Verlorene Gegenwart. Die naive Erzählweise als Ausdruck des Scheiterns des Helden bei Ödön von Horvath und Franz Kafka


Mémoire de Maîtrise, 1997

130 Pages, Note: 1


Extrait


Inhalt

Vorwort

1. Naivität als Verhältnis zu Welt und Kunst

2. Das Film-Auge

3. Groteske und Absurdität

4. Sprachliche Merkmale naiver Erzählweise
4.1. Die Natürlichkeit des Absurden
4.2. Die Sprache des Spießers

5. Das moderne Märchen
5.1. Kurze Einführung in Geschichte und Theorie des Märchens
5.2. Das Märchen als Begriff und Idee bei Ödön von Horváth
5.3. Ein Kind unserer Zeit: Von einem, der auszog, das Lieben zu lernen
5.4. Der Wald als Grenze der Welt

6. Die konservative Revolution entlarvt sich selbst - Der ewige Spießer

7. Horváths Wandlung

8. Flucht in die Wahrheit - Jugend ohne Gott

9. Entfesselte Bewegung und gefrorenes Gewissen - Ein Kind unserer Zeit

10. Der endgültige Tod - Poetischer Nihilismus und die Sehnsucht nach der verlorenen Welt

Literatur

Vorwort

Wenn ich mich zum Schreibtisch setze ist mir nicht wohler als einem der mitten im Verkehr des place de l'Opera fällt und beide Beine bricht. Franz Kafka, Tageb ü cher, 15. Dezember 1910 1

»Warum«, fragt der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer in der zweiten seiner sechs Vorlesungen zur Literatur, »schauen wir uns ein Stück wie Warten auf Godot an, das uns sagt, daß alles verkachelt und verloren sei, und gehen dennoch hüpfend nach Hause, bester Laune ob der eben gesehenen Endzeitvisionen? Weil Beckett das im wirklichen Leben Unbesiegbare ästhetisch besiegt hat, und das mag nicht besonders viel sein - daher das ewige Gefühl des Scheiterns aller Schriftsteller -, aber es ist weiß Gott mehr als nichts.«2

Das ästhetische »Besiegen« der Ausweglosigkeit des Lebens durch ihre Fassung in ein dem Leben unterstehendes literarisches oder dramatisches System mag ein Grund für die positive, erleichternde Wirkung der Darstellung eigentlich bedrückender und Verzweiflung begründender Zusammenhänge und Vorgänge sein, sie können damit jedoch nicht aus der Welt geschafft werden. Der Sieg literarischer Ästhetik ist zugleich das Eingeständnis der Unausweichlichkeit des Scheiterns. Die Spannung, die dieser Verbindung von Gegensätzlichkeiten innewohnt, ist möglicherweise einer der Gründe für die zentrale Stellung der Literatur innerhalb der menschlichen Versuche und Möglichkeiten, dem eigenen Leben und der Welt, die ihm Heimat und Grenze ist, Ausdruck zu geben.

»Orpheus«, so schreibt Widmer weiter, »ist der erste Zaubersänger, und er ist bis heute so an- rührend, weil er - gleich als erster - scheiterte. Er lebte uns in den mythischsten Urzeiten eine Erfahrung vor, die immer noch unsere ist: daß wir zwar immer wieder zaubern, nie aber wirklich erfolgreich. Das Scheitern ist, von Orpheus bis Beckett, das Thema der Literatur überhaupt geworden.«3

Es ist nicht nur die Erzählweise, durch die das Scheitern literarischer Figuren zum Ausdruck kommt. Doch fällt auf - und damit sei die Motivation der folgenden Arbeit angedeutet -, daß sowohl Ödön von Horváth als auch Franz Kafka und Karl Valentin zu seiner Darstellung auf unterschiedliche Techniken unter dem gemeinsamen Vorzeichen der Naivität zurückgreifen.

In seiner berühmten Abhandlung über Das Unbehagen in der Kultur von 1930 schreibt Sigmund Freud:

Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenderen, ja - eines allumfassen- den Gefühls, welches einer innigen Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. (Wenn wir annehmen dürfen, daß dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen - in größerem oder geringerem Ausmaße - erhalten hat, so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen, und die zu ihm passenden Vorstellungsinhalte wären gerade die der Unbegrenztheit und der Verbundenheit mit dem All [...].)4

Dies liest sich wie eine kurzgefaßte Beschreibung dessen, was der Leser von Jugend ohne Gott oder Ein Kind unserer Zeit als ein Kennzeichen »naiver Erzählweise« empfindet: In beiden Fällen nimmt der Erzähler keine Rücksicht auf eine Trennung zwischen Innen- und Außenwelt, gibt Gedanken, Erinnerungen und aktuelle Vorgänge als scheinbar ungeordnete, fließende Einheit wieder. Um Freuds Aussage etwas anders zu formulieren: Merkmal einer naiven Weltsicht ist die fehlende Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Vorgängen.

Hier wird klar, daß die naive Erzählweise ein von Horváth bewußt gewähltes Stilmittel ist: Die Helden seiner späten Romane leiden in unterschiedlichem Maße an der Unfähigkeit, sich als Teil der sie umgebenden Welt zu fühlen. Ihre Sehnsucht nach Einheit mit der Welt nährt sich aus dem Widerspruch zwischen der Naivität, mit der sie die Welt erleben und schildern, und der (um Freud zu zitieren) »reifen« Erkenntnis der Unmöglichkeit eines Identität begründenden Eingangs in diese.

Dazu paßt das an vielen Stellen in Horváths Romanen spürbare gestörte Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft: Diffuse Erinnerungen an die Kindheit treten in Form traumartiger Visionen auf und können zeitlich nicht eingeordnet werden. Sie vermitteln ein Gefühl der unüberwindlichen Trennung von der Welt »draußen«, das der kindlichen Weltempfindung eigentlich widerspricht. Dieses Gefühl ist einer der Gründe für die »Konservierung« der Naivität über die Kindheit hinaus. Anders, bildlich ausgedrückt: Wer aus dem Paradies vertrieben wurde, bewahrt es in der Sehnsucht der Erinnerung; wer das Paradies nie betreten hat, bewahrt die unmittelbare Sehnsucht danach als aktuelles Lebensgefühl.

Etwas anders, aber ähnlich verhält es sich mit der Zukunft: Horváths erzählenden Figuren scheint sie nicht nur nicht berechenbar, sie spielt in ihren Erzählungen nur eine Rolle als Objekt der Hoffnung auf Zugang zur Welt. Diese »Welt« trägt das Gesicht der Ordnung. Die verstörende Empfindung der Ungeordnetheit, Unverständlichkeit und Bedrohlichkeit ihrer aktuellen Situation erzeugt in Horváths »Helden« ein unbewußtes und bewußtes Verlangen nach Ordnung. Dieses Verlangen ist so fundamental, daß die ersehnte Ordnung nicht qualifiziert wird: An die Stelle des harmlosen Strebens nach einem geregelten Arbeitsplatz bei Agnes Pollinger tritt bei dem Lehrer in Jugend ohne Gott ein naives, weitgehend rudimentäres und sich erst entwickelndes Sehnen nach Gerechtigkeit in Systemen von Justiz und sozialer Ordnung. In frappierend deutlichem Gegensatz hierzu sucht der Soldat in Ein Kind unserer Zeit seine Ordnung in militärischen und ideologischen Systemen, deren verbrecherischer, inhumaner und zerstörerischer Charakter deutlich zu Tage liegt.

Es äußert sich in der Naivität von Sprache, Beobachtungen und Gedankengängen jedoch nicht nur das Scheitern der Figuren, vielmehr läßt diese Form der Erzählhaltung zudem - auch wegen des hohen Anteils autobiographischer Züge - wenigstens indirekt Schlüsse auf die Verfassung des Autors zu, in der gelegentlich ähnliche Prozesse des Scheiterns aufscheinen, wie er sie seine Figuren erleben läßt. Dies gilt wiederum für Horváth wie auch für Karl Valentin und vor allem Franz Kafka, der sich möglicherweise am weitesten jenem Ideal des Künstlers genähert hat, als das nach Robert Walser derjenige zu denken wäre, der - stets schreibend - kein einziges Werk hinterließe.5 Wieviel von solchen Gedankengängen plausibel (und vor allem überhaupt interessant) ist, muß im Einzelfall abgewogen werden. Ob sich darin Strukturen feststellen lassen, die Anhaltspunkte für eine allgemeinere Beschäftigung mit dem Problem des Scheiterns in der Literatur geben können, wird eine abschließende Betrachtung zu ergründen versuchen, die in vielen Punkten - dies sei schon hier eingeräumt - notwendigerweise spekulativ sein muß.

Nicht - oder fast nicht - eingegangen werden soll dagegen auf vergleichende Mythisierungen und Spekulationen, die das Leben und die Todesumstände der drei behandelten Autoren betreffen.

Einige kurze Bemerkungen zur Arbeitsweise seien noch vorangeschickt: Es wird im folgenden nötig sein, auf eine strikte Systematik wenigstens im einzelnen teilweise zu verzichten, da sich wesentliche Überlegungen an einigen Stellen nur durch wiederholte Betrachtung ihrer Grundlagen unter leicht verändertem Blickwinkel entwickeln lassen. Der Aufbau der Arbeit ist daher in gewissem Sinne curricular; die fortlaufende Kapitelzählung nicht als Vorgabe der Leserichtung zu verstehen. Einige geplante Exkurse, etwa zur Sprache des »Dritten Reiches«, zur Erzählzeit und zu Begriffen wie Zeitgeist, Kitsch, Exil, Melancholie ließen sich leider m Rahmen dieser Arbeit nicht verwirklichen. Ansätze, die in viele Richtungen weiterführen, bietet der Fußnotenapparat.

Zitate aus Originalwerken und Sekundärliteratur werden im Regelfall durch Anführungszeichen kenntlich gemacht, längere Zitate aus Originalwerken äußerlich vom Text abgesetzt. Werden über längere Passagen im Text behandelte und genannte Werke Horváths oder Kafkas zitiert, so steht am Ende dieser Zitate jeweils nur die Seitenangabe, die sich in solchen Fällen bei Horváth immer auf die unter dem Einzeltitel zitierte Ausgabe der Gesammelten Werke in Einzelbänden bezieht. Allgemein gebräuchliche Lexika (etwa Kluges Etymologisches Wörterbuch, Brockhaus, Duden etc.) werden ohne genaue Angaben zitiert und sind im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt.

München, im September 1997 Michael Sailer

1. Naivität als Verhältnis zu Welt und Kunst

Das Kind in uns ist die Fliehkraft, die alles ins Leben reißt. Der heilige Geist ist das Kind. J ü rgen von der Wense, Tragik 6

Ich werde, da ich von Grund aus fertig zu sein scheine - im letzten Jahr bin ich nicht mehr als 5 Minuten lang aufgewacht - jeden Tag entweder mich von der Erde wegwünschen müssen oder aber, ohne daß ich darin auch die mäßigste Hoffnung sehen dürfte, von vorn als kleines Kind anfangen müssen.

Franz Kafka, 19. Januar 1911 7

Der Begriff des Naiven wird in der Beschreibung künstlerischer Äußerungen manchem zunächst als Widerspruch in sich erscheinen, als Ausweis mangelnder Künst-lichkeit oder ungenügender künstlerisch-konzeptioneller Distanz zum Beschriebenen oder Dargestellten.

Tatsächlich hat auch in der bildenden Kunst der Begriff der Naiven Malerei »erst in neuerer und neuester Zeit als eine legitime, im Kunsthandel geführte, auf Ausstellungen gezeigte und in Museen aufgenommene Richtung«8 Anerkennung gefunden. Die Implikationen der begrifflichen Einordnung sind jedoch selbst auf diesem Gebiet durchaus noch immer abwertend oder können wenigstens so verstanden werden: Als »Sonntagsmaler« bezeichnet etwa das W ö rterbuch der Kunst unter Berufung auf »man« die naiven Maler, deren Zahl vor allem durch »bloße Nachahmer einer in Mode gekommenen Malart« »ständig gewachsen« sei, die weiterhin ohne künstlerische Ausbildung ihre »Kunst als Hobby« betrieben. »In der Woche geht er seinem eigentlichen Berufe nach. Technische Experimente zu machen, liegt ihm fern.«9

Doch nähert sich diese etwas süffisant-niedliche Darstellung dem naiven Künstler in voller Absicht nur von einer Seite, sieht gewissermaßen mit dem Blick von oben auf den sich Mühenden herab, dem es mangels Anleitung nicht gelingt, entscheidende Erkenntnisse und technische Fertigkeiten zu gewinnen, die dem ausgebildeten Künstler vorbehalten bleiben. Folgerichtig sieht der Naive »Menschen und Dinge vornehmlich in ihrer linearen Begrenzung, scharf gegeneinander abgesetzt. Dasselbe gilt von den Farben, wobei meist eine fröhliche Buntheit vorherrscht.«10

Daß Naivität als künstlerische Strategie bewußt eingesetzt werden kann und so Erkenntnismöglichkeiten zu öffnen vermöchte, die dem akademischen Turmblick per definitionem verschlossen bleiben müssen, ist aus solcher Sicht zwangsläufig schwer denkbar.

Doch hat die Malerei spätestens des 20. Jahrhunderts durchaus die Möglichkeiten einer solchen Strategie erkannt: Die Bilder etwa Dubuffets als »Sonntagsmalerei« zu bezeichnen, fiele einem ernsthaften Kunsthistoriker heute nur in extrem kritischer Stimmung ein. Schon durch Paul Gaugins »Wendung zu den Quellen der Ursprünglichkeit« begann ein Prozeß der Rehabilitierung der frühen und primitiven Kulturen, zeitgleich und parallel zur Emanzipation von der Vorherrschaft der klassischen Antike. »Die Kunst der Primitiven brachte die alte und nun erneuerte Botschaft, die Welt sei nicht, was sich dem Blick offenbare, sondern was der Künstler wissend empfinde. Der Verzicht auf Nachahmung, das Verlassen der illusionistischen Mittel bedeuteten den Anfang einer neuen Kunst.«11 Wir werden noch darauf zu sprechen kommen, daß die naive künstlerische Sicht der Welt nicht nur eine Emanzipation von Traditionen bedeutete, sondern wenigstens auf literarischem Gebiet auch eine Reaktion auf den plötzlich eingetretenen Bruch solcher Überlieferungslinien und deren künstlich betriebene Wiederbelebung in einem ideologisch gesteuerten, pseudo-konservativen »Neo- Klassizismus«.

Im Bereich der Literatur hat Friedrich Schiller als erster über »naive und sentimentalische Dichtung« gehandelt und dabei schon durch die Verbindung der beiden Adjektive zu einem Gegensatzpaar eine ähnliche und doch ganz andere Bewertung des Begriffs eingeführt: Dem naiven Genie, das im Einklang mit der Natur nach möglichst vollständiger Nachahmung des Wirklichen strebt, diese aber nur um den Preis des Verlusts von Naivität und Interesse annäherungsweise erreichen kann, steht ihm das eigene idealistische Ideal der Darstellung der Idee gegenüber. In der Verbindung beider Geistes- und Kunsthaltungen sieht Schiller die Möglichkeit der Verschmelzung von Natur und Kunst, verkörpert in der deutschen Klassik.12

Doch schließt auch Schillers Begriff des Naiven durch die Voraussetzung der Gegebenheit des naiven Geisteszustands eine »Strategie des Naiven«, wie sie sich etwa in einer naiven Erzählhaltung realisieren würde, im Prinzip aus, weil ein bewußter Rückgriff auf Naivität als Element der Erzähltechnik im Schillerschen Sinne ein Abweichen vom Ideal der Selbstunmittelbarkeit bedeuten würde. Mit anderen Worten: Das naive Genie im Sinne Schillers käme nicht auf den Gedanken, sich erzählerisch auf eine Ebene herabzulassen, die ihm wie eine boshafte Karikatur der eigenen motivierenden Geisteshaltung erscheinen müßte. Die verschmelzende Annäherung an die Denk- und Sichtweise dummer, denkunfähiger und fremdgesteuerter Menschen müßte ihm ebenso wiedersinnig erscheinen wie deren ironische Darstellung, schon weil die Ironie als reflexive, über das »Wirkliche« hinausgehende Sicht- und Darstellungsweise eine Erhebung über und von sich selbst bedeutete, die dem Naiven der Denkart als Verbindung von kindlicher und kindischer Einfalt nicht möglich ist, ohne eben diese Verbindung zu stören oder zerstören. Der Begriff des Naiven trifft nach Schiller nur zu, wenn »die Natur über die Kunst den Sieg davontrage«13:

Sobald wir aber Ursache haben, zu glauben, daß die kindische Einfalt zugleich eine kindliche sei, daß folglich nicht Unverstand, nicht Unvermögen, sondern eine höhere (praktische) Stärke, ein Herz voll Unschuld und Wahrheit, die Quelle davon sei, welches die Hilfe der Kunst aus innrer Größe verschmähte, so ist jener Triumph des Verstandes vorbei, und der Spott über die Einfältigkeit geht in Bewunderung der Einfachheit über. Wir fühlen uns genötigt, den Gegenstand zu achten, über den wir vorher gelächelt haben, und, indem wir zugleich einen Blick in uns selbst werfen, uns zu beklagen, daß wir demselben nicht ähnlich sind. So entsteht die ganz eigene Erscheinung eines Gefühls, in welchem fröhlicher Spott, Ehrfurcht und Wehmut zusammenfließen.

