Kapitalvolumen, Klassenzugehörigkeit und Bildungschancen. Bedingte Verfügungsmöglichkeiten an Kapitalsorten als Auslöser für soziale Ungleichheit


Hausarbeit, 2020

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Soziale Ungleichheit – ein komplexes Phänomen

Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie
Bourdieus Kapitalformen
Bourdieus soziale Klassen

Einfluss von Kapitalvolumen & -struktur auf die Bildungschancen
Ungleiche familiäre Lernmilieus
Ungleiche schulische Lernmilieus
Leistungsunabhängige soziale Filter
Leistungsunabhängige Filter in der Familie
Leistungsunabhängige Filter in der Schule
Bestehende institutionelle Barrieren

Fazit

Einordnung & Ausblick

Kapitalvolumen, Klassenzugehörigkeit, Bildungsungleichheit

Inwiefern beeinflussen die Verfügungsmöglichkeiten über das von Pierre Bourdieu definierte kulturelle Kapital die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland und (re-) produzieren dadurch soziale Ungleichheit?

Eingereicht von:

Name: Ariatani Wolff

Einleitung

Alltag und Aktivität sind nach Heidelberg zurückgekehrt und beim Spazierengehen am Neckar scheint es, als erlebten wir einen ganz gewöhnlichen Sommer. Doch jedes Mal wenn wir uns vor dem Betreten eines Busses maskieren, an der verlassenen Universität vorbeigehen oder uns mit den Chancen und Tücken der Online-Lehre beschäftigen, müssen wir erkennen: unsere Stadt, unser Land, unsere Welt befinden sich im Ausnahmezustand. Neben den vielen Herausforderungen, die direkt und indirekt durch die Coronakrise verursacht werden, gibt die Pandemie auch der öffentlichen Debatte um Umstände, die viele schon seit langem als Missstände kritisieren, neue Nahrung. Ein Thema, das in diesem Zusammenhang häufig zur Sprache kommt, ist das der sozialen Ungleichheit. Insbesondere in Bezug auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen sorgen die Pandemiebekämpfungs- maßnahmen für eine nachweisliche Vertiefung der Kluft zwischen Ressourcen-privilegierten und -nichtprivilegierten (vgl. UNESCO 2020: 7).

Aufgrund der vielfältigen Dimensionen sozialer Ungleichheit und des beschränkten Rahmens dieser Arbeit erscheint mir eine Schwerpunktsetzung sinnvoll. Bildung stellt in modernen Gesellschaften eine der Ressourcen mit der höchsten Bedeutung für die individuelle Lebensgestaltung dar, beeinflusst sie doch nicht nur die beruflichen Optionen von Personen, sondern auch ihren Lebensstil, ihre gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten sowie ihre individuelle Weiterentwicklung und persönliche Sinnsuche im Leben (vgl. Jünger 2008: 32–34). Unter der Annahme, dass ein positiver Zusammenhang zwischen dem eigenen Bildungsniveau und der Chance auf Selbstverwirklichung und eine autonome Lebensgestaltung existiert – Bildung also Möglichkeiten mehrt und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht – sind Ungleichheiten bezüglich der Chancen ihres Erwerbs durchaus zu problematisieren (ebd.: 33). Dies möchte ich unter Hinzuziehung der Kapitalartentheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu tun, indem ich untersuche, welchen Einfluss die unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten auf (kulturelles) Kapital und die daraus resultierenden ungleichen Bildungschancen auf die Reproduktion von sozialer Ungleichheit (in Deutschland) besitzen.

Dazu beginne ich mit einer knappen Erläuterung und Einordnung des Ungleichheitsbegriffs, wobei ich sowohl auf verschiedene Definitionskriterien als auch auf mögliche Ebenen seiner Untersuchung eingehe. Sodann werde ich Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie insbesondere mit Blick auf die von ihm definierten Kapitalsorten, die Klassenzugehörigkeiten und die damit zusammenhängenden ungleichen Lebens- und Bildungschancen grob umreißen. Daran anschließend gehe ich der Frage nach, inwiefern die ungleichen Verfügungsmöglichkeiten über das (Kultur-) Kapital den Zugang zum und die Möglichkeiten im (deutschen) Bildungssystem beeinflussen und dadurch Ungleichheiten (re-) produzieren. Nach einem kurzen Fazit ende ich dann mit einem (subjektivem und darum zwangsläufig selektiven) Ausblick.

Soziale Ungleichheit – ein komplexes Phänomen

In jeder Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen lassen sich Ungleichheiten identifizieren – so gehört die Frage nach ihren Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen seit jeher zu den zentralen Themen der Soziologie (vgl. z.B. Berger 2004 ; Berger, Powell und Solga 2009 ; Hradil 2005 ; Hradil 2008 ; Kreckel 2004). Trotz intensiver theoretischer und empirischer Untersuchungen existiert bisher keine erklärende Grundlagentheorie, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben könnte (vgl. Berger 2004: 354), wodurch sich die Vielschichtigkeit dieses Themas erahnen lässt. Dennoch herrscht in der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung weitgehend Einigkeit über die zentralen Definitionskriterien, typischen Ausprägungsformen und verschiedenen Dimensionen sozialer Ungleichheit.

