Desintegrations- und Exklusionsdynamiken in der Lebenswelt jugendlicher Wohnungs- und Obdachloser in Hamburg

Eine qualitative Lebensweltanalyse


Diploma Thesis, 2008

223 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


INHALTSVERZEICHNIS

A THEORETISCHE EXPLIKATIONEN

I. EINLEITUNG

II. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN: DIE KRITISCHE THEORIE DER GESELLSCHAFT ALS WELTERSCHLIEßENDE KRITIK
1. Prolog
2. Kritische und Traditionelle Theorie: Ein Kontrast in mehreren Gesichtspunkten
2.1 In welchem Bedeutungszusammenhang findet die Kategorie der Kritik Verwendung?
2.2 Verknüpfung oder Separation von Objekt und Subjekt? Oder: Wie ist Erkenntnis objektivierbar?
2.3 Ein kurzer Exkurs zu den paradigmatischen Kernpunkten des Kritischen Rationalismus nach Karl R. Poppers
2.4 Das Verhältnis von Theorie und Praxis: Welche gesellschaftliche Stellung besitzt Wissenschaft und inwieweit darf sie überhaupt Stellung beziehen?
2.5 Ist das Subjekt oder die zu vermittelnde Subjekt-Objekt-Relation Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse?
2.6 Inwiefern spiegelt Wissenschaft die verdinglichten Verhältnisse wider?
3. Das grundlegende Postulat der kritischen Theorie der Gesellschaft
3.1 Theorieimmanente Ausgangspunkte der kritischen Theorie
3.2 Welche Divergenz wird zwischen den theoretischen Implikationen und der praktischer Realisierung in den Studien der alten kritischen Theorie deutlich?
4. Jürgen Habermas als Protagonist der neuen kritischen Theorie
4.1 Die kommunikationstheoretische Wende der Dialektik der Aufklärung, hin zu einer neuen kritischen Theorie der Gesellschaft
4.2 Theorie und Praxis: Habermas und das Moment des Sozialen
4.3 Ein kurzer Exkurs zur Kritik an Adorno und Michel Foucault
4.4 Erkenntnis und Interesse: Die Logik der Forschung
4.5 Kommunikatives Handeln: Das Fundament des Sozialen
4.6 Die Sphären der gesellschaftlichen Reproduktion: Lebenswelt und System
4.7 Die Kolonialisierung der Lebenswelt
4.8 Strukturwandel der Öffentlichkeit: Der herrschaftsfreie Dialog mündiger Bürger als Gewähr des Sozialen und Korrektiv der systemischen Kolonialisierung
4.9 Kritische Fragen an eine neue kritische Theorie
5. Epilog

III.METHODOLOGISCHE EXPLIKATION: QUALITATIVE SOZIALFORSCHUNG IM LICHTE EINER KRITISCHEN GESELLSCHAFTSTHEORIE
1.Prolog
2. Der kontextuelle Bezug der Sozialforschung
3. Methodologische Ausgangs- und Abgrenzungspunkte zwischen den Paradigmen der Qualitativen und Quantitativen Sozialforschung
3.1 Das Lebensweltkonzept als theoretischer Bezugsrahmen der qualitativen Analyse
3.2 Methodologische Implikationen der Qualitativen und Quantitativen Forschungsrichtungen
3.2.1 Deduktives Erklären vs. Induktives Verstehen
3.2.2 Theoriegenerierung vs. Theorieprüfung
3.2.3 Unterschiede innerhalb der Datenerhebung
3.3 Prinzipien der Qualitativen Sozialforschung
3.3.1 Offenheit im theoretischen und methodischen Zugang zum Feld
3.3.2 Forschung als Kommunikation
3.3.3 Reflexivität des Forschers
3.3.4 Explikation des flexiblen Untersuchungsverlaufs
3.4 Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung
3.4.1 Verfahrensdokumentation
3.4.2 Regelgeleitetheit
3.4.3 Gegenstandsangemessenheit und Indikation
3.4.4 Argumentative Interpretationsabsicherung
3.4.5 Empirische Verankerung
3.4.6 Triangulation
4. Resümierender Exkurs
5. Epilog

IV.SOZIOLOGIE SOZIALER PROBLEME: DAS SOZIALE PROBLEM DER WOHNUNGS- UND OBDACHLOSIGKEIT IM SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN DISKURS
1. Prolog
2. Die Soziologie sozialer Probleme
2.1 Wesensmerkmale der Soziologie sozialer Probleme
2.2 Der Begriff des Soziales Problems im Kontext alltagssprachlicher Verwendung
2.3 Das Soziale Problem als sozialwissenschaftliche Kategorie
3. Das soziale Problem der Wohnungs- und Obdachlosigkeit
3.1 Forschungsstand: Wohnungs- und Obdachlosigkeit im wissenschaftlichen Diskurs
3.2 Jugendliche Betroffene als besondere Problemgruppe
4. Epilog

V.DESINTEGRATIONS- UND EXKLUSIONSDYNAMIKEN IM SPIEGEL EINER KRITISCHENGESELLSCHAFTSANALYSE: PRÄLUDIUM DER VEREINSEITIGUNG GESELLSCHAFTLICHER RATIONALITÄT – WIDER DER ENTFALTUNG EINES VERNÜNFITGEN ALLGEMEINEN
1.Prolog
2.Die Frage nach der gelungenen Integration
2.1 Gegenstand des sozialwissenschaftliches Diskurses: die Integrationsfrage
2.2 Die Abgrenzung des Integrationsbegriff
2.3 Die überflüssige Frage nach der gelungenen Integration?
2.4 Das Selbstverständnis der Moderne im Spiegel der Integrationsproblematik
2.5 Drei forschungsrelevante Dimensionen einer gelungenen Integration
3.Desintegrative Tendenzen: im Bannkreis zwischen Integration und Exklusion
3.1 Überlegungen zum Desintegrationsansatz
3.2 Desintegration und ihre Vermittlung durch Anerkennungsbilanzen
3.2.1 Anerkennungstheoretische Ebenen des Desintegrationsansatzes
3.2.2 Die Folgen von Anerkennungsbeschädigungen
3.2.3 Operationalisierung von Desintegrationstendenzen
4.Exklusion: Die paradoxe Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draußen
4.1 Das gut Gewissen der Aufklärung: das Soziale Bewusstsein
4.2 Die underclass-debate: Ein urbanes sozialräumliches Phänomen
4.3 Zum Begriff der exclusion: Ausschluss trotz Integration
4.4 Die forschungsleitende Exklusionsfigur
4.5. Exkurs: Desintegrations- und Exklusionsdynamiken im Spiegel der kritischen Theorie, oder: Die Einbeziehung des Anderen
5.Epilog

B EMPIRISCHE ANALYSE

VI.METHODISCHE VERFAHREN: DIE VERMITTLUNG ZWISCHEN SUBKJEKT UND OBJEKTANHAND LEITFADENBASIERENDER INTERVIEWS
1.Prolog
2.Das Problemzentrierte Interview als Erhebungsinstrument
2.1 Basale Prinzipien des problemzentrierten Interviews
2.2 Instrumente des problemzentrierten Interviews
2.3 Vergleichende Systematisierung als Ziel des Auswertungsprozesses
3.Das Experteninterview als qualitatives Erhebungsinstrument
3.1 Typologische Grundlagen des theoriegenerierenden Experteninterviews
3.2 Diskurs- und Auswertungsverläufe des Experteninterviews
4.Methodisches Vorgehen der Datenerhebung
4.1 Fragestellung der Untersuchung
4.2 Konzeption der Hypothesen
4.3 Einstieg ins Untersuchungsfeld
4.4 Interviewphase: Befragung und Transkription der Betroffenen und Experten
5.Epilog

VII.VOM TEXT ZUR THEORIE: DIE ZUSAMMENFASSENDE INHALTSANALYSE ALSAUSWERTUNGSVERFAHREN
1.Prolog
2.Die Inhaltsanalyse als Auswertungsverfahren
2.1 Basale Merkmale der Inhaltsanalyse
2.2 Qualitativ-Interpretative und Quantitativ-Normative Inhaltsanalyse
3.Ablaufmodell der Inhaltsanalyse
3.1 Ablaufschema des Instrumentariums
3.2 Applikation des Kategorienschemas
3.2.1 Prozesshafte Dynamik
3.2.2 Sozialstrukturell-Funktionale Koordination
3.2.3 Institutionell-Moralische Integrität
3.2.4. Personal-Expressive Gemeinschaft
3.2.5 Desintegration- und Exklusionskategorien
3.2.6 Moderierende Variablen
3.3 Ergebnisdarstellung derKategorien
3.4 Hypothesenprüfung
4.Epilog

VIII.ABSCHLUSSDISKUSSION

IX.LITERATURVERZEICHNIS
X.ANHANG
Anhang 01 Theoriegenerierung
Anhang 02 Hermeneutischer Zirkel
Anhang 03 Verlaufsform desintegrativer Tendenzen
Anhang 04 Integrationsdimensionen nach Heitmeyer/Anhut
Anhang 05 Sozialwissenschaftliche Exklusionsbegriffe
Anhang 06 Kategoriensystem der Untersuchung
Anhang 07 Forschungshypothesen
Anhang 08 Fragebögen der Untersuchungen
Anhang 09 Postskriptum
Anhang 10 Kurzfragebögen der Untersuchung
Anhang 11 Transkriptionsregeln

DANKSAGUNG

A THEORETISCHE EXPLIKATIONEN

I. EINLEITUNG

Trotz der Tatsache, dass die Soziologie als Wissenschaft keine allgemeinverbindlichen Wahrheiten – in Form ubiquitär-zeitlicher Axiome – anzubieten hat, ist sie jedoch durch die kritische Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse in der Lage, zur Aufklärung kausaler Zusammenhänge beizutragen. Entlang der vielfältigen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Strömungen innerhalb der Soziologie, variieren entsprechend die soziologischen Vorgehensweisen und Methoden. Die Wissenschaft der Soziologie zeichnet sich demnach auch durch ihre forschungsspezifischen (antagonistischen) Interessen aus, welche wiederum das Abbild der Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse darstellen. Entsprechend kann sich die Soziologie auch nicht als eine einheitliche Wissenschaftsdisziplin begreifen. Vielmehr ist sie ein Agglomerat in welchem divergente Theorien als Aggregate der vielfältigen Widersprüche fungieren.

Ohne an dieser Stelle auf die einzelnen theoretischen Ansätze und deren Für und Wider für den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingehen zu können, sei jedoch angemerkt, dass die Art und Weise wie Soziologie als Wissenschaft für den einzelnen Forscher Bedeutung erlangt, dessen (Selbst-)Verständnis im Umgang mit theoretischen Fragen und empirischen Daten anleitet. Diesem Verständnis ist sonach nicht allein das Forscherinteresse oder die hypothetische und analytische Gangart der Forschung geschuldet, sondern die jeweilige soziologische Brille des Forschers färbt das Kielwasser seiner forschungsspezifischen Intentionen, d.h. der Standpunkt soziologischen Denkens gibt Auskunft über Ziele und Absichten des Soziologen.

Für die vorliegende Forschungsarbeit lassen sich diesbezüglich deutliche Abgrenzungen zu gegenwärtig einflussreichen Strömungen soziologischen Wissenschaftsverständnisses ziehen, wie bspw. zu den vor allem im angelsächsischen Raum angewandten Rational-Choice-Theorien oder der hierzulande vieldiskutierten Systemtheorie. Jene Unterschiede betreffen mitunter sprachstilistische und argumentationsspezifische Merkmale, wie sie dem hier zugrunde gelegten Soziologieverständnis – einer kritischen Theorie – immanent sind. Gemäß der eben benannten verknüpfenden Wirkungen von Anschauung und Streben, werden der Zugriff und die Prämissen der Ausarbeitung evident bzw. in eben jenem Licht erhellt. Gegenstand der Untersuchung ist somit nicht allein die vielgliedrige Beschreibung eines Sachverhalts, sondern auch die kritische Auseinandersetzung mit jenem, bspw. in Form von problembezogenen Lösungsvorschlägen.

Das Untersuchungsthema befasst sich indes mit dem sozialen Problem der Wohnungs- und Obdachlosigkeit, welches weltweit Aktualität erfährt. Auch wenn sich Umfang und Qualität des Problems je nach industriellem und/oder zivilgesellschaftlichen Stand sowie kulturellen Prägungen der einzelnen (nationalstaatlich gefassten) Gesellschaften unterscheiden, die Betroffenen stellen stets eine der im höchsten Maße benachteiligten Gruppen im sozialstrukturellen Gefüge der betreffenden Länder dar.

Angelehnt an ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt der Universität Hamburg, befasst sich die vorliegende Arbeit sodann mit der Frage, inwiefern von einer prekären Lebenslage jugendlicher Obdach- und Wohnungsloser gesprochen werden kann. Welche Merkmale charakterisieren also eine solche desintegrierte Lebenssituation? Ebenso ist von Interesse, ob sich aus der Prekarität der Lage heraus desintegrative Tendenzen entwickeln und welche Prägung diese annehmen. Sollte dies der Fall sein, bleibt überdies zu fragen, woraufhin jene Tendenzen abzielen. Worin kulminieren diese Entwicklungen? An dieser Stelle muss schließlich auf den Aspekt sozialer Exklusion eingegangen werden.

Ist davon auszugehen, dass desintegrative Tendenzen letztlich in einer exkludierten Soziallage münden, stellt sich die Frage, worin diese sich explizit ausdrückt. Was kennzeichnet den Kern der Ausgrenzung und wodurch unterscheidet er sich zu einer desintegrierten Positionierung im sozialstrukturellen Rahmen? Zudem muss erörtert werden, inwiefern eine exkludierte Lebenslage einen dauerhaften Zustand beschreibt und damit ein Billett auf eine Sitzbankgarantie auf dem Rangierbahnhof sozialer Ausgrenzung ausgegeben wird. Auch ist zu fragen, inwieweit Möglichkeiten bestehen, dem verfestigten Platz an den Gleisen der Peripherie zu entkommen. Wie sind demnach Interdependenz- und Partizipationsmöglichkeiten zu realisieren? Insofern Theorie und Praxis – dem hier geschuldeten Wissenschaftsverständnis einer kritischen Theorie entsprechend – nicht voneinander zu trennen sind, müssen Konstitutionsbedingungen des sozialen Problems kritisch hinterfragt und ferner Problemlösungsstrategien benannt werden.

