine dauerhafte Nutzung zu gewährleisten, sollte in einem Wald nur so viel abgeholzt werden, wie auf natürliche Weise nachwachsen kann (vgl. Lexikon der Nachhaltigkeit, 2015b, o. S.). Viele moderne Definitionen von Nachhaltigkeit beziehen sich auf die Begriffsbestimmung von nachhaltiger Entwicklung, welche die sogenannte Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen (UN) 1987 erarbeitet hat: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der Gegenwart entspricht, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (WCED, 1987, S. 43). Inzwischen hat sich die Sichtweise durchgesetzt, dass diese Art der Nachhaltigkeit auf drei Komponenten beruht, nämlich Ökologie, Ökonomie und Soziales. Umstritten ist dagegen die Frage, wie diese drei Dimensionen zusammenhängen. Neben den in Abbildung 2 illustrierten Varianten Säulenmodell, Dreiklangmodell und Nachhaltigkeitsdreieck, die alle ein gleichberechtigtes Nebeneinander der drei Bereiche implizieren, wird auch ein Vorrangmodell diskutiert, das die Ökologie als Basis der beiden übrigen Komponenten ansieht (vgl. Pufé, 2014, S. 16 f.; Hauff, 2014, S. 12 f.; Balderjahn, 2013, S. 1-11; X3, 2005, S. 2 f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung

Quelle: Eigene Darstellung nach Pufé, 2014, S. 18.

Die unterschiedlichen Dimensionen machen Nachhaltigkeit zu einem oft nur schwer fassbaren Konzept, zumal die Erfordernisse der einzelnen Bereiche zuweilen gegenläufig zu sein scheinen (vgl. (Spindler, 2012, S. 1 f.). Nachhaltiges Handeln umfasst nicht nur den Erhalt der Ökosysteme durch Ressourcenschonung, Reduktion der Verschmutzung, Klimaschutz und Erhalt der Biodiversität, sondern auch den Einsatz gegen Armut und für soziale Gerechtigkeit, um Teilhabe zu ermöglichen, und Wohlstandssicherung durch ein funktionierendes Wirtschaftssystem. Hier steht außer Frage, dass der aktuelle Lebensstil der Verbraucher, insbesondere in den Industrieländern, die Fähigkeit künftiger Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, negativ beeinflusst. Daher dreht sich die Nachhaltigkeitsdebatte nicht zuletzt um das Konsumverhalten, also die Auswahl, Nutzung und Entsorgung von Gütern und Dienstleistungen. Im jüngsten UN-Weltumweltbericht heißt es: „Unsustainable production and consumption patterns and trends and inequality, when combined with increases in the use of resources that are driven by population growth, put at risk the healthy planet needed to attain sustainable development“ (UN Environment, 2019, S. 21).

Der Begriff des nachhaltigen Konsums wurde erstmals 1992 auf der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in die politische Diskussion eingeführt (vgl. UN, 1992, S. 18-23). In Anlehnung an die ursprüngliche Definition von nachhaltiger Entwicklung kann nachhaltiger Konsum als Verwendung von Gütern und Dienstleistungen definiert werden, die zur Bedürfnisbefriedigung der heute lebenden Menschen beiträgt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden (vgl. Haron et al., 2005, S. 427). Die Reichweite des Konzepts wird jedoch unterschiedlich gesehen. Dahl (1998, o. S.) sieht im Mittelpunkt des Begriffs die materialwirtschaftliche Notwendigkeit, innerhalb der globalen Tragfähigkeit der Ressourcen zu bleiben, während beispielsweise Schaefer und Crane (2005, S. 79) die kulturellen und sozialen Aspekte des Konsums betonen. Nach Vorgabe einer Definition von nachhaltigem Konsum geben in einer aktuellen Umfrage 72 % der Befragten an, dass es ihnen persönlich wichtig ist, nachhaltig zu konsumieren. Im Altersgruppenvergleich zeigt sich, dass die persönliche Relevanz mit dem Alter zunimmt. Bei den 16- bis 29-Jährigen sind es 66 %, bei den über 50-Jährigen 76 % (vgl. m Science, 2019, S. 17 f.).

Nachhaltiger Konsum sollte aus Expertensicht in jedem Bedürfnisfeld eine Mischung aus Suffizienz (genügsamer Lebensstil) und Effizienz (energie- und materialeffizient) darstellen. Nur weil Konsum effizient ist, heißt das nicht zwangsläufig, dass der Energie- oder Materialverbrauch sinkt. Verbessert sich die Effizienz, können Produkte und Dienstleistungen günstiger angeboten werden, sodass sich allein daraus eine Konsumsteigerung ergibt (vgl. Lexikon der Nachhaltigkeit, 2015a, o. S.). Das Prinzip des nachhaltigen Konsums ist als eine Strategie zu sehen, um Nachhaltigkeit als Ganzes zu fördern. Angesichts der zunehmend globalen Auswirkungen der Umweltprobleme wird insbesondere der Haushaltskonsum als ein Bereich hervorgehoben, der die Aufmerksamkeit von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft erfordert (vgl. Michaelis & Lorek, 2004, S. 5 f.; BMU, 2017, o. S.; Lexikon der Nachhaltigkeit, 2015a, o. S.). Je nach Studie sind die Bereiche Bauen und Wohnen, Mobilität und Ernährung für 70 bis 80 % der ökologischen Konsumfolgen verantwortlich. Im Durchschnitt entfallen bei den Treibhausgasemissionen 21 % auf Bauen und Wohnen, 19 % auf Mobilität sowie 15 % auf Ernährung (vgl. BMU, 2017, o. S.; UBA, 2019a, o. S.). Das verdeutlicht die hohe Bedeutung des Lebensmittelsektors als umweltrelevantes Bedarfsfeld.

2.2.2 Nachhaltigkeitsverständnis im Bereich Lebensmittel

Auch im Lebensmittelbereich soll Konsum nachhaltig sein, also innerhalb der globalen Tragfähigkeit der Ressourcen bleiben und die Bedürfnisbefriedigung zukünftiger Generationen sicherstellen. Was Verbraucher, Erzeuger und Handel sowie Politik darunter verstehen, kann jedoch sehr unterschiedlich sein. Um die Komplexität der Nachhaltigkeit im Ernährungsbereich zu erfassen, hat der Ernährungswissenschaftler Karl von Koerber die drei Säulen der Nachhaltigkeit zunächst um den Bereich Gesundheit und schließlich um den Aspekt der Kultur erweitert (vgl. Koerber, 2014, S. 26 1 f.; Koerber et al., 2012, S. 4). Nachhaltig erzeugte Nahrungsmittel, deren Produktion möglichst ressourcenschonend und möglichst ohne Belastung für den Naturhaushalt erfolgt, sind dabei die Grundvoraussetzung dafür, dass ein bewusster Verbraucher nachhaltig konsumieren kann. Letztlich werden Lebensmittel aber erst nachhaltig, wenn der gesamte Produktlebenszyklus von der Produktion bis zum Verzehr bzw. zur Entsorgung nachhaltig ist. Bio-Lebensmittel sind somit nicht grundsätzlich mit nachhaltigem Konsum gleichzusetzen, auch wenn dies viele Verbraucher tun. Unter Bio-Lebensmitteln werden laut EU-Definition Produkte verstanden, die aus ökologisch kotrolliertem Anbau stammen, nicht gentechnisch verändert sind und ohne Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln und Kunstdünger angebaut werden, wie dies in der konventionellen Landwirtschaft die Regel ist (vgl. Europäische Kommission, 2020, o. S.).