Haben bestimmte gesellschaftliche Gruppen aufgrund ihrer Verfügungsgewalt über materielle und immaterielle Ressourcen (die einer gesellschaftlichen Hierarchisierung unterliegen) dauerhaft und regelmäßig bessere bzw. schlechtere Lebens- und Verwirklichungschancen als andere, sprechen Soziologen von sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft (vgl. Hradil 2012a). Es geht somit um Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen der Bevölkerung, welche sich anhand verschiedener Indikatoren bemessen lassen, wobei häufig Differenzen in Dimensionen wie Status, Macht, Einkommen und Besitz, aber auch gesellschaftlicher Teilhabe, Gesundheit oder eben Bildung analysiert werden. Im Zuge dessen ist zu betrachten, auf welche Weise unterschiedliche Positionen im sozialen Raum und die damit verknüpfte Ausstattung mit Ressourcen beurteilt werden und welche vertikalen Differenzen bezüglich der Verfügung über bedeutsame Ressourcen sich daraus ergeben (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon 2018).

Abzugrenzen ist soziale Ungleichheit von sozialer Differenzierung1, denn erst bzw. nur wenn aus bestehenden Unterschiedlichkeiten durch eine Hierarchisierung von Werten und Gütern und damit verbundenen besseren oder schlechteren Lebenschancen Ungleichwertigkeiten erwachsen, kann von struktureller sozialer Ungleichheit gesprochen werden. Der Begriff bezieht sich folglich nicht auf naturgegebene, temporäre oder individuelle Umstände, die sich für bestimmten Menschen und Gruppen vor- oder nachteilig auswirken (vgl. Hradil 2012a).

Ungleichheit wird nicht als ein naturgegebenes Phänomen angesehen, sondern gilt als „sozial erzeugt“, ist also Ergebnis menschlichen Handelns (vgl. Rössel 2009: 38f.). In diesem Sinne beruht sie nicht auf unveränderlichen Konstanten, sondern wurde im Verlauf der Menschheitsgeschichte durch diverse Handlungsakte hervorgerufen und ist auf sehr unterschiedliche Weise in Erscheinung getreten. Empirisch betrachtet spielt(e) strukturelle soziale Ungleichheit zu jeder Zeit eine Rolle, sodass die Sozialgeschichte sie als ein konstitutives Merkmal von Gesellschaften behandelt (vgl. Mergel 2013).

Nicht nur in der historischen Rückschau, sondern auch im zeitgenössischen (politischen) Diskurs wird soziale Ungleichheit häufig als ungerecht, teilweise gar als illegitim begriffen (vgl. Hradil 2012b). Sozialwissenschaftler folgen hingegen in erster Linie einem deskriptiven Ansatz und untersuchen das Phänomen ohne sofortige normative Bewertung (vgl. Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung 2017). Auf welche Weise die so identifizierten sozialen Ungleichheiten (etwa hinsichtlich der Einkommen oder wie im unten behandelten Beispiel der Bildungschancen) zu bewerten sind, kann dann Gegenstand weiterer Studien sein; ein vielgenutztes „Genre“ sind beispielsweise kritische Zeitdiagnosen (vgl. Weischer 2020).

In der Literatur zur Ungleichheitsforschung existieren verschiedene Ansätze, um Formen sozialer Ungleichheit voneinander abzugrenzen. Eine geläufige Unterscheidung ist jene zwischen Chancenungleichheit und Verteilungsungleichheit. Unter dem ersten Begriff verstehen Berger u.a. „ungleiche Chancen von sozialen Gruppen beim Zugang zu sozialen Positionen oder Handlungsressourcen (zum Beispiel zu Bildungs-, Arbeitsmarkt- oder Einkommenspositionen)“ (Berger, Powell und Solga 2009: 21). In Abgrenzung dazu bezeichnet Verteilungsungleichheit (auch Ergebnisungleichheit) in ihrer Definition die „Vor- und Nachteile, die sich durch den Besitz wertvoller Güter oder durch den Zugang zu erstrebenswerten Positionen ergeben (zum Beispiel ungleiche Einkommen, Arbeitsbedingungen, Lebens-standards, etc.)“ (ebd.: 21f.).