All jene Fragen und Perspektiven werden durch eine hypothesengeleitete Orientierung beantwortet bzw. die Anschauungen der Untersuchung in Auseinandersetzung mit dieser Hypothese begründet. Die forschungsleitende These lautet indes:

Je länger der Zustand der Wohnungslosigkeit und/oder Obdachlosigkeit anhält, desto umfassender wirkt der Prozess der sozialen Exklusion, der einen Ausstieg aus der Prekarität erschwert.

Beginnend mit der Beschreibung der bereits angedeuteten wissenschaftstheoretischen Position einer kritischen Theorie der Gesellschaft (II. Kapitel), welche grundlegende Bedeutung für die Ausarbeitung hinsichtlich der theoretischen und empirischen Vorgehensweise besitzt und daher ausführlich behandelt wird, werden folgend methodologische Fragen der Qualitativen und Quantitativen Sozialforschung vorgestellt und kritisch gegeneinander abgegrenzt (III. Kapitel). Aufgrund dieser Gegenüberstellung können daraufhin die eigenen, hier verwendeten methodologischen und methodischen Prämissen begründet werden. Um die empirische Analyse theoretisch umrahmen zu können, wird anschließend das soziale Problem der Wohnung- und Obdachlosigkeit anhand bisheriger Forschungsergebnisse und theoretischer Arbeiten beleuchtet (IV. Kapitel). Für die Beantwortung der eingangs gestellten Fragen und der daraus resultierenden Hypothese, wird es notwendig sein, neben dem sozialen Problem der Wohnungs- und Obdachlosigkeit, auch die gängigen sozialwissenschaftlichen Konzepte der Integration, Desintegration und Exklusion theoretisch darzulegen (V. Kapitel).

An diese theoretischen Grundlegungen schließt sich nachstehend die empirische Analyse der vorliegenden Forschungsarbeit an. Zunächst werden die Methoden der Datenerhebung (in diesem Fall sind es leitfadenbasierende Interviews) theoretisch nachgezeichnet und zudem die forschungsspezifischen Aspekte der vorliegenden Ausarbeitung (also die spezifischen Forschungsfragen, Forschungshypothese und der Forschungsprozess) hergeleitet (VI. Kapitel). Woraufhin sich die Datenauswertung des empirischen Materials anhand der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse anschließt (VII. Kapitel). Die inhaltsanalytische Methodik wird ebenfalls vorab theoretisch erläutert, um dann in der empirischen Analyse des Datenmaterials ihre Anwendung zu finden.

Ziel der inhaltsanalytischen Auswertung wird es indes sein, den Umschlag zwischen Desintegration und Exklusion in der Lebenssituation der betroffenen Jugendlichen am Textmaterial nachzuweisen. Überdies soll auf die hintergründigen Problemkonstellationen, welche die Prekarität der Lebenslage der Betroffenen bedingen, eingegangen werden. Da diese Ursachen ihren Ausgang im sozialstrukturellen Zentrum der Gesellschaft nehmen, so die Annahme, wird es außerdem notwendig sein, Wege aus der Malaise sozialer Benachteiligung, respektive sozialer Ausgrenzung aufzuzeigen (VIII. Kapitel).

Dem sozialen Problem der Obdach- und Wohnungslosigkeit, gerade wenn Minderjährige und/oder junge Erwachsene betroffenen sind, ist innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung und den ihr zugrunde liegenden Diskursen vielfach Aufmerksamkeit geschenkt worden. Die Frage, ob die Lebenssituation der Betroffenen eher anhand von Desintegrations- oder Exklusionskonzepten beschrieben werden muss, wurde indes kaum diskutiert. Mehr noch, in einer Vielzahl theoretischer und empirischer Forschungsarbeiten werden die Begriffe der Desintegration und Exklusion, respektive die dahinter liegenden Konzepte, synonym verwendet. Vielfach wird dann von Ausgrenzung gesprochen, wenn augenscheinlich desintegrative Tendenzen beschrieben werden. Diesem unzulänglichen Durcheinander theoretischer Ausführungen soll mit der vorliegenden Ausarbeitung begegnet werden, in welcher die Begriffe sowie Konzepte – der Desintegration und Exklusion – analytisch voneinander getrennt werden.

Letztlich muss darauf hingewiesen werden, dass die nachfolgende Ausarbeitung der vom Maskulinum beherrschten Schreibweise folgt. Trotz der Einsicht in die Notwendigkeit und Betonung einer geschlechtssensibilisierten Soziologie, finden die zahlreichen neueren Wortschöpfungen, welche einer gender-angemessenen Orthographie Rechnung zollen, keine Anwendung. Vielmehr sucht der Autor den aufklärerischen Geist, der u.a. auch in Fragen von Geschlechterbeziehungen aufzudecken ist, mit Hilfe von Argumenten darzulegen, und nicht anhand orthographischer Schreibstile zu genügen.

Abschließend möchte ich einen Ausblick auf die vorliegende Forschungsarbeit geben, welche in Anlehnung an die kritische Theorie mehr zu leisten sucht, als das Bildnis einer kausalen Tatsachenwelt oder eines rational handelnden Sozialatoms abzuzeichnen. Vielmehr wird der Versuch unternommen, die gesellschaftlichen Verhältnisse an ihrem Begriff zu messen. Eine essentielle Schwierigkeit der Theorie der Gesellschaft, welche allein als kritische Theorie zu denken ist, liegt indes darin, dass sie selbst Teil der zu erkennenden Gesellschaft ist. Sie gehört dem Untersuchungsobjekt an, den sie zu begreifen sucht. Ungeachtet der daraus resultierenden methodologischen und methodischen Probleme, kann indes an dieser Stelle einer der bekanntesten Vertreter der kritischen Theorie beim Wort genommen werden. Im Folgenden Ausspruch Theodor W. Adornos, kommen demnach sowohl der hoffnungsvolle Impetus als auch der immanente Leitsatz dieser Ausarbeitung pointiert zur Geltung.

»Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.«

II. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN: DIE KRITISCHE THEORIE DER GESELLSCHAFT ALS WELTERSCHLIEßENDE KRITIK

1. Prolog

Der Umstand, dass ich meine Ausarbeitung mit einem wissenschaftstheoretischen Thema eröffne, hat zweierlei grundlegende Motive. Die umfangreiche Auseinandersetzung dient mir zum einen als Grundlage der Explikation desjenigen soziologischen Standpunktes, wie er mir in meinen bisherigen Studien zueigen wurde und mittels welcher paradigmatischen Lehrrichtung ich Soziologie als Wissenschaft im Wesentlichen begreife. Des Weiteren wird mir damit die Möglichkeit gegeben, argumentativ auf das dritte Kapitel der Ausarbeitung, welches den methodologischen Streit zwischen Quantitativer und Qualitativer Forschung beinhaltet, hinzuwirken. Daran anschließend wird es mir möglich sein, diesen methodologischen Streit, in Anlehnung an mein soziologisches Wissenschaftsverständnis, nicht nur zu beschreiben, sondern auch für den Rahmen meiner Diplomarbeit zu entscheiden, womit letztlich der empirische Abschnitt der Elaboration schon im Vorfeld metatheoretisch begründet werden kann[1].

Die Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen Fragen umfasst einen mittlerweile kaum mehr überschaubaren Umfang wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Fachliteratur[2], sowie zahllose Beiträge sozialwissenschaftlicher Couleur, welche vor allem durch die als Positivismusstreit [3]

innerhalb der deutschen Soziologie bekannt gewordene Kontroverse angestoßen worden. Die bedeutendsten Protagonisten dieser Auseinandersetzung – Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas als Adepten der kritischen Theorie [4], Sir Karl Raimund Popper und Hans Albert als Vertreter des Kritischen Rationalismus oder Szientismus [5] – behandelten weniger methodische Fragen der empirischen Forschung, als vielmehr die grundlegende Problematik der Erkenntnisgewinnung und Objektivierbarkeit von Aussagen eines wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstandes. Die wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Pole der beteiligten Wissenschaftler, die sich diametral positionieren, sind hinreichend bekannt und betreffen sowohl den Gegenstand als auch die Methoden der soziologischen Analyse. Daher lässt sich das antagonistische Verhältnis zwischen den so genannten Dialektikern der Frankfurter Schule und den Positivisten anhand konträrer Positionen darstellen. Dies soll nun im Folgenden unternommen werden.

Jene in diesem Kapitel getroffenen Überschriften der jeweiligen Abschnitte, die sich an bedeutenden Arbeiten der von mir vorgestellten kritische Theorie orientieren, sind zum Zweck der strukturellen und thematischen Übersichtlichkeit getroffen worden. Die enge Anlehnung soll einen stringenten Argumentationsfluss ermöglichen und darüber hinaus die thematische Einfassung des Kapitels gewährleisten.

2. Kritische und Traditionelle Theorie: Ein Kontrast in mehreren Gesichtspunkten

2.1 In welchem Bedeutungszusammenhang findet die Kategorie der Kritik Verwendung?

Zum Ersten bezeugt die spezifische Verwendung des Begriffs Kritik eine unterschiedliche Konnotation. Während Kritik für die Dialektiker auf die Möglichkeit der Aufklärung über gesellschaftsimmanente Widersprüche rekurriert und keine Methode, sondern, in Anlehnung an Habermas, als Prüfkategorie qua öffentlichen Diskurs zu betrachten ist, findet die Kategorie im Kritischen Rationalismus allein als Mechanismus der Falsifikation Verwendung, ohne jedoch inhaltlich besetzt zu sein.

Entsprechend beanstandet Adorno die Enge der Kategorie Kritik mit dem Falsifikationsprinzip, welches ihm als Methode von Versuch und Irrtum zu forschungsimmanent und damit zu mäßig gesellschaftskritisch erscheint, denn für ihn selbst bedeutet Kritizismus radikale Aufklärung des Bestehenden. Die Dimension deduktiver Sätze, wie sie durch die rationalistische Logik hergeleitet wird, vermag indes nicht, die in Sprache transzendierten Einstellungen aufzunehmen: »Ein Verhältnis der Implikation ist zwischen Einstellungen und Aussagen unmöglich [...]« (Habermas 1970: 55). Die Bestimmung der Kritik, welche methodologische Fragen betrachtet, liegt daher für Habermas in einer argumentativ gestützten Diskursethik, wie er sie in seinem Spätwerk ausgearbeitet hat (Habermas 1992a, 1991b). Kritik wird daher als über die Daten der empirischen Analyse hinausgehendes theoretisches (Weiter-)Denken betrachtet. Denn die Theorie der Gesellschaft besitzt einen doppelten reflexiven Bezugsrahmen – von Theorie und Praxis –, welcher zum einen den eigenen Entstehungszusammenhangs analysiert und zum anderen einen handlungsorientierten (praxisrelevanten) Verweisungszusammenhang antizipiert. Eben darin, in der theoretischen Reflexion und praxisrelevanten Antizipation, unterscheidet sich die kritische Theorie von der Traditionellen Theorie, wie es Horkheimer in seiner Antrittsrede ausdrückte (Horkheimer 1988). Damit wird die Kategorie der Kritik zum Wesensmerkmal der kritischen Theorie, welche weder ausschließlich Philosophie noch Tatsachenwissenschaft sein will[6].

2.2 Verknüpfung oder Separation von Objekt und Subjekt? Oder: Wie ist Erkenntnis objektivierbar?

Des Weiteren werden Divergenzen erkenntnistheoretischer Prägung deutlich. Dabei wird die wissenschaftliche Konstitutionsproblematik angesprochen, wonach nicht das utilitaristische oder statistische Gesetz der großen Zahl an Attitüden und Ansichten der einzelnen Subjekte einer empathischen Wissenschaft zur Objektivität gereicht, sondern die gesellschaftliche Totalität im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung steht[7]. Adorno verweist hierbei auf die Zielsetzung des Szientismus, welcher mittels vorgefertigter Schemata den Untersuchungsgegenstand klassifiziert, zugleich analysiert und interpretiert, dabei jedoch das Wesensmerkmal eines Phänomens präformiert und unter dem Diktat der Forschungsmethoden subsumiert. Er bemängelt die Konkordanz zwischen einer szientistischen Methodologie, die dem Material der Forschung ein objektives und unveränderbares Moment unterstellt und dem Subjektivismus der positivistischen Position, welcher das Selbstverständnis und die Meinungen der Individuen sakrosankt beweihräuchert; allerdings ohne auf die gesellschaftliche Vermittlung des Subjektiven einzugehen. Der Positivismus verneint das Allgemeine, dass er durch sein methodisches Vorgehen zur Abbreviatur des Besonderen entwertet. Sein Versuch, Aussagen über die Wirklichkeit am Bewusstsein der Subjekte deduktiv abzuleiten, muss ohne Bezugnahme auf die Objektivität der Struktur scheitern:

»Bedingung und Gehalt der an Einzelsubjekten zu erhebenden sozialen Tatsachen werden von jener Struktur beigestellt« (Adorno 1975: 15).