Kluges EtymologischesW ö rterbuch erklärt den Begriff »naiv« als »unkritisch, wenig erfahren«. Entlehnt ist das Wort demnach im 18. Jahrhundert aus dem französischen naif, dieses wiederum aus lateinisch nativus (natürlich, ursprünglich, angeboren). In der ersten Ausgabe des Duden von 1919 finden sich folgende Erklärungen: natürlich, unbefangen, einfältig, harmlos. Das Duden- Fremdw ö rterbuch erweitert den Begriff und trennt ihn in zwei Bedeutungsklassen: natürlich, unbefangen, kindlich, treuherzig, arglos, ahnungslos stehen unter 2) die abwertenden Synonyme einfältig und töricht gegenüber.14

Nach Wilperts Sachw ö rterbuch der Literatur ist der Erzähler des Märchens ein »naiv-kindlich Wundergläubiger«15. Dieser Begriff wird uns noch beschäftigen, für unsere Betrachtung jedoch bei weitem nicht ausreichen, da er einerseits zu eng ist, sich andererseits allzu sehr auf den technischen Aspekt der Erzählform Märchen beschränkt. Wilperts Unterscheidung zwischen »kühler, sachlicher Distanz« und »tiefster innerer Ergriffenheit«, zwischen »ironischer Betrachtung« und »spielerischen Verwirrversuchen«16 läßt sich im Rahmen unserer Überlegungen nicht durchhalten. Die hier gemeinte naive Erzählweise muß anderen Gegenpolen gegenüber stehen, wie sich im folgenden zeigen wird. Dennoch wird der Begriff des Märchens und die damit verbundenen erzähltechnischen und motivischen Eigenheiten auch in der Betrachtung der Romane Ödön von Horváths eine wesentliche Rolle spielen.

Wesentlicher erscheint mir eine Annäherung an den Begriff der Naivität, die diesen wörtlich nicht erwähnt und doch in unserem Sinne durchaus anklingen läßt. In ihrem Essay Die Bilderwelt schreibt Susan Sontag:

Zu allen Zeiten ist die Wirklichkeit durch die von Bildern vermittelten Berichte interpretiert worden; und seit Plato haben Philosophen immer wieder versucht, uns aus unserer Abhängigkeit von Bildern zu befreien, indem sie das Ideal eines bildfreien Erfassens der Wirklichkeit beschworen. Als aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dies endlich erfüllbar schien, brachte der Rückzug der alten Religionen und politischen Illusionen zugunsten eines humanistischen und na- turwissenschaftlichen Denkens nicht - wie erwartet - das Massenbekenntnis zum Wirklichen. Im Gegenteil, das neue Zeitalter des Unglaubens brachte eine noch stärkere Hinwendung zum Bild.17

Ohne Susan Sontag absichtlich mißverstehen oder -interpretieren zu wollen, könnte man wei- terdenken: Die »neuen« Bilder, die ab Ende des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend nicht mehr dem eigenen Auge des Beobachters oder Teilnehmers der Welt, sondern der Kamera entstammen, beeinflussen auch die Literatur. Die naive Erzählweise, wie sie Kafka und Horváth in unterschiedlicher Weise einsetzen, ist ohne den photographischen Blick nicht denkbar: nicht nur erscheint ihnen die dargestellte Welt in der eingefrorenen und zerhackten Zeitstruktur des Objektivs, auch die Darstellung selbst geschieht gleichsam ohne mittelnde Instanz direkt durch die Kamera. Ja, es wird sich zeigen, daß es gewissermaßen ein »Ideal« der naiven Erzählweise ist, etwas zu bilden, was man die »literarische Kamera« nennen könnte, einen Apparat zur Wiedergabe von Gedanken und Bildern (und beiden als jeweils das andere) als Selbst-Interpretationen der Wirklichkeit, als Spuren und Schablonen der Realität, die deren Charakter nicht nur vermitteln, sondern bestimmen. Etwas anders gesagt, in den Worten Herders (im Dritten Stück des Vierten Kritischen Wäldchens): »Über Naiv will ich nicht streiten; ich bin aber auf Herrn Moses Seite, daß es der Ausdruck eines Gedankens gleichsam durch Rede sei [...]«18 - unmittelbar, ohne Symbolik, Reflexion und Kommentar.

Dazu paßt die Feststellung einer Eigenart der Bilder naiver Künstler, die sich zumindest teilweise auch in literarischen Manifestationen »naiver Technik« feststellen läßt: das scheinbare oder tatsächliche Fehlen einer Gesamtkomposition. »Der weit überwiegende Teil der Bilder von Naiven ist durch das Nacheinander der gemeinten Sujets und ihr Aneinanderfügen geprägt. Der ästhetische Zusammenhang stellt sich aus der Summe der Einzelheiten her und nicht dadurch, daß sie vom Maler in ihrer Wirkung aufeinander bezogen worden sind.«19 Horváths Roman Der ewige Spie ß er ist in seiner oft festgestellten Episodenhaftigkeit20 ein Beispiel für diese Technik, die man auch als einen der Gründe für die »Unvollendetheit« etwa von Kafkas Roman Das Schlo ß sehen kann: Je mehr sich die beobachteten Vorgänge zu einer »Gesamtkomposition« verbinden, desto weiter übersteigen deren Regeln und Strukturen das Auffassungsvermögen des naiven Erzählers. Die Geschichte führt sich selbst ad absurdum, indem sie an einem bestimmten Punkt quasi die Existenz ihres Erzählers verbietet.

Die Technik des »Nacheinanders der gemeinten Sujets« erklärt und bedingt in diesem Sinne natürlich auch das Ausbleiben, ja die Vermeidung einer übergeordneten Erzählperspektive, wie sie in Horváths späten Romanen Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit anzutreffen ist: die Miteinbeziehung des poetischen Subjektes in den Prozeß ästhetischer Wahrnehmung geschieht gewissermaßen unter dessen gleichzeitiger Ausschaltung aus dem Wahrnehmungsprozeß als reflexiv- verarbeitendem Vorgang. Die Distanzierung und Verfremdung der empirisch-»realen«, historischen Welt, die sich etwa im Fehlen einer expliziten zeitlichen und örtlichen Fixierung äußert, ist eine notwendige Folge davon: Die Kamera sieht nur, sie weiß nicht, daß das, was sie sieht, in ein bestimmbares Bezugssystem eingebettet ist. Die naive Erzählweise steht als ästhetisches System nicht außerhalb des Alltags, versucht nicht, diesen theoretisch überwölbend zu erklären, sondern ihn unmittelbar »erlebend« zu durchdringen. Wo sich der Erzähler von seinem Helden entfernt, weil er mehr weiß oder sieht, nimmt seine Darstellung oft groteske Züge an, »er entstellt, er verzerrt [...], so wie man im Traum Größenordnungen zu verschieben, Gestalten zu übertreiben pflegt. Das Traumhafte, das man an Kafkas Erzählstil immer wieder hervorhebt, entspringt im Schlo ß dem kritischen Moment der Groteske.«21

Horváths Technik ist eine ähnliche, auch wenn bei ihm die traumähnlichen Sequenzen zumindest in dem Roman Der ewige Spie ß er von grotesk verzerrter, realer Lächerlichkeit überwogen werden. In den späten Romanen ist dies anders: Vergeblichkeit der Bemühungen und Bedrohlichkeit der alles durchdringenden Macht drängen nun wie bei Kafka die komischen Elemente des Grotesken weitgehend zurück, ohne sie indes je vollständig aufzuheben.

Des öfteren ist auf den Einfluß hingewiesen worden, den der erste Weltkrieg, seine unmittelbaren Auswirkungen und die gesellschaftlichen und kulturellen Begleitumstände, die an seiner Auslösung und Entwicklung beteiligt waren, auf das künstlerische Schaffen der Nachkriegszeit und -generation ausgeübt hat. Der Krieg wurde vielfach als Einschnitt empfunden, der die Zeit danach von der Zeit davor vollständig oder wenigstens in einem bis dahin ungekannten Ausmaß trennte.22 Horváth selbst spricht davon in seiner Autobiographischen Notiz: »An die Zeit vor 1914 erinnere ich mich nur, wie an ein langweiliges Bilderbuch. Alle meine Kindheitserlebnisse habe ich im Kriege vergessen. Mein Leben beginnt mit der Kriegserklärung.«23 Zu diesem Zeitpunkt - Österreich-Ungarn erklärte Serbien am 28. Juli 1914 den Krieg, Deutschland folgte am 1. bzw. 3. August mit der Kriegserklärung an Rußland und Frankreich - war Ödön von Horváth annähernd 13 Jahre alt. Das einschneidende Erlebnis des Krieges für die nicht unmittelbar an Kampfhandlungen Beteiligten beschreibt Horváth weiter:

Wir, die wir zur großen Zeit in den Flegeljahren standen, waren wenig beliebt. Aus der Tatsache, daß unsere Väter im Felde fielen oder sich drückten, daß sie zu Krüppeln zerfetzt wurden oder wucherten, folgerte die öffentliche Meinung, wir Kriegslümmel würden Verbrecher werden. Wir hätten uns alle aufhängen dürfen, hätten wir nicht darauf gepfiffen, daß unsere Pubertät in den Weltkrieg fiel. Wir waren verroht, fühlten weder Mitleid noch Ehrfurcht. Wir hatten weder Sinn für Museen noch die Unsterblichkeit der Seele - und als die Erwachsenen zusammenbrachen, blieben wir unversehrt. In uns ist nichts zusammengebrochen, denn wir hatten nichts. Wir hatten bislang nur zur Kenntnis genommen.24

Mehrerlei ist hier angesprochen: der kulturelle Bruch zwischen Vorkriegs- und Nachkriegsge- neration, die schlagartig eintretende Ungültigkeit von Werten, Vorstellungen, Idealen und Anhaltspunkten, die zweiterer in ihrer frühen Jugend von den Eltern vermittelt worden war, aber auch die Beobachterrolle, die Horváths Generation von Künstlern im allgemeinen und Schriftstellern im besonderen eingenommen hatte und die sich nun in Erzählungen niederschlug, die den alten Regeln und Konventionen nicht mehr folgen konnten. Notwendig war, diese Regeln in Frage zu stellen, sie im Zuge dessen zunächst zu ignorieren und dadurch als willkürliche Vorgaben zu entlarven, die zur Beschreibung der veränderten Welt nicht ausreichen konnten, ihr gar im Wege stehen mußten.25 Die Idee einer naiven Erzählweise als künstlerischer Einstellung und Technik folgte daraus. Kandinsky nannte den Einsatz echter Naivität in der Kunst das »Große Reale«26 und meinte damit nicht nur eine etwaige »erzählerische Primitivität«, sondern »mehr noch die symbolhafte Bildhaftigkeit und kindliche Freude am Entdecken«. Seit nicht mehr der Gegenstand, sondern »die Analyse seiner Erscheinungsformen« Thema der »großen Kunst« war, »waren es die Künstler des Naiven, die - von der technischen oder expressiven Abstraktion unberührt - den fragwürdig gewordenen Objekten der sichtbaren und fühlbaren Welt die Treue bewahrten.«

Kafka, für dessen Leben und Werk der Krieg scheinbar keine so entscheidende Rolle gespielt hat, war 18 Jahre älter als Horváth. 1883 geboren, war er bei Kriegsausbruch bereits 31 Jahre alt und somit streng biographisch eher zur Vorkriegs- als zur Nachkriegsgeneration zu zählen. Doch weist sein ab 1908 sporadisch (und größtenteils erst nach seinem Tod) erschienenes literarisches Werk von Anfang an über seine Zeit weit hinaus.

Zwar läßt sich bei genauerer Betrachtung durchaus in Kafkas Werk eine Veränderung feststellen, die man auf den Krieg zurückführen könnte. Man mag etwa darüber spekulieren, ob eine Erzählung wie In der Strafkolonie - entstanden im Oktober 1914, also unmittelbar nach Kriegsausbruch - ohne diesen denkbar gewesen wäre.27 Doch ist von Beginn an das Scheitern und die Verzweiflung des (modernen) Menschen an der Welt und seiner Existenz, »sein Suchen und Fragen in das Antwortlose hinein, seine einsame Verfallenheit an das vielleicht Sinnlose, dem er vergeblich einen Ausweg, ein Zeichen Gottes zu entringen versucht«28, so sehr zentrales Thema seiner literarischen Arbeit, daß sich die Erfahrung des kulturellen Bruchs, die vielen Zeitgenossen erst durch den Weltkrieg bewußt wurde, darin quasi prophetisch angedeutet und in ihren Konsequenzen bis ins Äußerste weiterverfolgt findet.

Der Schluß liegt nahe, daß die bis hierher dem ersten Weltkrieg allein zugewiesene Rolle der kulturellen Bruchstelle erweitert werden muß. Wolfgang Kaempfer spricht von einem Abbrechen »so gut wie alle[r] Traditionslinien mit einem Schlage« schon um das »sprichwörtlich gewordene Fin de si è cle «29. Die seiner Darstellung zufolge durch den Ausfall der Synchronisation von in wiederkehrenden Intervallen erlebter Verkehrszeit und unumkehrbarer Geschichtszeit ausgelösten Zäsuren, die sich nach langer Vorbereitung um die Jahrhundertwende bemerkbar machten, entzogen sich jedoch noch für lange Zeit einer genauen Analyse, da der Bruch aufgrund der Auffächerung verschiedener Erfahrungs- und Wissensgebiete unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet wurde. Gemeinsam war auf vielen dieser Gebiete allenfalls die Erfahrung, daß die bis dahin verbindliche gegenständliche Perspektive in Partikel und Funktionen zerfiel.

Die tradierte Welt der Gegenstände hatte sich offensichtlich am Ma ß des K ö rpers orientiert, und so konnte die neue, die abstrakte Welt buchstäblich aus dem Kopf entworfen werden, welcher damit zunehmend seine eigenen Geschwindigkeiten - die Geschwindigkeiten der Gedankenschnelle gleichsam - oktroyieren konnte. Mit Bestimmtheit sind diese Geschwindigkeiten nicht mehr gleich den Tempi, wie sie sich ergeben müssen, wenn Geschichtszeit und Verkehrszeit in der Weise synchronisiert sind, daß eine die andere bremst und strukturiert. Handgreiflich hatte sich die Verkehrszeit von dem naturwüchsigen »Getriebe« abgekoppelt, das sie mit der Geschichtszeit bil- dete, und so wird sie nun mehr und mehr Projekte begünstigen können, die durch ihre Ma ß losig- keit auffallen: die technischen »Wunderwerke« des 19. Jahrhunderts, der Eiffelturm, die krebs- ähnlich wuchernde Unform des modernen Wolkenkratzers.30

Die Künste reagierten auf diese Erfahrung unterschiedlich, doch läßt sich sowohl in der Malerei als auch in der Literatur beobachten, daß die Grenzen zwischen Außen und Innen, Erscheinung und Vision, Bild und Reiz sich auflösen. Die bis dahin gültige Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt galt nicht mehr, beide reichten ineinander hinein und ließen die Logik von Beobachtung und Schluß aus den Fugen geraten. Abstrakte Konstruktionen gewannen an sinnschaffender Bedeutung, konnten jedoch die »Synchronisationslücke« zwischen Handeln und Geschichte nicht schließen, sondern ließen sie nur noch weiter aufbrechen. Der Weltkrieg als »der erste abstrakte, der erste ungegenständlich-anonyme Krieg«31 machte die explosionsartige Emanzipation von Material und Geschwindigkeit universell spürbar und sorgte für einen Schock, der sich in Kafkas Texten, wenn man so will, bereits angekündigt hatte32 und der eine neue Orientierung in der »entfesselten« Weltlichkeit notwendig machte, wie sie Horváth angesichts der immer stärker und radikaler werdenden Bemühungen, die inhaltslose Form der Rationalität mit falschem, unmenschlichem und reaktionärem »Sinn«-Gehalt zu füllen, versuchte. Ein Versuch, der - wie Horváth ahnte und ab 1933 immer deutlicher spürte - zum Scheitern verurteilt war und nur in der Flucht des einzelnen eine gewisse Hoffnung erhalten konnte.

Karl Valentin schließlich entzieht sich der unmittelbaren Reflexion über seine Zeit durch bewußte Flucht in absurde Sprachspiele, in denen sich die Entfremdung zwischen dem Menschen und der Welt in der Unfähigkeit, diese sinnvoll beschreibend zugänglich zu machen, spiegelt. In seiner Selbstbiographie ist von der Zeit, in der er lebt, mit keinem Wort die Rede. Lediglich ein Satz läßt eine gewisse bittere Ironie durchscheinen, die man zeitbezogen deuten könnte: »Er lebt von der Unsinnfabrikation, wie die meisten seiner Mitmenschen.«33 Auch in dem autobiographischen Text Wie ich Volkss ä nger wurde 34, der ansonsten - in durchaus sachlichem Ton - Daten und Details nennt, kommt der Krieg nicht vor. Lediglich einen Brief an Liesl Karlstadt, ein als Liedtext abgefaßtes Liebesgedicht, datiert er mit »München 16. August/Kriegsjahr 1916«35. Auch das Couplet Aus der Kriegszeit 1916 36 bezieht sich nur indirekt auf den Krieg selbst, Thema ist der Überdruß, den der plakative Optimismus offizieller Stellen angesichts der wahren Lage bei Valentin erregte.

Daraus zu schließen, der Weltkrieg habe Valentin schlicht nicht interessiert oder für ihn keine größere Bedeutung gehabt, halte ich angesichts der Tragweite seiner Auswirkungen für äußerst gewagt. Die kurze Erwähnung des Jahres des Kriegsausbruchs im Gespr ä ch mit Liesl Karlstadt aus dem Jahr 1946 (»Das war noch eine goldene Zeit bis 1914 - dann is' der Saustall losgangen«)37 mag sich auf Valentins Ablehnung der modernen Kunst beziehen38, aber gerade die offensichtlich absichtliche völlige Ausblendung des Weltkriegs deutet darauf hin, daß zum Beispiel Valentins Vorliebe für den Kitsch des 19. Jahrhunderts zumindest nicht nur nostalgischen Regungen entsprach. Die Welt, die er darin liebte, gab es nicht mehr, was die rückblickende Sehnsucht übertriebener Nostalgie zumindest in diesem Fall erklären kann.