Die Forderung, in der Lebensmittelwirtschaft Konsum- und Produktionsmuster zu etablieren, die einer Umweltzerstörung entgegenwirken und die zukünftige Entwicklung und das Überleben auf der Erde sicherstellen, war eine Reaktion auf die „grüne Revolution“ seit den 1960er-Jahren, die als Katalysator der heutigen Konsumgesellschaft gilt (vgl. Evenson & Gollin, 2003, S. 758-762). Je mehr die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Grenzen der landwirtschaftlichen Intensivierung sichtbar wurden, desto stärker wurde die Kritik an den Folgen und Risiken. Als Reaktion darauf hat die internationale Politik bereits in der „Agenda 21“ von 1992 anspruchsvolle Ziele für die nachhaltige Entwicklung von Nahrungsmittelproduktion und -konsum gesetzt. Sie wurden 2014 in einem internationalen Zehnjahres-Programmrahmen für nachhaltige Produktions- und Konsummuster (UN, 2014) fortgeschrieben. Die „Agenda 2030“, die 17 sogenannte „Sustainable Development Goals“ (SDGs) enthält, bezieht sich in Ziel 12 („Nachhaltige Konsum- und Produktionsziele sicherstellen“) explizit auf das Themenfeld Konsum. In diesem Zusammenhang wird unter anderem das Ziel formuliert, die Lebensmittelverschwendung auf Einzelhandels- und verbraucherebene bis 2030 zu halbieren (vgl. UN, 2015, S. 24). Hier ist gerade für Industrieländer wie Deutschland noch viel zu tun, schließlich fallen aktuell jährlich rund 12 Mio. Tonnen Lebensmittelabfälle an, also ungefähr 75 kg pro Kopf (vgl. BMEL, 2019a, o. S.). Ebenfalls gefordert wird in SDG 12 eine Verringerung des Abfallaufkommens insgesamt und eine nachhaltige Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, welche die SDGs aufgreift, nennt zwei Indikatoren für den Bereich des nachhaltigen Konsums. Erstens soll bis 2030 der Marktanteil von Produkten mit staatlich anerkannten Umweltzeichen auf 34 % wachsen. Zweitens sollen Energieverbrauch und CO2-Emissionen im Konsumbereich kontinuierlich gesenkt werden (vgl. Bundesregierung, 2018, S. 56). Auch wenn sich die Emissionen der privaten Haushalte in den letzten Jahren stabilisiert haben, sind diese Ziele längst nicht erreicht. Laut Statistischem Bundesamt (2018, S. 89) hatten 2016 staatlich gekennzeichnete Produkte einen Marktanteil von 8,6 %.

Anhand dieser politisch formulierten Kriterien lässt sich ableiten, dass nachhaltiger Konsum in erster Linie bewusster Konsum bedeutet. Der nachhaltige Konsument ist ein ökologisch und sozial verantwortlicher Bürger, der den eigenen ökologischen Fußabdruck im Blick hat, also die Nutzfläche, die benötigt wird, um den eigenen Lebensstil dauerhaft zu ermöglichen. Dabei wirkt sich der Konsum in Ländern wie Deutschland aufgrund globaler Produktionsprozesse und Lieferketten auch auf die Umwelt und die Menschen im Ausland aus (vgl. BMU, 2017, o. S.). Dieses umfassende Verständnis spiegelt sich jedoch nicht immer in der Wahrnehmung der Verbraucher wider. Aktuelle Umfragen zeigen, dass entsprechende Schlagworte wie Sparsamkeit, Reparieren oder Recycling relativ selten mit dem Thema nachhaltiger Konsum assoziiert werden. Im Vordergrund stehen Umweltschutz und Ressourcenschonung (vgl. Abbildung 3).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Nachhaltigkeitsverständnis der Konsumenten

Quelle: Eigene Darstellung nach m Science, 2019, S. 11)

2.2.3 Nachhaltigkeitsbilanz der Lebensmittelwirtschaft

Wann ein Lebensmittel nachhaltig ist, lässt sich kaum pauschal beantworten. In der Umweltforschung existieren unterschiedliche methodische Ansätze. Bekannt sind beispielsweise das Konzept der ökologischen Knappheit, der ökologische Fußabdruck, die Klimabelastung (CO2-Äquivalente) oder verschiedene Methoden der Lebenszyklusanalyse (vgl. Ianova et al., 2015). Die Ansätze kommen in Bezug auf Lebensmittel alle zu einem ähnlichen Ergebnis. Es wird geschätzt, dass rund 40 % der in Deutschland verursachten CO2-Emissionen auf den privaten Konsum zurückzuführen sind. Für 15 % davon ist die Ernährung verantwortlich, was pro Kopf rund 1,75 Tonnen an klimarelevanten Treibhausgasemissionen entspricht (vgl. UBA, 2015a, S. 9).

Die Umweltauswirkungen der Lebensmittelbranche betreffen alle Stufen der Produktionskette, reichen also von Anbau und Erzeugung über Transport, Verarbeitung und Verzehr bis zur Entsorgung. Der Lebensmittelkonsum belastet durch Anbaupraktiken und intensive Viehzucht, globale Transportwege, Verpackungsmaterial, Müllentsorgung und verschwenderische Konsumgewohnheiten die Umwelt. Der Lebensmittelsektor macht rund 30 % des weltweiten Gesamtenergieverbrauchs und rund 22 % der gesamten Treibhausgasemissionen aus. Neben der Produktionsphase (Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung) bestimmen die Ernährungs- und Entsorgungsgewohnheiten den Energieverbrauch und die Abfallerzeugung (vgl. UN, 2019, o. S.).

Etwa 45 % der Treibhausgase durch Ernährung entfallen auf die Erzeugung der Lebensmittel. Ein großer Teil ist zudem dem Energieverbrauch zur Lagerung und Zubereitung von Lebensmitteln sowie Einkaufsfahrten zuzuschreiben (vgl. BMU, 2017, o. S.). Produkte werden global organisiert hergestellt, transportiert, konsumiert und schließlich entsorgt (vgl. UBA, 2019a, o. S.). Nimmt man nur den Weg in den Handel, darf die Bedeutung des Transports aber auch nicht überbewertet werden. Mit durchschnittlich 3 % ist der Anteil des Transports an den gesamten Treibhausgasemissionen im Bereich der Lebensmitte beispielsweise eher gering. Das erklärt sich durch die meist großen Transportmengen (vgl. bpb, 2008, o. S.). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Verpackungsmüll. Lebensmittel, Getränke und Tierfutter waren hier 2017 für 62 % des Gesamtaufkommens von 235 kg pro Kopf verantwortlich (UBA, 2019c, o. S.). Insgesamt ist aber nach Produktart und Produktionsweise zu differenzieren, weshalb für eine sinnvolle Umweltbilanz jeweils eine Lebensweganalyse zu erfolgen hat.

Es gibt verschiedene interessante Fallstudien, welche die Effekte einzelner Produktgruppen untersuchen. Blanke (2010) hat zum Beispiel den Primärenergieaufwand beim Konsum von heimischen Äpfeln mit jenem bei Importware aus Neuseeland verglichen. Dabei schneiden in Deutschland produzierte Äpfel mit 4,4 MJ/kg zwar besser ab als neuseeländische Äpfel (6,3 MJ/kg). Der Unterschied dürfte jedoch für viele geringer sein als erwartet. Dies liegt einerseits an den günstigeren Anbaubedingungen und andererseits daran, dass der Mehrverbrauch durch die gekühlte Schiffsfracht (2,8 MJ/kg) durch die einberechnete 6-monatige Kühlung (1,0 MJ/kg) im sogenannten CA-Lager (Controlled Atmosphere) teilweise ausgeglichen wird. Bemerkenswert erscheint daneben, dass in der Rechnung jeweils 1,15 MJ/kg, also 26 bzw. 18 %, auf die drei Kilometer lange Einkaufsfahrt des Konsumentern am Ende entfallen. Im Vergleich zu pflanzlichen Lebensmitteln verursachen tierische Produkte bei der Erzeugung erheblich mehr schädliche Klimagase. Für ein Kilo Rindfleisch sind etwa 13,3 kg CO2-Äquivalent zu verzeichnen, für ein Kilo Kartoffeln dagegen nur 0,2 kg. Vergleicht man die CO2-Bilanz landwirtschaftlich produzierter Lebensmittel, schneiden Produkte aus ökologischer Landwirtschaft in der Regel besser ab als konventionell erzeugte Produkte. Die Größenordnung liegt bei 5 bis 25 % (vgl. bpb, 2008, o. S.; X8, 2010, o. S.). Hier bleibt somit erhebliches Verbesserungspotenzial bisher ungenutzt.