Jedoch wendet sich auch Popper gegen eine Reduktion der sozialwissenschaftlichen Forschung auf einseitig psychologistische Bezüge, wonach Aussagen über das Vielmehr interessiert er sich dafür, wieso ein Erkenntniselement Machtwirkungen hervorbringt und »wieso ein bestimmtes Zwangsverfahren rationale, kalkulierte, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen annimmt« (Foucault 1992: 31). individuelle Handeln allein auf die psychischen Dispositionen des Untersuchungsgegenstandes zurückgehen. Doch verfolgt er einen anderen Weg als Adorno, dieser Anschauung zu begegnen (siehe auch Merton 1993). Popper versucht anhand nomologischer Hypothesen der Tatsache, dass die soziale Umwelt das Subjekt maßgeblich beeinflusst, gerecht zu werden, ohne dabei ein geschichtsphilosophisch belegtes Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, in der Variante Hegels oder Marxens, ableiten zu wollen. Eher sieht Popper in einer erfahrungswissenschaftlich zentrierten Sozialwissenschaft ein Modell soziologischer Situationsanalyse begründet, fern der Einflussnahme psychologischer oder metaphysischer Aspekte. Gemäß diesem Modell, geht er zum Ersten von einer physisch-natürlichen Welt (Welt der Naturgesetze), zum Zweiten von einer sozialen Welt individueller Zielvorstellungen und institutioneller Wirkungszusammenhänge (Welt der gesellschaftlichen Naturgesetze) und zum Dritten von einer (überindividuellen) kulturellen Welt als Norm- und Wertesystem (Welt normativer Gesetze) aus. Sodann sucht er mittels des deduktiv-nomologischen Modells soziale Gesetzmäßigkeiten und Ereigniszusammenhänge aufzuzeigen und in Gesetzeshypothesen sowie Randbedingungen auszudrücken (Ritsert 1972.: 121).Einen anderen Argumentationsstrang nimmt indes Adorno auf. Für ihn spielt der Grundgedanke bzw. die Problematik der Verdinglichung[8] der Subjekte eine entscheidende Rolle. Demnach sind wissenschaftliche Aussagen über die Wirklichkeit nicht anhand des Bewusstseins dieser vergesellschafteten Individuen, bspw. mittels uni- oder bivariater Häufigkeitsverteilungen, zu beschreiben. Die empirisch gewonnenen Daten, die sich in verschiedene Koeffizienten oder Skalen transformieren lassen, besitzen durchaus objektive Aussagekraft, jedoch allein in subjektiver Gestalt, da sie nur Abbild individueller Selbst- und Weltinterpretationen darstellen. Empirisch festgestellte Wechselbeziehungen attestierten Zusammenhänge, verweisen jedoch nicht auf die ursächlichen Abhängigkeiten dieser Korrelationen. Damit wird deutlich, dass ebenso wie der jeweilige Untersuchungsgegenstand, auch gesellschaftliche Subsysteme in historischen Zusammenhängen stehen. Daher muss in der gesellschaftlichen Totalität das Apriori der erkennenden subjektiven Vernunft aufgezeigt werden; um bspw. zu wissen, was die Problematik der Obdachlosigkeit ausmacht, muss man Kenntnis von gesellschaftlich akzeptierten und verbreiteten Wohnformen besitzen.

Die Hinwendung zum gesellschaftlichen Ganzen oder hegelianisch gesprochen zum Geist, ist von maßgeblicher Bedeutung für die kritische Theorie. Dabei stützt sie sich jedoch nicht auf das Primat der Methoden und bearbeitet ihren Untersuchungsgegenstand durch allgemeine Kategoriensysteme, wie es Adorno und Habermas dem Positivismus zuschreiben. Dieser verformt vielmehr mit vordefinierten Anschauungen den Gegenstand, indem er das »pedantisch organisierte Totalschema« (Adorno 1975: 24) dem Untersuchungsobjekt gegenüberstellt und damit die Diversität der Subjekte, durch die Betonung von Standardisierungen in den empirischen Methoden, übersieht. Damit werden gleichzeitig Gegenstand und Methode zum Fetisch des Seienden entartet: »Die dinghafte Methode postuliert das verdinglichte Bewusstsein ihrer Versuchspersonen« (Adorno 1975: 88). Wobei die Verabsolutierung der methodischen Vereinheitlichung die Widersprüchlichkeit des die Tauschrationalität von der arbeitswerttheoretischen Grundlegung Marxens abgelöst werden (dazu Wellmer 1969). Als zeitgenössischer Vertreter der kritischen Theorie hat Axel Honneth die Thematik der Verdinglichung aufgenommen. Honneth versucht nun die Problematik durch eine »Kontrastfolie« der kommunikativen Perspektivenübernahme (hierbei rekurriert er auf die Habermassche Theorie des kommunikativen Handelns, 1995b) von Interaktionsteilnehmern aufzulösen. Somit beinhalten die so genannten Anerkennungsbilanzen das Potential der Überwindung verdinglichter zwischenmenschlicher Beziehungen, denn menschliches Verhalten, welches anderen Subjekten »nicht gemäß ihrer menschlichen Eigenschaften«, sondern dinghaft gegenübertritt, entspricht nicht moralisch-ethischen Prinzipien: »[…] daß die hier gemeinte Einstellung der Anerkennung eine ganz elementare Form der intersubjektiver Bestätigung darstellt, die noch nicht die Wahrnehmung eines bestimmten Wertes der anderen Person einschließt« (Honneth 2005: 60). wissenschaftlichen Objekts verdrängt. Überdies bezweifelt Habermas die von der Analytischen Wissenschaft unterstellte ontologische Einstimmigkeit zwischen objektiven Strukturen der Gesellschaft und den auf sie angewandten empirischen Kategorien. Für ihn liegt in der Kongruenz deduktiver Hypothesen und empirischer Entitäten ein grundsätzlich zufälliges Moment. Denn eine an den Naturwissenschaften angelehnte Forschungslogik, kann dem diffizilen Gegenstand der Sozialwissenschaften nur unzureichend genügen. Zumal sich das naturwissenschaftliche Forschungsergebnis ausschließlich am Resultat der Analyse bemisst und nicht an dessen Interpretation, wie es in den Sozialwissenschaften unentbehrlich ist. Schließlich bemerkt Habermas, dass subjektive Aussagen, welche auf soziale Normen abheben, empirisch weder wahr noch falsch sein können:

»Jene Urteile beruhen auf Erkenntnis, diese auf Entscheidung. So wenig nun, wie vorausgesetzt, der Sinn sozialer Normen von faktischen Naturgesetzen, oder diese gar von jenen abhängen, so wenig kann der normative Gehalt von Werturteilen aus dem deskriptiven Gehalt von Tatsachenfeststellungen oder gar der deskriptive umgekehrt aus dem normativen abgeleitet werden« (Habermas 1970: 23 f.).

Um den sozialwissenschaftlichen Gegenstand mittels empirischen Methoden erfahrbar machen zu können, bedarf es daher einem vorwissenschaftlichen Verständnis dessen, worin Erkenntnis sich auszudrücken vermag. Jedoch verengt der Szientismus, in seiner methodologischen und methodischen Ausgestaltung, Erfahrung auf indisponible Kategoriensysteme und erklärt auf diese Weise die sozialen Tatsachen aus ihrem eigenen Wesen heraus[9].

2.3 Ein kurzer Exkurs zu den paradigmatischen Kernpunkten des Kritischen Rationalismus nach Karl R. Poppers

Poppers Lehre umfasst folgende Prinzipien: a) die Ansicht, dass vortheoretisches Tatsachenwissen nicht existiert – basierend auf der sokratischen Ironie, wonach das gesellschaftliche Wissensvermögen ständig anwächst und der Forscher damit nichts weiß – und allein praktische Probleme Ausgangspunkt wissenschaftlicher Bemühungen sind, b) der Begriff der Wahrheit, wonach diese in der Gleichförmigkeit von Begriff und Sache zur Geltung kommt und von der Logik der Forschung determiniert wird, c) durch das Falsifikationsprinzip (in Form permanenter Kritik) wird diese Gleichförmigkeit erreichbar, d) welche letztlich in einer deduktiven Forschungslogik (als Operation der Negation) zur Theoriegenerierung beiträgt und sich zugleich auf Explanandum und Explanans bezieht. Charakteristisch für diesen Ansatz ist daher die Kombination aus Kritizismus und Fallibilismus: im Zuge einer kritischen Diskussion sollen bewährte Lösungsstrategien erarbeitet werden, welche jedoch nie in endgültigen Lösungsansätzen münden. Kritisch ist dieser Ansatz nach Meinung Poppers, weil die Prüfung von Hypothesen nicht in der Verifikation, sondern in der Falsifikation gesucht wird (Popper 1992, 1994).

2.4 Das Verhältnis von Theorie und Praxis: Welche gesellschaftliche Stellung besitzt Wissenschaft und inwieweit darf sie überhaupt Stellung beziehen?

Ein weiterer Unterschied lässt sich in der zugestandenen gesellschaftlichen Positionierung des Wissenschaftssystems beider Paradigmenschulen darstellen. Während der Kritische Rationalismus dem Wissenschaftssystem und ihren Methoden eine quasi äußerliche Position bzw. eine Eigenständigkeit vom gesellschaftlichen Ganzen einräumt, betont die kritische Theorie das interdependente Verhältnis von Wissenschaft und Gesamtgesellschaft[10]. Entsprechend muss Wissenschaft, will sie nicht den Ideologien der gesellschaftlichen Verhältnisse einher fallen, sowohl sich als auch ihren Gegenstand kritisch reflektieren. Eine Folge des szientistischen Selbstverständnisses wissenschaftlicher Neutralität, ein weiterer wesentlicher Gegensatz der Kontrahenten, wird im Wertfreiheitspostulat deutlich:

»[…] es gibt rein wissenschaftliche Werte und Unwerte und außerwissenschaftliche Werte und Unwerte. Und […] so ist es eine der Aufgaben der wissenschaftlichen Kritik und der wissenschaftlichen Diskussionen, die Vermengung der Wertsphären zu bekämpfen, und insbesondere außerwissenschaftliche Wertungen aus den Wahrheitsfragen auszuschalten« (Popper 1975: 114).

Insofern sich der Positivist aus einer vermeintlich außerhalb seines Objekts liegenden Position dem Gegenstand nähert, ist es in der Konsequenz durchaus nachvollziehbar, wertfreie Aussagen treffen zu wollen und diese als prinzipiell möglich zu unterstellen[11]. Darauf bezogen sagt Habermas: »[…] das falsche Bewusstsein einer richtigen Praxis wirkt auf diese zurück« (Habermas 1970: 39). Entsprechend findet der Positivist »Zuflucht in der Ontologie« (Adorno 1975: 33); erhebt Deduktionszusammenhänge zwischen Aussagen über die Wirklichkeit und ernennt jene zur wissenschaftlichen Objektivität. Popper begründet seine Theorie wissenschaftlicher Objektivität mittels verschiedener Kategorien: innerwissenschaftlicher Wettbewerb, ständige Überprüfung der Theorien, soziale Institutionen als Rahmenbedingungen der Diskussions- und Publizitätsmöglichkeiten, ein (demokratisches) Verfassungswesen, welches freie Diskussionen gestattet (vgl. Popper 1975: 112). Diese Kriterien stellen für ihn indes eine hinreichende Bestätigung der wissenschaftlichen Objektivierbarkeit empirischer Methoden dar. Das jedoch im Wettbewerbsprinzip ein Konkurrenzverhältnis, innerhalb des demokratischen Gesellschaftssystems Machtfragen und in sozialen Institutionen der kapitalistische Marktmechanismus zur Geltung kommen, bleibt unberücksichtigt. Auch das von Popper in der kritischen Intersubjektivität der Wissenschaftler behauptete objektive Korrektiv der Forschung übersieht die gesellschaftliche Vermittlung wissenschaftlicher Kooperation. Vielmehr beschränkt das Prinzip der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit Erkenntnis allein auf Reproduktion in ihren Methoden. Zumal ein von verschiedenen Forschern als wahr ausgehandelter und damit anerkannter Sachverhalt nicht per se objektiv ist:

»Solche Kleinigkeiten wie zum Beispiel der soziale oder ideologische Standort des Forschers schalten sich auf diesem Wege mit der Zeit von selber aus, obwohl sie natürlich kurzfristig immer eine Rolle spielen« (Popper ebd.: 113).

Jene sozialen »Kleinigkeiten« sind jedoch von besonderer Relevanz, insofern zum einen die Forscher selbst dem sozial-normativen Kanon angehören, wodurch der Forschungsprozess mit dem Lebensprozess verbunden bleibt, und zum anderen knüpfen auch akademische Karrieren an wissenschaftliche Untersuchungen an, was Adorno dergestalt kommentiert:

»[…] als ehrlich gilt, auch in Wissenschaften, vielfach der, welcher denkt, was alle denken, bar der vorgeblichen Eitelkeit, etwas Besonderes erblicken zu wollen, und darum bereit, mitzublöken« (Adorno 1975: 131.

2.5 Ist das Subjekt oder die zu vermittelnde Subjekt-Objekt-Relation Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse?

Dem entgegengesetzt verfährt die kritische Theorie, welche einen anderen Erkenntnisanspruch hegt, als die sozialen Tatsachen kategorial zur Falsifikation zu nötigen. Im Mittelpunkt steht die Kritik an Begriff und Sache, denn es ist an ihr: »der Wahrheit zu folgen, welche die Begriffe, Urteile, Theoreme von sich aus sagen wollen, und sie erschöpft sich nicht in der hermetischen Stimmigkeit der Gedankengebilde« (ebd.: 31). Das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis von Theorie und Praxis wird hierbei deutlich[12]. Da Wissenschaft Produktivkraft und Produktionsverhältnis darstellt, ist sie jenem Zusammenhang verbunden, den sie analysieren will. Entsprechend wird der kritische Impetus nicht durch die Verifizierung oder Falsifizierung von Hypothesen gewährleistet, sondern »geht durchsichtig zum Objekt über« (ebd.: 35). Ein weiteres Festhalten am Wertfreiheitspostulat[13] wird somit unmöglich; die Webersche Dichotomie von Sein und Sollen ist laut Adorno falsch gestellt, insofern sie Zeugnis der verdinglichten Verhältnisse ist und somit (ähnlich wie bei Popper) aus rein forschungslogischen Gründen durchaus nachvollziehbar ist[14]. Mehr noch, ein kritisch-wertendes Vorgehen wird zur theorieimmanenten Voraussetzung für die Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie sich im Allgemeinen und Besonderem abbilden. Die wissenschaftliche Erkenntnissuche muss überdies dem janusköpfigen Wesen der Gesellschaft gerecht werden, wie er sich in der Subjekt-Objekt-Relation darstellt. Als Subjekt umfasst die Gesellschaft die Individuen, welche sie in ihren Bewusstseins- und Organisationsprinzipien konstituieren. Zugleich ist Gesellschaft Objekt, insofern sie kein Gesamtsubjekt besitzt und sprichwörtlich mehr offenbart als die Summe ihrer Teile. Genau darin ist das basale Verständnis der Dialektiker (von Hegel, über Marx bis Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas) zum Geist bzw. zur gesellschaftlichen Totalität begründet: In der Vermittlung des gesellschaftlichen Ganzen, durch die Kohärenz von Objekt und Subjekt, liegt das wcLoç dialektischer Betrachtung[15]. Die Dialektik agiert nicht aus einer äußerlichen Position, sondern sucht das antinomische Verhältnis vom Allgemeinem und Besonderem mittels ihres Verfahrens theoretisch zu erhellen. Indem der Positivismus die Gesellschaft allein anhand von Meinungen und Äußerungen der Subjekte zu bestimmen versucht, reduziert er sie ausschließlich zum Objekt, das von Außen zu betrachten sei[16].