Bei Karl Valentin wird auch am deutlichsten die Abwehr allzu einfacher, abstrakter Erklä- rungssysteme durch den bisweilen fast trotzig wirkenden Einsatz infantilen Widersinns: Wenn er einen Lobesbrief von Kurt Horwitz mit der Bemerkung versieht: »Lieber Herr Horwitz - Bitte schreiben Sie mir diese Huldigung auf eine Seite, weil ich dieselbe in mein Archiv einreihen möchte. Viele Grüße K. Valentin«39, so spricht daraus nicht etwa (nur) der oft zitierte verdrehte Humor Valentins, sondern ähnlich trotzige Widerspenstigkeit wie aus Horváths erwähnter Autobiographischer Notiz. Ein weiteres Beispiel, das auch Valentins ironischen Umgang mit den sprachlichen Gepflogenheiten seines Metiers zeigt, ist der folgende Ausschnitt aus einem Brief an einen Kabarettdirektor vom 5. Januar 1926:

Es tut uns leid, daß wir erst heute dazu kommen, Ihnen Ihre Zeilen zu erwidern, denn ich war zu stark mit Briefeschreiben beschäftigt. Du sandtest uns auch ein Programm dazu, wofür wir Ihnen beiden sehr dankbar bin. Fräulein Karlstadt und wir hat sich sehr geärgert, daß Sie nicht im Januar zu uns gekommen bist nach Berlin.40

Obwohl die vielen »Valentin-Anekdoten«, die gesammelt vorliegen, mit größter Vorsicht zu genießen sind, was ihre Authentizität angeht41, liefern auch sie eine ganze Reihe von Beispielen für Valentins humoristisch verkleidete Weigerung, sich in den allgemeinen Literatur- und Kunstbetrieb seiner Tage einreihen zu lassen:42 So soll er einem Reporter, der ihn interviewen wollte, mit der Ankündigung, es gebe ein »dickes Buch, in dem alles wichtige über mich steht«, ein Adreßbuch überreicht haben - aufgeschlagen bei dem Buchstaben V.43 Auf eine Besprechung des Kritikers Wilhelm Hausenstein antwortete er: »Da sehn's selber, wia dö Zeitungen lüag'n. Da steht drinn - i bin ein Bruder des Don Quichote! Und i kenn den Herrn nicht einmal!«44

Ein letzter Beleg für diese Haltung macht auch Valentins Verhältnis zur »anerkannten« Literatur deutlich:

Da hat ma letzte Woch'n der Thomas Mann sein' neiesten Roman g'schickt - so a Trumm von am Buch! I hab' mi a schön bedankt und hab eahm g'schrieb'n: ›Sehr geehrter Herr Dichter, es war mir eine besondere Ehre, daß Sie mir Ihr schönes Buch geschickt haben. Leider habe ich jetzt wenig Zeit zum Lesen ... ich wäre Ihnen daher sehr verbunden, wenn Sie mir das neue Buch gegen ein g e l e s e n e s austauschen könnten.‹45

***

2. Das Film-Auge

46 Wußten Sie schon ... daß München heute 76 Kinos hat, gegen gar keine vor 100 Jahren? Karl Valentin 47

Wie die Photographie einen in seinem Ausmaß längst nicht umfassend erkannten Einfluß auf die Malerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausübte48, wirkte auch auf die Literatur in Ansätzen schon vor dem ersten Weltkrieg, maßgeblich spätestens seit den zwanziger Jahren eine neue technische Form der Darstellung ein: das Kino, d. h. die aus bewegten Bildern in Sequenzen zusammengesetzte Erzählweise des Films, der nach Walter Benjamin in der Photographie »virtuell verborgen« war.49 Der klassische »Umweg« der Literatur, die von Bildern in Sprache abstrahiert, um in der Vorstellung des Lesers wiederum Bilder erstehen zu lassen, ließ sich mit kinematographischem Mittel »abkürzen« - indem die Bilder für sich selbst sprachen und ihren Gehalt an Gefühlen, Werten und Gedanken mit dem von ihnen erzeugten Strom materieller Situationen und Geschehnisse unterschwellig transportierten.50 Auch der Erzähler konnte im Kino auf Kommentar, Metapher und Adjektive verzichten, indem die Kamera quasi die Rolle seiner Augen übernahm.51

Dies bedeutet allerdings selbstverständlich nicht, daß der Erzähler aus der Geschichte verschwindet, indem diese sich selbst erzählt.52 Die Position der Kamera, Schwenks und Schnitte bezeichnen sein interpretatorisches Eingreifen, das, wie wir sehen werden, gerade dadurch eine größere Wirkung auf das Unterbewußtsein des Rezipienten zeitigt, daß es direkt nicht wahrnehmbar ist.

Als einer der ersten deutschen Künstler53 begriff Karl Valentin die Möglichkeiten, die das noch relativ junge Medium Film bot. Nach seiner wenig glücklichen Karriere als »Musikal-Clown« und »Lebendes Orchestrion« und ersten Auftritten als Volkssänger begann er schon 1912 - ein Jahr vor seiner Bekanntschaft mit Liesl Karlstadt und zwei Jahre bevor Chaplin mit Making A Living sein Leinwanddebut hatte - als »erster Filmunternehmer Bayerns«54 mit filmischer Arbeit - zu einer Zeit, als der deutsche Film laut Siegfried Kracauer »Züge eines Gassenjungen« trug und »wie ein verwahrlostes Geschöpf« war, »das sich in der Unterschicht der Gesellschaft herumtrieb«.55

Seine ersten, 1913 entstandenen Filme Karl Valentins Hochzeit 56, Die lustigen Vagabunden und Der neue Schreibtisch 57 tragen alle Merkmale der Slapstick-Filme, die die US-amerikanische Keystone-Filmgesellschaft ab etwa 1908 nach dem Vorbild französischer Klamaukfilme produzierte.58 Das Prinzip dieser Filme hatte Valentin allerdings schon früher begriffen, wie eine Erinnerung des Regisseurs Max Ophüls an eine Erzählung Valentins über seine Zeit als »Musikal- Clown« zeigt:

Ang'fangen hab i als Einmann-Orchester. A Mundharmonika und a Trompeten und a Trommel und a Violine und a Schellenband ... Dös hab i alles g'spielt, ganz allein. Und auf dem Bauch hab i a Plakat g'habt: »100 Mark demjenigen, der alle diese Instrumente gleichzeitig spielen kann!« - und dann, wann's einer versucht hat und er hat's beinah können, dann hab i in der Nacht g'sessen, und weil i an Angst g'habt hab, hundert Mark zu verlieren, hab i noch ein anderes Instrument dazu erfunden, und so ist sie immer größer geworden, die Maschin', immer größer ... Und an einem Tag, in einem Wirtshaus, da hab i mir selber nimmer auskennt und hab einen Hammer g'nommen und hab alles kaputtg'schlagen.59

Die »Handlung« dieser Geschichte beginnt harmlos und einfach, steigert sich eigendynamisch in die Kompliziertheit bis zur Raserei, die mit der Zerstörung des handlungsauslösenden Gegenstands endet - ein »System«, das nicht nur Slapstick-Komödien allgemein und Valentins im besonderen, sondern auch »den inneren Aufbau seiner späteren Stücke entscheidend prägt«.60

Auch wenn das erhaltene filmische Werk Valentins wenig mehr ist als »die abgetriebene Hoffnung auf ein Stück deutscher Filmgeschichte«61, läßt sich dieses »System« durch alle Veränderungen hindurch feststellen. Diese Veränderungen, die zum Teil einschneidend waren und Valentin je nach Betrachtung im Einzelfall als Beeinflußten oder als unbewußten Pionier62 zeigen, sind ebenso wie das Beibehalten der einmal entdeckten szenischen Methode und das Festhalten an der Tradition der Volkssänger als Zeichen für Karl Valentins Naivität gedeutet worden. Kurt Tucholsky nannte »das Geheimnis dieses primitiven Ensembles [...] seine kräftige Naivität«.63 Carl Zuckmayer stellte fest: »Valentin ist und bleibt naiv.«64 Anderen drängte sich zumindest der Verdacht auf: »Obwohl Valentin die Dinge in ihrer Funktion bloßlegt, bleibt sein Bewußtsein unreflektiert (seine Kunst naiv).«65

Es ist nicht nur, wie Glasmeier meint, Valentins »Ernsthaftigkeit die sich in einer Detailbesessenheit äußert«66, die gegen diese Annahme spricht. Es ist vielmehr der Einsatz einer bewußten Naivität als Strategie, sich den Dingen zu nähern und sie wiederzugeben, die sich in dieser Methode zeigt und verwirklicht und die, wie wir noch sehen werden, Valentin trotz grundverschiedener Zielsetzung mit Kafka und Horváth verbindet.67

Die Faszination und der Einfluß des Kinos auf Franz Kafkas Leben und Werk ist erst seit kurzem Gegenstand der Forschung. Hanns Zischlers Arbeit Kafka geht ins Kino kann auf diesem Gebiet momentan als maßgeblich gelten.68 Sie zeigt Kafka als leidenschaftlichen Kinogänger, dessen Erfahrungen mit dem neuen Medium sich vor allem in den »nächtlichen Briefen an Felice Bauer«69 niederschlagen. »Daß wir noch lange und oft den Kinema [...] zusammen uns ansehen müssen, ehe wir die Sache nicht nur für uns, sondern auch für die Welt verstehen werden«, schreibt Kafka am 22. August 1908 an Max Brod.70 Vom Kino als erzählerischem Medium konnte zu diesem Zeitpunkt noch kaum oder nur in Ansätzen die Rede sein71 ; was Kafka zu verstehen und künstlerisch zu verarbeiten trachtete, waren die rein optischen Effekte, die das Kino in die Weltwahrnehmung des Zuschauers einbrachte.72 Kafka spürte, daß die neue Technik an die schriftliche Wiedergabe des Gesehenen hohe Anforderungen stellte, die auch Zischler erkennt: »Das mechanisch Bewegte und Exaltierte, wie es in der gleichzeitig mit dem Kino in die Welt tretenden Aviatik [...] hervortritt, läßt sich wohl noch beschreiben, doch droht die Schrift gegenüber den maschinell abrollenden, tranceauslösenden Bildern ins Hintertreffen zu geraten.«73

Der Hinweis auf die Flugtechnik ist kein Zufall: In Kafkas Bericht Die Aeroplane in Brescia wird die Faszination spürbar, die diese auf ihn ausübte. Zugleich versucht er, die sprachliche Wiedergabe der Geschehnisse auf dem Fliegertreffen in Italien einer vom Kino beeinflußten Perzeption entsprechend zu gestalten:

In dem eingezäunten Platz vor seinem Hangar läuft Rougier, ein kleiner Mensch mit auffallender Nase, in Hemdärmeln auf und ab. Er ist in äußerster, etwas unklarer Tätigkeit, er wirft die Arme mit den stark bewegten Händen, betastet sich im Gehen überall, schickt seine Arbeiter hinter den Vorhang des Hangars, ruft sie zurück, geht selbst, alle vor sich drängend, hinein, während abseits seine Frau in engem, weißen Kleid, einen kleinen schwarzen Hut stark ins Haar gepreßt, die Beine im kurzen Rock zart auseinandergestellt, in die leere Hitze schaut [...].74

Zumindest heutigen Lesern drängt sich der Eindruck auf, hier erzähle jemand die typisch »beschleunigt« wirkenden Geschehnisse eines frühen Stummfilms nach. Der Autor läßt Gefühle und Gedanken seiner Figuren bewußt unbeachtet, ja, die Figuren werden eigentlich gar nicht »seine«, er ist bloßes Auge ohne Kommentar. Kafka »übt« hier eine erzählerische Technik, die sich in seinen späteren Erzählungen und Romanen wiederfindet, auch dort auffallend bewußt eingesetzt als »Gegenstück« zu den für Kafka typischen Passagen, in denen der Erzählgang immer wieder Rückschritte zur Seite unternimmt, um die Eindeutigkeit des bis dahin Erzählten in Frage zu stellen.75 Die »filmischen« Passagen hingegen sind verantwortlich für den Eindruck, es werde nicht etwas erzählt, sondern es geschehe.

Der Satz »Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.« eröffnet das erste Heft der erhaltenen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1909. Kafka bezieht sich dabei möglicherweise auf den Film L'Arriv é e d'un train à la gare de La Ciotat der Brüder Lumière, der 1896 entstand und »die Kinematographie ins Rollen brachte«.76 Schon in diesem Satz ist spürbar, wie sehr Kafka von der neuen Technik beeindruckt war: Das Geschehen auf der Leinwand verbindet er unmittelbar mit den Vorgängen im Zuschauerraum. Der »Trick« des Kinos, den Zuschauer ohne Umweg über die eigene Vorstellung direkt ins Geschehen einzubinden, ließe sich kaum deutlicher darstellen als in dieser naiven Beschreibung.

Kafka verzichtet auf weiteren Kommentar: Der nächste, äußerlich deutlich vom ersten getrennte Eintrag bezeichnet die Rückkehr von der kinematographischen auf die sprachliche Ebene der Wahrnehmung. Das Erlebnis des Fahrens - als Mitfahrender oder als Beobachter - taucht in Kafkas Werken immer wieder auf. Der Hang zur Darstellung durch die »erzählende Kamera«77 äußert sich dabei in Variationen. »Regen, rasche Fahrt (20 Min.), Kellerwohnungsperspektive, Führer ruft die Namen der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten aus, die Pneumatiks rauschen auf dem nassen Asphalt wie der Apparat im Kinematographen, das deutlichste: die unverhängten Fenster ›der vier Jahreszeiten‹, die Spiegelung der Lampen im Asphalt wie im Fluß«, beschreibt er eine Fahrt durch München mit Max Brod.78

Bemerkenswert ist hierbei nicht nur die valentineske Erwähnung der »unsichtbaren Sehenswürdigkeiten«, sondern die Totalität, in der die Vorgänge in den Erlebnisraum Kino verlegt werden: Nicht nur beobachtet Kafka in »Kellerwohnungsperspektive« durch das Auge einer imaginären Kamera, der Leser wird außerdem auf die wenigstens vorstellbare Anwesenheit eines Filmvorführungsgeräts hingewiesen.

Über seine oder die Schwierigkeiten mit der Wiedergabe der Beobachtung beschleunigter Vorgänge, wie sie für schnelle Fahrten und das Kino typisch sind, äußert sich Kafka in einer Tagebuchstelle:

Reisebeobachtungen Goethes anders als die heutigen, weil sie aus einer Postkutsche gemacht mit den langsamen Veränderungen des Geländes sich einfacher entwickeln und viel leichter selbst von demjenigen verfolgt werden können, der jene Gegenden nicht kennt. Ein ruhiges förmliches land- schaftliches Denken tritt ein. Da die Gegend unbeschädigt in ihrem eingeborenen Charakter dem Insassen des Wagens sich darbietet und auch die Landstraßen das Land viel natürlicher schneiden als die Eisenbahnstrecken, zu denen sie vielleicht im gleichen Verhältnisse stehn wie Flüsse zu Kanälen, so braucht es auch beim Beschauer keine Gewalttätigkeiten und er kann ohne große Mühe systematisch sehn. Augenblicksbeobachtungen gibt es daher wenige, meist nur in Innenräumen wo bestimmte Menschen gleich grenzenlos einem vor den Augen aufbrausen [...].79

Unnötig zu sagen, daß gerade die Augenblicksbeobachtungen als Merkmal des modernen »reisenden Auges« für Kafkas Darstellung des Gesehenen und Imaginierten (in den Erzählungen und Romanen) wichtig sind.

Das Vergnügen, das das Kino dem Zuschauer durch seine komischen Aspekte bietet, erwähnt Kafka in einem Brief an Elsa Taussig, der unter anderem eine Einladung zum Besuch der Filme Der durstige Gendarm und Der galante Gardist ist.80 Ersterer ist ein klassischer Vorläufer der Keystone-Slapsticks, wie die Verleihreklame zeigt:

Der Gendarm Gérome steht vor der Tür eines Cabarets und schaut nach dem Matrosen Guyot aus, welcher das Schiff verlassen hat und nicht wieder zurückgekehrt ist. Es dauert auch nicht lange so schwankt der Matrose, wie ein Schiff im Sturm, zur Tür heraus und der Gendarm ergreift ihn ohne Schwierigkeit. Aber nach einigen Schritten entweicht der Matrose durch die Beine des Schutz- manns und versteckt sich in den Kasten eines kleinen Geschäftsrades. Gérome eilt hinzu, schliesst den Deckel und setzt sich, der Sicherheit halber, oben auf den Deckel, während der Inhaber des Wagen losradelt.

