Illusion im Kino, Fiktion


Seminar Paper, 1995

7 Pages

Anonymous


Excerpt


Illusion im Kino

"Illusion, suitably differentiated and correctly construed, is central to our experience of the cinema"1

Sobald wir ins Kino gehen setzen wir uns einer besonderen Art der Illusion aus: der Fiktion. Natürlich findet sich diese Art der Illusion auch in anderen Medien, z.B. im Roman oder im Hörspiel. Jedoch wurde im Kino mit der Weiterentwicklung der Technik eine Art der Fiktion geschaffen, die sich immer mehr an die Realität annähert. Als Kinozuschauer sehen und hören wir reale Bilder und Töne, die uns in eine virtuelle Welt der Fiktion versetzen, die wir uns beim Bücherlesen nur vorstellen können. Dennoch ist die Illusion keine vollständige Illusion: "I mantain that the spectator in the cinema can be a medium-aware spectator and yet experience the image as an illusion."2 Jeder Kinobesucher weiß, daß sich die Geschichte, die sich auf der Leinwand abspielt, von einem Regisseur, Schauspielern, Bühnen- Maskenbildnern etc. in Szene gesetzt wurde. Trotzdem sind wir bereit, uns auf die Illusion des Kinos einzulassen. Dies gilt auch für die Illusion von Räumlichkeit. Zuerst ist die Leinwand eine zweidimensionale Fläche, und jeder Zuschauer weiß das. Auch die projezierten Bilder sind zweidimensional. Dennoch bietet der Film Möglichkeiten zur Darstellung von Raum und die Möglichkeiten zur räumlichen Illusionserzeugung. Und obwohl wir als Zuschauer von der eigentlichen Zweidimensionalität des Mediums wissen, lassen wir uns vom Film in seine räumliche Illusionswelt führen.

Raum vs. Räumlichkeit

Die fiktionale Handlung findet im Raum statt. Es kann sich hierbei um geschlossene Räume wie z.B. eine Wohnung oder auch um größere Schauplätze wie eine Straße oder eine ganze Stadt handeln. In der Regel setzt sich der filmische Raum aus mehreren Schauplätzen zusammen.

Raum heißt jedoch noch lange nicht Räumlichkeit. In der ersten Zeichnung sieht man die Skizze eines Wohnzimmers. Obwohl es sich hierbei um einen Raum handelt, ist das Maß an Räumlichkeit eher gering. In der zweiten Zeichnung sieht man einen Würfel. Durch die perspektivische Zeichnung erhöht sich der Effekt der Räumlichkeit, der in der dritten Zeichnung durch den Farbverlauf noch verstärkt wird. Es geht also um die Momente im Film, in denen der dargestellte Raum plastisch wird, in denen die Räumlichkeit hervortritt. Dabei kann es sich bei dieser Plastizität nur um eine Illusion handeln, da die Kinoleinwand wie dieses Blatt Papier nur zwei Dimensionen hat. Das Zustandekommen dieser Illusion soll im folgenden untersucht werden.

Voraussetzungen für Räumlichkeit

Die Rezeptionssituation

Der Kinozuschauer sitzt in einem abgedunkelten Raum. Dadurch tritt der Realraum - der Kinosaal - in den Hintergrund und der Blick konzentriert sich auf den dargebotenen fiktionalen Raum. Außerdem wurde durch die Einführung des Breitwandfilms das Filmbild an das natürliche Gesichtsfeld des Menschen angepaßt, das es zusätzlich durch seine Größe immer mehr ausfüllt.

Diese Rezeptionssituation erzeugt zwar keine räumliche Illusion, sie trägt aber zur Unterstützung dieses Effektes bei. So wirkt das Kinobild im Vergleich zum Fernsehbild wesentlich plastischer.

Mittel der Fotografie3

"Als Raumwahrnehmung wird das visuelle Erleben des dreidimensionalen Raumes bezeichnet, in dem die eigene Person im Zentrum steht."4 Diese Raumwahrnehmung beruht zum einen auf dem binokularen Sehen, zum anderen auf errfahrungsbedingten Tiefenkonventionen. Es gibt zwar Möglichkeiten, das binokulare Sehen mit fotografischen Mitteln anzusprechen (z.B. 3D-Kino, stereoskopische Fotografien), jedoch greifen Filmemacher kaum auf diese Mittel zurück. Deshalb beruht die Raumwahrnehmung im Film auf der Fähigkeit der Fotografie die erfahrungsbedingten Tiefenkonventionen detailgetreu abzubilden. Diese Tiefenkonventionen sind im Wesentlichen:

Ein Objekt, das vor einem anderen steht, verdeckt dieses.