2.6 Inwiefern spiegelt Wissenschaft die verdinglichten Verhältnisse wider?

Der vermeintliche Erfolg des Positivismus, wie er sich in den vielfältigen Forschungsprojekten der quantitativen empirischen Forschung äußert, ist indes der gesellschaftlichen Entwicklung geschuldet. Diese lässt sich als fortwährende Verdinglichung beschreiben, in der schließlich das szientistische Bewusstsein zur adaequatio stilisiert wird. Der Positivismus ist damit ein Destillat der gesellschaftlichen Verhältnisse. Während eine kritische Theorie auf die verdinglichenden Tendenzen hinweist und sie kritisiert (vgl. Horkheimer/Adorno a.a.O.; Fromm 1996; Marcuse 1994), bestätigt und reproduziert der Szientismus diese in seinen Methoden, die nicht kritisch, sondern konformistisch das gesellschaftliche Ganze beschreiben, womit philosophisches Denken: »in affirmatives Denken über [geht]: die philosophische Kritik kritisiert innerhalb der Gesellschaft und brandmarkt nicht-positive Begriffe als bloße Spekulation, Träume und Phantasien« (Marcuse 1970: 186). So tendiere Soziologie in einer positivistisch verkürzten Konzeption zu einem »Hilfsmotor für einen immer weiter um sich greifenden gesellschaftlichen Konformismus« (Sontheimer, zitiert nach Demirovic 1999: 746) zu werden. Schließlich werden die Dialektiker als Metaphysiker karikiert, da diese sich nicht mit sozialen Tatsachen begnügen, sondern auf einen Geist rekurrieren, welcher sich nicht quantifizierbar im Arithmetischen Mittel abbilden lässt. Fernerhin verweist ein polemischer Kommentar Adornos auf die Brisanz der Debatte:

»Der szientistische Erwachsenenspott über „Gedankenmusik“ übertäubt einzig das Knirschen der Rollschränke, in denen die Fragebogen abgelegt werden, das Geräusch des Betriebs purer Wörtlichkeit« (Adorno 1975: 45, Hervorhebungen i.O.).

Die scheinbare positivistische Objektivität der detaillierten Fakten verkennt die unstrukturierte Verbundenheit der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit des Subjekts und apostrophiert die Fakten zu einem organisch Verbundenen und damit zum Objekt, ohne zu beleuchten, worin diese Verbindung besteht, nämlich in der Reziprozität von Subjekt und Objekt, in welcher das gesellschaftliche Ganze den individuellen Sozialcharakter[17] beeinflusst.

Pierre Bourdieu (1993) prägt in diesem Zusammenhang den Begriff des Habitus[18], welcher demnach die ins Subjekt verlängerte objektive Praxis der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt. Die Angleichung der Verhältnisse »an das Ideal zu bestätigender oder zu widerlegender Prognosen« (Adorno 1975: 54) verhindert Aufklärung und schlägt um in Regression. Jedoch obliegt einer kritischen Theorie der Gesellschaft jene Aufklärung, welche die widerspruchsvollen Verhältnisse reflektiert. Die Vernachlässigung des Erkenntniszwecks, wie sie vom Szientismus betrieben wird, zum Vorzug der Mittel der Erkenntnis, ist Kennzeichen der totalen Verdinglichung des Denkens zum Preis ihres Funktionierens bei gleichzeitiger Nichtbeachtung der geschichtlichen Erfahrung:

»Der Vorrang des Objekts bewährt sich daran, daß er die Meinungen des verdinglichten Bewußtseins qualitativ verändert, die mit dem Subjektivismus reibungslos sich vertragen. Dieser tangiert den naiven Realismus nicht inhaltlich, sondern sucht lediglich formale Kriterien seiner Geltung anzugeben […]« (Adorno 1969: 158).

3. Das grundlegende Postulat der kritischen Theorie der Gesellschaft

3.1 Theorieimmanente Ausgangspunkte der kritischen Theorie

Ein grundlegendes Motiv der dialektischen Theorie der Gesellschaft liegt darin, skeptisch gegenüber ihrem Gegenstand und ihrer eigenen Disposition zu sein. Dabei zielt sie auf die Überwindung der gesellschaftlichen Fassade zum Zweck der Darlegung des Realen und potentiell Möglichen ab. Soll soziologische Forschung mehr sein als nur verwaltete Technik oder Vehikel des Wissenschaftsbetriebs, muss ihre Erkenntnis auf die Vorstellung einer aufgeklärten Gesellschaft abzielen; so das Ideal der so genannten Frankfurter Schule:

»Die Erfahrung vom widerspruchsvollen Charakter der gesellschaftlichen Realität ist kein beliebiger Ausgangspunkt sondern das Motiv, das die Möglichkeit von Soziologie überhaupt erst konstituiert. Nur dem, der Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende, wird sie, nach Poppers Sprache, zum Problem; nur durch das, was sie nicht ist, wird sie sich enthüllen als das, was sie ist, und darauf käme es doch wohl in einer Soziologie an […] Der Verzicht der Soziologie auf eine kritische Theorie der Gesellschaft ist resignativ: man wagt das Ganze nicht mehr zu denken, weil man daran verzweifeln muß, es zu verändern« (Adorno 1975: 142, Hervorhebungen i.O.).

Dem gesellschaftlichen Spannungsverhältnis von Allgemeinen und Besonderem ist das Potential der Aufklärung immanent. Dies wird durch die Kontrastisierung und Konfrontation subjektiver Meinungen und objektiver Bedingungen vermittelt. In den sich abzeichnenden Differenzen zwischen dem individuellen Bewusstsein und den sozialen Tatsachen, wird das Moment empirischer Forschung in die Erkenntnis der Gesellschaft offenbar. Letztlich stellen das Wesen, die Genese und die Funktion subjektiver Ideologien den Referenzpunkt der Sozialforschung dar und nicht allein die Abstraktion des Seienden[19]. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und das ihnen immanent kollektiv Unbewusste können allein in der Vermittlung[20] von Objekt und

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Subjekt transparent gemacht werden. Eben darin ist die Verbindung von philosophischer Theorie und empirischer Praxis zu betrachten, wie sie der kritischen Theorie zuteil wird, und worin der Positivismus sie als metaphysisch etikettiert. Dies ist umso bedeutsamer, als dass sich die Totalität in den demokratisch verfassten Industrienationen nicht in Gestalt direkter Herrschaft präsentiert, sondern gleichsam als natürliche Verhältnisse den Subjekten gegenübertritt. Somit kommt die Ideologie:

»nicht mehr nur im falschen Bewußtsein [zum Audruck, M.T.], sondern hat sich […] in die Tatsachen zurückgezogen, also in das statistisch prognostizierbare Verhalten großer Kollektive. Machtkonform tun alle das, was ihrer Erwartung nach alle anderen tun; nicht durch Kommando oder Befehl, sondern durch die Schwerkraft der Lebensverhältnisse legt Herrschaft fest, was alle tun« (Demirovic a.a.O.: 754). Eine sozialwissenschaftliche reductio ad hominem hypostasiert das Subjekt, verdinglicht zugleich das Undingliche, und verklärt das Objekt, dessen Wesen im gesellschaftlich Unwahren sich ausdrückt. In der Hypostasierung, welche Gesellschaft als Agglomerat der Subjekte verkürzt, münden die Vielgestaltigkeit der sozialen Tatsachen und die herrschaftlichen Interessen in verschleierten Verhältnissen, welche letztlich durch die szientistische Betonung des Seienden nicht aufgeklärt oder gar überwunden werden können. Es bleibt indes zu bemerken, dass Adorno die totale Vergesellschaftung der Subjekte nicht realisiert sieht; jedoch konstatiert er fortschreitende Tendenzen der Entsubjektivierung, welche den zivilisatorischen Gang der Menschengattung bestimmen (siehe Adornos magnum opus der Negative[n] Dialektik, GS Bd. 6).

An dieser Stelle möchte ich explizit auf Adorno eingehen, dessen Werk sicherlich nicht auf zwei Sätze zu reduzieren ist, jedoch eben die wohl berühmtesten Reflexionen als konzentrischer Schwerpunkt seines Œeuvre gelten können: »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen« (GS Bd. 4: 43) und »Das Ganze ist das Unwahre« (GS Bd. 4: 55) spiegeln in pointierter Weise die grundlegenden Ausgangsprädikate der kritischen Theorie wider. Darüber hinaus finden beide Aussagen ihre Synthese in Adornos Satz: »Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles« (GS Bd. 6: 391); Adorno bleibt somit dem utopischen Ideal seines normativen Gesellschaftsbegriffs verhaftet (vgl. Behrens 2003).

Verhältnisse sich als natürliche Verhältnisse dem Subjekt offenbaren. Jedoch ist ihnen ein negatives Moment, durch Adornos normativ besetzten Gesellschaftsbegriff, unterstellt. Demnach unterwirft sich das Subjekt unbewusst den gesellschaftlichen Verhältnissen und verkennt damit die eigene Potentialität der Veränderung: »Es gibt nichts unter der Sonne, aber wirklich nichts, was nicht dadurch, daß es vermittelt ist durch menschliche Intelligenz und durch menschliches Denken, eben auch zugleich gesellschaftlich vermittelt wäre« (Adorno 1993: 32).

Die Reflexion jener Verhältnisse nötigt daher zum dialektischen Denken, welches durch die Anschauung des wechselseitigen Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt gekennzeichnet ist. Dies geschieht in der empirischen Sozialforschung, deren Wichtigkeit Adorno (1993: 46) und Habermas (1970a: 39) stets betonen, nicht durch die starre Anwendung der Methoden, sondern allein durch den Rückbezug auf die eigene Erfahrung, welche den Forschungsprozess durchdringt und damit anleitet. Eine Abwertung des analytischen Denkens wird weder von Habermas noch von Adorno verfolgt, vielmehr wehren sie sich gegen den hegemonialen Anspruch des Szientismus, als einzige Repräsentationskraft sozialwissenschaftlicher Methodik aufzutreten[21]. Dass sich der Begriff der Gesellschaft nicht faktisch explizieren lässt, sondern durch die Aufhellung der Widersprüche Relevanz erfährt, ist Substrat dialektischen Verständnisses. Dies ist orientiert am Marxschen Kernspruch, wonach der Mensch seine Geschichte macht[22], und die kritische Sozialforschung daher auf die Veranschaulichung der Vermittlung von Subjekt und Objekt abhebt:

»Dafür jedoch, wie die Zukunft konsumiert wird, um die es dem kritischen Denken zu tun ist, gibt es keine solchen Beispiele« (Horkheimer 1988: 191).

»Es soll verstehbar werden, daß die Tatsachen des sozialen Lebens durch die Geschichte und Praxis der Menschen vermittelt sind. Würden die Menschen dies begreifen und die gesellschaftlichen Verhältnisse als die ihren verstehen und deuten, so würden sie sie mit dem Ziel des vernünftigen Zusammenlebens aller gestalten. Der kritisch-theoretische Empiriker ist Avantgardist […]« (Demirovic a.a.O.: 756).

Da jedoch eine empirische Erforschung des kollektiv Unbewussten nicht möglich ist, aufgrund der janusköpfigen Unbestimmtheit der Gesellschaft, muss die Sozialforschung das gesellschaftliche Selbstverständnis zum analytischen Gegenstand erheben, damit sie nicht zum Selbstzweck wird, d.h. ohne Beziehung auf das, womit sie sich auseinandersetzt, denn eine Vorstellung »von einer Soziologie, die nichts anderes sein will als nur Soziologie, ist eine fetischistische Vorstellung« (Adorno 1993: 214). Adorno verfolgt deshalb drei wesentliche Grundsätze hinsichtlich der angesprochenen Veranschaulichung: Erstens die (geschichtsphilosophische) Analyse der gesellschaftlichen Bewegungsgesetze, zweitens die Beschreibung der kollektiv unbewussten Verhältnisse[23], welche gleichsam natürliche erscheinen, und drittens die Abweichung zwischen Wesen und Erscheinung darzulegen (vgl. Adorno 1993: 46 f.). So ist beispielsweise die Analyse des Tauschverhältnisses, welches in der kapitalistischen Gesellschaft das durchdringende Prinzip gesellschaftlicher Teilhabe und der vulgärmaterialistischen Vergesellschaftung darstellt, für die kritische Darstellung der Interdependenz von Subjekt und Objekt unverzichtbar, zumal in der: »Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen« (Adorno GS Bd. 8: 14).

Damit wird deutlich, dass die subjektiven Lebensweisen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert sind und nicht zufällig Plausibilität entfalten[24] ; ebenso, dass Gesellschaft nicht gegenständlich, sondern vermittelt zur Geltung gelangt. Diesen Umstand hat das Frankfurter Institut für Sozialforschung in mehreren berühmt gewordenen interdisziplinär angelegten Studien, wie bspw. Autorität und Familie (1936) oder The Authoritarian Personality (1950), zu untersuchen versucht.[25]

3.2 Welche Divergenz wird zwischen den theoretischen Implikationen und der praktischen Realisierung in den Studien der alten kritischen Theorie deutlich?