Doch der Gendarm und der Führer des Rades bekommen in der Hitze Durst und machen in einem Restaurant halt und so fort, bis beide viel betrunkener sind, als der Matrose. Dieser benutzt dann auch einen günstigen Augenblick zu entkommen und der Schutzmann kommt ohne Beute zur Wache, total betrunken.81

Kafka hat in Tagebüchern und Briefen mehrfach Slapstick-ähnliche Szenen beschrieben. Erwähnt sei hier als besonders deutliches Beispiel nur die folgende Stelle aus einem Brief an Max Brod von 1909:

Denn was ich zu tun habe! In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen - von meinen übrigen Arbeiten abgesehen - wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst: Und man bekommt Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den Porzellanfabriken, die unaufhörlich mit Türmen von Geschirr sich auf die Treppe werfen.82

Diese Szene trägt, trotz ihrer fast verzweifelten Lustigkeit, auch entgegengesetzte Züge grotesker Unheimlichkeit, die auf den Leser wirkt, als fordere ihn jemand mit grimmig verzerrter Fratze zum Mitlachen über das Unglück eines Dritten auf. Deutlicher wird diese Ambivalenz in der Beschreibung des Verhaltens der beiden Gehilfen im Roman Das Schlo ß. Diesmal ist es der Erzähler, der mit empirischem Ernst K.s Beobachtungen transportiert, wobei ihm deren Komik offenbar entweder nicht bewußt wird oder er keinen Weg findet, sie adäquat wiederzugeben:

Sie liefen zum Apparat, erlangten die Verbindung - wie sie sich dort drängten, im Äußerlichen waren sie lächerlich folgsam [...]. (29)

Die Gehilfen waren mit vielen Seitenblicken nach ihm damit beschäftigt die Bauern von ihm abzuhalten. Es schien aber nur Komödie zu sein [...]. (31)

[...] dann zeigte K. auch auf die Gehilfen, die einander umfaßt hielten, Wange an Wange lehnten und lächelten, man wußte nicht, ob demütig oder spöttisch [...]. (32)

[...] die Gehilfen waren miteingedrungen, wurden vertrieben, kamen dann aber durchs Fenster wieder herein. (57)

[...] die Gehilfen in ihrem Eifer und Ungeschick die Treppen zehnmal hinab- und hinauflaufen zu lassen [...] (59)

Als sich später K. aus dem Tuche freimachte und umhersah, waren - das wunderte ihn nicht - die Gehilfen wieder in ihrer Ecke, ermahnten mit dem Finger auf K. zeigend einer den andern zum Ernst und salutierten [...]. (60)

Kaum waren alle fort, sagte K. zu den Gehilfen: »Geht hinaus!« Verblüfft durch diesen unerwarteten Befehl folgten sie, aber als K. hinter ihnen die Tür zusperrte, wollten sie wieder zurück, winselten draußen und klopften an die Tür. »Ihr seid entlassen«, rief K., »niemals mehr nehme ich Euch83 in meine Dienste.« Das wollten sie sich nun freilich nicht gefallen lassen und hämmerten mit Händen und Füßen gegen die Tür. »Zurück zu Dir, Herr!« riefen sie, als wäre K. das trockene Land und sie daran in der Flut zu versinken. [...] Bald erschienen sie vor den Fenstern des Turnzimmers, klopften an die Scheiben und schrien, aber die Worte waren nicht mehr zu verstehn. Sie blieben jedoch auch dort nicht lange, in dem tiefen Schnee konnten sie nicht herumspringen, wie es ihre Unruhe verlangte. Sie eilten deshalb zu dem Gitter des Schulgartens, sprangen auf den steinernen Unterbau, [...] sie liefen dort, an dem Gitter sich festhaltend, hin und her, blieben dann wieder stehn und streckten flehend die gefalteten Hände gegen K. aus. So trieben sie es lange, ohne Rücksicht auf die Nutzlosigkeit ihrer Anstrengungen; sie waren wie verblendet, sie hörten wohl auch nicht auf, als K. die Fenstervorhänge herunterließ, um sich von ihrem Anblick zu befreien. (166/167)84

Das Wort »wohl« im letzten Satz ist wiederum ein Hinweis auf die Erzählperspektive: Das KameraAuge folgt dem Geschehen mit K.s Augen; was hinter dem geschlossenen Vorhang geschieht, kann es daher nur vermuten oder schließen.

Die in tatsächlich angemessenen Worten kaum wiederzugebende Ambivalenz ist ein typisches Merkmal der Groteske, mit der sich der folgende Abschnitt näher befassen wird. Die Unmöglichkeit, zwischen der offensichtlichen Lustigkeit gewisser Slapstick-Szenen und der ihnen innewohnenden Peinlichkeit zu trennen, die für diese Ambivalenz kennzeichnend ist, mag auch zu der Weigerung Kafkas geführt haben, zusammen mit Gustav Janouch und dem diesem, aber nicht Kafka bekannten Filmredakteur Ludwig Venclík eine Vorführung von Kurzfilmen Chaplins zu besuchen, von der Janouch erzählt.85 Anders als durch die Übertragung dieser Ambivalenz (und besonders ihres peinlichen Elements) auf den Zuschauer Kafka, die er im Beisein ihm Unbekannter, doch nicht anonymer Dritter zu vermeiden suchte, läßt sich die Weigerung meines Erachtens nicht verstehen.

Kafka drückte das Dilemma laut Janouch so aus: »Der Spaß ist für mich eine viel zu ernste Angelegenheit. Ich könnte da sehr leicht wie ein total abgeschminkter Clown dastehen.«86

In dem Roman Der Verschollene geht Kafka nach den oben erwähnten frühen Versuchen im Tagebuch zu einer anderen, indirekten Form des Einsatzes filmischer Mittel über.87 Nicht (mehr) der kinoähnlichen Darstellung der Geschehnisse oder der literarischen Wiedergabe des im Kino Erlebten gilt dort seine Anstrengung, sondern der Übernahme kinematographischer Kunstgriffe in die Literatur. Eines dieser neuen Elemente ist die Sprache der Gebärden, die in deutlichem Unterschied zu langen Dialogpassagen in »stummen« Stellen (in denen gleichwohl nicht selten gesprochen wird) die Rolle der Sprache für das Kamera-Auge des Erzählers und damit des Lesers übernehmen:

Der eine lehnte neben dem Fenster, trug auch die Schiffsuniform und spielte mit dem Griff des Degens. Derjenige, mit dem er sprach, war dem Fenster zugewendet und enthüllte hie und da durch eine Bewegung einen Teil der Ordensreihe auf der Brust des andern. Er war in Civil und hatte ein dünnes Bambusstöckchen, das, da er beide Hände an den Hüften festhielt, auch wie ein Degen abstand. (19)

[...] bald trat ein Diener auf sie zu und fragte den Heizer mit einem Blick, als gehöre er nicht hierher, was er denn wolle. [...] Der Diener lehnte für seinen Teil mit einer Handbewegung diese Bitte ab, gieng aber dennoch auf den Fußspitzen dem runden Tisch im großen Bogen ausweichend zu dem Herrn mit den Folianten. Dieser Herr, das sah man deutlich, erstarrte geradezu unter den Worten des Dieners, sah sich aber endlich nach dem Manne um, der ihn zu sprechen wünschte, fuchtelte dann streng abwehrend gegen den Heizer und der Sicherheit halber auch gegen den Diener hin. (19/20)

Zwei kurze Satzteile sind an dieser Stelle außerdem bemerkenswert: »das sah man deutlich« weist auf die übertriebene Gestik des Stummfilms hin. Daß der Angesprochene Herr »der Sicherheit halber« in sein abwehrendes Fuchteln auch den Diener einbezieht, erinnert deutlich an die Exaltiertheit der Reaktionen bestimmter Typen in Slapstick-Filmen, die oft das dann nicht mehr zu stoppende Chaos einleiten.88 Genau dies geschieht nun: Wortlos rennt Karl Rossmann zu dem »Tisch des Oberkassierers, wo er sich festhielt für den Fall, daß der Diener versuchen sollte ihn fortzuziehn. [/] Natürlich wurde gleich das ganze Zimmer lebendig [...]« (20)

Ein weiteres kinematographisches Mittel ist die Parallelmontage, mit der Kafka visuelle Kontinuität unterschiedlicher Erzähl- oder Bildebenen erreicht. In die Geschehnisse auf dem Schiff mischen sich die Vorgänge draußen, die wiederum Karls Verhalten beeinflußen:

Inzwischen gieng vor den Fenstern das Hafenleben weiter, ein flaches Lastschiff mit einem Berg von Fässern, die wunderbar verstaut sein mußten, daß sie nicht ins Rollen kamen, zog vorüber und erzeugte in dem Zimmer fast Dunkelheit, kleine Motorboote, die Karl jetzt, wenn er Zeit gehabt hätte, genau hätte ansehn können, rauschten nach den Zuckungen der Hände eines am Steuer auf- recht stehenden Mannes schnurgerade dahin, eigentümliche Schwimmkörper tauchten hie und da selbständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich wieder überschwemmt und versanken vor dem erstaunten Blick, Boote der Ozeandampfer wurden von heiß arbeitenden Matrosen vorwärts- gerudert und waren voll von Passagieren, die darin, so wie man sie hineingezwängt hatte still und erwartungsvoll saßen, wenn es auch manche nicht unterlassen konnten die Köpfe nach den wech- selnden Scenerien zu drehn. (23/24)

Daß bis hierher alles, was sich an Vorgängen vor dem Fenster in Karls und des Lesers Auge ergießt, ohne Punkt in einem Satz wiedergegeben ist, drückt die zeitliche Gedrängtheit des Bildes aus. Nach einem kurzen Kommentar, der diese Unruhe und den Drang zur Bewegung noch verstärkt, folgt Karls induziertes Empfinden: »Aber alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung, aber was tat der Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß [...].« (24)

Man könnte in dieser Stelle auch die Empfindungen des Schriftstellers bei dem Versuch, filmisches Geschehen in Worte zu fassen, erkennen und damit die scheinbar widersprüchlichen Notwendigkeiten von Eile und Genauigkeit erklären: Unfähig, das Gesehene so klar und unmittelbar widerzugeben wie die Kamera, schreibt sich der Autor »in Schweiß« und Verzweiflung. Seine Unzulänglichkeit gegenüber dem filmischen Auge wird ihm bewußt: »Rechnet man zu den 350 Seiten noch die etwa 200 einer gänzlich unbrauchbaren im vorigen Winter und Frühjahr geschriebenen Fassung der Geschichte, dann habe ich für diese Geschichte 550 nutzlose Seiten geschrieben«, schreibt Kafka in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1913 an Felice Bauer.89

Auch Ödön von Horváth hat die Bedeutung des Kinos für das moderne Leben erkannt.90 In Sechsunddrei ß ig Stunden 91 berichtet er von dem »Großfilm« »Madame wünscht keine Kinder« (28), zu dem Agnes von Kastner eingeladen wird, weil dieser hofft, sich ihr im Kino sexuell annähern zu können. Horváth läßt Agnes von der »Auserwählung« träumen, die für sie darin besteht, für den Film entdeckt zu werden »wie die Henny Porten, Lya de Putti, Dolores del Rio und Carmen Cartellieri« (37), vier Stummfilmstars aus der Frühzeit des Kinos.92 Eugen wiederum »wäre am liebsten trotz seiner letzten vier Mark zwanzig in das Schelling-Kino gegangen, wenn dort der Tom Mix aufgetreten wäre, jener Wildwestmann, dem alles gelingt.« (105) Zu sehen bekommt er allerdings »keinen Tom Mix93, sondern ein Gesellschaftsdrama« (106), das Horváth in groben Zügen nacherzählt94 und dabei besonders die einzige »lustige Episode« (106) erwähnt, deren Wirkung frühen Slapstick-Streifen ähnelt: obwohl die Handlung aus einer Folge peinlicher und unglücklicher Szenen besteht, wird sie als »sehr lustig« (107) empfunden.95

In der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts finden sich nicht nur indirekte Belege für die Wirkung der unmittelbaren, »harten« Realitätsdarstellung des Kinos und seiner Techniken, der Film wirkte auch direkt auf literarische Ausdrucksweisen ein96, wie sich etwa im Wandel der Idee des Kapitels zeigt: von der abgeschlossenen, durch das eigene Thema auch im Titel charakterisierten Erzähleinheit97 wird es nun zur »Sequenz«, die einzelnen Kapitel oder Abschnitte (!) trennt bei Horváth oft nicht mehr großer zeitlicher Abstand, neues Thema oder veränderte Erzählperspektive, sondern nur noch ein dem Filmschnitt ähnlicher Gedankensprung.98

Diese Erscheinung tritt bei Horváth nicht nur zwischen den Kapiteln oder Abschnitten auf, sondern wird auch im laufenden Kapiteltext als gestalterisches Merkmal naiver Erzählweise sichtbar. Die Funktion des Schnitts übernehmen dann die von ihm bevorzugt verwendeten Gedankenstriche, besonders im verdoppelten Einsatz. Als Beispiel kann die Flugzeugabsturz-Sequenz aus Ein Kind unserer Zeit dienen. (22) Zunächst schneidet das Auge der Kamera (und der Leser als Quasi- Zuschauer) übergangslos aus den »Gedankengängen« des Soldaten auf die Erkenntnis der Gefahrensituation durch den Leutnant:

»Um Gotteswillen!« kreischt der Leutnant.

Was ist denn los?

Er starrt auf den Himmel -

Der Gedankenstrich99 steht für den nun vollführten Wechsel der Kameraperspektive, die im folgenden ohne Vorgriff und Kommentar dem Film-bildlich beschriebenen Flug des abstürzenden Flugzeugs folgt:

Dort, der Flieger!

Er stürzt ab!

»Der linke Flügel ist futsch«, sagt der Feldwebel durch den Feldstecher.

Dieser letzte Satz bezeichnet keinen Wechsel der Perspektive: Der Feldwebel spricht deutlich aus dem Off (»durch den Feldstecher«), ist jedoch selbst nicht zu sehen. Sonst könnte der Satz lauten: »... sagt der Feldwebel, während er durch den Feldstecher zum Himmel sieht.« Dies tut er jedoch für die Kamera nicht sichtbar.

Er stürzt, er stürzt -

Mit einer Rauchwolke hinter sich her -

Hier stehen beide Gedankenstriche als Anzeichen schneller Schnitte, die die Perspektive jedoch grundsätzlich nicht verändern, sondern nur die Dauer des Vorgangs verdeutlichen, der sich nun - ohne Gedankenstriche - beschleunigt. Die Technik, die Horváth anwendet, um diesen Effekt der Beschleunigung zu erzeugen, ist ebenfalls eine filmische: Die extrem verkürzten Sätze ordnen sich in jeweils eigenen Zeilen zu einem Lesenfluß, der weniger horizontal im Links-rechts-Wechsel als vielmehr vertikal verläuft. Die einzelnen, in kurzen Schnitten aus wechselnder Perspektive angeordneten Bilder haben so kaum die Möglichkeit, sich zu entfalten, was wiederum ihre Eindeutigkeit für den Leser ins Extrem steigert.100 Die Wirkung dieser Technik ließe sich mit den Worten François Truffauts beschreiben: »Die Spannung, die die Rasanz der Bilder erzeugt, läßt keinen Zweifel an der Dringlichkeit des Geschehens aufkommen.«101 Oder, das Prinzip der Keystone-Filme in den Worten des Chaplin-Biographen David Robinson zitierend: »auf alle Fälle die Dinge in Bewegung halten und dem Zuschauer keine Pause lassen zum Atemholen oder zur kritischen Reflexion.«102 Letztere soll sich vielmehr unbewußt im Laufe des Geschehens einstellen, dem der Leser durch das Kamera-Auge des Erzählers folgt:

Immer rascher.

Wir starren hin.

Und es fällt mir ein: Komisch, hast du nicht grad gedacht: stürzt ab -?

Das kurze Innehalten bezeichnet keine Rückkehr auf die Ebene der Gedanken des Soldaten, denn die Verwünschung »stürzt ab«103 hat dieser vorher weder gedacht noch ausgesprochen. Es dient vielmehr der Vorbereitung auf die »Entschleunigung« der Situation, der Bindestrich bezeichnet erneut einen Kameraschwenk. Sie richtet sich nun auf die beobachtende Gruppe:

»Mit denen ists vorbei«, meint der Leutnant.

Wir waren alle aufgesprungen.

Die Vergangenheitsform ist ein deutlicher Beleg für die kameraartige Erzählführung: Das Aufspringen wurde zum Zeitpunkt seines Geschehens vom »Erzähler« nicht wahrgenommen, weil das KameraAuge auf den Himmel gerichtet war.

»Deckung!« schreit uns der Feldwebel an.

»Deckung!« --

Der doppelte Gedankenstrich bezeichnet nun einen echten Schnitt. Zeit und Ort haben sich bei Wiedereinsetzen der Erzählung verändert, auch die Kameraperspektive, die jetzt panoramaartig geöffnet das neue Geschehen nach dem Schnitt gewissermaßen durch ein Weitwinkel-objektiv aufzeichnet:

Drei Särge liegen auf drei Lafetten, drei Fliegersärge. Pilot, Beobachter, Funker. Wir präsentieren das Gewehr, die Trommel rollt und die Musik spielt das Lied vom guten Kameraden.

Es kann (jedoch nicht zwingend) angenommen werden, daß die Musiker für die Kamera nicht zu sehen sind: Ihr Kommentar der Szene äußert sich in dem Lied, das sie spielen.

Diese kurze Analyse zeigt, daß Horváths Erzählweise in den späten Romanen nicht nur in dem Sinne naiv ist, daß er sich als Erzähler kommentarlos der geistigen Ebene seiner handelnden Hauptfigur angleicht. Er vermeidet nicht nur den Umweg der reflektierenden Beschreibung, indem er den Soldaten selbst sprechen läßt, sondern läßt diesen die Welt und die Handlung durch ein KameraAuge wahrnehmen, durch das der Leser gleichsam mit-blickt und so gezwungen wird, sich ebenfalls auf die Ebene des Soldaten zu begeben und an seinen Beobachtungen und Gedankengängen unmittelbar teilzunehmen. Horváth folgt dabei einem fundamentalen Grundsatz des Kinos: »Alles, was gesagt statt gezeigt wird, ist für das Publikum verloren.«104 Die hieraus resultierende (und von Horváth konzipierte) Reaktion des Lesers ist folglich stärker als die eines nur mittelbar Informierten, da er selbst sich in die Rolle des Soldaten gedrängt erlebt und seine »Abwehrkräfte« gegen dessen Handlungen und geistigen Zustand daher unbewußt mobilisiert.

Eine ähnliche Wirkung läßt sich übrigens auch in vielen von Horváths Stücken beobachten. So stellt etwa der Regisseur Hans Neuenfels, der um die Jahreswende 1996/97 am Münchner Residenztheater die Geschichten aus dem Wiener Wald inszenierte, in einem Interview fest:

Es gibt Schriftsteller, deren Sprache man entschlüsseln muß, um die Situation zu finden. So ist das etwa bei Kleist. Bei Horváth hingegen muß man die Situationen verstehen, um die Sprache zu finden. Das heißt, die Sprache ist nie so stark, daß sie die Situation allein trägt. Es gibt wenige Sätze oder Sprachbilder, wegen denen man das Stück inszenieren will. Alles entsteht aus den Situationen, die toll sind. Es ist eher so wie bei einem Filmautor.105

Man könnte, an das bisher Gesagte anschließend, vorläufig zusammenfassen: Die Sprache der naiven Erzählweise ist das Zelluloid, auf dem die Situationen durch Belichtung sichtbar werden.

Eine weitere filmische Technik Horváths ist der Einsatz eines »Off-Erzählers«, der sich in die »Schau« der von der Erzähler-Kamera aufgenommenen Bilder einschaltet und diese, ähnlich den Zwischentiteln im Stummfilm, ohne nähere Beschreibung der ohnehin gezeigten Situation mit Kommentaren über das Nicht-Sichtbare ergänzt. Die strikte Trennung zwischen »Off-Erzähler« und dargestellter Situation verstärkt diesen Effekt, etwa in der Jugend ohne Gott -Szene Geh heim:

Er geht in den Keller, ich bleibe allein.