Ein Gegenstand wird größer, je näher er an das Objektiv heranrückt.

Der Abstand zweier parallel laufenden Linien verjüngt sich mit zunehmender Tiefe.

Durch die Wahl des Objektivs und des Focus entsteht eine vertikale Schärfeebene deren Abstand zum Objektiv durch den Focus bestimmt ist. Objekte, die sich auf dieser Ebene befinden, sind scharf abgebildet. Rückt ein Objekt vor oder hinter diese Ebene, wird es mit zunehmendem Abstand zur Ebene unschärfer.

Ein weiterer Faktor ist das Licht. Gegenstände reflektieren das Licht und werfen Schatten. So entsteht Tiefeneindruck.

Im Gegensatz zur oben beschriebenen Rezeptionssituation besitzt die Fotografie sehr wohl die Fähigkeit der räumlichen Illusionserzeugung, weil sie den realen Raum mit präziser Genauigkeit abbildet. Zudem kann durch den bewußten Einsatz verschiedener Tiefenkonventionen die Wirkung der Räumlichkeit im Film stark beeinflußt werden. Jedoch: "Spezifisch ist das entscheidende Mittel, mit dem der Film seinen Raum definiert: der räumliche Effekt der Bewegung."5 Ein weiteres filmspezifisches Mittel zur Erzeugung von räumlicher Illusion ist der Ton.

Raumrausch - Verstärkung der Räumlichkeitsillusion durch die schnell fahrende Kamera

Die Geschwindigkeit der Kamerafahrt kann bei der Räumlichkeitsillusion eine entscheidene Rolle spielen.

Die verschiedenen Einstellungen dieser Sequenz kann man in vier Gruppen teilen.

1. Der Blick der Kamera richtet sich in den U-Bahntunnel. Der Aufbau des U-Bahntunnels liefert entscheidende Tiefenindizien: Die Stützbögen im Tunnel und die Querstreben der Eisenbahngleise rücken mit zunehmender Entfernung näher zusammen (Zunahme der Dichte). Ebenso laufen die Gleise zusammen (Konvergenz). So entsteht schon im Standbild ein starker Eindruck von Räumlichkeit.

Der Zuschauer wird durch die Kamerafahrt auf dem Zug noch stärker in diesen Raum mit eingebunden. Die Stützbögen, die Signal- und Notlichter rauschen an ihm vorbei (sie bewegen sich aus der Bildmitte zu den Bildrändern) und erzeugen so eine Reizüberflutung. Der Zuschauer nimmt nicht mehr die einzelnen Elemente des Tunnels war, sondern die Bewegung durch den Tunnel oder besser: in die Tiefe des Tunnels.

2. Die Kamera fährt seitlich neben dem Zug. In dieser Einstellung wird vor allem die Geschwindigkeit des Zuges deutlich. Das Niveau der Reizüberflutung ist hoch. Stützbögen, Signal- und Notlichter bewegen sich von links nach rechts durch den Bildausschnitt.

3. Die Kamera fährt vor dem Zug, die beiden Hauptdarsteller werden in halbnaher oder amerikanischer Einstellungsgröße gezeigt. In dieser Einstellung konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf den Dialog der Hauptdarsteller. Ein Teil des Bildes fängt aber immer noch die Tunnelwand ein, so daß der Eindruck der Geschwindigkeit erhalten bleibt.

4. Die anderen Einstellungen zeigen entweder einzelne Elemente der Flucht (z.B. eine Großaufnahme eines Rades beim Entlüften der Bremsen) oder parallel laufende Handlungen (z.B. die Aktivitäten im Kontrollzentrum der U-Bahn)

Die einzelnen Einstellungen sind relativ kurz, so daß durch den schnellen Schnitt die Reizüberflutung begünstigt wird. Der Zuschauer empfindet so, obwohl nur die erste Einstellung die entscheidenden Tiefenindizien liefert, während der ganzen Sequenz die Illusion von Räumlichkeit. Diese Illusion versetzt in mitten ins Geschehen, nämlich in den Zug, und erhöht so die Spannung.