In Anlehnung an die beschriebenen philosophischen Ausarbeitungen der kritischen Theorie, verknüpften sich direkt empirische Untersuchungen, welche die hehren Ziele – Aufklärung und Überwindung des kollektiv Unbewussten durch radikalisierte Reflexion, mittels theoretischer und reflexiver Sozialforschung – auch in empirischer Arbeit verwirklichen sollten. Dass jedoch eine solch konzeptualisierte gesellschaftstheoretische Erforschung der sozialen Tatsachen auch veränderter Methoden bedarf, wurde indes nicht reflektiert. Hieran richtet sich folglich die Kritik an der Frankfurter Schule. Wie zum Beispiel unbewusste Autoritätsstrukturen, in der bereits erwähnten Studie über Autorität und Familie, analysiert werden können, bleibt von Horkheimer oder Fromm unbeantwortet. So weisen die empirischen Erhebungsmethoden in der betreffenden Studie vielmehr auf eine Tatsachenforschung hin, in der über die unbewussten Triebstrukturen der Befragten nicht aufgeklärt wird, sondern diese werden durch vorurteilsvolle und geschlossene Typenbildung lediglich methodisch reproduziert. Durch die quantitative Auswertung des Datenmaterials und die sich daran anschließende Verifizierung oder Falsifikation der gesellschaftstheoretischen Theoreme, welche im Zuge der Studie zu Hypothesen objektiviert wurden, kommt Gerhard Stapelfeldt zur Einsicht, dass sich die Dialektiker dem Kritischen Rationalismus durch ihr methodisches Vorgehen annähern. Die Trennung zwischen Theorie und Empirie, Wissenschaftler und Untersuchungsgegenstand, Subjekt und Objekt, wie sie aus philosophischer Perspektive einer kritischen Theorie überwunden werden soll, kommt in der empirischen Forschung nicht zur Realisation. Das interdisziplinäre Programm, welches die Bezugnahme psychoanalytischer Aspekte vorsieht, wird auf theoretischem Gebiet verwirklicht, in der praktischen Forschung hingegen kaum rezipiert:

»So steht die Qualität des empirischen Materials der Studien hinter jener des theoretischen Teils weit zurück. Beide widersprechen einander vielmehr: Der „Charakter“, der die empirische Forschung betrieb, ist der „autoritäre Charakter“. […] Durch diesen methodischen Ansatz spricht der empirische Forscher Adorno, der als Sozialphilosoph wie kaum ein Gesellschaftstheoretiker nach Marx die Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse kritisierte, die Sprache der Verdinglichung« (Stapelfeldt 2004: 194f., Hervorhebungen i.O.).

Es bedarf daher einer reformierten Ausarbeitung der kritischen Theorie, um die dargebotenen Widersprüche aufzulösen. Hierbei wird sich allen voran der von Horkheimer als zu links empfundene und daher zur Habitulation bei Adorno abgelehnte Habermas hervortun (vgl. Wiggershaus 1991) und das paradigmatische Erbe der aus Nazideutschland in die Emigration vertriebenen durchweg jüdischen Wissenschaftler des Instituts für Sozialforschung aufnehmen und von dessen resignativen Tendenzen befreien.

4. Jürgen Habermas als Protagonist der neuen kritischen Theorie

4.1 Die kommunikationstheoretische Wende der Dialektik der Aufklärung, hin zu einer neuen kritischen Theorie der Gesellschaft

Anders als Adorno oder der gesamte Horkheimer-Kreis26, kann Habermas, als Theoretikerder kritischen Öffentlichkeit [27] (Habermas 1998, 1995a) und Vertreter einer empathischen Praxis politisch-ethischen Handelns (Habermas 2003, 2001, 1996), die Kritik gegenüber Popper aufgrund seiner theoretischen Konzeption fortführen und im Vergleich zu dem eher halbherzig gebliebenen Beitrags Adornos, erhärten. So fasst Habermas den Kritischen Rationalismus als Relativierung des Positivismus auf, welcher sich wiederum durch die Radikalisierung seiner pragmatischen Motive auszeichnet. Dem stellte Habermas einen dialektisch orientierten Forschungstypus entgegen, welcher die verabsolutierte technische Rationalität des Empirismus und Kritischen Rationalismus, durch ihre kulturelle Überformung zu vermitteln sucht und im Rahmen einer Soziologie als Verhaltenswissenschaft angesiedelt ist. Als Verhaltenswissenschaft ist die Soziologie nicht an nomologischen Erklärungssätzen – verstanden als die Fähigkeit, wahre Aussagen oder richtiges Handeln auch argumentativ begründen zu können – als öffentliche Vernunft markieren soll, wird von Habermas indes demokratietheoretisch und philosophisch beschrieben und grenzt sich damit gegen eine einseitige Erläuterung der Objektivität politischer Willensbildung ab (vgl. Wingert/Günther 2001). Hatten Marx und die an ihn anknüpfenden Apologeten in der proletarischen Revolution das wesentliche Moment der Abschaffung bürgerlicher Demokratieideale vermutet, mussten sie, wie etwa Rosa Luxemburg anhand der russischen Revolution, über den Umstand erschrecken, dass sie mit ihrer Kritik der russischen Revolution, gerade demokratische Ansätze zu verwirklichen suchten: »Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste Demokratie, öffentliche Meinung. […] Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in dem die Bürokratie allein das tätige Element bleibt« (Luxemburg, zitiert in Wellmer a.a.O.: 133). Gegen eine total verwaltete Gesellschaft wendeten sich auch Adorno und Horkheimer, jedoch unter anderen Vorzeichen als schließlich Habermas, der der regressiv-pessimistischen Geschichtsphilosophie der älteren kritischen Theorie mittels der so genannten Diskurstheorie entsagt. Ebenso tritt Dahrendorf als vehementer Verfechter einer Bürgergesellschaft auf, ohne jedoch auf die verinnerlichte Loyalität der Individuen gegenüber der politischen Verfassung zu setzen, wie Habermas (1992b) den von ihm beschriebenen Begriff des Verfassungspatriotismus umschreibt. Dahrendorfs Ansatz bezieht sich vielmehr auf: »[…] daß die Stärkung der autonomen Organisationen, Assoziationen und Institutionen die Kernaufgabe moderner Staaten und ihrer Bürger ist« (Dahrendorf 1996: 204). von Ereigniskonstellationen, wie es dem erfahrungswissenschaftlichen Ideal des Szientismus gerecht wird, interessiert, sondern begreift sich als verstehend- deutender Weg des sozial-historischen Kontexts. Dabei wendet sich Habermas von der Bewusstseinsphilosophie der alten kritischen Theorie ab und setzt seine theoretischen Ausführungen in einen sprachphilosophisch überformten Rahmen[28].

4.2 Theorie und Praxis: Habermas und das Moment des Sozialen

Habermas behauptet indes, dass der Positivismus als Wissenschaftsmethode, durch seine methodisch verkürzten Verallgemeinerungsstrategien, den Blick für diverse Erkenntnisinteressen verstellt. Denn indem die positivistischen Methoden allein auf technische Fragen (die Naturbeherrschung) rekurrieren und diese als strikt erfahrungswissenschaftlichen Gegenstand einer allgemein gültigen Forschungslogik explizieren, werden bspw. nicht-technische Fragen (praktischer oder emanzipatorischer Lesart) aus dem wissenschaftlichen Forschungsbereich ausgeklammert. Das positivistische Denken verkennt somit alternative Formen der Handlungs- und Lebensäußerung. Eine einseitige Orientierung am instrumentellen Handeln und materieller Reproduktion übersieht die Notwendigkeit, den sozialen Zusammenhalt qua kommunikativen Aushandelns stets zu festigen und darüber hinaus eine individuelle Identität auszubilden (hierbei wird der enge Bezug des Habermasschen Denkens zur Konzeption Meads offenbar; siehe Fußnote 17).

4.3 Ein kurzer Exkurs zur Kritik an Adorno und Michel Foucault

Auch Adorno (GS Bd. 6) bezog sich ausschließlich auf die Sphäre der Naturbeherrschung und ihrer Folgen, in der Konsequenz, dass für ihn die administrativen Zwänge, wie sie in den Verhältnissen mittelbar zu Geltung kommen, das maßgebliche Medium des sozialen Zusammenhalts, qua unbewusster gesellschaftlicher Unterdrückung und verinnerlichter Assimilation, darstellen. Ebenso Foucault (2005, 2003a), dessen Diskursbegriff, wonach Diskurse den »Wenn >Versöhnung< und nicht >Verständigung< als die normative Grundintention der kritischen Theorie verteidigt werden soll, dann vertritt die »Negative Dialektik« mehr denn je eine relevante Position« (Thyen: 1989: 9, Hervorhebungen i.O.). gesellschaftlichen Zusammenhalt unter dem Einfluss von Machtkonstellationen stiften, auf subjektfreie und intentionslose sprachliche Ergebnisse zurückführt. Die getroffenen Aussagen, welche Diskurse herstellen und das gesamte Feld kulturellen Wissens ausdrücken, besitzen indes keine grundlegenden Gemeinsamkeiten, sondern sind zufällige und lose Verbindungen, welche allein durch sprachliche Regeln geleitet werden. Die dadurch bezeugte Elimination des Subjekts, welches nicht mehr Initiator von Handlungsverläufen, sondern ausschließlich Betroffener von prinzipiell nicht mehr hinterfragbaren (sprachlichen) Ereignisketten und linguistischen Imperativen wird, mündet in der Abkehr vom Menschen (und damit gleichbedeutend vom Sozialen) und der Zuwendung zu Dokumenten und Artefakten im foucaultschen Ansatz (vgl. Honneth 1989: 113ff.).

Demgegenüber zeichnet sich der Habermassche Ansatz durch seine Hinwendung zur sprachlichen Kommunikation oder linguistic turn aus[29]. Diese ist das äquivalente Medium gemeinsamer Handlungs- und Wertorientierung, welche wiederum notwendig sind, um die kulturelle (gesellschaftlicher Wissensvorrat), kollektive (Sozietät einer sozialen Welt) und subjektive (Autonomisierung des Ich in der subjektiven Welt) Reproduktion zu gewährleisten:

»Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten« (Habermas 1995b, Bd. 2: 208).

Die Sphäre des kommunikativen Handelns, ist jedoch durch das positivistische Postulat des strikt erfahrungswissenschaftlichen Vorgehens, nicht zu erklären. So kann Habermas bspw. das so genannte Basisproblem überwinden, indem er die von Popper präferierte Methode der konsensorientierten Prüfung einer Untersuchung, die dem Intersubjektivitätsanspruch gerecht wird, als gesellschaftlich verformten Akt sozial normierter Verhaltenserwartungen darlegte. Die Frage des Werturteilspostulats wird von ihm mit anthropologischen Argumenten beantwortet, wonach die Analytische Wissenschaft Teil und Wesensmerkmal des gesellschaftlichen Reproduktionsverfahren ist, gar in ihrer Funktion der Reproduktion erst ihren Wesenskern findet. Eine grundlegend wertfreie Wissenschaft scheint daher obsolet und öffnet die Perspektive für einen anderen sozialwissenschaftlichen Typus, wie er von Habermas in einem transzendentalen Bezugsrahmen formuliert wird.

Dabei greift er verschiedene wissenschaftliche Anhaltspunkte unterschiedlichster Prägung auf und variiert diese zu seiner theoretischen Konzeption. Bei Edmund Husserl lehnt er sich an dessen Lebensweltkonzept an, Hans-Georg Gadamer und Martin Heidegger eröffnen ihm die Relevanz der Sprache als Existenzbedingung der menschlichen Gattung, bei Arnold Gehlen orientiert er sich an dessen Handlungskonzept. Er bezieht sich überdies auf Hannah Arendt und ihre Ideen zur Beziehung von Technik, Praxis und Theorie und schließlich übernimmt er Adornos und Horkheimers kritischen-marxistischen Ansatz (vgl. Wiggershaus a.a.O.: 628 f.).

4.4 Erkenntnis und Interesse: Die Logik der Forschung

Seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen (Habermas 1991a, 1974, 1968) münden schließlich in einer dreifachen kategorialen Bestimmung, in welcher er einen Zusammenhang zwischen methodisch-logischen Grundsätzen und erkenntnisleitenden Interessen feststellt, welche sich in einem transzendentalen Rahmen manifestieren. Den empirisch-analytischen Wissenschaften unterstellt er ein technisches Interesse, welches den Gegenstand anhand verdinglichter Prozesse via deduktiver Forschungsmethoden analysiert und mit der Verfügbarkeit der Natur korrespondiert. Die historisch-hermeneutischen Wissenschaften untersuchen hingegen den Gegenstand durch induktive Verfahren des Sinnverstehens; ihnen ist damit ein praktisches (jedoch kein kritisches) Interesse immanent, wobei sie auf das intersubjektive Verstehen des Gegenstands abzielen. Den kritisch orientierten Wissenschaften unterstellt er folglich ein emanzipatorisches Interesse an der Überwindung kollektiv unbewusster Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse; dies unter Bezugnahme kognitiv-verstehender Methoden, welche das Subjekt zur Selbstreflexion, mit dem Ziel der Etablierung eines Zustandes zwangloser Rede, anleiten sollen:

»Denn die Abhängigkeit dieser Ideen und Interpretationen von den Interessenlagen eines objektiven Zusammenhangs der gesellschaftlichen Reproduktion verbietet es, bei einer subjektiv sinnverstehenden Hermeneutik zu verharren; eine objektiv sinnverstehende Theorie muß auch von jenem Moment der Verdinglichung Rechenschaft geben, das die objektivierenden Verfahren ausschließlich im Auge haben« (Habermas 1970: 24).

Methodologisch grenzt sich Habermas daher sowohl von Webers Objektivismus einer allzu streng verfahrenden Verhaltenswissenschaft ab, als auch vom Idealismus der Hermeneutik, welche nicht kritisch sondern konstatierend verfährt[30]. Entgegen dem Universalismus der Systemtheorie sieht Habermas nicht die Reduktion von Komplexität als zentrales Moment der Sozialwissenschaften, sondern die kritische Analyse der vergesellschafteten Individuen und ihre über sprachliche Kommunikation vermittelte lebensweltliche Integration. Überdies wendet sich Habermas gegen das geschichtsphilosophische Erbe des hypostasieren von Subjekten in »Großformat«, wie es bspw. in der Auseinandersetzung zwischen Proletariat und Bourgeoisie im Historischen Materialismus zum Ausdruck kommt (vgl. Habermas 1974: 17 f.).