Ich setze mich nicht.

An der Wand hängt ein Bild.

Ich kenne es.

Es hängt auch bei meinen Eltern.

Sie sind sehr fromm.

Es war im Krieg, da habe ich Gott verlassen. Es war zuviel verlangt von einem Kerl in den Flegeljahren, da ß er begreift, da ß Gott einen Weltkrieg zul äß t.

Ich betrachte noch immer das Bild. (46 f.)

Bis auf die hier von mir zur Verdeutlichung kursivierte Stelle beschreibt jeder der Sätze einen - durch eine neue Zeile abgesetzten - Kameraschwenk; selbst der Satz »Sie sind sehr fromm« ließe sich, etwa durch ein Gebet der Eltern vor dem die Szene motivierenden Bild des gekreuzigten Jesus, filmisch darstellen. Die kursivierten Sätze dagegen rufen keinerlei bildliche Assoziation hervor. Sie werden vom Erzähler gleichsam als Kommentar gesprochen, während die Kamera ihn in Betrachtung des Bildes zeigt.

Horváth macht in den beiden späten Romanen von dieser Technik ausgiebig Gebrauch. Ein weiteres Beispiel ist die Szene Es regnet, ebenfalls aus Jugend ohne Gott:

»Schließt das Fenster«, sage ich, »sonst regnets noch herein!« Sie schließen es.

Was wird das f ü r eine Generation? Eine harte oder nur eine rohe?

Ich sage kein Wort mehr und gehe ins Lehrerzimmer. (16, Kursivierung MS)

Noch deutlicher als in der oben angeführten Stelle steht hier der Kommentar des »Off-Erzählers« ohne Zusammenhang mit dem bildlichen Geschehen ganz für sich. Die Konfrontation des Lesers mit dem vom »Off-Erzähler« eingeschalteten Gedanken wird durch dessen Unvermitteltheit so sehr verstärkt, daß er beinahe wie ein eigener Gedanke wirkt. So muß sich der Leser mit der Frage nach dem Charakter der von den Schülern repräsentierten Generation unmittelbar auseinandersetzen, ohne Vorbereitung durch Anbindung des Kommentars an die vorangegangene Handlung, etwa durch einen Satz wie »Sie schließen es mit einer rohen Bewegung/einem harten Ruck.«

Die Einführung einer anonymen inneren Stimme ist eine andere Technik des »Off-Kommentars«, mit der Horváth den inneren Monolog aufbricht. Deutlicher als in dem häufigen Auftreten sprechender Sinnbilder (etwa der Zukunft) oder Gegenstände - man denke an die sprechende Uniform in Ein Kind unserer Zeit (48) - wird diese Technik da, wo sie dem inneren Monolog durch das Weglassen von Anführungszeichen scheinbar gleichwertig eingefügt wird und dadurch beim Lesen um so deutlicher auffällt:

Es gibt Millionen Annas auf der Welt, jede ist anders und keine ist die, die du suchst. [...]

Wieviel Annas hast du denn schon gehabt?

Ich glaub, nur zwei, wenn mich nicht alles täuscht -

Von einigen weiß ichs zwar nicht, wie sie geheißen haben, die kannt ich nämlich nur so für die Nacht.

Wie gehts jetzt wohl deinen beiden gewesenen Annas?

Laßt mich in Ruh!

Ob die noch leben, das ist mir egal, jetzt kümmert mich nur eine dritte Anna - Warum?

Was hast du denn an ihr gefressen?

Vielleicht, weil ich einst um ihretwillen etwas tat, was ich eigentlich nicht tun wollte - Ich hab ja einst zwei Portionen Eis gefressen.

Sp ö ttel nicht!

Man braucht sich noch lang nicht zu schämen, wenn man sich freut! Lieben ist keine Schand! - (101/102, Kursivierung MS)

Die Unvermitteltheit, mit der die (hier kursivierte) zweite Stimme dem Leser durch den Satz »Laßt mich in Ruh!« erkenntlich wird, indem ihr der Soldat (für die Kamera sichtbar) antwortet, löst sie sofort als Parallelelement aus der bildlich gezeigten Handlung. Die Bewußtheit von Horváths Entscheidung gegen eine vom Erzähler kommentierte Wiedergabe der Gedankengänge und Handlungen des Soldaten und für die Naivität des Kamera-Auges wird in dieser Stelle besonders deutlich.

Zuletzt sei in aller Kürze noch darauf hingewiesen, daß auch die offensichtlich irrealen oder surrealen, märchenhaften Geschehnisse, Sequenzen und Bilder, die vor allem in Horváths späten Romanen häufig auftreten, durchaus filmisch gestaltet sind. Wenn etwa dem Lehrer in Jugend ohne Gott der ermordete Schüler N als »Gespenst« erscheint (139 ff.), handelt es sich dabei ebensowenig um einen nacherzählten Traum oder eine als traumartig deutlich vom Real-Geschehen abgesetzte Vision wie bei jenen Szenen, in denen »Gott« durch die Augen anderer Beteiligter ins Geschehen blickt - »still, wie die dunklen Seen in den Wäldern meiner Heimat«. (148) Es entsteht vielmehr der Eindruck dessen, was Siegfried Kracauer für den Film »Fantasie« nennt: »alle diejenigen vorwiegend visuellen Erlebnisse [...], die, ob sie nun bewußt imaginiert sind oder für real gehalten werden, Welten jenseits der eigentlichen Kamera-Realität angehören - das Übernatürliche, Visionen aller Art, poetische Bilder, Halluzinationen, Träume usw.«106 Da sich das Phantastische - übrigens auch in den Erzählungen Franz Kafkas -»jetzt und hier manifestieren und mit realen Eindrücken zusammenfließen«107 kann, bildet es eine Keimzelle für das Groteske und das Absurde, deren Effekt dann am stärksten ist, wenn die Realität der Darstellung unbestritten bleibt.108

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3. Groteske und Absurdität

Ein wesentliches Merkmal naiver Erzählweise ist das Element des Grotesken109, das mit der erzählerischen Intention Horváths, aber auch Kafkas und Valentins auf verschiedene Arten wechselseitig verbunden ist. Die als grotesk empfundene, scheinbar logische, in sich jedoch widersinnige Abfolge und Vermischung von Komischem und Unheimlich-Entsetzlichem110 ist literarisch als Leitsymbol von Epochen gedeutet worden, »denen der Glauben an eine heile Welt zerbrochen ist, die Kausalgesetze der natürlichen Welt aufgehoben erscheinen und in denen die bindungslos gewordene Phantasie über das Mögliche hinaus in das noch Unfaßbare umschlägt«111, was sich - den Epochenbegriff vermeidend - auch auf den erzählerischen Zusammenhang und Fortgang des einzelnen Werks übertragen läßt. Demnach wäre immer dort, wo der naive Erzähler die Grenzen seines erfahrungsbestimmten Regelsystems erreicht oder überschritten sieht, der Beginn des Grotesken anzusetzen.

Dabei ist es von Bedeutung, daß dem Erzähler selbst das Erreichen oder Überschreiten der Grenze nicht bewußt ist oder wird. Dies kann auch in der Vermischung, Überschneidung oder teilweisen Verwechslung von Beobachtung, Vorstellung, Ahnung und Traum der Fall sein. Der bewußte Einsatz von über diese Erfahrungen hinausreichender Ironie, Lebensweisheit oder direkter Symbolik durch den Erzähler ist jedoch im Fall der naiven Erzählweise weitgehend ausgeschlossen, da derartige Intentionen ihren Rahmen sprengen und ihre Wirkung zunichte machen würden. Der naive Erzähler ist mindestens ebenso sehr »Opfer« des Grotesken wie der Leser, der unmittelbarer Zeuge seiner Beobachtungen und Gedanken ist.

Daraus ergibt sich für die naive Erzählweise eine ganz spezifische Form des Grotesken, die nicht in erster Linie, wie etwa bei Dürrenmatt, der Möglichkeit dient, einer »als schlimm begriffenen Wirklichkeit Herr zu werden und ihre Ursachen zu bannen«112, sondern durch die Unmittelbarkeit des Erlebens und die gleichzeitig empfundene Widersinnigkeit des Dargestellten diese Wirklichkeit (und nicht immer auch gleichzeitig ihre Ursachen) erst ins Blickfeld des Lesers rückt, wie das etwa in den beschriebenen filmähnlich erzählten Szenen der Fall ist.

Groteske Wirkung haben auch die erwähnten Slapstick-Szenen, die zudem für einen Schnittpunkt von seelischer Realität des Autors und dem Kosmos seines Werkes stehen, wenn etwa Franz Kafka, wie Urs Widmer schreibt,

zuweilen furchtbar [!] lachen mußte, wenn er seinen Freunden seine Texte vorlas. Das Urteil etwa, eine Schreckensvision, die uns frieren macht. [...] Kafka lachte über die gelungene formale Lösung eines Problems, das ihn im gelebten Leben schrecklich bedrängt hatte und weiter bedrängte und das weiterhin ungelöst blieb. Der ästhetische Triumph löst eine ungeheure Erleichterung aus, er ist ein Triumph über das böse Leben, auch wenn dieses dann böse weitergeht. [...] Komik hat mit Bewältigung zu tun, mit dem Sieg über Schreckliches, so daß sich Lachen einstellt, wenn der Leser oder Zuschauer an diesem Sieg beteiligt ist.113

Da das Schreckliche jedoch hinter dem Komischen lauert, um nach dem Abklingen des Lachens wieder hervorzutreten, könnte man die Wirkung des Grotesken, das deformierte gesellschaftliche Verhältnisse oder die Enthumanisierung des einzelnen Menschen aufzeigt oder wenigstens andeutet114, mit einem Schock vergleichen, der die Rezeption des weiter Folgenden noch lange »einfärbt«.

Zwar ist in der Horváth-Literatur der Begriff »grotesk« immer wieder anzutreffen, doch wird er in sehr unterschiedlicher Weise und nicht selten als Hilfsbezeichnung gebraucht. Das Groteske als definite Größe in Horváths Werken wird meist umgangen. Reinhold Grimm trennt die Gesamtheit der zwischen 1918 und 1932 entstandenen Komödien in zwei Richtungen, deren zweiter, die »willkürlich den Sammelnamen des Grotesken« trage, er Horváths Stücke zuordnet.115

Den Einsatz von Verfremdung und Groteske in Horváths Prosa unter dem Aspekt des gesell- schaftskritischen Anspruchs thematisiert Juliane Eckhardt, doch verzichtet auch sie auf genauere Einlassungen zu Definition und Theorie des Grotesken.116 Axel Fritz konstatiert groteske Züge in Horváths Prosaarbeiten und weist darauf hin, »daß sich die grotesk verzerrte Deformierung von Figuren nicht in ihrem äußeren Habitus, wie etwa bei E.T.A. Hoffmann, sondern in ihrer Rede- und Handlungsweise zeigt«.117

Dies ist zumindest für die beiden späten Romane nicht ganz richtig. Zwar werden dort nur wenige Figuren in ihrem äußeren Erscheinungsbild genauer beschrieben, doch sind es gerade die gelegentlichen Andeutungen und die Auswahl der beschriebenen Äußerlichkeiten, die in Verbindung mit dem Reden und Handeln dieser Figuren groteske Wirkung erzeugen:

Er trug eine auffallend große Krawattennadel, einen Miniaturtotenkopf, in welchem eine einzige Glühbirne stak, die mit einer Batterie in seiner Tasche verbunden war. Drückte er auf einen Knopf, leuchteten die Augenhöhlen seines Totenkopfes rot auf (27),

erfahren wir etwa über den Ex-Lehrer »Julius Caesar« in Jugend ohne Gott (27), der, während der Lehrer mit ihm spricht, »öfters seinen Totenkopf illuminierte, um mich zu irritieren.« (30) Hier wird die für das Groteske typische Verbindung von Unheimlichem und Komischem deutlich, auf die Horváth in der Gebrauchsanweisung hinweist.118 Sie ist auch spürbar in der Beschreibung der marschierenden Mädchen: »die Mädchen starren mich an, wie Kühe auf der Weide.« (Jugend ohne Gott, 40) Und: »Ich seh ihnen nach: vom vielen Marschieren wurden die kurzen Beine immer kürzer. Und dicker. Marschiert nur zu, Mütter der Zukunft!« (41)

Grotesk ist hier vor allem die Wirkung des Wortes »wurden«, an dessen Stelle man eigentlich »werden« erwarten könnte. Der Erzähler nimmt diese Beschreibung bei seiner nächsten Beobachtung der Mädchen wieder auf: »Dort sitzen zwei Mädchen vom Schloß. Mit den Beinen, kurz und dick.« (44) Weitere Beispiele grotesker Züge in der äußeren Erscheinung wären der »Präsident des Jugendgerichtshofes«, bei dessen Betreten des Gerichtssaals sich »alles erhebt«, der jedoch als »freundlicher Großpapa« beschrieben wird, und die Mutter des Z, die ihr Gesicht vor Scham verbirgt, so daß die Prozeßzuschauer »nichts sehen vor lauter Schleier«. (93)

Auch die Augen verschiedener Figuren, die in Jugend ohne Gott eine auch symbolisch enorm wichtige Rolle spielen, sind eigentlich zu den Äußerlichkeiten zu rechnen, auch wenn sie nicht selten in märchenhafter Weise gelöst von der tatsächlich sichtbaren Wirklichkeit erscheinen, was ihre groteske Wirkung noch erhöht. Daß das Groteske nicht einfach, wie Gerhard Melzer meint119, als »Wucherung« dem tragikomischen Charakter eines erzählerischen (oder dramatischen) Werks entspringt, belegen diese Stellen.

Das Groteske als literarisches Wirkungselement bildet kein in sich geschlossenes System, sondern weist, wie bereits gesagt, über sich hinaus auf Realität. Dargestellt wird selbst in märchenartigen Szenen - wir werden darauf noch kommen - nicht Irreal-Phantastisches, sondern eine, möglicherweise aufs Beispielhafte reduzierte, deformierte Wirklichkeit. Eine entscheidende Rolle für den »Effekt« spielt dabei jedoch das Zusammenfallen der sich wesensmäßig ausschließenden Darstellungsebenen der Phantastik und der Realistik. Dies ist der Fall, wo sich Beobachtung, Vorstellung, Ahnung und Traum vermischen, überschneiden oder wechselnd überlagern. Da die naive Erzählweise zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit zunächst (scheinbar) nicht trennt und die Beobachtungen dem Leser sozusagen »in Echtzeit« vermittelt (d. h. nicht kommentierend ankündigt), ist das Auftreten des Grotesken - neben den erwähnten Beschreibungen von Äußerlichkeiten - immer dort zu erwarten, wo die Entwicklung der Situation den Erzähler selbst zu überfordern oder überraschen scheint.

So in Jugend ohne Gott beispielsweise beim »gespenstischen« Auftreten des toten N, dessen Beschreibung auch absurde Züge trägt:

Und ich werd die Gedanken nicht mehr los -

Ich erhebe mich -

»Wohin?«

»Am liebsten weg, gleich weit weg -«

»Halt!«

Er steht vor mir, der N.

Ich komm durch ihn nicht durch.

Ich mag ihn nicht mehr hören!

Er hat keine Augen, aber er läßt mich nicht aus den Augen. (140)

Diese Szene bezieht ihre groteske Wirkung nicht nur aus dem Umstand, daß der Erzähler of- fensichtlich nicht in der Lage ist, sie adäquat zu beschreiben (letzter Satz!), sondern auch wiederum aus den filmartigen Schnitten, deren Schärfe die plötzliche Einschaltung des wörtlich und »laut« wiedergegebenen Dialogs erhöht. Das bis dahin nur als Stimme anwesende Gespenst des N materialisiert; der folgende Erklärungsversuch (»Ich mache Licht und betrachte den Lampenschirm. Er ist voll Staub.«) kann den Leser nicht davon überzeugen, es sei ein Tugbild der Dunkelheit gewesen.

Ähnliche Wirkung haben einige der vielen Erwähnungen der »Fische«. Zunächst überwiegt deren märchenhafter Charakter, ragt gar leicht ins Komische hinein, weil es anfangs die Überlegungen des »Amateurastrologen« Julius Caesar sind, die den Lehrer mit diesem Bild bekannt machen. Die möglicherweise spürbare Komik ist jedoch nach wenigen Zeilen verflogen, als der Lehrer am nächtlichen Fenster den Eindruck hat, ins Meer zu blicken:

Es ist noch Nacht. Ich sehe nichts. Keine Straße, kein Haus. Alles nur Nebel. Und der Schein einer fernen Laterne fällt auf den Nebel, und der Nebel sieht aus wie Wasser. Als wäre mein Fenster unter dem Meer.

Ich schau nicht mehr hinaus.

Sonst schwimmen die Fische ans Fenster und schauen herein. (30)

Die Ahnung drohenden Unheils, die diese Szene durch die alles erfüllende Melancholie120 anklingen läßt, bestätigt sich mit dem Ende des folgenden Kapitels auf erschreckende Weise:

Und wie ich so dachte, spürte ich, daß mich außer dem N noch einer anstarrte. Es war der T. Er lächelte leise, überlegen und spöttisch.

Hat er meine Gedanken erraten?

Er lächelte noch immer, seltsam starr.

Zwei helle runde Augen schauen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz. Ein Fisch? (34)

Den unheimlichen Effekt dieser Szene - wie auch anderer, ähnlich eingesetzter - steigert der Tempuswechsel: Der Leser, dem bis dahin der Eindruck vermittelt wird, der Lehrer erinnere sich einer Szene, die »an einem Mittwoch« (33) vor Ostern stattgefunden habe, ist durch den Wechsel ins Präsens im drittletzten Satz plötzlich selbst Teilnehmer der Szene und sieht - durch die Unmittelbarkeit der Kameraperspektive - dem T in die Augen.