2.3 Konsumentensouveränität und Intentions-Verhaltens-Lücke

Der Konsumbegriff umfasst die Mittelverwendung privater Haushalte für Güter und Dienstleistungen, wobei dies kurzlebige Konsumgüter ebenso betrifft wie langlebige Investitionsgüter. Der Konsum ist Teil der Wertschöpfungskette von der Produktion bis zur Entsorgung. Über ihre Konsumentscheidungen können die Verbraucher auf vorgelagerte Stufen der Wertschöpfungskette wie auch auf die nachgelagerte Wertschöpfungsstufe der Entsorgung Einfluss nehmen. Insofern ist zwischen Konsum im engeren Sinn, als Betrachtung von Kaufentscheiden, und Konsum im weiteren Sinne als Teil der gesamten Wertschöpfungskette zu differenzieren (vgl. UBA, 2015b, S. 11 f.). Im Folgenden geht es darum zu verdeutlichen, wie die Konsumforschung den Kaufprozess sieht und welche Erklärungsansätze es in diesem Zusammenhang für die Intentions-Verhaltens-Lücke beim nachhaltigen Lebensmittelkonsum gibt.

2.3.1 Konsumforschung und das Prinzip der Konsumentensouveränität

Grundsätzlich wird bei der Analyse des Konsumverhaltens davon ausgegangen, dass die Konsumenten autonom darin sind, was sie konsumieren, wie viel sie konsumieren und schließlich auch, wie die Güter genutzt und entsorgt werden. Sie tragen damit aber auch Mitverantwortung für die Umweltbelastungen des Konsums (vgl. UBA, 2019b, o. S.). Dieses Prinzip wird als Konsumentensouveränität bezeichnet. Der Begriff geht auf William H. Hutt (1936) zurück, der damit den Souveränitätsbegriff aus der politischen Theorie in die Konsumforschung übertragen hat. Robert C. Müller (2019, S. 83 f.) fasst das dahinterstehende Bild wie folgt zusammen:

Hutt entwirft das Bild eines grundsätzlich vernunftbestimmten und selbständig entscheidenden Individuums, das die ökonomischen Prozesse nach seinen Präferenzen steuert. […] So kann jeder einzelne Konsument wie mit einem Stimmzettel an der Wahlurne über den Erfolg und Misserfolg von unternehmerischen Aktivitäten mitbestimmen.

So einleuchtend diese Vorstellung zunächst sein mag, wird sie aus verschiedenen Gründen durchaus kritisch gesehen. So wird einerseits betont, dass die Annahme eines vollkommen informierten und rational agierenden Verbrauchers unrealistisch sei, weshalb es den Verbrauchern oft an den faktischen Voraussetzungen fehle, autonom auf dem Markt zu agieren, weil eine asymmetrische Informationsverteilung zugunsten des Produzenten vorliege. Hinzu kommt, dass Souveränität eine ausreichende Kaufkraft voraussetzt und Marketing- und Werbemaßnahmen gezielt eine Manipulation der Konsumentenbedürfnisse anstreben. Andererseits wird auf normativer Ebene in Frage gestellt, ob es richtig ist, dem Verbraucher die volle Verantwortung für die persönlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Folgen seines Konsums zu übertragen (vgl. Noll, 2013, S. 108–110).

Diese Diskussion zeigt, dass die Übersetzung von menschlichen Bedürfnissen in Kaufentscheidungen keineswegs trivial ist. Dementsprechend werden in der Konsumforschung vielfältige Einflussfaktoren diskutiert. Allgemein lassen sie sich drei übergeordneten Determinanten zuordnen (vgl. Balderjahn, 2013, S. 142 ff.). Die individuelle Determinante umfasst sozioökonomische Merkmale wie Alter oder Geschlecht, Bedürfnisse und Wünsche, persönliche Werte und Normen und Gewohnheiten. Die soziale Determinante umfasst gesellschaftliche Normen, die Einbettung in den kulturellen Kontext sowie die Massenmedien mit ihrem Agenda-Setting. Die situative Determinante bezieht sich auf den Akt des Kaufs, nicht zuletzt die Kaufsituation (z. B. Sichtbarkeit von Produkten im Verkaufsregal), Anreize sowie Konsumoptionen. Terlau und Hirsch (2015, S. 160 f.) haben darauf aufbauend ein Konsumentscheidungsmodell entwickelt, dessen Grundgedanke es ist, dass Überzeugungen zu Einstellungen führen, aus denen sich wiederum Intentionen ableiten, die das tatsächliche Kaufverhalten bestimmen (vgl. Abbildung 4).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Allgemeines Konsumentscheidungsmodell

Quelle: Eigene Darstellung nach Terlau & Hirsch, 2015, S. 161

Dieses Modell verdeutlicht die Komplexität von Konsumentscheidungsprozessen, es bleibt aber offen, wie die einzelnen Komponenten zu gewichten sind. Stern (2000, S. 415) etwa spricht dem sozialen Faktor die höchste Bedeutung zu. Gemeint ist damit das soziale Umfeld des Konsumenten aus Familienmitgliedern, Meinungsbildnern, Kollegen und Freunden. Lamb et al. (2011, S. 202-208) heben daneben die hohe Bedeutung des kulturellen Faktors hervor, der sich auf Kultur, Werte und soziale Schicht der Verbraucher bezieht. Nicht zu vernachlässigen sind schließlich psychologische Faktoren wie Wahrnehmung, Motivationslernen, Einstellungen und Überzeugungen (vgl. Lamb et al. 2011, S. 217-225). Demnach sind Veränderungen im Verbraucherverhalten auf Lernerfahrungen der Kunden zurückzuführen, die sich durch die Interaktion zwischen Reizen, Triebkräften, Hinweisen, Verstärkungen und Reaktionen ergeben.

2.3.2 Neue Rolle des Konsumenten

In der Konsumforschung ist zuletzt immer wieder darauf hingewiesen worden, dass sich die Rolle des Konsumenten in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen gewandelt habe. So wird beispielsweise vom neuen Typ des „Prosumer“ gesprochen, um Personen zu beschreiben, die zugleich Konsumenten als auch Produzenten des von ihnen verwendeten Produkts sind, da sie Teile des Designs oder des Produktionsprozesses übernehmen. Ebenso wie beim Trend der Sharing Economy, für die Verfügbarkeit und Zugang wichtiger sind als Besitz, löst sich hier also das klassische Bild von Käufer und Verkäufer auf (vgl. Loske, 2016, S. 44 ff.; 49 ff.). Bestätigt sich der Eindruck, dass sich das Rollenverständnis wandelt, hat dies zwangsläufig auch großen Einfluss auf die Maßnahmen, die ergriffen werden können, um nachhaltigen Lebensmittelkonsum zu fördern.

Relevant ist hier nicht zuletzt die Idee einer wachsenden Macht der Konsumenten durch die Digitalisierung, weil Vergleichsportale die Preistransparenz erhöhen, Bewertungsplattformen ein direkteres Kundenfeedback erlauben und soziale Medien die Organisation von Protest erleichtern (vgl. Rommelskirchen, J., 2020, S. 1–3). Spiegelbildlich verknüpft ist damit jedoch auch mehr Verantwortung, weshalb häufig von einem neuen Verantwortungsbewusstsein der Konsumenten oder einem ethischen Konsum die Rede ist (vgl. Heidbrink & Schmidt, 2009, S. 27 f.; Liebe et al., 2016, S. 201 f.). Frank (2018, S. 1) erkennt „innerhalb der Gesellschaft eine ansteigende Bereitschaft, Verantwortung für die negativen Folgeerscheinungen des Konsums zu übernehmen bzw. diesem entgegen zu wirken“. Durch die Wahl bestimmter Produkte gegenüber anderen oder durch die Entscheidung, ob sie überhaupt gekauft werden sollen, können die Verbraucher bestimmte Umwelt- und Arbeitspraktiken annehmen oder ablehnen und auf der Grundlage eigener ethischer Werte andere Wertansprüche geltend machen (vgl. Balderjahn & Peyer, 2012, S. 245 f.).

Schon 2014 stellte die im Auftrag der REWE Group veranlasste Studie „Nachhaltiger Konsum: Schon Mainstream oder noch Nische?“ fest:

Im Bewusstsein, in den Einstellungen und in der Entwicklung der Präferenzen der Konsumenten […] hat sich in den letzten Jahren ein Wandel in Richtung Nachhaltigkeit stabilisiert. Wichtige Aspekte der Nachhaltigkeit, soziale, ökologische und einzelne ethische Themen, wie z. B. Tierwohl, sind zu einer am Markt nicht mehr überseh- und übergehbaren Anforderung geworden. Ebenfalls im Bereich der Lebensmittel ist dieser Einstellungswandel unübersehbar (imug, 2014, S. 187).