Der transzendentale Rahmen, auf den der wissenschaftliche Weltbezug sich also bezieht und der vor allem das emanzipatorische Interesse leitet, wird von Habermas nun durch seine konzeptionelle Hinwendung zu einer sprachtheoretisch gestützten Theorie des kommunikativen Handeln (Habermas 1995b) festgelegt. In der sprachlichen Kommunikation wird der Mensch der Natur enthoben; in der strukturellen Ordnung der Sprache werde Mündigkeit vorweggenommen und dem Menschen a priori die Fähigkeit zum konsensorientierten Handeln geboten, denn mit dem: »ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen« (Habermas 1968: 163). Das von Habermas vertretene Selbstverständnis des gattungsspezifischen Fortschritts drückt sich daher in der Befreiung des Menschen von einer alles durchdringenden Dienstbarkeit der Kausalität aus (vgl. Giddens 1984). Ein herrschaftsfreier Dialog oder die Idee des ungezwungenen Konsensus [31] individueller und gesellschaftlicher Akteure, als Kennzeichen einer emanzipierten Gesellschaft, wird hierbei als Ideal angezeigt, und gleichzeitig die Idee der Vernunft als grundlegender Maßstab der Gesellschaftskritik ausgemacht. Die erkenntnistheoretische Begründung einer kritischen Gesellschaftstheorie, expliziert Habermas demzufolge durch den Begriff der erkenntnisleitenden Interessen [32] , welcher als Brücke zwischen seiner Handlungstheorie, welche er anthropologisch ansetzt, und seiner Analyse gesellschaftlicher Rationalitätstendenzen, fungiert. Der regelgeleitete öffentliche Diskurs übernimmt entsprechend (idealtypisch) eine spiegelbildliche Funktion, indem er die Diskrepanz zwischen dem, was wahr ist und dem, was wir für wahr halten, anhand von objektiven Kriterien angibt. Die Objektivität dieser Kriterien wird indes durch die prüfende Urteilsfindung der am Diskurs Beteiligten gewährleistet (vgl. Wingert/Günther 2001)[33].

4.5 Kommunikatives Handeln: Das Fundament des Sozialen

Jene von Habermas ausgearbeitete so genannte neue kritische Theorie (kommunikationstheoretischer Couleur), geht daher über die alte kritische Theorie Adornos und Horkheimers, welcher er einen pessimistischen und resignativen Wesenszug bezeugte[34], hinaus, zumal diese von beiden explizierte Geschichtsphilosophie »gibt einen katastrophischen Blick auf ein bis zur Unkenntlichkeit entstelltes Verhältnis von Geist und Natur frei« (Habermas 1995b, Bd.1: 509). Während Adorno und Horkheimer sich an einer geschichtsphilosophisch dargelegten utopischen Illusion der Versöhnung mit Natur klammern, sieht Habermas ein Moment der Überwindung gesellschaftlicher Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse, durch das Vermögen der Menschen zu einem herrschaftsfreien Dialog fundiert. Allein eine Analyse des interdependenten Verhältnisses von individueller Triebstruktur und ökonomischer Reproduktion (beide im Lichte ihrer kulturellen Prägung), ohne Betrachtung von integrativen- und konfliktorischen Wesensmerkmalen der Gesellschaft, übersieht eine Theorie der Gesellschaft das soziale Moment, welches schließlich Habermas aufnimmt[35]. Zumal Horkheimer und Adorno, ganz im Lichte der bürgerlichen Sozialphilosophie, die zumal Luhmann eher den Dissens als grundlegendes Moment sozialer Beziehungen wahrnimmt:

»Moralische Perspektiven dienen unter diesem Gesichtspunkt der Generalisierung von Konflikten, denn wenn jemand schon schändlich ist, dann ist er das natürlich in jeder Beziehung […]« (Luhmann 2002: 337). Moral, welche er als »fluides Medium« begreift, setzt vielmehr nur dort an, wo die Funktionssysteme ihm eine Funktion zusprechen (vgl. Luhmann 1989: 433). Es lassen sich grob drei wesentliche Unterscheidungskriterien zwischen den beiden Theorien feststellen. Während für Habermas die Lebenswelt als Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und System fungiert, sieht Luhmann Gesellschaft und Individuen in sozialen Systemen diversifiziert: »Auch das Sozialsystem Gesellschaft und auch das Sozialsystem Wissenschaft sind nur sich selbst konditionierende autopoetische Systeme besonderer Art« (Luhmann 1987: 655). Habermas verwendet einen normativen Gesellschaftsbegriff, wohingegen Luhmann einen funktionalen Begriff von Gesellschaft und letztlich auch von Wissenschaft: »Die Praxis der Theorie ist durch das Gebot der Enthaltung von Werturteilen nicht ausreichend charakterisiert. Sie ist ebenso wenig durch die entgegengesetzte These der Unvermeidlichkeit von Werturteilen zu beschreiben« (Luhmann 1991: 254) hegt. Letztlich sieht Luhmann prinzipiell einen Dissens zwischen den sozialen Systemen begründet, während Habermas einen auf Konsens gerichteten Kommunikationsprozess unterstellt. individuelle Reproduktion anhand zweckrationaler Interessenverfolgung nachzeichnen, stilisieren sie die subjektive Vernunft ausschließlich zu Funktionen von Erkenntnis (im Sinne einer scheinbar aufgeklärten Dispensation von metaphysischen Zwängen[36] ) und Selbsterhaltung und weisen sie damit als instrumentelle Vernunft aus (Adorno 1997, Bd.4; Horkheimer 1990)[37]. Habermas reduziert indes die individuelle Reproduktion nicht nur auf Naturbeherrschung und Erkenntnis, sondern betont ebenso die Notwendigkeit intersubjektiver Verständigung. Daher verschiebt sich für ihn der Fokus von der kognitiv-instrumentellen zur kommunikativen Rationalität:

»Für diese ist nicht die Beziehung des einsamen Subjekts zu etwas in der objektiven Welt [...] paradigmatisch, sondern die intersubjektive Beziehung [...] wenn sie sich miteinander über etwas verständigen« (ebd.: 525).

Mit der Einführung der beiden Modi des instrumentellen und kommunikativen [38]

Handelns, welche die materielle und soziale Reproduktion sicherstellen, wird daher

4.6 Die Sphären der gesellschaftlichen Reproduktion: Lebenswelt und System

Um dieses Phänomen heuristisch beschreiben zu können, führt er die Trennung zweier komplementärer Bestandteile der gesellschaftlichen Entität ein: eine intentional-kommunikativ verfasste Lebenswelt und ein in ihr eingebettetes funktional strukturiertes System. Über spezifische Steuerungsmedien wird die verschränkte gesellschaftliche Entität der Gleichzeitigkeit von System und Lebenswelt (zum gesellschaftlichen Ganzen) sichtbar. Im (sub-)systemischen Kontext (politisches-, wissenschaftliches-, ökonomisches- und administratives System) wirken die Steuerungsmedien Geld und Macht. Beide sind als entsprachlichte Kommunikationsmedien zu begreifen. In der Lebenswelt hingegen wirken symbolisch-sprachliche Kommunikationsmedien, wie bspw. die Umgangssprache, die die lebensweltlichen (strukturellen) Komponenten Kultur (kulturelle Reproduktion), Gesellschaft (soziale Integration) und Person (Sozialisation), zusammenfassen. Die Lebenswelt stellt demnach ein »Reservoir von Selbstverständlichkeiten« dar, welche die Interaktionsteilnehmer zum Zwecke »kooperativer Deutungsmuster« (Habermas 1995b, Bd. 2: 189) gebrauchen und durch ihre sprachliche Kommunikation, welche in kulturell konservierter Überlieferung auftritt, stets reproduzieren – ohne sie jedoch zu thematisieren. Dabei unterstreicht Habermas, dass die Lebenswelt nicht per se als Gesellschaft identifiziert werden kann, sondern sich als unhintergehbarer Verweisungskontext darbietet. Gesellschaft konstituiert sich vielmehr durch die mannigfaltigen Verbindungen kommunikativer Kooperationen, jedoch nicht außerhalb, sondern innerhalb des lebensweltlichen Kontextes, wonach: »[die] Lebenswelt, die die Angehörigen aus gemeinsamen kulturellen Überlieferungen konstruieren, ist mit Gesellschaft koextensiv« (ebd.: 224).

[...]


[1] Um die folgende Ausarbeitung in ihrer Argumentation pragmatisch begründen zu können, gilt es an dieser Stelle den Diskussionsrahmen der Überlegungen deutlich einzukreisen. So zeichnen sich die angesprochenen Wissenschaftstheorien durch ihren abstrakten und allgemeinspezifischen Gehalt aus. Sie verweisen demnach nicht auf Detailzusammenhänge, sondern dienen dazu, die grundlegenden Verweisungszusammenhänge zu umrahmen. Jene Aussagegefüge, welche sich aus der Interpretation der Ergebnisse im empirischen Teil der Arbeit ergeben, stellen demgegenüber gegenstandsbezogene theoretische Annahmen dar. Darüber hinaus werden unter methodologischen Aspekten alle jene Elemente subsumiert, welche die einzelnen Forschungsschritte, im Lichte der wissenschaftstheoretischen Prämissen, beschreiben. Methoden bezeichnen schließlich die konkreten Verfahren des Zugangs zum Untersuchungsfeld. Der Diskussionsrahmen lässt sich metaphorisch dergestalt verdeutlichen: Die gegenstandsbezogene Interpretation des Materials kann als unvollendetes Gemälde gedacht werden, welches der Forscher mit einer speziellen Brille, je nach wissenschaftstheoretischer Couleur, malt und anschaut. Die Farbe, Dicke und Form der Gläser verändert indes das Aussehen des Gemäldes. In welcher Weise dieses Bild nun gemalt wird, entscheidet die jeweilige (methodologische) Stilrichtung des Malers. Zudem beeinflussen auch die benutzten Utensilien (Methoden), also die Farben und Pinsel, die Gestaltung des Bildes im Gesamtprozess.

[2] Baumgarten (1999), Carrier (2006), Draken (2005), Konegen/Sondergeld (1985), Opp (2002), Schurz (2006)

[3] Adorno (Hrsg.) (1975), Dahms (1998), Habermas (1970), Popper (1992), Ritsert (1996)

[4] Es muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der kritischen Theorie zunächst nicht als allgemeine Bezeichnung oder programmatische Denkrichtung gängig war. Weder bezieht sich diese definitorisch anmutende Labelierung auf einen klar eingegrenzten Personenkreis von Wissenschaftlern, noch kann damit ein homogen ausgearbeitetes forschungsspezifisches Gedankengebäude betituliert werden. Vielmehr etablierte sich der Begriff und damit das Label – nun als Kritische Theorie (mit großem K) oder auch als »Frankfurter Schule« – innerhalb des wissenschaftlichen Kanons, erst im Zuge der Protestbewegungen der 1960er Jahre. Die damit verbundenen Implikationen, bspw. zum Zwecke akademischer Positionierung, widerstreben jedoch eher den Absichten einer kritischen Theorie, die sich gerade gegen jedwede Form des definitorischen Imperativs wendet (vgl. Behrens 2007).

[5] Der Begriff des Szientismus wurde von Adorno aufgegriffen, um den »allzu belasteten Ausdruck [des Positivismus, M.T.] auszutauschen durch einen, der allenfalls für Popper akzeptierbar wäre« (Adorno 1975: 9), wodurch ihre Verwendung im Folgenden synonym gebraucht wird. Überdies ist festzuhalten, dass Popper sich selbst nie als Positivist betrachtete. Mehr noch, er wendete sich in direkter Auseinandersetzung mit seinem Ansatz des Kritischen Rationalismus gegen den Logischen Positivismus des so genannten Wiener Kreises, welcher sich durch die Verknüpfung von Empirizismus und neuer Logik hervortat und die Bestimmung eines antimetaphysischen Sinnkriteriums, zum Zweck der Abgrenzung von Metaphysik und Wissenschaft, suchte (vgl. Habermas 1992c; Kaucic 1989; Stadler 1997). Zumal Popper, durch den von ihm zugestandenen Vorrang der Theorie gegenüber der Empirie, welche allein eine korrektive Funktion zugesprochen bekam, der kritischen Theorie näher stand, als etwa den Positivisten. Jedoch grenzt ihn vor allem die Betonung des naturwissenschaftlichen Wissenschafts- und Erkenntnisfortschritts gegenüber den Dialektikern ab. An dieser Stelle ist nun darauf hinzuweisen, dass die vielfältigen Bezeichnungen der jeweiligen sozialwissenschaftlichen Paradigmen- bzw. Lehrschulen, wie bspw. kritische Theorie, Frankfurter Schule, Kritischer Rationalismus, Positivismus, Analytische Wissenschaft und dergleichen, im üblichen Kanon ihres wissenschaftlichen Gebrauchs verwendet werden und somit einer näheren Beschreibung nicht bedürfen (vgl. hierzu Acham 1983).

[6] Hinsichtlich der Kategorie Kritik und deren Verwendung grenzt sich Michel Foucault und dessen konzeptionelle Zentrierungen auf die Frage von Machtambivalenzen, sowohl von der kritischen Theorie als auch vom Positivismus, dezidiert ab. In der Tradition Kants, wonach für den Königsberger Philosophen Wissen in etwa dem nahe kommt, was Foucault unter Kritik versteht, kreist Foucaults Kritikbegriff nicht um Legitimitätsprüfung geschichtlicher Erkenntnisweisen, wie etwa bei Habermas.

[7] Die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft, wird im Kontext der kritischen Theorie indes durch die dialektische Position Hegels und den Historischen Materialismus Marxens her intendiert. Es bleibt anzumerken, dass die Rede von der Dialektik, die Vielzahl unterschiedlicher dialektischer Konzeptionen übersieht. So konstatiert Ota Weinberger vier grundlegende Bedeutungstermini: »1. In der Antike war es eine Bezeichnung für die Kunst, zu diskutieren; 2. war es bei Aristoteles ein Name für Logik des Wahrscheinlichen […]; 3. Kant bezeichnet mit diesem Terminus natürliche aber trügerische Schlüsse; 4. bei Hegel […] ist Dialektik »die eigene wahrhafte Natur der Verstandesbestimmung, der Dinge und des Endlichen überhaupt«« (Weinberger, in Topitsch 1993: 279). Das einzig verbindende Moment der dialektischen Positionen sieht Weinberger in der Überzeugung, die soziale Wirklichkeit mittels der dialektischen Methode adäquater erschließen zu können, als es der szientistischen Einheitsmethode möglich ist.