Der Unterschied zwischen Groteskem und Absurdem ist ein grundlegender, ob man nun der These von der kritischen Intention des Grotesken zustimmen mag oder nicht.121 Während das Absurde als ontologische Kategorie Grundsituationen menschlicher Existenz meint und darstellt, kann das Groteske als ästhetisches Phänomen solche Situationen nur als entstandene oder vom Menschen produzierte nach eigenen Regeln spiegeln.122 Das Absurde stellt gewissermaßen eine Grundbedingung menschlicher Existenz dar; das Aufbegehren gegen seine als Widersinnigkeit empfundenen Erscheinungen ist daher ein Aufbegehren gegen die Existenz selbst und endet im äußersten Fall in Verzweiflung am Dasein.123 Das Gefühl der Absurdität ist, wie Camus schreibt, »in seiner trostlosen Nacktheit, in seinem glanzlosen Licht nicht zu fassen.«124 Die von ihm produzierten Deformationen müssen als der Welt immanente Sinnlosigkeit ohne Möglichkeit kritischen Widerspruchs (oder auch nur verstehenden Einverständnisses) hingenommen werden.

Diese Hinnahme, wie sie Franz Kafka im Ende des Romans Der Proce ß beschreibt, kann als »trostlose Erlösung« empfunden werden:

Aber an K.'s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!«, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben. (241)

Wovon K. erlöst wird, ist die Erfahrung der Unzugänglichkeit der Welt: er scheitert - Sisyphos gleich - an seinem trotzigen Versuch, Logik und Tatsächlichkeit in Einklang zu bringen. »Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen der leben will, widersteht sie nicht«, glaubt er bis zuletzt, hat dabei jedoch schon hingenommen, daß die »Logik« in seinem Kampf mit der Welt nicht auf seiner Seite steht und ihn daher in ihre Gesetze nicht einschließt.

Doch bringt ihm die Erlösung weder Trost noch Ruhe, denn diese sind nur im Leben zu finden. Die Endgültigkeit des Todes, die nur von symbolischen, der Vorstellung oder dem Gewissen der Lebenden entspringenden »Gespenstern« gebrochen werden kann, ist eine Grundstruktur des Absurden. Sie ist auch, wie wir später sehen werden, eine Grundvoraussetzung des »poetischen Nihilismus«.

Dagegen bleibt dem Groteskes Erfahrenden eine Tür zu sinnvoller Welterfahrung geöffnet, wird möglicherweise in vielen Fällen durch diese Erfahrung erst aufgetan. Der didaktische »Schock«125, den sie auslöst, kann »reinigende« Wirkung haben. Dies gilt sowohl für den Leser, dessen erfahrungsbestimmter Erwartungshorizont durch Zerrbilder der Wirklichkeit enttäuscht wird, was Verunsicherung und möglicherweise einen der eigenen Wirklichkeit gegenüber kritischen Denkprozeß auslöst. Es gilt aber auch für die handelnden Figuren, wenn etwa der Lehrer in Jugend ohne Gott durch die groteske Erfahrung ihn verfolgender körperloser Augen und eines materiell inkarnierten »Gottes« sein Verhalten vollständig ändert, von gelähmter Passivität in moralisch fundierte Betriebsamkeit umschwenkt. Es muß (zumindest vorläufig) offen bleiben, ob das letztliche, wenigstens teilweise Scheitern dieser neuen Einstellung ein Merkmal des Absurden darstellt oder dem grundsätzlichen skeptischen Pessimismus entspricht, der die motivierende Basis grotesken Gestaltens ist. Horváths illusionslose, skeptische Grundhaltung ist zumindest für seine frühen Jahre anhand der zu dieser Zeit entstandenen Texte häufig konstatiert worden.126 Der daraus entstandene strenge Antikapitalismus mit möglicher Nähe zum Marxismus schlug sich in meist konkret politisch und gesellschaftskritisch gedeuteten Stücken wie Italienische Nacht oder Kasimir und Karoline nieder, wobei in letzterem spürbar wurde, daß Horváth »parallel zur Herausbildung eines pessimisti- schen Menschenbildes realistische Gegenentwürfe zu den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen abhanden kommen.«127

Daneben tragen bereits solche Stücke auch Züge einer manchmal märchenhaft stilisierten Absurdität, die Horváths »Wandlung« überlebte. Zwar nahm Horváth seine Randbemerkung zu Glaube Liebe Hoffnung mit dem Bibelzitat

Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf; und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles was da lebet, wie ich getan habe128

im Roman Jugend ohne Gott wieder auf, um sie zumindest relativierend in Frage zu stellen: »Hat Gott sein Versprechen gehalten? Ich weiß es noch nicht.« (16) Doch gibt der Roman keine eindeutige Antwort, wie auch im Schluß von Ein Kind unserer Zeit die Absurdität der Erstarrung, die durch die Anknüpfung an die »erste Erinnerung« (126) des Soldaten universellen Charakter bekommt, kaum aufgehoben wird durch den Appell an die kommende Generation. Ein Entwurf zum Kapitel Der Schneemann hatte auf diesen Appell noch verzichtet. Während die Welt in der Endfassung für den Soldaten in der Kälte und Dunkelheit seiner Kindheit versinkt, endet die Vorarbeit in der von der »Farbe des Lichtes und der Reinheit«129 bestrahlten Begegnung mit einem Gott, dessen rettender und schützender Charakter zumindest zu erahnen ist: »Eine große Hand nimmt mich in die Hand und hebt mich auf.« (203)

Daß Horváth auf diese Rettung schließlich verzichtete und den Soldaten statt dessen als »lebenden Toten« in der Welt zurückließ, könnte, die erwähnte mahnende Funktion einmal außer acht lassend, als finale pessimistische Feststellung der Absurdität gedeutet werden.

Im Gegensatz zum phantastisch übersteigerten Grotesken, wie wir es etwa in Gedichten Christian Morgensterns finden, gerät dem naiven Erzähler notwendigerweise auch die Schilderung alltäglicher Dinge grotesk. Karl Valentins Gestalten etwa verwickeln sich in den in den Mechanismen der Sprache angelegten Widersinnigkeiten, da sie deren Regeln möglichst genau zu folgen versuchen, ohne sie zu verstehen, etwa in der folgenden Szene aus Der Theaterbesuch:

DIE FRAU [...] Also: Mein lieber Josef -

DER MANN Das kannst net schreiben, weil er mir auch ghört.

DIE FRAU Dann schreib ich halt unser lieber Joseph, daß d' a Ruah gibst. - Unser lieber Joseph...

DER MANN Sehr geehrter Herr, unser lieber Joseph -

DIE FRAU Dein Essen steht in der Küche am Ofen, mach es dir warm, weil es schon kalt ist...

DER MANN Es ist bereits Dezember.

DIE FRAU Ich meint dochs Essen - kalt ist und weil wir ins Theater gehen müssen.

DER MANN Wenn ma net mögen, müß ma net.

DIE FRAU Dann schreib ich dürfen - können - wollen - sollen -

DER MANN - werden.

DIE FRAU Dann sind wir doch schon fort, wenn er den Zettel liest.

DER MANN Dann schreibst: Gegangen sind.

DIE FRAU Sollte das Theater aus werden, dann kommen wir vielleicht bestimmt nach Hause. Es grüßt dich

DER MANN Hochachtungsvollst

DIE FRAU Deine fortgegangenen Eltern, nebst Mutter.

DER MANN Bei die Eltern ist doch d' Mutter schon dabei!

DIE FRAU Dann mach i halt an Punkt, sonst liest des Rindviech weiter.130

Ganz offensichtlich sind in dieser Szene die Schwierigkeiten der beiden Figuren, das Konzept sprachlicher Wiedergabe verschiedener Zeitebenen und der Unterschiede zwischen dürfen, müssen, können, wollen und sollen verstehend umzusetzen, was auf einen reduzierten Zugang wenigstens zur sprachlichen Wiedergabe der Realität schließen läßt. Doch weisen ihre Versuche, dem »Realitätsansturm« ordnend Herr zu werden und ihn in sinnvolle Bahnen zu lenken, über die Ebene der Sprache hinaus in den Bereich optischer Eindrücke und ihrer Verarbeitung, wofür Valentin in vielen Fällen Spiegel einsetzt:

DIE FRAU Mach doch keine Geckerl, unterm Essen brauchst doch nicht in den Spiegel schaun. DER MANN Gerade da - dann hat man zwei Portionen.131

Oder, noch weiter ausgesponnen, in dem Versuch der beiden Eltern, ihrem Sohn die oben verfaßte Nachricht auch zu übermitteln:

DIE FRAU [...] So, den legen wir jetzt am Tisch her. Oder vielleicht sieht er ihn da net glei - er geht doch meistens bei der Tür herein, dann legen wir den Zettel am Boden her.

DER MANN Dann tritt er drauf mit die schmutzigen Stiefel und kann ihn nicht mehr lesen. Er stellt den Brief auf das Seitentischerl, wo er ihn an die Blumenvase lehnt.

DIE FRAU Das ist nichts, da, mit dem Blumenbukett, da meint er ja, er hat Namenstag.

DER MANN Er hat aber kein Namenstag.

DIE FRAU Aber das irritiert ihn - also das ist nichts.

DER MANN lehnt den Brief an den Spiegel. Das ist großartig, da schau her, jetzt wenn er kommt, stellt er sich daher, schaut in den Spiegel hinein und denkt sich, was ist denn das für ein Zettel? Dann sieht er ihn.

DIE FRAU Wir schauen freilich nein, weil wir wissen, daß da ein Zettel liegt - aber er hat ja keine Ahnung, jetzt, wenn er nicht neinschaut?

DER MANN Das ist Grundbedingung, daß er neinschaut.

DIE FRAU Wenn er aber net neischaut, dann hast den Zettel umsonst hingstellt.

DER MANN Jaso, halt, ich habs - jetzt schreibst nochmal an Zettel: Wenn du heimkommst, schaue sofort in den Spiegel.

DIE FRAU Also: Wenn du heimkommst, schaue sofort in den Spiegel hinein, dann siehgst du was - schreib ich.132

Beiden Figuren wird nicht bewußt, daß sie zur Lösung des Problems dasselbe Problem noch einmal schaffen: Die »Unsichtbarkeit« der Nachricht wird zur Grundbedingung der Absurdität ihrer Bemühungen, die - weitergedacht - ihre Bemühungen in endloser Wiederholung verlaufen lassen könnte. Genau dies passiert in einer anderen »Spiegel-Szene«, in der diesmal ein abstraktes Schriftsymbol - das offenbar falsch gesetzte notenschriftliche Wiederholungszeichen - die Rolle des Spiegels übernimmt:

(Karl Valentin spielt das Lied »Liebesperlen« auf der Zither. Er wiederholt, wie unter Zwang, ständig den Refrain. Der Vorhang wird geschlossen, dann wieder geöffnet. Valentin, als uralter Mann mit langem, weißem Bart, spielt noch immer den Refrain.)133

Von diesen Bemühungen, sich auf »Neuland« zurechtzufinden und ungewöhnlichen Anforderungen Herr zu werden, trennt Valentin die Gewohnheiten, die durch Veränderungen in den sie erzeugenden Umständen ihren Sinn verloren haben und deren Beibehaltung ohne sinngebende Grundlage ebenfalls ins Reich des Absurden reicht:

DIE FRAU Jetzt möcht ich bloß wissen, was da zu kämmen gibt - da kannst doch keinen Scheitel mehr machen, aus der Mordstrumm-Plattn.

DER MANN Das bin ich noch so gewöhnt von früher her.134

Dabei entsteht die groteske Wirkung bei Karl Valentin nicht durch eine Vermischung unheimlicher mit komischen Elementen, sondern noch stärker als bei Horváth durch die Betonung der »Unheimlichkeit« des Alltäglichen, die sich hinter den vordergründig komischen Versuchen, dessen verwirrende Strukturen zu meistern, verbirgt und durch die über jeden als »gewohnt« akzeptablen Rahmen hinausgehende Übersteigerung spürbar wird.135

Die Frage nach Wirkung und Bedeutung grotesker Elemente - in Verbindung mit oder in Abgrenzung vom Absurden - in der Literatur ist eine vieldiskutierte. Die einzelnen Positionen ausführlich zu umreißen, wäre an dieser Stelle ein zu umfangreiches Unterfangen. Für unser Thema mag es genügen, festzustellen, daß das an einzelnen Stellen auftretende Groteske im Rahmen der naiven Erzählweise Anhaltspunkt für ein Scheitern ist. Zunächst scheitert dabei der Versuch des Erzählers, das Erlebt-Erzählte in einen sinnvollen Wiedergabezusammenhang einzufügen. Dahinter steht jedoch ein viel umfassenderes Scheitern: Realität und Welt als solche sind es, die Risse bekommen, durch die etwas sichtbar wird, was sich jeder Art von Verständnis im Rahmen der vom Erzähler eingenommenen Haltung zur Wirklichkeit entzieht. Er scheitert an der Wirklichkeit selbst.

Daß dies so sein muß und vor allem so dargestellt wird, könnte wiederum auf ein Scheitern des Autors hinweisen, was sein Verhältnis zu den dargestellten oder damit symbolisierten Erscheinungen und Vorgängen betrifft, hinter denen ihm die unheimliche Formlosigkeit und Absolutheit der Apokalypse wenigstens als Ahnung erscheint. Das Absurde als finale Steigerung und Ausweitung des Grotesken auch auf die Mechanismen und Möglichkeiten der literarischen Wiedergabe würde somit die Erfahrung der Grenze der mitteilbaren Realität (oder deren Überschreitung) darstellen und diese Realität in ihrer zeitlichen und räumlichen Ordnung und Erfahrbarkeit in Frage stellen. Indem das Lachen, das das Groteske hervorruft, im Grauen erstickt136, öffnet sich der Horizont gewohnter Systeme über deren Systematik und »Heimlichkeit« hinaus auf ein Gebiet, das, wie wir noch sehen werden, die (ortlose und zeitlose) Heimat der Melancholie sein könnte.

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4. Sprachliche Merkmale naiver Erzählweise

4.1. Die Natürlichkeit des Absurden

Daß bei der Suche nach Merkmalen naiver Erzählweise die Sprache im Vordergrund steht, ist naheliegend. Da es der Autor unternimmt, die Welt, in der seine Personen handeln, durch deren Augen zu sehen und diese Sicht ohne reflektierenden Kommentar unmittelbar wiederzugeben, sich quasi auf einer Ebene mit seinen Figuren zu bewegen, muß sich deren Seh-, Erlebens- und Denkweise zuallererst in der verwendeten Sprache niederschlagen.

Unkritisch, wenig erfahren, arglos und ahnungslos nähert sich der »natürliche Naive« der Welt, die er unbefangen, im wesentlichen eindimensional strukturiert und mit »kindischer« Treuherzigkeit für die ihr in seinen Augen zugrunde liegenden Regeln wahrnimmt, weshalb seine Versuche, sie zu erklären, einfältig, bisweilen töricht ausfallen. Da seine Perzeption (so man von einer solchen sprechen mag) der ihn umgebenden Welt deren Ursprünglichkeit, Harmlosigkeit innerhalb systematischer Bekanntheit und Natürlichkeit voraussetzt, ist er nicht imstande, widersinnige, chaotische, unbekannten Regeln folgende oder böswillig eingeleitete Vorgänge wirklich zu begreifen. Er kann diese jedoch auf gänzlich andere Weise beschreiben als der Wissende, Reflektiert-Erfahrene, da dieser gelernt hat, Erscheinungen auf Ursachen und Gründe zurückzuführen oder solche zu konstruieren, wo er sie nicht ohnehin aufgrund seines Weltwissens unbewußt voraussetzt, was seinen Blick auf die Welt auf andere Weise verengt und verkürzt. Was dem Erfahrenen im Rahmen seines Erkenntnissystems ursächlich nicht begründbar ist, blendet er aus oder sieht und erklärt es anders.

Hier liegt eine der Möglichkeiten einer naiven Erzählweise: Wer die Welt gleichsam mit den Augen eines Kindes betrachtet, stellt intuitiv auch in ihrer Wiedergabe Zusammenhänge her, die dem Erfahrenen widersinnig, nutzlos oder töricht erscheinen; die reflektierende Beschäftigung damit kann jedoch Strukturen der eigenen Wirklichkeitsauffassung relativieren, indem man deren als sicher und verläßlich erfahrenes System von Zusammenhängen aus anderem Blickwinkel sieht und es somit einer Prüfung »von außen« unterziehen kann.

Dem Naiven erscheint das Surreale, Groteske oder Absurde normal137, während ihm »normale« - unter Umständen verselbständigt statische - Gepflogenheiten etwa des sprachlichen Umgangs bis in die unfreiwillige Selbstkarikatur entgleiten, da er ihre Regeln nicht verinnerlicht hat. Indem sich der naive Erzähler, ohne es zu bemerken, in den Fallstricken der Normalität verirrt, bricht er deren Strukturen auf und macht die Punkte sichtbar, an denen Konvention und Gewohnheit Logik und Vernunft verdrängen oder ersetzen.

Der primäre Aspekt einer naiven Erzählweise muß folglich die Sprache sein. Wilhelm Emrich hat sich - ohne den Begriff naiv wörtlich zu verwenden - diesbezüglich mit Franz Kafka befaßt. Er bezeichnet Kafkas Werk als »reinste[n] dichterische[n] Ausdruck des 20. Jahrhunderts, darum aber auch das verschlossenste Werk für die in dieser Epoche Gefangenen. Es spiegelt einen Weltzustand, der ›noch nicht in unser Bewußtsein eingedrungen‹ ist.«138 Im Gegensatz zu anderen bedeutenden Autoren seiner und unserer Zeit gelingt es Kafka, sich als Erzähler vollständig aus der ihn umgebenden Welt und den für seine Zeit maßgeblichen Konventionen des kollektiven (gesellschaftlichen) und individuellen Bewußtseins zurückzuziehen und sie mit den Augen eines Menschen zu betrachten, der »außerhalb unseres Volkes, außerhalb unserer Menschheit«139 steht;

immerfort ist er ausgehungert, ihm gehört nur der Augenblick, der immer fortgesetzte Augenblick der Plage, dem kein Funken eines Augenblicks der Erhöhung folgt, er hat immer nur eines: seine Schmerzen aber im ganzen Umkreis der Welt kein Zweites, das sich als Medicin aufspielen könnte, er hat nur soviel Boden als seine zwei Füße brauchen, nur soviel Halt als seine zwei Hände bedecken, also um soviel weniger als der Trapezkünstler im Variete, für den sie unten noch ein Fangnetz aufgehängt haben.