Der verantwortungsbewusste Verbraucher ist bestrebt, über die gesamte Verbrauchskette hinweg sowohl wirtschaftliche (in Bezug auf das persönliche Wohl) als auch ökologische (einschließlich des Tierschutzes) und soziale Aspekte wie Art und Anzahl der Produkte, deren Verwendung und Entsorgung zu berücksichtigen (vgl. Belz & Peattie, 2012, S. 21-48). Damit wird letztlich auf die politische Dimension des Themas verwiesen, die neben die individuelle Konsumperspektive tritt. So zeigt sich in der Meinungsforschung eine steigende umweltbezogene Politisierung der Gesellschaft, die etwa in einer breiten Unterstützung für die „Fridays for Future“-Bewegung sichtbar wird, die im Sommer 2019 von 59 % der Deutschen als gerechtfertigt eingestuft wurde (vgl. Kantar, 2019, S. 5).

Laut Umfragedaten sind 30 Mio. Deutsche generell am Thema Nachhaltigkeit interessiert und rund 9 Mio. weisen eine stark ausgeprägte nachhaltige Einstellung auf (vgl. m Science, 2019, S. 7). Dadurch entsteht aber gleichzeitig eine Spannung zwischen der Rolle des Verbrauchers und der Rolle des Bürgers. Die Konsumenten-Bürger („Consumer Citzens“), die am Markt teilnehmen, haben Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen und ihrer Umwelt, aber sie haben auch Pflichten gegenüber ihrer Familie und sich selbst. Einige dieser Pflichten können sich widersprechen und behindern das Konsumenten-Bürger-Verhalten im Hinblick auf nachhaltigen Konsum (vgl. Lamla, 2007, S. 76 ff.; Frank, 2016, 16 ff.; Prothero et al., 2011, S. 7 f.). Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich in der Beobachtung wider, dass bei m Science (2019, S. 21) 52 % der Befragten angeben, dass sie eigentlich mehr für die Umwelt tun müssten. Bei den 16- bis 29-Jährigen liegt der Wert sogar bei 60 %.

Allerdings ist zu beobachten, dass die Bedeutung von Nachhaltigkeitsaspekten innerhalb der Gesellschaft stark variiert. Wenig überraschend sind die wirtschaftlichen Verhältnisse beim Konsum von größerer Bedeutung. In einer Umfrage des Instituts Allensbach (2019, S. 22) gaben 21 % der Befragten mit niedrigem sozioökonomischem Status an, dass Nachhaltigkeitsaspekte bei Konsumentscheidungen eine größere oder große Rolle spielen, bei den Befragten mit hohem sozioökonomischem Status waren es 47 %. Zudem fallen Altersdifferenzen auf. Einerseits wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Problembewusstsein für Nachhaltigkeit bei den Jüngeren größer ist. Bei der Frage „Wie wichtig ist es Ihnen persönlich, nachhaltig zu konsumieren?“ zeigt sich in der Umfrage von m Science (2019, S. 18) aber, dass die Bedeutung mit dem Alter zunimmt. Bei den 16- bis 29-Jährigen sind es 66 %, bei den 30- bis 49-Jährigen 70 % und bei den älteren dann 76 %. Wie genau ein möglicherweise vorhandenes größeres Verantwortungsbewusstsein bzw. eine größere Macht der Konsumenten sich langfristig auf den Kauf von Lebensmitteln auswirkt, ist dementsprechend nicht eindeutig zu bestimmen. Vielmehr ist festzustellen, dass die Auswirkungen regelmäßig hinter den Erwartungen zurückbleiben.

2.3.3 Die Intentions-Verhaltens-Lücke und ihre Ursachen

In den letzten 40 Jahren hat die Forschung zum umwelt- und sozialverträglichen bzw. nachhaltigen Konsum stetig zugenommen und dabei die Probleme aktueller Marketing- und Konsumpraktiken herausgearbeitet (vgl. Lukman et al., 2016; Prothero et al., 2011). Trotz der Bemühungen von Wissenschaft, Regierungen, NGOs und Wirtschaft, die Ursachen eines nicht-nachhaltigen Konsums zu verstehen, sind aber aus Perspektive der ökologischen Nachhaltigkeit problematische Verhaltensweisen weiterhin verbreitet und haben sich aufgrund des anhaltenden Wachstums der globalen Wirtschaft sogar verstärkt (vgl. Wang et al., 2019). Viele Experten sind sich einig, dass wachsende Probleme, die aus dem nicht-nachhaltigen Konsum erwachsen, bewusstere, umfassendere und systematischere Bewältigungsansätze als bisher erfordern (vgl. Di Giulio, 2019; Brunner, 2019).

Dass sich empirisch oft eine deutliche Diskrepanz zwischen dem intendierten und dem tatsächlichen Verhalten zeigt, wird ausgehend von der Theorie des geplanten Verhaltens in der Forschung auch als ökologische Intentions-Verhaltens-Lücke (Intention-Behavior Gap) bezeichnet (Carrington et al., 2014; Thøgersen et al., 2012). Schon Futerra (2005, S. 23) spricht vom sogenannten „30:3 Syndrom“. Dies bezieht sich auf den Befund, dass 30 % der Konsumenten eine positive Kaufabsicht äußern, aber nur 3 % die Produkte letztlich kaufen. Zur Erklärung wird häufig auf verschiedene bestehende Barrieren, Widersprüche und Hemmnisse verwiesen (vgl. Van Doorn & Verhoef, 2015, S. 436 ff.; Verain et al., 2015, S. 375 ff.; Padel & Foster, 2005, S. 412 ff.; Kollmuss & Agyeman, 2002, S. 239 ff.).

Die zugrunde gelegte „Theory of Planned Behavior“ (TPB) von Izek Ajzen (1991) geht davon aus, dass menschliches Verhalten von drei Arten von Überlegungen geleitet wird. Dies sind zunächst Überzeugungen über die wahrscheinlichen Folgen des Verhaltens (Verhaltensüberzeugungen), dann Überzeugungen über die normativen Erwartungen anderer (normative Überzeugungen) und schließlich Überzeugungen über das Vorhandensein von Faktoren, die möglicherweise das Verhalten erleichtern oder die Leistung des Verhaltens behindern (Kontrollüberzeugungen). Das Modell gilt heute als einer der am häufigsten genutzten theoretischen Erklärungsansätze innerhalb der Konsumentenforschung gilt (vgl. Nocella et al., 2012; Nuttavuthisit & Thøgersen, 2017). Entscheidend ist, dass nach der Theorie des geplanten Verhaltens Verhaltensvorstellungen eine günstige oder ungünstige Einstellung erzeugen, normative Überzeugungen führen zu einem wahrgenommenen sozialen Druck und Kontrollüberzeugungen zu einer wahrgenommenen Verhaltenskontrolle (vgl. Abbildung 5). Die Verhaltenseinstellung, subjektive Normen und Wahrnehmung von Verhaltenskontrolle führen zur Bildung einer Verhaltensabsicht (Intention). Die Kaufintention kann dann als unmittelbarer Vorbote des Verhaltens (bspw. abschließender Kauf) angesehen werden. In dem Maße, in dem die wahrgenommene Verhaltenskontrolle überzeugend ist, kann sie die tatsächliche Kontrolle ersetzen und zur Umsetzung des gewünschten Verhaltens beitragen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Theorie des geplanten Verhaltens

Quelle: Eigene Darstellung nach Ajzen, 2019, o. S.