[8] Der hier angedeutete Begriff der Verdinglichung des Subjekts besitzt eine lange Theorietradition. Ausgehend von den geschichtsphilosophischen Arbeiten Giambattista Vicos (Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, 2000) und Georg W.F. Hegels (Phänomenologie des Geistes), bezeichnet schließlich Karl Marx (MEW 1964, Bd.25) ein Phänomen, wonach die gesellschaftlichen Verhältnisse, aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise (konkret durch die Entfesselung der Tauschrationalität in der bürgerlichen Gesellschaft), den Individuen als unveränderbare (dinghafte) Gestalt sui generis gegenübertreten. Eine Folge dieser Verdinglichung ist die Akzeptanz der Unterdrückung seitens des Proletariats, welches nicht aufbegehrt und sich den benachteiligenden Verhältnissen schicksalhaft fügt. Adorno und Horkheimer greifen diesen Gedanken, in Anlehnung an Georg Lukács (1986), später auf (Dialektik der Aufklärung, 2004) und beschreiben den Umschlag von Mythos in Aufklärung und den Rückfall der vermeintlichen Aufklärung zurück in Mythos – im Sinne der Vergesellschaftung des Subjekts durch herrschaftlich-rationalistische Verhältnisse. Der Prozess der Aufklärung stellt sich als eine dialektische und letztlich in pervertierten Herrschaftsverhältnissen mündende Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft dar, welche das Individuum unter scheinbar rationale gesellschaftliche Verhältnisse subsumiert. Dem von der Befreiung aus der metaphysischen Unmündigkeit zeichnenden aufklärerischen Ethos resultiert ein aufklärerisches Denken, in welchem schon die Regression verhaftet bleibt: nämlich eine neue Barbarei, in der nicht Freiheit, sondern Unterdrückung gesellschaftliche Ordnung erzeugt. So kritisiert Horkheimer (1990), dass eine instrumentelle Rationalität nicht länger an übergeordnete, objektive Ideen von Freiheit oder Gerechtigkeit gebunden sei, sondern weitgehend auf ihren subjektiven Gebrauch reduziert werde und die subjektive Verdinglichung damit manifestiert werde. Adorno fasst diese Problematik dergestalt zusammen: »Alle Verdinglichung ist ein Vergessen« (Adorno 1997, Bd3.: 263). Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft und auch schon die Dialektik der Aufklärung, überführen Marxens Kritik der politischen Ökonomie in eine Kritik der technischen Zivilisation, indem

[9] Einem möglichen Einwand, Adorno oder Habermas wären einer fehlerhaften Gleichsetzung vom sozialen Gegensatz zum logischen Gegensatz anheim gefallen, kann unter Bezugnahme Hegels widerlegt werden. Schon Hegel hat die Idee (der heute) so genannten Rückkopplungsschleifen, der Begriff ist der systemtheoretischen Sprache entlehnt, beschrieben (Hegel 1970a) und in seinem Aufhebungsbegriff (Aufhebung als Trias: Verneinung, Erhaltung, radikale Negation) gekennzeichnet. Hegel schlussfolgert, dass sich die Entfaltung des Geistes gegen dessen Bedingungen, gleichsam der dialektischen Methode, richtet. Ein Motiv, welches Adorno und Habermas ebenso anerkennen. Die von Anthony Giddens beschriebenen »paradoxen Effekte« (Giddens 1992a: 366), wonach durch Handlungsvollzüge ungewollte Nebenwirkungen auf ihren Urheber rückwirken, sind auch innerhalb empirischer Untersuchungen zu beachten und daher an dieser Stelle angesprochen.

[10] Eine eigentümlich vermittelnde Position nimmt hierbei Ralf Dahrendorf ein, wenn er die positivistische Trennung von Erkenntnis und Entscheidung als »vormodern« tituliert und zugleich Habermas vorwirft, die Möglichkeiten einer erfahrungswissenschaftlichen Soziologie, allein aufgrund ideologischer Abneigung zu übersehen. Dazu Dahrendorf: »Versteht man sie [Soziologie, M.T.] – wie ich es tue – als Chance erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis, dann bindet man sie an die Voraussetzungen, Konventionen und Wirkungsmöglichkeiten aller empirisch-theoretischen Disziplinen« (1970: 21). Für Dahrendorf liegt in der Exploration von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und deren Prüfung die Chance der Vermittlung von Theorie und Praxis. Gleichzeitig betont er jedoch auch die Notwendigkeit der kritischen Reflexion des Bestehenden, die den erfahrungswissenschaftlich orientierten Soziologen dazu nötigt, die Konventionen zur Öffentlichkeit und damit zur Auseinandersetzung zu bringen. Bezüglich der Produktion der sozialen Wirklichkeit durch die Wissenschaft äußert sich Hollis: »Among the ideas which move people are ideas about what moves them. Social theory, being itself in circulation among its subjects, is tied to its own tail...That molecules have not thought about molecules must be of great relief for the physicist« (Hollis, in: Peters 1993: 39).

[11] Popper orientiert sich in Hinblick auf die Werturteilsfrage eng an der orthodoxen Position Max Webers. Er hebt damit die Unterscheidung zwischen einem Gewinnungs-Entdeckungs- Zusammenhang (context of discovery) und einem Rechtfertigungszusammenhang (context of justification) hervor (vgl. Ritsert a.a.O.: 113).

[12] Die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis sieht indes Reinhard Kreckel (1975) durch sein Konzept der gesellschaftstheoretischen Orientierung gewährleistet. Da die Soziologie ebenso wie andere Wissenschaften auf Vereinfachungen und Abstraktionen einer überkomplexen sozio- kulturellen Realität angewiesen ist, sind reine Abbildungen der sozialen Wirklichkeit unmöglich (siehe unten, III.Kapitel, Abschnitt 3.4). Entsprechend ist alle soziologische Erkenntnis »einseitig«, da sie ein jeweiliges Forschungsproblem aus der komplexen Totalität herausabstrahiert. Dabei wird das Subjekt von einem Vorverständnis vom Objekt geleitet, was Kreckel als gesellschaftstheoretische Orientierung bezeichnet. Diese Orientierung beschreibt er folglich als »plausible Projektion«, in welcher sich allgemeine Annahmen über die soziale Wirklichkeit (ein Sein-Zustand) mit Vorstellungen über einen realisierbaren Soll-Zustand zusammenfügen (vgl. ebd.: 33f.). Da das wissenschaftliche Hauptaugenmerk Kreckels, auf Fragen und Probleme der sozialen Ungleichheit gerichtet ist, ist es nur konsequent, dass er die gesellschaftstheoretische Orientierung vor allem auf den Aspekt der Ungleichheitsforschung lenkt und Gesellschaft als kulturelle Ungleichheitsordnung begreift, die es kritisch zu hinterfragen gilt (Kreckel 2004, 2006). Somit argumentiert Kreckel gegen die positivistischen Prämissen Poppers. Dessen Ansatz sieht sein wesentliches paradigmatisches Ziel darin gelegen, nomologisch invariante Strukturen bzw. gesellschaftlicher Bewegungsgesetze aufzudecken und übersieht dabei, die Komplexität der sozialen Wirklichkeit und die Unmöglichkeit, räumlich-zeitlich fixierte Gesetzmäßigkeiten zu formulieren.

[13] Der so genannte Werturteilsstreit innerhalb der deutschen Soziologie, der mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahre 1909 zusammenfällt, wurde vor allem durch Weber als vehementen Verfechter der wertfreien Forschung bestimmt und behandelt die Frage, ob eine wertende Verwendung wissenschaftlicher Expertisen durch den Forscher erfolgen darf, oder ob die praktische Wertung allein außerwissenschaftlich erfolgen sollte (Ritsert 1972: 14ff.). Weber steht damit konträr zu Marx und dessen avantgardistischen Ideals des Wissenschaftlers, welcher in seiner Hinwendung zur Umwälzung des Bestehenden Ausdruck findet, daher Marx: »Die „Idee“ blamierte sich immer, soweit sie von dem „Interesse“ unterschieden war« (MEW 1976, Bd. 2: 85). Diesbezüglich hat auch Horkheimer deutlich Position bezogen wenn er schreibt: »Die Avantgarde bedarf der Klugheit im politischen Kampf, nicht der akademischen Belehrung über ihren sogenannten Standpunkt« (Horkheimer 1988: 197).

[14] 14 In der Dichotomie kommt die Verkehrung von Mittel zu Zwecken zum Vorschein, was wiederum dazu führt, dass die Zwecke zum Fetisch erhoben werden und deren Realisierung die Mittel als sekundär vernachlässigt. Insofern Weber also eine wertfreie Forschung propagiert, verkennt er die Tatsache, dass Wissenschaft zugleich Produktivkraft und Produktionsverhältnis darstellt und damit auf die gesellschaftliche Totalität direkt einwirkt (vgl. dazu Horkheimer 1990: Mittel und Zwecke: 15 f.)

[15] Ebenso verfolgte Vico (a.a.O.) in der Erfassung analoger Strukturen der Geistes- und Geschichtsformen die Frage zu klären, unter welchen Bedingungen der menschliche Geist zur Erkenntnis gelangt. Gerade in der Verknüpfung der beiden diametral entgegengesetzten Pole des menschlichen Erkenntnisinteresses (Theorie, Geist, Philosophie, Kritik oder Ratio) und des Erkenntnisvermögens (Praxis, Körper, Philologie, Topik oder Ingenium) liegt das für Vico so wichtige praxisrelevante Moment seiner Neuen Wissenschaft, in der er die Einheit von Theorie und Praxis zu vermitteln sucht. Als vermittelnde Glieder dienen ihm hierbei die ars critica als wissenschaftliche Methode (kritische Methode der Wahrheitsprüfung des Gewissen – certum – in Anlehnung der Analyse des Faktischen – factum – und des Wahren – verum – ), der senso comune als verbindendes Erkenntnisprinzip zwischen Ratio und Ingenium (der Senso comune fungiert damit als Norm der praktischen Vernunft) und die Vorsehung als dem Grundsatz der praktischen Vernunft, welcher eine Vermittlungsfunktion auf der transzendenten Ebene zukommt. Sein Untersuchungsgegenstand ist dabei vor allem die Sprache und ihre etymologische Überlieferung, darüber hinaus analysiert er Mythen und Poesie als Zeitzeugnisse der historischen Entwicklung. Für Vico stellen sowohl Bild als auch Begriff, respektive Praxis und Theorie adäquate Denkmodi des menschlichen Geistes dar. Die Scienza Nuova kann entsprechend als Wissenschaft gelten, die sich gegen eine einseitige Bezugnahme auf empirische Fakten richtet (vgl. dazu Erny 1994).

[16] Auch an anderer prominenter Stelle, findet eine kritische Diskussion mit den Thesen Poppers statt. So beansprucht eine kritische Theorie, wie Anthony Giddens sie versteht, keine epistemologischen Privilegien oder nimmt zudem einen eigenen Strang innerhalb der Soziologie ein. Vielmehr wird durch kritische Theorie das zentrale Charakteristikum sozialwissenschaftlicher Arbeit beschrieben: »Ein reflexives Bewußtsein, über die institutionelle Reflexivität seitens des beobachtenden Sozialwissenschaftlers ist eine Grundvoraussetzung kritischer Theorie und bringt Sensibilität für die unmittelbar praktischen Implikationen von Sozialwissenschaft mit sich« (Giddens 1992b: 23).

[17] An dieser Stelle ist auf George Herbert Mead zu verweisen, der als einer der Begründer der Sozialtheorie des Symbolischen Interaktionismus gilt, welcher das menschliche Verhalten als symbolisch vermittelte Interaktion auffasst, aus der Mead die Entstehung von Bewusstsein, Individuum und Gesellschaft erklärt. Nach Mead kann das selbstbewusste Subjekt sich nur in einer Gemeinschaft handelnder und kommunizierender Menschen herausbilden. Identität wird dabei als ein Wechselspiel vom gesellschaftlich geformten ME (strukturierter, aber zugleich auch temporärer begrenzter Teil der spezifischen Identität bzw. des Selbst, welches sich aus der Summe der durch Rollenübernahme – role taking – erworbenen Elemente gestaltet) und subjektiv gestalteten und impulsiven I (unbewusste geformte Reaktion auf die Haltung und Sichtweise der für die Person relevanten Gruppen und stellt den quasi individuellen Teil des Selbst dar) begriffen. Identität ist demnach ein permanenter Prozess, des Wechselspiels zwischen ME und I, wobei das ME den Anlass für die Reaktion des I liefert, diese wird ihrerseits zu einem Bestandteil des ME, auf das nun wiederum spontan die Antwort des I – role making – erfolgt. Die Vermittlung zwischen Individuum (Triebstruktur bzw. Menschnatur) und Gesellschaft (Kultur) wird demnach durch dieses Wechselspiel vollzogen. Die organisierte Gemeinschaft, innerhalb derer das Individuum durch symbolisch vermittelte Interaktion seine Identität aufbaut, bezeichnet Mead mit dem Ausdruck der generalisierten Anderen. Diese sind von den lebensweltlich konkreten Bezugspersonen des Individuums zu unterscheiden, welche Mead als signifikante Andere bezeichnet (Mead 2002).

[18] Der Habitus eines Individuums oder auch einer Gruppe stellt ein von den objektiven Existenzbedingungen (ökonomisch-sozialen Notwendigkeiten) erzeugtes System von Dispositionen dar, d.h. ein konsistentes Schemata oder Muster der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns. Seine vermittelnde Funktion kommt darin zum Ausdruck, dass er sowohl eine strukturierte (von objektiven Bedingungen geprägte) und strukturierende (die Praktiken und Vorstellungen determinierende) Struktur aufweist, also damit das subjektive Denken und Handeln beeinflusst. Kennzeichnend sind dabei die Unbewusstheit, die Regelhaftigkeit und die (gruppenspezifische) Kollektivität des Habitus (Bourdieu 1993: 277 f.).

[19] Eine empirische Untersuchung, welche eine steigende Zahl jugendlicher Obdachloser in einer deutschen Großstadt konstatiert, sagt insofern nichts über die prekäre soziale Lebenslage der Betroffenen aus, wie sie ebenso nicht die lebensweltlichen Hintergründe der Jugendlichen thematisiert (deren Wert-, Bedürfnisse- und Zielvorstellungen) und auch nicht die sozial-politischen Bedingungen zum Zeitpunkt der Analyse beschreibt.