Psychologische Wirkung von Räumlichkeit in Stanley Kubricks The Shining

In Stanley Kubricks The Shining sind die Positionierung des Zuschauers und die spezifischen Methoden zur Erzeugung bzw. zur Modifizierung von Räumlichkeit wichtige Elemente für die psychologische Wirkung der Räumlichkeit. Zwei Beispiele dafür sind die DreiradfahrtSequenzen und der Vergleich der beiden Irrgartensequenzen.

Die Dreiradfahrt-Sequenzen

In diesen Sequenzen fährt Danny mit seinem Dreirad durch die Räume und Flure des Hotels, in dem sein Vater Jack Torrance als Hausmeister mit seiner Frau Wendy und mit Danny den Winter verbringt.

In der ersten Sequenz fährt Danny einen Kreis um die Clorado Lounge, der zentralen Halle des Hotels. Seine Fahrt beginnt in einem Dienstgang des Hotels und endet dort. Die Kamera verfolgt Danny dabei in kurzer Entfernung und zeigt ihn auf seinem Dreirad etwa aus der Höhe, aus der ein zweiter Dreiradfahrer Danny sehen würde. Der Zuschauer wird also auch in diese Position versetzt, er fährt hinter Danny durch die Halle. Dementsprechend ist auch die räumliche Wirkung auf den Zuschauer. Er wird in den Raum integriert, stellt sich vielleicht die Frage: Wo fährt Danny als Nächstes hin, was liegt hinter der nächsten Ecke? Danny fährt über Teppiche und Parkett. Das Reifengeräusch beim Fahren über Teppiche ist gedämpft und fast beruhigend. Beim Fahren über Parkett wird es laut und wirkt nervig, es gibt uns aber auf der Tonebene bessere räumliche Indizien, da es einen stärkeren Widerhall erzeugt. Danny führt uns in der zweiten Sequenz durch Korridore und Flure zu Zimmer 237, vor dem ihn der Koch gewarnt hat. Die Position der Kamera ist dieselbe geblieben. Das Reifengeräusch wird von der Filmmusik in den Hintergrund gedrängt, zumal Danny hauptsächlich über Teppiche fährt. Das geometrische Muster der Teppiche und die gleichbleibenden Abstände von Deckenlampen und Zimmertüren verstärken den Tiefeneindruck. Im Gegensatz zur ersten Sequenz fährt Danny nicht im Kreis. Die Frage, wo er als Nächstes hinfährt und was sich hinter der nächsten Ecke verbirgt, wird lauter im Denken des Zuschauers. Zunächst fährt Danny an Zimmer 237 vorbei und stoppt abrupt. Hier setzt Kubrick die Technik der wandering camera6 ein. Die Kamera scheint von Dannys plötzlichem Halt überrascht und stoppt erst nach einem kurzen Bremsweg und kurzer Reaktionszeit. Die Kamera trennt sich so von ihrer eigentlichen Aufgabe (der Verfolgung von Danny) und wird dem Zuschauer als Medium und als Instanz des Geschehens bewußt. Die Rolle der Kamera als Instanz des Geschehens wird zu der eines unbekannten und unsichtbaren Verfolgers, der für Danny eine Bedrohung darstellen könnte. Indem Kubrick die Illusion zwischenzeitlich durch das Bewußtmachen der Kamera als Medium aufhebt, erzeugt er eine neue Illusion.