Laut den vorliegenden Forschungsergebnissen nehmen Verbraucher insbesondere die höheren Kosten als eine wesentliche Barriere wahr, die sie davon abhält, nachhaltig zu konsumieren. Das wird auch durch Umfrageergebnisse bestätigt (vgl. Abbildung 6). Häufig genannt werden daneben die mangelnde Verfügbarkeit nachhaltiger Produktalternativen, die uneindeutige Kennzeichnung, Zeitmangel und fehlendes Vertrauen in die Hersteller. Stern (2000, S. 417) hält das Konsumverhalten selbst für ein Hindernis, da es oft die Form von Gewohnheit oder Routine annimmt und dadurch mehr oder weniger schwer zu ändern ist. Als mögliche Faktoren haben Verbraucherforscher in den vergangenen Jahrzehnten zudem unter anderem eine „willful ignorance“ (Ehrich & Irwin, 2005, S. 266) der Produktethik durch die Verbraucher und negative Assoziationen bezüglich der funktionalen Leistung nachhaltiger Produkte identifiziert (vgl. Luchs et al., 2010, S. 18 f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Barrieren beim nachhaltigen Lebensmittelkonsum

Quelle: Eigene Darstellung nach m Science, 2019, S. 25

Es scheint teilweise jedoch fraglich, ob die genannten Argumente noch aktuell sind. Insgesamt liegen trotz der großen Relevanz bisher nur begrenzt empirische Erkenntnisse vor, die eindeutige Antworten zulassen (vgl. Frank, 2018, S. 6 ff.). Stattdessen stehen viele verschiedene Überlegungen nebeneinander, die Erklärungswert haben, aber keine einheitliche Theorie ergeben. Die Literatur zum Thema ist in den letzten Jahren immer unübersichtlicher geworden. Alleine die Dissertation von Schweighöfer (2017, S. 23–27) listet insgesamt 34 Arbeiten auf, die sich mit der Lücke zwischen Einstellung und Kaufabsicht bzw. Kaufabsicht und tatsächlichem Kaufverhalten im Bereich ökologisch erzeugte Lebensmittel befassen, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Die Frage nach Barrieren für den nachhaltigen Lebensmittelkonsum ist auch für diese Arbeit zentral. Ein wichtiger Aspekt scheint hier der Wunsch der Verbraucher nach umfangreicheren und qualifizierten Informationen. Trotz des hohen Interesses an Nachhaltigkeit geben noch immer 59 % der Menschen in Deutschland an, sich nicht ausreichend über das Thema Nachhaltigkeit informiert zu fühlen. Auffällig ist, dass sich junge Menschen (63 %) insgesamt am wenigsten informiert fühlen, während der Wert bei den über 55-Jährigen bei 55 % liegt (vgl. m Science, 2019, S. 19). Laut der Studie „Nachhaltiges Leben 2020“ wünschen sich 80 % mehr Information über Nachhaltigkeit in den Medien (vgl. Spiegel Media & Polycore Agentur, 2020, S. 8). In einer repräsentativen Umfrage von Zühlsdorf et al. (2018, S. 6) stimmen 71 % der Befragten der Aussage „Qualitätsinformationen sind mir bei Lebensmitteln besonders wichtig“ zu. Gleichzeitig war der Zustimmungswert zu der Aussage „Bei den Angaben auf Lebensmittelverpackungen wird viel getrickst“ mit 70 % vergleichbar (vgl. Zühlsdorf et al., 2018, S. 7). Dieser Befund legt nahe, dass Wissen und Information wichtige Faktoren auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Konsum sind.

Neben dem Vorhandensein und der leichten Verarbeitbarkeit von Informationen hängt das Ausmaß der Informationssuche und -verarbeitung aber auch vom Involvement ab, also der geistigen Zugewandtheit zu einem Objekt (vgl. Lamb et al., 2011, S. 199 ff.). Dieses tiefergehende Interesse muss durch die gewählten Maßnahmen ebenfalls geweckt werden. Ein kritischer Punkt dürften hier nicht zuletzt Widersprüchlichkeiten in Bezug auf die ökologischen Auswirkungen des Konsums sein. Moruzzi und Sirieix (2015, S. 525 ff.) sehen gerade bei Bio-Lebensmitteln ein Paradoxon bezüglich der Nachhaltigkeit. Beispielsweise werden diese nach ökologischen Standards angebaut und hergestellt, der Produktionsort liegt aber häufig weit vom Verkaufsort entfernt. Der lange Transport führt zu größeren CO2-Emmissionen, die in der Ökobilanz des Produkts zu berücksichtigen sind. In zusätzlichen Plastikverpackungen von Bio-Produkten wird ein weiterer Widerspruch gesehen, denn die Produktion und Entsorgung von Plastik ist eine zusätzliche Umweltschädigung.

Sind es allein mangelndes Wissen und unglaubwürdige Informationen, die einen nachhaltigen Konsum verhindern? Dagegen spricht nicht zuletzt die Beobachtung, dass umweltbewusste Konsumenten häufig einen tendenziell größeren ökologischen Fußabdruck hinterlassen, weil sie aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse mehr Konsumoptionen haben (vgl. Moser et al., 2016, S. 3). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch in Bezug auf die Selbsteinschätzung von Konsumenten beim Ressourcenverbrauch (vgl. UBA, 2016, S. 21). Konsumenten mit höherem Einkommen und ausgeprägtem Umweltbewusstsein schätzten sich selbst als sparsam im Ressourcenverbrauch ein, Konsumenten mit geringem Einkommen und geringerem Interesse an Umweltthemen dagegen als wenig sparsam. Tatsächlich verfügen Konsumenten mit höherem Einkommen zwar tendenziell über energieeffizientere Haushaltsgeräte, kaufen öfters Bio-Produkte und verzichten öfter auf Fleisch bei der Ernährung. Doch dies geht im Gesamtverbrauch unter, weil es einen Einkommenseffekt gibt (vgl. Moser et al., 2016, S. 3).

Schon im Jahr 2000 wies Stern (S. 408) darauf hin, dass eine Lücke existiert zwischen dem, was die Menschen für bedeutend halten, und dem, was tatsächlich Auswirkungen auf die Umwelt hat. Dabei ist zu beobachten, dass Menschen ihre Wahrnehmung auf einige wenige Bereiche konzentrieren, in denen sie sich nachhaltig verhalten, und andere Bereiche verdrängen, in denen ihr Verhalten weniger nachhaltig ist. Ihre Wahrnehmung bzw. ihr Wissen ist selektiv (vgl. Schäfer 2002, S. 67). Das spiegelt sich in der Medienberichterstattung wider, die typischerweise einzelne Aspekte herausgreift, die dann den öffentlichen Diskurs dominieren (vgl. Ruhrmann et al., 1997, S. 11–18). Aktuell kann hier auf das Thema Plastikmüll bzw. (Mikro-)Plastik im Wasser verwiesen werden (vgl. Kramm & Völker, 2019, S. 209).

Ein wichtiger psychologischer Erklärungsansatz ist die empfundene Distanz zum Thema Nachhaltigkeit, welche die Wahrnehmung, die Absichten und das Verhalten bei Umweltproblemen stark beeinflussen kann (vgl. Carmi & Kimhi, 2015, S. 2239 ff.; Todorov et al., 2007, S. 473 f.). Die psychologische Distanz bezieht sich darauf, wann, wo und für wen ein Ereignis eintritt. Die langanhaltenden Folgen und der langsame Vollzug vieler Umweltthemen (z. B. Klimawandel) machen diese zu eher abstrakten Konzepten (vgl. Gifford et al., 2009, S. 2). Relevant ist auch, ob Umweltgefahren eher andere geografische Gebiete betreffen. Wenn die räumliche Entfernung gering ist, verstärkt dies das Gefühl der Dringlichkeit, Maßnahmen zu ergreifen (vgl. Schultz et al., 2014, S. 267 f.). Das würde bedeuten, dass die Mehrheit der Menschen nachhaltige Entwicklung zwar als allgemein wünschenswert und relevant empfindet, diese Wahrnehmung aber nicht das unmittelbare Verhalten bestimmt.

Laut Park und Morton (2015, S. 338 ff.) besteht der überwiegende Teil der Verbraucher weder aus intrinsisch motivierten, engagierten nachhaltigen Konsumenten, noch aus amotivierten, distanzierten Konsumenten, sondern aus sogenannten leichten Konsumenten, die eher zufällig nachhaltig konsumieren. Eine hohe psychologische Distanz gilt per Definition als unvereinbar mit der persönlichen Auseinandersetzung mit einem Thema oder einem Produkt. Die Verbraucher kaufen für eine Reihe von konkreten Motiven ein, nicht aber für das abstrakte Motiv, die Welt zu retten (vgl. Van Dam & Van Trijp, 2013, S. 93-101). Hier tritt also die bereits beschriebene Dualität zwischen Bürger und Konsument erneut zutage. Der Bürger ist sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst, wenn es jedoch um den eigentlichen Kauf geht, „dann wird die Rolle des Bürgers allerdings scheinbar deaktiviert und die Rolle des Konsumenten aktiviert, wobei […] die ursprünglich intendierten ökologischen Käufe nicht getätigt werden“ (Frank, 2018, S. 16). Je nach Stärke der Identifikation mit den Rollen wird eine der beiden Rollen priorisiert, um den Konflikt bzw. die kognitive Dissonanz zu reduzieren (vgl. Juhl et al., 2017, S. 519-535; Grønhøj & Thøgersen, 2012, S. 292-302; Raab et al., 2010, S. 42-64)).