[20] Die Kategorie der Vermittlung ist im Wesentlichen durch Hegel eingeführt worden und wird von Adorno zur Beschreibung des kollektiv Unbewussten verwendet, wonach die gesellschaftlichen

[21] Eine erfolgreiche Stilisierung der Frankfurter Schule und ihres Programms als metawissenschaftliche Philosophie, durch den Szientismus, hätte weitreichende Konsequenzen für das Frankfurter Institut nach sich gezogen. Denn auch das Institut für Sozialforschung ist von Drittmitteln abhängig. Daher erwehren sich die Dialektiker gegen den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit bzw. der Etikettierung als einer allzu philosophisch und nicht empirisch verfahrenden Soziologie.

[22] Marx: »Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufe der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen« (MEW 1964, Bd. 3: 16).

[23] Mit der Kategorie des kollektiv Unbewussten hat sich vor allem der Psychologe Carl Gustav Jung im Rahmen seiner psychotherapeutischen Arbeit auseinandergesetzt (siehe dazu Jung 1995a/b). Oder auch Sigmund Freud (1980) der sich mit dem Phänomen der Massenpsychologie beschäftigte.

[24] Marxens berühmte Aussage: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein« (MEW 1964, Bd. 3: 27), ist hier für Adornos Argumentation bestimmend.

[25] An dieser Stelle ist anzudeuten, dass Adorno selbst eine allzu verkürzte Vorstellung der positivistisch verfahrenden Paradigmenschulen hat, wenn er sie hauptsächlich unter dem Aspekt der Verschleierung von herrschaftszentrierten Interessen kritisiert und weniger detailliert auf die Gemeinsamkeiten zum Kritischen Rationalismus, wie z.B. die gemeinsame Kritik am Positivismus oder dem Primat der theoretischen Beschreibung vor der empirischen Analyse, eingeht.

[26] Hierunter sind die wichtigsten Mitarbeiter des Frankfurter Institut für Sozialforschung angesprochen, welche vor, während und nach der Emigration über die Schweiz und Frankreich in die USA am Institut, unter der Leitung Horkheimers, angestellt waren. Namentlich: Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Karl A. Wittfogel (vgl. Wiggershaus 1991).

[27] Habermas hat mit seinem Werk großen Anteil daran, dem Begriff der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle innerhalb des sozialwissenschaftlichen Kanons verschafft zu haben. Entsprechend wurde seinem Werk das Etikett einer Diskurstheorie verliehen, welche den Diskurs – verwendet als argumentgestützte Kommunikation, mit dem Ziel der Prüfung von Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin – nicht intuitiv, sondern diskursiv bestimmt. Dieser diskursive Weg der letztlich Vernunft

[28] Habermas vollzieht somit eine entscheidende Wendung. Während die ältere kritische Theorie Adornos und Horkheimers Wege aus der Rationalität des Nichtidentischen (Adorno GS 6) sucht, zielt Habermas auf eine maßgeblich verständigungsorientierte Bewältigung der sozialen Wirklichkeit:

[29] Innerhalb der Philosophie und/oder den Sozialwissenschaften zeichnet sich indes ein Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie ab. Dieser verkürzt die Objekt- Subjekt-Relation zusehends auf symbolische Bedeutungen, wie es bspw. Foucaults diskursanalytische Konzeption anzeigt. Auf die wissenschaftstheoretischen Ausführungen in Die Ordnung der Dinge (2003a) folgt schließlich die methodische Begründung des Diskursansatzes in Archäologie des Wissens (2003b): »Die Relation zwischen Sprache und Welt, Satz und Sachverhalt lösen Subjekt-Objekt-Beziehungen ab. Von der transzendentalen Subjektivität gehen die weltkonstituierenden Leistungen auf grammatische Strukturen über« (Habermas 1992c: 15).

[30] Die Habermassche Kritik an der hermeneutischen Position Gadamers, wendet sich gegen dessen ontologisches Selbstverständnis der Hermeneutik und den Universalitätsanspruch selbiger. Für Gadamer stellen sich der Hermeneutik überdies keine methodologischen Fragen. Er sieht in ihr eher eine nichtwissenschaftliche Kunst alltagsweltlicher Kontexte, denn eine wahrheitsbegründende wissenschaftliche Methode (Habermas 1992a). Nach Habermas übersieht Gadamer die Grenze des hermeneutischen Verstehens, welche in spezifisch unverständlichen Lebensäußerungen hervortritt. So benennt Habermas den Fall von »Pseudokommunikation« oder verzerrter Kommunikation, in der bspw. sprachliche Regeln angewandt werden, ohne dass diese dem Regelsystem öffentlicher Sprache angemessen wären: »Wenn wir schließlich das System verzerrter Kommunikation insgesamt betrachten, dann fällt eine eigentümliche Diskrepanz zwischen den Ebenen der Kommunikation auf: die übliche Kongruenz zwischen sprachlicher Symbolik, Handlungen und begleitenden Expressionen ist zerfallen« (Habermas 1973b: 278f.). Nun hält Habermas der »Ontologisierung der Sprache« und der »Hypostasierung des Überlieferungszusammenhangs« Gadamers, eine kritische, d.h. über sich selbst aufgeklärte Hermeneutik entgegen. In dieser wird das Prinzip der vernünftigen Rede und damit Wahrheit, durch den auf einen herrschaftsfreien Diskurs basierenden Konsensus gestiftet. Voraussetzung für die Idee der Wahrheit, ist indes eine normativ begründete Vorstellung des »wahren Lebens«. Es bedarf daher einer aus der Logik der Umgangssprache entfalteten Theorie (des kommunikativen Handelns), die das Prinzip der vernünftigen Rede als Regulativ jeder wirklichen Rede, wie sie Gadamer vorsieht, gegenüberstellt und im selbstreflexiven Dialog der Beteiligten zur Geltung kommt (vgl. ebd.).

[31] Habermas spricht auch von einer Konsensustheorie der Wahrheit, welche an die intersubjektiven Geltungsansprüche in Sprechakten gebunden ist (Habermas 1973a).

[32] Eine polemische Auseinandersetzung mit dieser für Habermas so relevanten Kategorie, findet sich bei Christoph Türcke, in: Gerhard Bolte (Hrsg.) (1989). Überdies wird von marxistischer Seite, gegen Habermassche Konzeption einer kritischen Gesellschaftstheorie der Vorwurf einer Verharmlosung der kapitalistischen Gesellschaftsform erhoben. Habermas legitimiere, quasi durch die Hintertür seiner auf Konsens ausgerichteten Diskursethik, die repressive Ordnung der kapitalistischen Produktionsweise und vernachlässige die für Horkheimer und Adorno wesentliche Erscheinungsform des kollektiv Unbewussten (vgl. Bolte ebd.).

[33] In dem von Habermas und Luhmann gemeinsam verfassten Buch »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie: was leistet die Systemforschung?« (Habermas 1979), erörtern die Protagonisten ihr jeweiliges paradigmatisches Verständnis soziologischer Theorie und grenzen sich mit ihren Standpunkten gegeneinander in pointierter Form ab. Habermas als Vertreter einer – kommunikativ präzisierten – Theorie der Gesellschaft, wirft der Systemtheorie Luhmanns ein sozialtechnisches Verständnis von Gesellschaftsanalyse vor: »[…] falsche These, mit der Luhmanns Theorie steht und fällt, ist nämlich, daß die funktionalistische Analyse den einzigen zulässigen Weg der Rationalisierung von Entscheidungen weist. So kann die Systemtheorie der Gesellschaft als ein einziger groß angelegter Begründungsversuch für die praktische Empfehlung verstanden werden, daß eine unmittelbar sozialtechnologisch gerichtete Analyse überall an die Stelle des vermeintlichen Diskurses über ohnehin nicht wahrheitsfähige praktische Fragen zu treten habe, wo mit den Illusionen einer Verwirklichung praktischer Vernunft, und das heißt: mit Demokratisierungstendenzen, noch nicht vollends aufgeräumt worden ist« (ebd.: 144). Auf der anderen Seite spricht Luhmann der Habermasschen Konzeption einer Theorie der Gesellschaft, aufgrund ihres normativen Gesellschaftsbegriffs, jegliche wissenschaftliche Analysefähigkeit ab. Darüber hinaus wendet sich Luhmann gegen das Postulat des verständigungsorientierten Diskursprinzips, welches im normativ gestützten sprachimmanenten Telos des kommunikativen Handelns zum Ausdruck kommt (zur Kritik an der Vernachlässigung der Kategorie Sprache in Luhmanns Werk siehe Schiewek 1992). Für ihn bedarf es demnach keiner öffentlichen Kommunikation, um Moral oder Werturteile zu thematisieren;

[34] Horkheimer hatte mit der Übernahme der Leitung des Instituts für Sozialforschung in den dreißiger Jahren noch das Ziel der zivilisatorischen Befreiung, von einer technologisch fortschreitenden Naturbeherrschung, vor Augen. Kaum zehn Jahre später konstatieren er und Adorno in der Dialektik der Aufklärung den zivilisatorischen Verfallsprozess – allein im Lichte der historischen Ereignisse. Der Wandel einer kritischen Theorie von einer revolutionären, hin zu einer ideologiekritischen Soziologie, wird darin evident.

[35] Eben diesen Kritikpunkt der einseitigen Fokussierung auf die Verknüpfung von ökonomischer Systembeschreibung und Psychoanalyse, seitens der alten kritischen Theorie, hat Axel Honneth (Honneth 1989) treffend beschrieben und darüber hinaus versucht, eine kommunikationstheoretische Wendung der Dialektik der Aufklärung am Hauptwerk von Habermas (1995b) und eine systemtheoretische Transformation durch Foucault (2005, 2003a/b, 1993) näher zu beschreiben.

[36] In Anlehnung daran Immanuel Kant: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (Kant 1969: 1).

[37] Der berühmte Ausspruch Lukács (2000), wonach die Mitglieder der Frankfurter Schule in einem Grand Hotel Abgrund lebten, von dessen Terrasse aus sie bei einem Aperitif das Elend der Welt betrachten, verweist auf die generelle Kritik gegenüber ihrer pessimistischen Geschichtsphilosophie, als auch gegenüber ihrem gesellschaftstheoretischen Reduktionismus, wonach sie Marx materialistische Geschichtsphilosophie, wenn nicht schon vom Kopf auf die Füße, dann doch vom zukunftsgewandeten hoffnungsvollen Wind im Rücken, auf den bedächtigen von Konsumgütern beleibten Bauch stellen und damit das von Marx betonte Moment der Umwälzung der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung übergehen: »[…] unser Interesse und unsere Aufgabe [ist, M.T.], die Revolution permanent zu machen [...] Es kann sich für uns nicht um eine Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen« (Marx, zitiert nach Flechtheim/Lohmann 2000: 32).

[38] Habermas geht davon aus, dass ein sprachlicher Hintergundkonsens in jedweden Sprechakten implizit zur Geltung kommt. Dieser Konsensus wird durch vier Geltungsansprüche fundiert, welche reziprok von den am Sprechakt Beteiligten unterstellt werden: 1. Verständlichkeit (Äußerung ist sinnhaft verständlich), 2. Wahrheit (Äußerung ist nicht gelogen), 3. Angemessenheit (Äußerung ist kontextuell in den Sprechakt eingebunden) und 4.Wahrhaftigkeit (Subjekt identifiziert sich mit der Äußerung). Sodann unterscheidet er zwischen zwei Aspekten der Umgangssprache, die die kommunikative Kompetenz grundlegend bestimmen. Zum einen müssen die am Sprechakt Beteiligten eine umfangreiche Menge performativer Elemente beherrschen, welche handlungsbezogen sind, und zum anderen deiktische Elemente, welche den (situativen, diskursiven, kontextuellen etc.) Verweisungsraum im Sprechakt anzeigen. Die Anwendung dieser Elemente kann folglich dialogkonstituierende Universalien ausdrücken, die einen reinen Dialog, verstanden als optimale Verständigung zwischen den Sprechenden, erzeugen. Damit ist die Grundlage für einen herrschaftsfreien – auf Konsensus gerichteten – Dialog geschaffen (Habermas 1995b, Bd. 2: 548f.). Überdies unterscheidet Habermas zwei Arten des kommunikativen Sprachgebrauchs: im schwachen Sinn bezieht sich die Verständigung auf Tatsachen und Willensäußerungen, denen Aufrichtigkeit und Wahrheit des Gemeinten vorausgesetzt werden. Hierbei versteht und nimmt der Hörer die Absichtserklärung ernsthaft an. Im stark -kommunikativen Handeln orientieren und verpflichten sich die Beteiligten überdies an Werten oder Normen und kritisieren alle drei Geltungsansprüche im illokutionären Akt der Verständigung (vgl. Habermas 2004). eine Gesellschaftstheorie begründet, die die fehlerhaften Verkürzungen Adornos und Foucaults revidieren und den Prozess der Arbeit in einen Prozess sozialer Kommunikation einbettet. Nicht mehr allein die Auseinandersetzung mit der äußeren Natur unter den Bedingungen des zweckrationalen Handelns der beteiligten Individuen oder Gruppen konstituieren den Vergesellschaftungsprozess, sondern auch die Bedingungen intersubjektiver Verständigung werden sodann von Habermas als essentielle Elemente einer Vergesellschaftung ohne Repression, eingeführt.

Excerpt out of 223 pages

Details

Title
Desintegrations- und Exklusionsdynamiken in der Lebenswelt jugendlicher Wohnungs- und Obdachloser in Hamburg
Subtitle
Eine qualitative Lebensweltanalyse
College
University of Hamburg  (Soziologie)
Grade
1,0
Author
Year
2008
Pages
223
Catalog Number
V94671
ISBN (eBook)
9783640101467
ISBN (Book)
9783640134014
File size
2607 KB
Language
German
Keywords
Desintegrations-, Exklusionsdynamiken, Lebenswelt, Wohnungs-, Obdachloser, Hamburg
Quote paper
Marco Tiesler (Author), 2008, Desintegrations- und Exklusionsdynamiken in der Lebenswelt jugendlicher Wohnungs- und Obdachloser in Hamburg, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94671

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