Diese setzt er in der nächsten Dreirad-Sequenz fort. Danny fährt wieder einen Gang des Hotels hinunter. Jedoch verfolgt ihn die Kamera in einem viel größeren Abstand und mit einem langsameren Tempo. Während Danny schon um die Ecke aus dem Bild gefahren ist, fährt die wandering camera noch gemächlich den Gang hinunter. In der nächsten Einstellung sitzt sie im fast wortwörtlich im Nacken. Im Vergleich zu den vorherigen Sequenzen ist sie näher an Danny herangekommen und höher angebracht. Durch die Kombination dieser beiden Einstellungen drängt Kubrick den unbekannten Verfolger quasi in das Bewußtsein der Zuschauer, die Bedrohung wird größer. Danny fährt um die nächste Ecke und hält erneut abrupt. Die Kamera scheint, erneut überrascht von Dannys plötzlichem Halt, ebenso plötzlich zu bremsen. Der Effekt, der im Bild zu sehen ist, ist zu vergleichen mit dem Vor- und Zurückschnellen beim plötzlich Bremsen mit dem Auto. Unterstützt wird die Steigerung der Bedrohung durch die Filmmusik, die Dannys Fahrt mit stakkato-artigen Akkordeinwürfen begleitet und bei seinem Halt mit einem Beckenschlag endet. Der Grund für den plötzlichen Halt ist das Auftauchen der Grady-Geschwister, die Danny schon vorher erschienen sind. Sie stehen am Ende des Ganges und machen ihn so zur Sackgasse. Sie fordern Danny auf, für immer mit ihnen zu spielen. Danny sieht abwechselnd die beiden Mädchen am Ende des Ganges stehen und die entsetzliche Bluttat, die der besessene Vater an ihnen begangen hat. Dabei rückt die Kamera immer näher an die Mädchen heran, die durch den Einsatz eines Weitwinkelobjektivs im Vergleich zum Gang übergroß werden und die Sackgassensituation immer bedrohlicher werden lassen. Kubrick verwendet keine Kamerafahrt, sondern mehrere kurze Einstellungen, um die Kameraposition zu ändern. Kubrick erklärt diese Technik in einem Interview: "Die paranormalen Visionen [in diesem Fall das Erscheinen der beiden Mädchen] sind hingegen momentane Einblicke in Vergangenheit und Zukunft und müssen daher kurz, ja abrupt sein."7 In diesem Fall erzeugt Kubrick so zusätzlich ein Gefühl der Hilflosigkeit. Danny wird in den Raum der Vision wehrlos hineinversetzt. Das Geschehen ist nicht zu stoppen, es passiert einfach. Am Ende der Sequenz zeigt Kubrick den leeren Gang wieder ohne Weitwinkelverzerrung. Die Erscheinung ist vorbei, die Bedrohung (vorerst) überwunden.

Die Irrgartensequenzen

In The Shining ist der Irrgarten vor dem Hotel in zwei Sequenzen Schauplatz des Geschehens. Im ersten Fall geht Danny mit seiner Mutter im Irrgarten spazieren. Die beiden suchen nach dem Weg zur Mitte des Irrgartens. Im zweiten Fall flieht Danny vor seinem besessenen Vater in den Irrgarten und wird dort von seinem Vater gejagt. Kubrick setzt in den beiden Sequenzen unterschiedliche Methoden zur Erzeugung von Räumlichkeit ein und erzeugt so in jeder Sequenz eine spezifische psychologische Wirkung.

Der Spaziergang durch den Irrgarten in der ersten Sequenz findet tagsüber im Spätsommer statt. Das Sonnenlicht bewirkt eine genaue Zeichnung der Plastizität der Hecken, aus denen der Irrgarten besteht: Das Muster der Hecken, gebildet von den einzelnen Blättern und ihren Schatten, ist wegen der Lichteinstrahlung sehr deutlich. Es trägt so zu einer genauen Tiefenwahrnehmung der Hecken bei.

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Kamerabewegung. In der ersten Einstellung der Sequenz zeigt die im Schrittempo rückwärts fahrende Kamera Danny und seine Mutter in halbtotaler Entfernung und aus der Normalperspektive (etwa Augenhöhe der Mutter). Während der Fahrt erschließen sich so die Öffnungen der einzelne Gänge des Irrgartens, die Kanten der Hecken an den Öffnungen und Ecken wandern mit der Kamerabewegung. Die einzelnen Hecken setzen sich so deutlich als "Mauern" des Irrgartens ab. In einer weiteren Einstellung der Sequenz wechselt die Kamerabewegung von rückwärtsfahrend zu verfolgend. Die räumliche Wirkung bleibt in etwa die selbe, die Öffnungen erschließen sich jetzt nur vor dem Passieren und nicht mehr danach. Kubrick setzt in dieser Sequenz eine Steadicam ein, deren ruhige Fahrten eine beruhigende Wirkung haben.

Die Position des Zuschauers tendiert in dieser Sequenz zwischen der des neutralen Beobachters und des Mitspazierendem im Irrgarten. Die Position des Beobachters wird zusätzlich durch eine Einstellung gestützt, die den gesamten Irrgarten aus der Vogelperspektive zeigt.