Ein weiterer Aspekt ist die situative Dimension des Entscheidungsprozesses. Hier lassen sich verschiedene Konstellationen unterscheiden, die sich auf das Kaufverhalten auswirken. Häufig wird zwischen impulsiver, habitualisierter, limitierter und extensiver Konsumentscheidung differenziert (vgl. Schoenheit & Schudak, 2013, S. 31 ff.). Impulsive Entscheidung sind spontan und ungeplant. Habitualisierte Entscheidungen entstehen auf Grundlage von Erfahrungen und Gewohnheiten. Diese gehen aufgrund des wiedereinkehrenden Verhaltens mit einer sinkenden Risikowahrnehmung und niedriger Informationsbearbeitung einher. Extensive Kaufentscheidungen sind schließlich mit einem starken Risikoempfinden und gleichzeitig auch einer starken Bedeutung für die Konsumenten verbunden. Es liegt nahe, dass diese unterschiedlichen Entscheidungssituationen auch beeinflussen, welche Rolle Nachhaltigkeitsaspekte spielen. Dass es jedoch schwerfällt, die einzelnen Aspekte zu gewichten, die zur Intentions-Verhaltens-Lücke beitragen, zeigt den noch immer notwendigen Forschungsbedarf. Der Ansatz dieser Arbeit, von konkreten Maßnahmen und Initiativen auszugehen, kann wichtige Hinweise liefern, welche theoretischen Überlegungen besonders anknüpfungsfähig sind.

2.4 Initiativen für nachhaltigen Lebensmittelkonsum

Viele der in Kapitel 2.3.3 vorgestellten Erklärungsansätze für die Intentions-Verhaltens-Lücke spiegeln sich in Maßnahmen und Initiativen wider, die sich für mehr Nachhaltigkeit in der Lebensmittelwirtschaft einsetzen. Um einen Überblick zu geben, werden im Folgenden fünf Gruppen solcher Aktivitäten unterschieden, die einzeln vorgestellt werden. Da es bisher an systematischen Studien zu diesem Feld fehlt, beruht die Einteilung auf eigenen Beobachtungen und den Ergebnissen der später vorgestellten Experteninterviews, sodass die Systematik in Zukunft kontinuierlich weiterentwickelt werden sollte. Angesichts der großen Zahl der Akteure kann hier zudem nur auf einzelne Beispiele eingegangen werden.

2.4.1 Informationsplattformen und Beratungsportale

Ein wichtiger Trend im Bereich des nachhaltigen Lebensmittelkonsums ist die wachsende Zahl an Informationsangeboten, die sich explizit diesem Thema widmen. Das betrifft nicht zuletzt staatliche Angebote im Internet. Beispielsweise weisen die Homepages der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und des Bundesumweltministeriums eigene Themenschwerpunkte zum Bereich „Nachhaltiger Konsum“ auf (vgl. BLE, 2020c, o. S.; BMEL, 2020b, o. S.; BMU, 2020, o. S.). Ein weiteres Beispiel ist die Internetseite www.nachhaltiger-warenkorb.de, die vom Rat für nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung (RNE) getragen wird (vgl. RNE, 2018, o. S.). Die Informationsplattform versteht sich als „Ratgeber für umweltbewussten und sozialen Konsum“ und widmet sich ausführlich dem Thema „Essen und Trinken“ (vgl. RNE, 2020, o. S.). Diese Seiten klären über die Auswirkungen bestimmter Konsumentscheidungen auf und geben Tipps, wie ein stärker auf Nachhaltigkeit ausgerichteter Konsum möglich ist. Ähnliche Angebote machen die Verbraucherzentralen, die sich als Interessensverbände für Verbraucheranliegen sehen (vgl. Verbraucherzentrale Bundesverband, 2020, o. S.; Verbraucherzentrale Baden-Württemberg, 2020, o. S.), sowie verschiedene Umweltverbände (vgl. Greenpeace, 2020, o. S., NABU, 2020, o. S.). Gleichzeitig hat auch die Lebensmittelwirtschaft selbst entsprechende Informationsportale geschaffen (vgl. Lebensmittelverband Deutschland, 2020b, o. S.).

Neben den bisher genannten, eher breit aufgestellten Plattformen gibt es auch Angebote zu speziellen Teilfragen. Bekannt ist etwa die Kampagne „Zu gut für die Tonne“ des BMEL, die sich dem Thema Lebensmittelverschwendung widmet. Auf der dazugehörigen Homepage finden sich unter anderem Rezepte zur Resteverwertung, die auch in Form einer Smartphone-App angeboten werden (vgl. BMEL, 2020c, o. S.). Ein besonderes Angebot bietet das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit der Seite www.siegelklarheit.de an. Dort werden getrennt nach Branchen Siegel und Label sowie die dahinterstehenden Kriterien erläutert, um den Konsumenten Hilfestellung beim Einkauf zu geben. Dieses Angebot ist ebenfalls als App verfügbar (vgl. BMZ, 2020, o. S.).

2.4.2 Gütesiegel und Qualitätsstandards

Dass es Beratungs-Apps gibt, welche einen Überblick über unterschiedliche Qualitätsstandards und Gütesiegel geben, zeigt einerseits, dass diese Instrumente für den Bereich des nachhaltigen Lebensmittelkonsums von enormer Bedeutung sind. Andererseits wird zugleich deutlich, dass die große Zahl entsprechender Kennzeichnungen teilweise verhindert, dass sie den Informationsstand der Verbraucher tatsächlich verbessern. Einige dieser Siegel werden von staatlichen Stellen vergeben, etwa das EU-Bio-Siegel, das Produkte aus kontrolliert biologischem Anbau nach den EU-Rechtsvorschriften für den ökologischen Landbau kennzeichnet (vgl. BLE, 2020d, o. S.). Andere werden von Erzeugerverbänden kontrolliert und verwaltet (z. B. Demeter, Bioland) oder von einem speziellen Siegelinhaber wie der Fairtrade Labelling Organizations International herausgegeben, welche die Einhaltung von Qualitätsstandards überwachen (vgl. Schwindenhammer, 2016, S. 196 ff.). Zunehmend werden der Lebensmittelhandel bzw. die großen Einzelhändler in diesem Bereich selbst aktiv, indem sie sich bei ihren Eigenmarken zur Einhaltung bestimmter Mindeststandards verpflichten (vgl. UBA, 2020b, S. 12 ff.). Ein Beispiel ist die „Initiative Tierwohl“. Die beteiligten Handelsketten zahlen pro Kilogramm an verkauftem Schweine- und Geflügelfleisch vier Cent in einen Fonds ein, aus dem den Erzeugern ein sogenanntes Tierwohlentgelt gezahlt wird (vgl. Initiative Tierwohl, 2020, o. S.). Das UBA (2020, S. 13) würdigt zwar den damit verbundenen Beitrag zur Förderung der nachhaltigen Ernährung, betont aber zugleich die blinden Flecken der Aktivitäten: „Die neue vom LEH eingeführte Kennzeichnung der Haltungsbedingungen von Nutztieren erfolgt ausschließlich bei bestimmten Nutztierarten und dies auch nur bei verpacktem Frischfleisch, jedoch nicht bei Theken-, Tiefkühl- oder verarbeiteten Produkten“ (UBA, 2020b, S. 14). Dies verdeutlicht die Grenzen von Gütesiegeln und Labeln als informationspolitisches Instrument. Staatliche Bemühungen um eine Vereinheitlichung kommen wie das 2019 beschlossene, aber noch nicht umgesetzte staatlichen Tierwohlkennzeichen für die Schweinehaltung nur langsam voran (vgl. BMEL, 2020d, o. S.)