Die Wiedergabe seiner Beobachtungen orientiert der Erzähler logischerweise nicht an den Haltepunkten »konventioneller«140 Erzählweisen. So scheint dem Leser die Welt, die er zu kennen glaubt, in Kafkas Darstellung zu verschwimmen und ihre gewohnte Form aufzugeben: Zeit und Raum verlieren ihre - quasi diesseits der erzählten Welt festgelegte - strukturierende Funktion und werden statt dessen zu Phänomenen, die die Beobachtungen des naiven Erzählers nicht als über der Realität gelegene Ordnung bestimmen, sondern die Gesetze ihrer Form und ihres Ablaufs der Realität des Beobachters unterordnen. »Realität schießt gleichsam ungefiltert, ungemildert und ungelenkt von vorgegebenen Denk- und Anschaungsformen in sein Werk ein.«141

Kafka selbst beschreibt diese Erzählhaltung kürzer und deutlicher als wir es könnten: »Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe z. B. Er schaute aus dem Fenster so ist er schon vollkommen.«142 Es sei angemerkt, daß gerade diese Aussage nicht ohne reizvolle Widersprüchlichkeit ist: Die auf den vorhergehenden Seiten der Tageb ü cher 1909 - 1912 abgedruckten Eintragungen, in denen Kafka über den verderblichen Einfluß seiner Erziehung reflektiert, widerlegen seine Behauptung, indem sie immer wieder mit dem gleichen, bewußt leicht variierten Einleitungssatz beginnen:

Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. (17; zweimal)

Oft überlege ich es und immer muß ich dann sagen, daß mir meine Erziehung in manchem sehr geschadet hat. (18)

Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf ohne mich einzumischen und immer, wie ich es auch wende, komme ich zu dem Schluß, daß mir in manchem meine Erziehung schrecklich geschadet hat. (19)

Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf, ohne mich einzumischen, aber immer komme ich zu dem Schluß, daß mich meine Erziehung mehr verdorben hat als ich es verstehen kann. (21 f.)

Ich überlege es oft und lasse den Gedanken ihren Lauf ohne mich einzumischen, aber immer komme ich zu dem gleichen Schluß, daß die Erziehung mich mehr verdorben hat, als alle Leute, die ich kenne und mehr als ich begreife. (25)

Diese Stellen zeigen sehr deutlich, wie Kafka an dem anfangs nüchternen und sachlichen Satz »feilt«, um ihm die Naivität unmittelbaren Ausdrucks zu verleihen.143 Wichtig ist dabei vor allem der Aspekt der Unverständlichkeit bzw.Unbegreiflichkeit.

Dadurch erklärt sich die scheinbare Unzugänglichkeit von Kafkas Erzählungen: Sie folgen nicht den Regeln der Realität, die der Leser als »Erfahrener« verinnerlicht hat, sondern anderen Ordnungen (oder gar keinen).

Wesentlich direkter geht Karl Valentin vor: Absurde Situationen entstehen bei ihm nicht dadurch, daß die erwähnten Naturgesetze aufgehoben und durch unmittelbare Erfahrung ersetzt werden, sondern indem die handelnden bzw. erzählenden Personen vorgegebene Regeln genauer und weiter befolgen, als es der Konvention entspricht. Dadurch zeigt sich, wie wir bereits gesehen haben, der Mangel an grundsätzlicher Stringenz, der diesen Regeln innewohnt und sie als konstruierte Konventionen innerhalb der Realität entlarvt.

Ödön von Horváths naive Erzählweise liegt sozusagen in der Mitte zwischen Kafka und Valentin, zielt jedoch in eine etwas andere Richtung als zumindest ersterer: Nicht die Welt an sich ist es, die in seinen Erzählungen zum »Sprechen« gebracht werden soll, sondern die Menschen als Bewohner und konstituierende Elemente einer aus den Fugen geratenen, entfremdeten und pervertierten gesellschaftlichen Ordnung, deren Zerfall sich sprachlich in deutlicher Zeitbezogenheit äußert und dennoch auch im Individuellen universelle Züge trägt.

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4.2. Die Sprache des Spießers

Die Sprache, die Ödön von Horváth in seinen Romanen verwendet, erweckt auf den ersten Blick den Eindruck einer solchen Unmittelbarkeit und Wirklichkeitstreue, daß dem Autor verschiedentlich der Vorwurf gemacht worden ist, er habe sich jeder Kunst enthalten und gehe lässig mit der Sprache um.144 Dieser erste Eindruck täuscht vollkommen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich Horváths Sprache als »dicht, trefflich, ja raffiniert, wiewohl mit intuitiver Intellektualität gefügt«145. Sie läßt sich anhand einer Reihe charakteristischer Merkmale beschreiben, die der Autor gezielt einsetzt. Als grundlegende Stichworte könnte man nennen: Bildungsjargon, bewußt stilisierte Sprechsprache, entfremdete Formeln/Leerwörter, Sondersprachen.

Der Bildungsjargon - diesen Begriff prägte Ödön von Horváth selbst für eine bestimmte Art von Sprachpraxis, die als wesentliches Merkmal die Entfremdung vom Dialekt und dessen Zersetzung trägt146 - äußert sich in der kritiklosen Übernahme im Grunde unverstandener Gemeinplätze, Fremdwörter, Redewendungen, Parolen und Schlagworte, die der Sprecher dazu benützt, sich von der »unter ihm« situierten sozialen Schicht nach oben abzusetzen. Die aus Bequemlichkeit und trotzigem Unvermögen entstandene Denkunfähigkeit, die den solchermaßen nach oben buckelnden und nach unten tretenden Spießer »auszeichnet«, ist ein weiterer Grund für den Rückgriff auf den Bildungsjargon.147

Léon Bloy beschrieb den Träger solcher Sprache bereits 1902 im ersten Teil seiner Auslegung der Gemeinpl ä tze:

Der wahre BÜRGER, das heißt - in einem so modernen und allgemeinen Sinne wie möglich - der Mensch, der keinerlei Gebrauch von seiner Denkfähigkeit macht und der lebt oder zu leben scheint, ohne auch nur einen einzigen Tag lang von dem Bedürfnis heimgesucht worden zu sein, etwas zu verstehen, gleichgültig was, der authentische und unbestreitbare BÜRGER ist in seiner Sprache zwangsläufig auf eine sehr kleine Zahl von Formeln beschränkt.148

Die Sprache des Spießers entspringt seiner Dummheit, trägt Züge von Brutalität und gibt dem Sprechenden die Möglichkeit, sich jederzeit im Recht zu fühlen, indem die »wahre« Wirklichkeit und alle damit zusammenhängenden Gefahren der Irritation und Verunsicherung konsequent ausgeblendet werden. Das in wesentlichen Teilen von Konventionen bestimmte und vorformulierte Sprachmaterial ist zur Legitimation von Handlungen nicht geeignet und führt, wo es in diesem Sinne eingesetzt wird, zwangsläufig zum Scheitern.149 Damit ist auch die Möglichkeit ausgeschlossen, Veränderungen der sozialen Umstände herbeizuführen oder auch nur als möglich zu erkennen, ohne den eigenen Sprachgebrauch kritisch zu reflektieren - was mit Ausnahme des Lehrers in Jugend ohne Gott keiner von Horváths Romanfiguren gelingen kann. »Keiner sieht sich selbst, geschweige den anderen. Die Augen sind verschmiert vom allgemeinen Bildungsbrei.«150

Horváth gibt diese Form der Sprache vor allem im Ewigen Spie ß er und den Sechsunddrei ß ig Stunden unkommentiert und nur gelegentlich ironisch verstärkt wieder und läßt die Dummheit, die Brutalität und das fehlende Kommunikationsvermögen, die ihr zugrunde liegen, sich dadurch selbst entlarven. Wenn es etwa in Sechsunddrei ß ig Stunden heißt: »Der Kastner sprach sehr gewählt, denn eigentlich wollte er Journalist werden« (38)151, so ist damit die Oberflächlichkeit der Kastnerschen Bildung bereits festgestellt. Daß er sich Agnes mit den Worten »Gnädiges Fräulein, zürne mir nicht« und dem Zitat »Honny soit qui mal y pense« (38) nähert, weist nicht etwa auf Respekt und Wertschätzung hin, sondern entspringt der billigen Strategie des »fotografischen Zuhälters«. (39)152

Deutlicher noch äußert sich der Zitier- und Fremdwörterwahn des Bildungsjargons im Kapitel 12, wenn Kastner der Agnes auseinandersetzt,

daß, als er sie kennenlernte, er sofort erkannt hat, daß sie keine kalte Frau, sondern vielmehr feurig ist, ein tiefes stilles Wasser, eine Messalina, eine Lulu, eine Büchse der Pandora, eine Ausgeburt. Es gäbe überhaupt keine kalten Frauen, er habe sich nämlich mit diesen Fragen beschäftigt, er »spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung«. (41)

Erneut zeigt sich der Charakter der Kastnerschen Bildung, eines Sammelsuriums in prahlerischer Absicht zusammengestellter, ungeschickt gewählter Schlagworte, vollends entlarvt kurz darauf durch ein falsch wiedergegebenes Fremdwort: »damit Busen und Hintern mehr herausträten und sich erotisizierender präsentieren können«. (42) Es sei darauf hingewiesen, daß Horváth das falsch zitierte Fremdwort und die unrichtige Aneinanderreihung der Verbformen »-träten« (Konjunktiv) und »können« (Indikativ) nicht etwa als wörtliche Rede wiedergibt, also den Erzähler in derselben Sprache wie seine Figuren sprechen läßt.

Weitere Beispiele für den Bildungsjargon bietet der erste Teil des Ewigen Spie ß ers. Da kokettiert der Journalist Schmitz mit Sozialphrasen von der Ausbeutung der Kolonien (198 f.), kann Kobler die Rührung, die ihn angesichts der Erkenntnis eigener Vergänglichkeit befällt, nur in Phrasenform fassen, ehe sie ihm wieder ins Geschwätz entgleitet:

»Was ist der Mensch neben einem Berg?« fiel es ihm plötzlich ein, und dieser Gedanke ergriff ihn sehr. »Ein großes Nichts ist der Mensch neben einem Berg. Also möcht ich nicht in den Bergen wohnen. Dann wohn ich schon lieber im Flachland. Höchstens noch im Hügelland.« (166)

Und immer wieder entlarvt die unreflektierte Wiederholung von Wörtern und Phrasen und der sprunghafte Wechsel von einem Thema zum anderen die Oberflächlichkeit des Denkens:

»Jetzt ist es finster«, sagte der Hofrat. »Sehr finster«, sagte der Mann. »Es ist so finster geworden, weil wir durch den Tunnel fahren«, sagte der Hofrat. »Vielleicht wirds noch finsterer«, sagte der Mann. »Kruzitürken, ist das aber finster!« rief der Hofrat. »Kruzitürken!« rief der Mann. (165)

Auf den Wunsch des Hofrats, »alle Sozis aufghängt« zu erleben, empfiehlt der Mann Vertrauen in »den dort oben«. Der Hofrat jedoch weiß über sich nicht einen Gott, sondern den »Berg Isel«, was dem Mann das Stichwort »Andreas Hofer« eingibt. Dessen Name wiederum führt seine Gedanken zu einem Thema, an dem sich die geistige »Finsternis« seiner Zeit geradezu beispielhaft zeigt, kurz und umfassend ausgedrückt in der antisemitischen Phrase »Die Juden werdn zu frech.« (165) Diese Stelle kann als Beleg dafür dienen, daß Horváth die scheinbar vollkommen wirren Gedanken- und Gesprächsgänge seiner Personen sehr genau »komponiert«: Die ganze Dummheit der Diskussion über die Juden wird durch den direkten Vergleich mit dem Gespräch über die Finsternis entlarvt.

Am vielleicht deutlichsten zeigt sich die Leere und die Wirkung des Bildungsjargons in der »Europa«- Diskussion zwischen Kobler und Schmitz im Ewigen Spie ß er (188 ff.), wo es Fremdwörter und Klischees nur so hagelt (ohne Schwertstreich; Heilige Allianz ist gleich Völkerbund; Mandatsgebiet; einen dicken Strich unter unsere Vergangenheit ziehen; Zoll- und Paßschikanen; es gibt halt überall anständige Menschen; lieber Herr!; Verständigungsidee; exhibitionelle Stimmung; weltpolitische Probleme; pekuniärer Erfolg; grausige Realistik/Phantastik; die Kunst hört allmählich auf; oft versteh ich ihre Generation überhaupt nicht; adionysisch in einem höheren Sinn etc.), ehe Schmitz schließlich die ganze »Idee« des Bildungsjargons in einem Satz gleichsam paraphrasiert: »›In meiner Jugend hab ich den halben Faust auswendig hersagen können und den ganzen Rimbaud.‹«153

Der Hang des Spießers zu sinnentleerten Gemeinplätzen, deren eigentliche Aussage er oft gänzlich mißversteht, läßt sich auch in Sechsunddrei ß ig Stunden deutlich nachweisen:

Als Eugen die ehemaligen Kasernen sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Mächte, die stärker wären als der Mensch [...]. (11)

Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal [...]. (12)

[...] auch der Golfstrom sei nicht mehr so ganz in Ordnung, hörte man in München. (12)

»Im Namen seiner Majestät ist der Ernährer der Familie auf dem Felde der Ehre gefallen!« (13)

Eugen meinte, daß jeder Mensch Verwandte hat, der eine mehr und der andere weniger [...] Auch Eigenschaften wären erblich [...]. (16)

Überhaupt ging alles seine schicksalhafte Bahn, das Größte und das Kleinste [...]. (18)

Eugen erwiderte, heute hätten es sich die Kapazitäten ausgerechnet, daß jeder Lustmord eine Krankheit wäre [...]. (22)

Hinwiederum sei die Isar zwar grüner als die Donau, dafür sei aber wieder München die Hauptstadt Bayerns. (23)

Und jetzt sei überhaupt wieder ein Tag zu Ende und morgen begänne ein neuer Tag. (27)

»Es gibt wenige gute Leut und die werdn immer weniger.« (46)

Diese kurze Auswahl154 zeigt nebenbei noch mehrerlei: Zum einen sind es zwar sowohl Männer als auch Frauen, die in Gemeinplätzen denken und sprechen, es fällt jedoch auf, daß Horváths Männer einen stärkeren Hang dazu haben, solche Leerformeln auch von sich zu geben. Zum anderen entstammen die Gemeinplätze, die von dem männlichen Personal verwendet werden, schon in Sechsunddrei ß ig Stunden und mehr noch im Ewigen Spie ß er zu einem auffalllend großen Teil der Militär- und Techniksprache, die bereits typische Züge der nationalsozialistischen Begriffswelt trägt. Die in Sechsunddrei ß ig Stunden und dem Ewigen Spie ß er fast immer implizierte ironische Ambivalenz der Gemeinplätze ist in den späten Romanen kaum mehr festzustellen. Zwar ähnelt es den Ausführungen früher Horváthscher Figuren, wenn der Soldat in Ein Kind unserer Zeit die Ausbreitung städtischer Besiedelung in ländliche Gebiete mit den Worten »die Welt dreht sich und das Leben läßt sich nicht lumpen. Wir entwickeln uns immer höher hinaus« (52) erklärt. Aber die leeren Formeln und Sprichwörter erhalten in Ein Kind unserer Zeit in ihrer Mehrzahl das Wesen unumstößlich feststehender Grundsätze:

Lieber stehlen als betteln! (13)

Jetzt ist immer einer neben dir. (14)

Ordnung muß sein! (14)

Ein starkes und mächtiges Reich, ein leuchtendes Vorbild für die ganze Welt! (16)

Heute ist alles anders. (16)

Ohne Lüge gibt's kein Leben. (16)

Der Krieg ist der Vater aller Dinge. (19)

Bei dem weiblichen Geschlechte weißt du nie, woran du bist. (24)

Jaja, die Herren Weiber sind ein Kapitel für sich!

Sie bringen dich auf die Welt und bringen dich auch wieder um. - (25)

Aber so treibens halt die feschen Weiber! (27)

Unsere Führer werdens schon richtig treffen! (28)

Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedlich wir gewesen sind. (36)

Jaja, schlau muß man sein, wenn man seinem Vaterlande nützlich dienen will. (42)

Denn was einer ansonsten privat sündigt, das wird alles ausradiert, wenn er für das ewige Leben seines Volkskörpers stirbt - merk dir das, Schwester! (45)

Jaja, wir Männer fallen im Feld und die Weiber fallen zu Haus. (55)

Es gibt nämlich unerklärliche Dinge auf unserer Erde, seltsame Geheimnisse, unerforschte Zusammenhänge - finden Sie es nicht auch? (64)

Wer hat, der hat! (65)

Diese Bettler werden immer unverschämter. (67)

Bös muß man sein, berechnend und immer kälter - Rücksichtslos bis zum Äußersten! (72)

Der Soldat - diese Auswahl zeigt es - stellt eine Fortentwicklung, ja »Perfektion« des Ewigen Spie ß ers dar155, dessen sprachlich bestimmte Vorstellungswelt die militärische und nationalsozialistisch-ideologische Denkart nunmehr vollständig übernommen hat.

Die Sprache, in der Horváths Figuren sich zeigen, ist gleichzeitig Flucht in die Anonymität und Verweis auf die von ihnen bewohnte Wirklichkeit, die von Horváth dem Leser als »Wirklichkeit der Sprache« vermittelt wird. Über die reale und soziale Wirklichkeit wird nicht in Dialogen gehandelt, sie wird auch kaum beschreibend genannt oder erklärt, sondern tritt unmittelbar durch die Sprache der handelnden Personen (zu denen unter diesem Aspekt auch der Erzähler des Ewigen Spie ß ers zumindest vordergründig zu zählen ist) ans Licht.