Die Möglichkeiten und Grenzen in dieser Sequenz sind klar abgesteckt. Es ist ein ganz normaler Gang durch einen Irrgarten, irgendwann werden die beiden ihr Ziel finden und sie tun es auch. Es besteht in dieser Szene keine Bedrohung.8

Ganz anders ist es in der zweiten Irrgartensequenz. Der Schauplatz ist derselbe geblieben, doch es ist Nacht und Winter. Das vorher deutliche Muster der Hecken wird nun durch den Schnee und die Dunkelheit undeutlich. Das einzige Licht im Irrgarten bilden die in etwa einem Meter Höhe und in einiger Entfernung voneinander angebrachten Lampen. So wechseln sich helle und dunkle Abschnitte in einem Gang des Irrgartens ab und ersetzen die Tiefenwirkung des Heckenmusters durch eine Tiefenwirkung von Licht und Dunkelheit. Während der Kamerafahrt durch den Irrgarten bewegen sich einige Lampen in den Fluchtpunkt des Bildes. Die so entstehende Tiefenwirkung, gleicht einer Fahrt in einen Lichttunnel. Das Ziel ist vollkommen ungewiß, und es gibt keine Ausweichmöglichkeiten. Ein Gefühl der bedrohlichen Einengung macht sich breit.

Am Beginn seiner Flucht im Irrgarten wird Danny von der Kamera in halbtotaler Entfernung verfolgt. Die schnelle Fahrt der Kamera - bedingt durch Dannys Lauftempo - verstärkt die Tiefenwirkung von Licht und Dunkelheit - der Wechsel von einem zum anderen vollzieht sich schneller - und somit die Tunnelwirkung. Die Kameraposition kennzeichnet die Situation der Verfolgung. Dannys Vater, der Verfolger, wird in der nächsten Einstellung von vorne in einer Nahaufnahme gezeigt. Die Tunnelwirkung tritt in den Hintergrund, wichtig ist die Rolle des Vaters als Verfolger. In einer weiteren Einstellung übernimmt die Kamera die subjektive Sicht des Verfolgers. Die Tunnelwirkung kehrt zurück - auch das Ziel des Verfolgers, oder zumindest das Erreichen des Ziels, ist ungewiß, und auch er ist aufgrund seiner Besessenheit eingeengt. An einem Punkt der Sequenz wird Jack, genau wie sein Sohn, von der Kamera in halbtotaler Entfernung verfolgt. Er ist nicht nur der Jäger, sondern auch der Gejagte: Er ist besessen von den bösen Geistern des Hotels. Danny gelingt mit einem Trick die Flucht, sein Vater bleibt im Irrgarten und erfriert.9

Durch die Veränderung der Tiefenindizien wird aus dem beschaulichen Irrgarten der ersten Sequenz ein bedrohlicher Schauplatz für Dannys Flucht in der zweiten Sequenz.

Die räumliche Wirkung komplexer Kamerabewegungen

Die Eingangseinstellung aus Orson Welles' Im Zeichen des Bösen

Orson Welles kombiniert in einer Einstellung mehrere Arten der Kamerafahrt. Es wird versucht, die einzelnen Fahrten und ihre jeweilige räumliche Wirkung zu beschreiben, um hinterher auf den räumlichen Gesamteindruck der Einstellung schließen zu können.

Im ersten Abschnitt der Einstellung steht die Kamera. Der Bombenleger dreht die Bombe, die er in den Händen hält, ins Bild. So wird die Bombe plastisch, sie wird zum ersten Gegenstand der Betrachtung. In diesem Abschnitt hört der Zuschauer im Hintergrund das Lachen einer Frau. Die Tonebene macht dem Zuschauer einen größeren Raum bewußt, als den, den er in der Bildebene wahrnehmen kann. Doch im nächsten Abschnitt erschließt die Kamera mit einem Schwenk auch dem Auge diesen Raum. Sie zeigt ein Paar, das Auslöser des Lachens war. Der Bombenleger läuft nun rechts aus dem Bild und wird anschließend von der Kamera verfolgt. Nachdem er die Bombe am Auto angebracht hat, folgt eine Kranfahrt, die zum einen eine Höhendimension erschließt, zum anderen das Auto und das Paar, das auf das Auto zugeht und einsteigt, in ein Bild bringt. Das Auto fährt los, die Kamera verfolgt es von der Seite. Jedoch ist nicht das Auto im Bild, sondern die Dächer der Häuser, hinter denen das Auto herfährt. Schließlich erschließt sich am Ende der Fahrt der Blick in eine Querstraße, in die das Auto einbiegt. Die Architektur in der Querstraße sorgt für einen stärkeren Tiefeneindruck: Die Gehwege der Straße sind Passagen in den Häusern, die zur Straße mit erleuchteten Torbögen begrenzt werden. Die Verjüngung der Torbögen ist ein zusätzliches Indiz für die Verjüngung der Straße in die Tiefe. Die Kamera zeigt rückwärtsfahrend das Auto und die Straße. Das Auto hält an einem Stopschild und die Kamera fährt weiter rückwärts. Sie erschließt so eine größere Totale der Straße und erhöht ebenfalls die Tiefenwirkung. Das Auto holt die Kamera wieder ein und hält am nächsten Stopschild. Die Kamera sinkt auf Normalperspektive und verfolgt jetzt Vargas und seine Frau, die vor dem Auto die Straße überqueren. Die beiden werden von der Kamera diagonal von vorne eingefangen. Sie gehen an einer Passage vorbei. Die seitwärtsfahrende Kamera und die Säulenarchitektur der Passage simulieren den Eindruck von Bewegungsparallaxe10. Diese Tiefenwirkung beruht auf der Tatsache, daß sich nahe Gegenstände gegen die Laufrichtung im Gesichtsfeld des Wahrnehmenden bewegen und weiter entfernter Gegenstände sich mit seiner Laufrichtung bewegen. Sehr weit entfernte Gegenstände scheinen stillzustehen. In diesem Fall bewegen sich die Säulen in der Passage gegeneinander. Die Kamera begleitet die beiden bis zur Zollstation, an der sie zum Stillstand kommt. Auch das Paar im Auto möchte den Zoll passieren. es folgen einige Schwenks, die nur geringe räumliche Wirkung haben, bis die Kamera schließlich Vargas und seine Frau in amerikanischer Einstellung zeigt. Die beiden küssen sich, die Einstellung ist zu Ende.