2.4.3 Selbstversorgung, solidarische Landwirtschaft und regionale Netzwerke

Initiativen für einen nachhaltigeren Lebensmittelkonsum gehen keineswegs nur vom Staat oder von den beteiligten Unternehmen aus, vielmehr ist eine zentrale Komponente neuer Konzepte, dass sich die Konsumenten selbst organisieren und dadurch „Experimentierräume für den Rückbau einer globalisierten Konsumgesellschaft“ (Antoni-Komar, 2020, o. S.) schaffen. Diese zivilgesellschaftlichen Initiativen sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und betreffen neben der Unterstützung der Lebensmittelselbstversorgung durch Gemeinschaftsgärten oder Selbsterntegärten insbesondere die direkte Verknüpfung zwischen Konsumenten und regionalen Produzenten (z. B. durch Abo-Gemüsekisten) und die Schaffung regionaler Kooperationsnetzwerke (vgl. Antoni-Komar, 2020, o. S.). Ein bekanntes Schlagwort ist „Urban Gardening“ oder urbaner Gartenbau als die kleinräumige, gärtnerische Nutzung städtischer Flächen, um umweltschonende Produktion und bewussten Konsum zu fördern (vgl. Müller, 2011, S. 9 ff.).

Auf der Ebene der lokalen Gemeinschaft ist das Konzept der solidarischen Landwirtschaft (Solawi, „Community Supported Agriculture“) einzuordnen (vgl. Diekmann, 2020, S. 2–10; Simpfendörfer, 2017, S. 86 ff., Wellner & Theuvsen, 2016, S. 1 f.). Es handelt sich um eine Form des Direktabsatzes, bei dem Erzeuger und Verbraucher eng kooperieren, indem die Kunden die Kosten für den Anbau bestimmter Produkte übernehmen und im Gegenzug den Ernteertrag unter sich aufteilen (vgl. Wegemann, 2019, S. 272). Entsprechende Projekte sind in Deutschland inzwischen so beliebt, dass mit „WirGarten“ ein eigenes Franchise-System entstanden ist, das standardisierte Tools zum Aufbau einer Solawi-Genossenschaft zur Verfügung stellt (vgl. WirGarten, 2020, o. S.). Stärker regional orientiert sind Initiativen wie www.marktschwaermer.de, ein ursprünglich aus Frankreich stammendes Konzept für die Vermarktung regionaler Lebensmittel. Hier bieten lokale Erzeuger ihre Produkte online an, die dann an spezielle Abholstellen geliefert werden, um so Verbraucher und Erzeuger wieder näher zusammenzubringen (vgl. Marktschwärmer.de, 2020, o. S.). Allen genannten Ansätzen ist gemeinsam, dass die reine Fremdversorgung über den Handel durch Eigeninitiative abgelöst wird, wobei besonderer Wert auf ein kollaboratives Wirtschaften gelegt wird. Bisher handelt es sich jedoch noch weitgehend um Nischenphänomene (vgl. Antoni-Komar, 2020, o. S.).

2.4.4 Beteiligungs- und Mitbestimmungsmodelle

Der Fokus auf aktive Beteiligung und demokratische Teilhabe am Ernährungssystem ist auch für verschiedene Mitbestimmungs- und Beteiligungsmodelle grundlegend, die zuletzt im Bereich nachhaltiger Lebensmittelkonsum entstanden sind (vgl. Shaw et al. 2016, S. 1049 ff.). Zu nennen sind hier insbesondere die sogenannten Ernährungsräte als Plattformen, über welche die Bürger die Ernährungspolitik auf lokaler Ebene mitgestalten können (vgl. Ernaehrungsraete.de 2020, o. S.). Ihr Ziel ist es, lokale Akteure der Lebensmittelversorgung wie Landwirte und Handel mit Konsumenten und Interessengruppen sowie Vertretern der kommunalen Verwaltung zusammenzubringen, um gemeinsam die Nachhaltigkeit der lokalen Lebensmittelversorgung zu fördern (vgl. Kreutzberger, 2017, S. 41–54). Solche Ernährungsräte sind in den letzten Jahren in verschiedenen deutschen Großstädten entstanden, das Netzwerk der Ernährungsräte „Ernährungsdemokratie jetzt!“ umfasst aktuell 45 Mitglieder (vgl. Vernetzungsplattform der Ernährungsräte, 2020, o. S.).

Eine solche Demokratisierung des Ernährungssystems strebt auch die Initiative „Die Gemeinschaft „Du bist hier der Chef! Die Verbrauchermarke“ e.V.“. Der Fokus liegt hier jedoch auf der Mitsprache der Verbraucher bei der Entscheidung darüber, welche Merkmale ein Produkt haben sollte (vgl. Du bist hier der Chef, 2020a, o. S.). Letztlich wird also das Konzept der Konsumentensouveränität konsequent umgesetzt, indem die Bürgerinnen und Bürger mittels sogenannter Produktvotings entscheiden, welche Qualitätskriterien und Umwelt- und Sozialstandards erfüllt sein müssen und wie hoch der Preis sein darf. Der Verein wurde im Juni 2019 gegründet und hat nach einer Abstimmung, an der sich über 9.000 Personen beteiligten, aktuell ein erstes Produkt auf den Markt gebracht, eine Bio-Weidemilch mit einem unverbindlichen Verkaufspreis von 1,45 Euro, der in ausgewählten Lebensmittelmärkten verfügbar ist (vgl. Du bist hier der Chef, 2020b, o. S.). Vorbild ist die französische Verbrauchermarke „C’est qui le patron?!“, die seit Ende 2016 von Verbrauchern kreierte Produkte im Lebensmitteleinzelhandel vermarktet (vgl. Du bist hier der Chef, 2020c, o. S.). Inwiefern sich das Konzept auch in Deutschland und anderen Ländern etablieren kann, bleibt abzuwarten.

2.4.5 Vermeidung von Lebensmittelverschwendung und Verpackung

Die Bereiche, in denen in Deutschland die meiste Dynamik in Bezug auf neue Initiativen zu beobachten war, sind zweifelsohne Ansätze zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen und zur Reduktion von Verpackungsmüll. Neben der bereits angesprochenen staatlichen Initiative „Zu gut für die Tonne“ sind gerade auch im privatwirtschaftlichen Bereich innovative Ansätze entstanden. Dazu zählen zum Beispiel Ladenkonzepte zum Verkauf überschüssiger, nicht der Norm entsprechender oder abgelaufener Lebensmittel, die noch sehr gut genießbar sind. Neben verschiedenen Onlinehändlern sind hier insbesondere die aktuell sechs SIRPLUS-„Rettermärkte“ zu nennen, die in Berlin eröffnet haben (vgl. SIRPLUS, 2020, o. S.). Bereits etabliert sind die Unverpackt-Läden, die in immer mehr deutschen Städten existieren, und ihre Produkte ohne die ansonsten üblichen Umverpackungen anbieten (vgl. Kröger et al., 2019, S. 1 ff.).

Wenn es um die Vermeidung von Lebensmittelabfällen geht, sind zahlreiche weitere Initiativen zu erwähnen, die wie die sogenannten Tafeln teilweise jedoch einen stark sozialpolitischen Hintergrund haben. Hier spielt zudem die Digitalisierung eine wichtige Rolle, wie etwa die Entstehung sogenannter Foodsharing-Apps zeigt. Verbraucher, Händler oder Restaurants bieten über eine solche App Lebensmittel an, die sie nicht mehr benötigen, um Verschwendung zu vermeiden. Bekannte Anbieter sind “Too good to go” bei gewerblichen Lebensmittelanbietern und www.foodsharing.de im Bereich der Nachbarschaftshilfe (vgl. Too good to go, 2020, o. S.; Foodsharing.de, 2020, o. S.). Über den Bereich der privaten Konsumenten hinaus gibt es zudem verschiedene Initiativen, die sich für eine Vermeidung von Lebensmittelabfällen bei der Außer-Haus- und Gemeinschaftsverpflegung (z. B. Schulen, Kantinen, Krankenhäuser) einsetzen. Dazu gehört etwa der Verein United Against Waste e. V., der Betriebe der Außer-Haus-Verpflegung darin unterstützt, „das Thema Lebensmittelverschwendung im Küchenalltag greifbar zu machen“ (United Against Waste, 2020, o. S.), oder das Projekt „KEEKS – Klima- und energieeffiziente Küche in Schulen“ des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) (vgl. IZT, 2020, o. S.). Gerade hier scheint die Vielfalt so groß, dass die zahlreichen lokalen und regionalen Ansätze hier nicht gewürdigt werden können. Dadurch stellt sich umgekehrt die Frage, inwiefern diese Initiativen für mehr Nachhaltigkeit in der Allgemeinbevölkerung bekannt sind und wie sie dort bewertet werden.