Bei der Untersuchung von ungleichen Bildungschancen anhand der Theorien von Bourdieu scheinen nun beide Formen eine Rolle zu spielen: Er schreibt der sozialen Herkunft von Personen, die sich deutlich auf ihren Habitus und ihre Zugriffschancen auf kulturelles Kapital auswirke, eine hohe Bedeutung bei der Entwicklung von Bildungsungleichheiten zu; so hätten Kinder unterer Klassen grundsätzlich schlechtere Chancen auf den Erwerb von Bildung als jene aus privilegierten Schichten. Begreift man Bildung sodann als wertvolle Ressource, über die ungleich umfassend verfügt werden kann, ergeben sich daraus für verschiedene gesellschaftliche Gruppen Vor- bzw. Nachteile, die sich in Form von ungleich verteilten Lebenschancen äußern. Um dieser Verkettung näher auf den Grund zu gehen, werden nachfolgend Bourdieus Kapital- und Klassenbegriffe eingeführt.

Bourdieus soziokulturelle Klassentheorie

Bourdieus Kapitalformen

Bourdieu versteht die Gesellschaft als einen sozialen Raum, welcher durch bestimmte Handlungsressourcen – zusammengefasst unter dem Begriff des Kapitals – strukturiert wird (vgl. Rehbein 2016: 107). Dabei unterscheidet er zwischen verschiedenen Kapitalarten, die er in ihrer Gesamtheit als „Energie der sozialen Physik“ (Bourdieu 1976: 357) bezeichnet, denn die Art, in der Personen über Kapital verfügen können, entscheidet über ihre gesellschaftliche Position in seinem triadischen Klassenmodell (vgl. Schwingel 2005: 106f.). Um einen Zugang zu Bourdieus Klassentheorie zu finden ist das Verständnis der Kapitalformen daher elementar.

Ein wichtiges Mittel zur Ausübung von Macht würde seit jeher materieller Besitz in Form von Geld, Kapitalanlagen und ähnlichem darstellen, von Bourdieu als ökonomisches Kapital bezeichnet. Er schreibt ihm als grundlegender Kapitalform eine besondere Bedeutung zu, da sie besonders gut reproduzierbar sei und die Verfügungsgewalt über finanzielle Mittel die Aneignung aller anderen Kapitalarten ermögliche oder zumindest erleichtere (vgl. Bourdieu 1992: 70–73).

Mit Blick auf das kulturelle Kapital differenziert Bourdieu zwischen drei Formen: Bei objektivierten kulturellen Kapital handelt es sich um materielle Kulturgüter, also beispielsweise Bücher, Kunstgegenstände, Musikinstrumente oder auch Produktions-mittel wie Maschinen (vgl. Bourdieu 1992: 53).

Jegliche Titel und Abschlüsse, die durch eine schulische und/oder akademische Ausbildung erworben werden, fasst Bourdieu unter dem Begriff des institutionalisierten kulturellen Kapitals zusammen (vgl. Bourdieu 1992: 61f.).

Außerhalb dieser Institutionen erworbenes Wissen gilt als inkorporiertes und somit körpergebundenes Kulturkapital, dessen Aneignung ein gewisses Investment an Zeit und persönlicher Anstrengung erfordere (vgl. Schwingel 2005: 89f.).

Während die erste Form des Kulturkapitals materiell übertragen werden könne, sei dieses „Delegationsprinzip“ (Bourdieu 1992: 55) bei den anderen beiden keine Option. Folgenreicher als die tatsächliche juristische Übertragbarkeit seien allerdings die individuellen Eigenschaften des Trägers, welche die Aneignung und den Genuss der Kapitalressourcen erst ermöglichten (vgl. Bourdieu 1992: 59), was später anhand des Beispiels der ungleichen Bildungschancen ausgeführt wird.

[...]


1 Definition nach Berger u.a. (2009: 15): „In Abgrenzung zu sozialer Ungleichheit bezeichnen wir als soziale Differenzierung gesellschaftlich verankerte (also gleichfalls überindividuelle) Unterschiede, die nicht (notwendigerweise) mit Vor- und Nachteilen und somit mit Asymmetrien in den Handlungsbedingungen verbunden sind“.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Kapitalvolumen, Klassenzugehörigkeit und Bildungschancen. Bedingte Verfügungsmöglichkeiten an Kapitalsorten als Auslöser für soziale Ungleichheit
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Max-Weber-Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Einführung in die Soziologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
19
Katalognummer
V944819
ISBN (eBook)
9783346282613
ISBN (Buch)
9783346282620
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pierre Bourdieu, Bildungschancen, Bildungsungleichheit, Kapitalsorten, Kapitalvolumen, Klassenzugehörigkeit, Klassenlage, Soziale Situation, Soziale Milieus, Sozialer Aufstieg, Sozialer Abstieg, Erbliche Bedingtheit, Familiäre Prägung, Sozialisierung, Bildungsungleichheit in Deutschland
Arbeit zitieren
Ariatani Wolff (Autor:in), 2020, Kapitalvolumen, Klassenzugehörigkeit und Bildungschancen. Bedingte Verfügungsmöglichkeiten an Kapitalsorten als Auslöser für soziale Ungleichheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/944819

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