Durch die verschiedenen Bewegungen der Kamera werden jeweils unterschiedliche Aspekte von Räumlichkeit erzeugt bzw. hervorgehoben. Die einzelnen räumlichen Eindrücke sind sehr stark miteinander verknüpft, weil sie nicht durch Schnitte voneinander getrennt sind sondern in einer einzigen Einstellung ineinander übergehen. So entsteht ein räumlicher Gesamteindruck, der mit dem Ausleuchten eines dunklen Raumes mit einer Taschenlampe zu vergleichen ist. Es werden verschiedene Teilräume des Gesamtraumes der Einstellung - dem Bereich des mexikanisch-amerikanischen Grenzüberganges - dargestellt. Die Kamera wird wie beim Ausleuchten eines Raumes über die Teilräume des Grenzbereiches bewegt. Aus den einzelnen Teilräumen ergibt sich ein Gesamteindruck des Grenzbereiches, wie sich aus den einzeln erleuchteten Ecken eines dunklen Raumes ein Eindruck ergibt, wie der Raum erleuchtet aussieht.

[...]


1 Allen 1993

2 Allen 1993

3 Die Ausführungen dieses Abschnitts lehnen sich an das Kapitel "Raummechanismen im Film" in Winkler 1992 (S.) und an das Kaptitel "Erfahrungsbedingte Elemente der Raumwahrnehmung" in Murch 1978 (S. 162-164) an.

4 Murch 1978 (S. 162)

5 Winkler 1992 (S. 81)

6 Johnson beschreibt in seinem Artikle "The Point of View of the Wandering Camera" (Johnson 1993) diese Art der Kameraführung. Der Terminus wandering camera wurde von Seymour Chatman in seiner Analyse von Antonionis Filmen eingeführt (Chatman 1985)

7 Ciment 1982 (S. 192)

8 Die bedrohliche Wirkung der Filmmusik und der drei Einstellungen, die zeigen, wie Dannys Vater das Modell des Irrgartens in der Hotelhalle "beobachtet", wurde zu Gunsten der besseren Gegenüberstellung der beiden Sequenzen nicht in die Analyse der ersten Irrgartensequenz mit einbezogen.

9 Auch in der Analyse dieser Sequenz wurden einige Einstellungen, die hauptsächlich zur Spannung beitragen, zu Gunsten der besseren Gegenüberstellung nicht mit einbezogen.

10 Ausführungen zur Bewegungsparallaxe finden sich in: Murch 1978 (S. 163)

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Details

Title
Illusion im Kino, Fiktion
Course
Proseminar Funktionen und Verfahren filmischer Erinnerungen im SS 1995 (Betreuer: Beilenhoff)
Year
1995
Pages
7
Catalog Number
V94711
ISBN (eBook)
9783638073912
File size
487 KB
Language
German
Keywords
Illusion, Kino, Fiktion, Proseminar, Funktionen, Verfahren, Erinnerungen, Beilenhoff)
Quote paper
Anonymous, 1995, Illusion im Kino, Fiktion, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94711

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