2.5 A-priori-Hypothesen für die empirische Untersuchung

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Ansätze zu finden, wie die Lücke zwischen dem Wunsch nach nachhaltigen Produkten und dem gegensätzlichen Kaufverhalten geschlossen werden kann. Dazu sollen einerseits Gründe für die Intentions-Verhaltens-Lücke ermittelt werden und andererseits die Erfolgschancen entsprechender Initiativen beurteilt werden. Ausgehend von den in diesem Kapitel erarbeiteten Grundlagen zum Thema nachhaltiger Lebensmittelkonsum können zur Präzisierung der Aufgabenstellung fünf vorläufige Hypothesen formuliert werden, die es gilt, im weiteren Verlauf der Arbeit zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen.

Hypothese 1: Je mehr das Thema Nachhaltigkeit in den gesellschaftlichen und persönlichen Fokus rückt, desto stärker beeinflussen Nachhaltigkeitsaspekte auch den Einkauf von Lebensmitteln.

Nachhaltigkeit hat sich gesamtgesellschaftlich zu einem zentralen Kaufkriterium im Lebensmittelbereich entwickelt. Zu überprüfen ist, ob ein direkter Zusammenhang zwischen beiden Variablen besteht. Zudem scheint fraglich, ob diese Größen und auch ihr Wechselspiel bei allen gesellschaftlichen Gruppen gleich stark ausgeprägt sind.

Hypothese 2: Je weniger Verbraucher darauf achten, nachhaltig zu konsumieren, desto größer ist objektiv die Intentions-Verhaltens-Lücke.

Zwischen dem Wunsch, nachhaltig zu konsumieren, und dem realen Einkaufsverhalten besteht häufig eine große Differenz. Aus der Forschung zur Intentions-Verhaltens-Lücke ergibt sich, dass diese sowohl eine bewusste als auch eine unbewusste Komponente hat. Hier fokussiert die Hypothese die Frage, inwiefern ein fehlendes Bewusstsein für Verhaltensdefizite verantwortlich ist.

Hypothese 3: Je aktiver sich Konsumenten über Probleme der Nachhaltigkeit von Lebensmitteln informieren, desto leichter fällt es ihnen, die Intentions-Verhaltens-Lücke zu überwinden.

Fehlendes Wissen, aber auch Gewohnheit und Distanz zum Thema Nachhaltigkeit gelten als wesentliche Ursachen der Intentions-Verhaltens-Lücke. Dementsprechend soll überprüft werden, worin die Konsumenten selbst die Gründe für ein weniger nachhaltiges Kaufverhalten sehen. Daraus ergeben sich gegebenenfalls Anknüpfungspunkte, wie die bestehende Lücke verkleinert werden kann. Die Hypothese rückt dabei den Faktor Information in den Mittelpunkt.

Hypothese 4: Je besser die Verbraucher die verschiedenen Initiativen für nachhaltigen Lebensmittelkonsum kennen, desto eher sind sie zu eigenem Engagement bereit.

Es existieren verschiedene Initiativen, die den nachhaltigen Lebensmittelkonsum fördern wollen. Es ist jedoch unklar, inwiefern diese den Konsumenten bekannt sind und auch genutzt werden. Insgesamt ist zu vermuten, dass die Bereitschaft, besonderen Aufwand zu betreiben, um nachhaltig zu konsumieren, bei den meisten Konsumenten stark begrenzt ist. Zu überprüfen ist, von welchen Faktoren die Bereitschaft abhängt, zusätzlichen Aufwand zu betreiben.

Hypothese 5: Je jünger die Konsumenten sind, desto eher sind sie bereit, sich aktiv um nachhaltigen Lebensmittelkonsum zu bemühen.

Verschiedene Umfragen zeigen, dass Nachhaltigkeitsbewusstsein und Konsumverhalten nicht zuletzt von soziodemografischen Variablen wie dem Alter abhängen. Insofern ist zu erwarten, dass diese Faktoren auch die Zielgruppen der Initiativen für nachhaltigen Lebensmittelkonsum definieren. Inwiefern dies der Fall ist, gilt es jedoch empirisch zu überprüfen.

3 Methodik der empirischen Datenerhebung

Das methodische Vorgehen dieser Arbeit unterteilt sich in zwei, sequenziell miteinander verknüpfte Teilstudien. Die Verbindung unterschiedlicher Methoden soll zu einer Erhöhung der Aussagekraft führen und die jeweiligen Befunde direkt aufeinander beziehen (vgl. Schreier & Odag, 2010, S. 267 & Döring; Bortz, 2016, S. 27). Im ersten Schritt wird ein qualitatives Forschungsdesign verfolgt, um das Themenfeld zu strukturieren und den Gegenstand zu präzisieren. Die aus dem Forschungsstand abgeleiteten a-priori-Hypothesen wurden dazu mittels qualitativer, leitfadengestützter Interviews auf ihre Tragfähigkeit und Praxisrelevanz hin überprüft (vgl. Misoch, 2019, S. 13). Die Forschungsergebnisse wurden induktiv aus den Interviews gewonnen, wozu auf eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2016) zurückgegriffen wurde. Ziel war es, inhaltlich gehaltvolle ex-post-Hypothesen mit gesteigerter Aussagekraft abzuleiten. Nach diesem ersten Studienabschnitt verfolgte die weitergehende empirische Untersuchung einen quantitativen Ansatz, in dessen Rahmen die Hypothesen mithilfe eines standardisierten Fragebogens getestet wurden (vgl. Döring & Bortz, 2016, S. 27). Die exakte Vorgehensweise in Bezug auf Forschungsdesign, Interviewtechnik, Fragebogenkonstruktion sowie Stichprobengewinnung wird in diesem Kapitel beschrieben.

3.1 Konzeption der empirischen Untersuchung

3.1.1 Forschungsdesign

Um das breite Thema des nachhaltigen Lebensmittelkonsums für eine empirische Untersuchung handhabbar zu machen, galt es, einen methodischen Zugang zu finden, der eine Untersuchung ausgewählter Hypothesen im begrenzten Rahmen einer Masterthesis erlaubt. Alle empirischen Wissenschaften beruhen diesbezüglich „auf der systematischen Sammlung, Aufbereitung und Analyse von empirischen Daten, d. h. von Informationen über die Erfahrungswirklichkeit“ (Döring & Bortz, 2016, S. 5). Die Aktualität des Themas sorgt dafür, dass eine reine Sekundärdatenanalyse, die auf bereits vorhandenen Forschungsergebnissen beruht, nicht angemessen erschien. In der empirischen Sozialforschung existieren zugleich verschiedene Methoden, um Primärdaten zu erheben. Besonders häufig sind Dokumentenanalyse, Beobachtung, Experiment und Befragung. Gleichzeitig gibt es verschiedene Formen der Standardisierung, die eine quantitative oder qualitative Auswertung erlauben (vgl. Balzert et al., 2010, S. 56).

[...]

Ende der Leseprobe aus 176 Seiten

Details

Titel
Wunsch und Wirklichkeit beim nachhaltigen Lebensmittelkonsum
Untertitel
Empirische Ergebnisse zur Intensions-Verhaltens-Lücke und zur Rolle von Nachhaltigkeitsinitiativen
Hochschule
Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen; Standort Nürtingen
Note
1,0
Jahr
2020
Seiten
176
Katalognummer
V944510
ISBN (eBook)
9783346279743
ISBN (Buch)
9783346279750
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wunsch, wirklichkeit, lebensmittelkonsum, empirische, ergebnisse, intensions-verhaltens-lücke, rolle, nachhaltigkeitsinitiativen
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Wunsch und Wirklichkeit beim nachhaltigen Lebensmittelkonsum, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/944510

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