Wie bestimmend und kennzeichnend der Bildungsjargon für das sprachliche Leben seiner Zeit war, belegt eine kurze Bemerkung eines anderen Zeitzeugen:

Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das Dritte Reich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte: Garant klingt bedeutsamer als Bürge und diffamieren imposanter als schlechtmachen. (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und auf den wirkt es dann erst recht.)156

Nicht unwesentlich für die Aneignung des Bildungsjargons waren schulische und vor allem berufliche Ausbildung insbesondere in Angestelltenberufen. Siegfried Kracauer faßt dies so zusammen:

Die Orthographie [in den von Schulabgängern ausgefüllten Fragebögen der Berufsberatungsstelle des Zentralverbandes der Angestellten - Anm MS] ist nicht immer einwandfrei, und oft überwuchert die illegale Grammatik der Umgangssprache die erlernten schriftdeutschen Regeln. Ein, zwei Jahre später, und literarisch gewiegte Lehrlinge werden in Geschäftsbriefen ihr »Und empfehlen wir uns ...« mit Sicherheit schreiben.157

Es ist also durch die Erfahrung und Assimilation der Kunstsprache der Büros und Kontore das eingetreten, was die schulische Bildung nicht geschafft hat: die von Horváth und Bloy beschriebene Zersetzung des Dialekts und Beschränkung der Sprache auf wenige, leere Formeln.

Auf Charakter und Funktion des Bildungsjargons wird an anderer Stelle noch einzugehen sein, bereits hier kann jedoch festgestellt werden, daß er ein wesentliches sprachliches Merkmal der Horváthschen Erzählweise und einer seiner hauptsächlichen Angriffspunkte, weil konstituierend und typisch für das »falsche Bewußtsein« ist. Ein kleines, nicht unwichtiges Detail sei angefügt: Als Horváth im Interview auf die Frage nach seinem schulischen Erfolg mit der dem Bildungsjargon ähnlichen Phrase »mehr oder minder« antwortet, entlarvt er diese sofort im Anschluß, indem er sie durch Weglassen der Konjunktion »oder« in valentinesken Widersinn verwandelt: »Mehr minder.«158

Ein nicht direkt im Begriff des Bildungsjargons enthaltenes, ihm jedoch korrespondierendes Merkmal sind Wortwiederholungen (etwa das Gerede des Sachverständigen über den »Notsitz« im Ewigen Spie ß er (132)) und »Füll- und Leerwörter«159, die die Bestandteile des Bildungsjargons umgeben, verbinden und in ironischer Weise ihren Charakter verdeutlichen. Dazu gehören vor allem im Ewigen Spie ß er Wörter und Redewendungen wie: gar, so ganz, nämlich, natürlich, halt, direkt, eigentlich, ja, eben. Sie dienen in den meisten Fällen dazu, einem Argument »die Aura des feststehenden Gesetzes zu verleihen«160, zumindest jedoch dem angesprochenen Dialogpartner die Sinnlosigkeit einer weiteren Diskussion von vornherein klarzumachen. Wenn im Ewigen Spie ß er Schmitz zu Kobler sagt: »Zwischen uns ist halt eben eine Generation Unterschied« (190), so hat dieser Satz durch die beiden »Füllwörter« den Schein einer ganz anderen Evidenz erhalten als der eigentlich »korrekte« Satz »Zwischen uns ist eine Generation Unterschied«, der Kobler zumindest zum Nachrechnen animieren könnte.

Ebenso verfährt in Jugend ohne Gott der Schüler Bauer, wenn er in seinem Aufsatz über die Notwendigkeit der Kolonien die Ansammlung nachgebeteter Parolen noch mit dem Zusatz »letzten Endes« verstärkt: »[...] denn auch der Bauer gehört letzten Endes zum Volk.« (13) Daß der vermeintlich betonende Charakter der Floskel in diesem Fall durch die dabei erzeugte Doppeldeutigkeit unfreiwillig in die Selbstparodie umkippt (Man könnte in Horváthschem Sinne formulieren: Eigentlich gehört der Arbeiter nicht direkt zum Volk, letzten Endes aber eben halt doch), macht der unmittelbar folgende Kommentar des Lehrers noch deutlicher:

Das ist ohne Zweifel letzten Endes eine großartige Entdeckung, geht es mir durch den Sinn und plötzlich fällt es mir wieder auf, wie häufig in unserer Zeit uralte Weisheiten als erstmalig formu lierte Schlagworte serviert werden. (13)161

Man könnte in den Worten des bereits zitierten Léon Bloy anfügen:

Wie groß wäre das Entsetzen eines Restaurantbesitzers oder Eisenwarenhändlers, welcher Schrecken befiele den Apotheker und den Beamten, wenn ihnen urplötzlich klar würde, daß [...] die Redensart, die sie eben nach Hunderten von Millionen anderer Kopfloser ausgesprochen haben, in Wirklichkeit der schöpferischen Allmacht entwendet ist und daß sie, wenn die Stunde gekommen ist, sehr wohl eine Welt entspringen lassen könnte?162

Teilweise entstammen die »Füllwörter« einem weiteren Charakteristikum für die Wirkung der Horváthschen erzählerischen Strategie, der Verwendung einer Art Sprechsprache auch im nicht direkt wiedergegebenen Dialog, die jedoch nicht in die phonetische Wiedergabe von Dialekt abgleitet, da es Horváth nicht darum geht, diesen zu diffamieren, sondern die »völlige Zersetzung der Dialekte durch den Bildungsjargon«163 aufzuzeigen.

Merkmale dieser Sprechsprache sind u.a.

- die Weglassung des abschließenden -e (phonologische Subtraktion): Ich mach, man sollt, versündig dich nicht, die werdn, ich nehm, ich geh, Freud, Ruh, imstand;
- die Abkürzung des höflichen »Sie« zu einem angehängten -s (Apokope): Langweilens mich nicht;
- die umgangssprachliche Verkürzung und (unkorrekte) Verlängerung von Wörtern (morphologische Subtraktion bzw. Addition): endlich mal, einzigste, nein-nein;
- die Ersetzung von Wörtern (Substitution): Dort sitzt immer wer (statt jemand), ich höre wen (statt jemanden) ruhig atmen, mehr wert wie (statt als), Mit was (statt womit) haben wir das verdient?;164
- der Einsatz von verkürzten, teilweise bis auf ein Wort reduzierten Sätzen: Lieblich. Ich? Warum? Wo denn nur? Aber zufrieden?

Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit bestehen zu einem großen Teil aus solchen einfachen und kurzen Sätzen.165 Wo Horváth Gliedsätze und Satzgefüge einsetzt, geschieht dies meist in parataktischer Reihung166 - oder mit deutlichen Fehlern, wie in der folgenden Stelle aus Sechsunddrei ß ig Stunden:

Neulich habe ihr ein Herr von der Ortskrankenkasse erzählt, daß, wenn eine Üppige ein Restaurant betritt und da sitzen lauter Herren mit lauter mageren Damen, dann fingen alle Herren hinter der Üppigen her heimlich das Trenzen an. (47)

Einige der hier aufgezählten Merkmale sind Kennzeichen von Dialektsprache. Dazu gehören auch offensichtliche »Fehler« in der Wort- und Satzbildung (Jetzt hab ich ihm eine heruntergehaut (Jugend ohne Gott 66), krieg ich einen Krach (111)) und Sonderformen wie Buben, Mädeln, auf dem zweiten Stock, Tepp, verteppen, einladen auf, Lauser. Ein weiteres Merkmal (süddeutscher) Dialektsprache ist der Einsatz von Wörtern wie »nämlich« (»nämlich er hatte sich selbst befriedigt« (Der ewige Spie ß er 34)) und »ganz«, etwa in dem Satz: »Neben dem Bahndamm stand das Schilf mannshoch, und das rauschte ganz romantisch-gespenstisch.« Die leicht romantisierende Beschreibung des rauschenden Schilfs erhält durch »ganz« (sowie durch ein Komma und »das«) deutlich sprechsprachliche, phrasenhafte Naivität.167

Burckhard Garbe weist im Zusammenhang mit seiner Untersuchung der Sprache bei Horváth zu Recht auf Martin Sperrs Aussage zur Verwendung von Dialekt als erzählerisches Mittel hin: »Die Verwendung des Dialekts hat nichts mit Lokalpatriotismus zu tun, sondern ist Ausdruck eines politischen Bewußtseins: Das Instrument der wirklichkeitsnäheren Sprache wird benutzt zur Erfassung und Darstellung der sich verändernden gesellschaftlichen Realitäten.«168 Zwar steht dem Horváths eigene Aussage - »ich schreibe ja auch nur deshalb süddeutsch, weil ich anders nicht schreiben kann«169 - scheinbar entgegen. Es sei jedoch an Horváths Bemerkung über die Zersetzung des Dialekts durch den Bildungsjargon erinnert. Die Beschränkung auf bestimmte Merkmale des Dialekts ist außerdem meiner Ansicht nach ein deutlicher Beweis für dessen bewußten Einsatz.

Zweifellos gezielt eingesetzt werden bestimmte Begriffe und Redewendungen aus Sondersprachen, vor allem in den späten Romanen. Dies sind, wie Garbe für Jugend ohne Gott festgestellt hat, Schulsprache, Justiz- und Verwaltungssprache, Fußballsprache, Militärsprache, religiöse Sprache und die Sprache des Nationalsozialismus, die in offensichtlichem Gegensatz zu dieser die Alltags- und Dialektsprache der Romane durchziehen und ihren Charakter (ver-) formen. Sie äußern sich im verwendeten Wortschatz z.B. folgendermaßen:170

- Schulsprache: Lehramtskandidat, Lehrkörper, Heft, Aufsatz, Klasse, Lehrerzimmer;
- Justiz- und Verwaltungssprache: Pensionsberechtigung, Aufsichtsbehörde, Stellung, vor- schriftsgemäß, minderjährig, Schuldgeständnis, anläßlich, Angelegenheit, das Vorgefallene, Verordnung, Weisung, Disziplinarstrafe, sowie die justiztypischen Bezeichnungen Mord, Raub, Brandstiftung, Meineid, Begünstigung, Diebstahl, Anklage, die zwar auch in der Alltagssprache geläufig sind, von Horváth jedoch bewußt als nicht näher erläuterte oder umschriebene Termini eingesetzt werden;
- Fußball- bzw. Sportsprache: Schlußpfiff, Mannschaft, hochklassig, zahlende Zuschauer, Rechtsaußen, überspielen, Mittelstürmer, in den leeren Raum, vorlegen, Tormann, Flügelspiel, Torlinie, retten; sowie die österreichischen Besonderheiten: Linker Half, zentert, forciert;
- Militärsprache: zum Krieg erziehen, zur Schlacht rüsten, Kriegsjahr, krepieren, Feld, Parade, Todfeind, vormilitärische Ausbildung;
- religiöse bzw. kirchliche Sprache: der Allmächtige, Bibel, Sündflut, Adam, Eva, siehe welch ein Mensch!, Opfer, Seele, Schöpfung, Paradies, selig;

Durchaus mit Absicht - auch darauf weist Garbe hin171 - überschneiden sich die Elemente einzelner Sondersprachen. Dabei ist es vor allem die Militärsprache, die Schnittmengen mit den anderen Sondersprachen bildet, sich in Fußball-, Justiz- und religiöser Sprache wiederfindet. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und behaupten, daß im Prinzip alle von Horváth verwendeten Sondersprachen Teil (oder zumindest Schnittmengen) einer umfassenden, jargonisierten Sondersprache sind: der Sprache des Nationalsozialismus172. Zwar hat diese eine ganze Reihe von Begriffen neu- oder nachgebildet, die ihr ganz eigen sind. Doch stellt Victor Klemperer fest, daß ab 1933 die ursprünglich in Hitlers Mein Kampf manifestierte »Lingua Tertii Imperii« »aus einer Gruppen- zu einer Volkssprache«173 wurde, »d.h., sie bemächtigte sich aller öffentlichen und privaten Lebensgebiete: der Politik, der Rechtsprechung, der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Schule, des Sportes, der Familie, der Kindergärten und der Kinderstuben.«174

Eine für das Bewußtsein der Personen in Horváths späten Romanen wichtige Sonderrolle spielt dabei die von Klemperer sogenannte »Heeressprache«: »Natürlich bemächtigte die LTI sich auch, und sogar mit besonderer Energie, des Heeres; aber zwischen Heeressprache und LTI liegt eine Wechselwirkung vor, genauer: erst hat die Heeressprache auf die LTI gewirkt, und dann ist die Heeressprache von der LTI korrumpiert worden.«175

Diese Wechselwirkung schlägt sich in Horváths späten Romanen unmittelbar nieder: Während in Jugend ohne Gott eine deutliche Militarisierung der Sprache des täglichen Lebens und vor allem der Schule (also der Erziehung) festzustellen ist, trägt in Ein Kind unserer Zeit die Sprache des militarisierten Menschen (des Soldaten) weitere Anzeichen direkt nationalsozialistischer Einflüsse, etwa wenn der Soldat im ersten Kapitel sagt176:

Denn wir brauchen keine himmlische Ewigkeit mehr, seit wirs wissen, daß der einzelne nichts zählt - er wird erst etwas in Reih und Glied.

Für uns gibts nur eine Ewigkeit: das Leben unseres Volkes. Und nur eine himmlische Pflicht: für das Leben unseres Volkes zu sterben.

Alles andere ist überlebt.

Wir treten an.

Ausgerichtet, Mann für Mann. (23)

Es mag auf den ersten Blick nicht schlüssig erscheinen, Elemente aus Sondersprachen als Merkmale naiver Erzählweise zu identifizieren. Doch zeigt sich gerade in deren Verwendung Horváths Absicht: Welch große Rolle bestimmte Sondersprachen für das Bewußtsein einer Zeit spielen, läßt sich nur durch die unverfälschte Wiedergabe aufzeigen. Die erwähnten Begriffe mittels Umschreibung oder Ersetzung durch »allgemeine« Begriffe gleichsam zu objektivieren, widerspräche dem unmittelbaren Charakter der naiven Erzählweise.

Das Bewußtsein der handelnden Personen als Stellvertreter für zeitbedingte »Bewußtseinstypen« äußert sich nicht nur in der unreflektierten Verwendung sondersprachlicher Begriffe. Diese Begriffe, dies zeigen Horváths Romane, sind andererseits maßgeblich beteiligt an der Formung des Bewußtseins. Klemperer formuliert dies so:

Aber Sprache dichtet nicht nur für mich, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbst- verständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus gifti- gen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.177 [...] Klischees bekommen eben Gewalt über uns.178

Horváth läßt diesen wechselseitigen Zusammenhang in Sechsunddrei ß ig Stunden anhand des Studienrats Gustav Adolf Niemeyer sich gleichsam selbst beschreiben, indem auf jeden neuen politischen Mord eine Verschärfung der nationalistischen Phrasen folgt:

Als Liebknecht und Luxemburg ermordet wurden, wurde es ihm klar, daß das deutsche Volk seine Ehre verloren hat und daß es selbe nur dann wiedererringen kann, wenn abermals zwei Millionen junger deutscher Männer fallen.

Als Kurt Eisner ermordet wurde, hing er die Fotografie seines Mörders neben jene seines Sohnes.

Als Gustav Landauer ermordet wurde, stellte er fest: »Die Ordnung steht rechts!«179

Als Gareis ermordet wurde, macht er einen Ausflug in das Isartal und zwischen Grünwald und Großhesselohe sagte er dreimal: »Deutsche Erde!«

Als Erzberger ermordet wurde, betrat er seit langer Zeit wiedermal ein Biercabaret am SendlingerTor-Platz. Dort sang ein allseits beliebter Komiker den Refrain: »Gott erhalte Rathenau, Erzberger hat er schon erhalten!« Es war sehr komisch.

Als Rathenau ermordet wurde, traf er einen allseits beliebten Universitätsprofessor, der meinte: »Gottlob, einer weniger!«

Als Haase ermordet wurde, ging er in die Oper und prophezeite in der Pause: »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!«

Und der Sturm brach los, das »Volk« stand auf und warf sich auf dem Münchner Odeonsplatz auf den Bauch. Da wurde es windstill in des Schulmeisters Seele.

Geistig gebrochen, doch körperlich aufrecht ließ er sich von der Republik pensionieren, witterte überall okkulte Mächte und haßte die Gewerkschaften. (50 f.)

Korrespondierend mag eine zeitgenössische Stimme Horváths - hier noch ironisch »aufgelockerte« - Absicht, die Verbindung von klischeesprachlicher Brutalität und realer Gewalt, NS-Jargon und einem stärker werdenden Hang zum »Mythos« aufzuzeigen, illustrieren:

Dies, dies waren ja gar nicht Arbeiter, Bauern, Studenten, nein, dies waren nicht Handwerker, An- gestellte, Kaufleute, Beamte, dies waren Soldaten. Nicht Verkleidete, nicht Befohlene, nicht Ent- sandte, dies waren Männer, die dem Anruf gehorchten, dem geheimen Anruf des Blutes, des Gei- stes, Freiwillige, so oder so, Männer, die eine harte Gemeinsamkeit erfuhren und die Dinge hinter den Dingen - und die im Kriege eine Heimat fanden. Heimat, Vaterland, Volk, Nation! Da die großen Worte - wenn wir sie aussprechen, dann war es nicht echt. Darum, darum wollten sie nicht zu uns gehören. Darum dieser stumme, gewaltige, gespenstische Einmarsch.180

Was Horváths - ein Dreivierteljahr jüngerer - Zeitgenosse Ernst von Salomon181 hier beschreibt, ist nichts anderes als die nach dem ersten Weltkrieg in einem seiner traditionellen Konsentes verlustig gegangenen Deutschland aufkeimende Geisteshaltung, um die es auch Horváth geht. Aus dem Nebel des deutschen Irrationalismus keimten in der dem Krieg als Jugendliche entwachsenen Generation »die mythisch-heroisierenden Vorstellungen Nation und Volkstum, Elite, nationale Ehre, Heroismus und Aktion, Rache und Mord«182, die sich direkt in der militarisierten Sprache ihrer Protagonisten niederschlugen und ihre Zusammenfassung fanden »in einem mystifizierten Deutschlandbild«183.

Salomons ungewollt (?) naive184 Beschreibung der eigenen geistigen Verfassung ist Hinweis auf und Abbild einer Form der Denkunfähigkeit, die, wenn auch sprachlich mit wesentlich größerem Geschick ausgedrückt, jener des Horváthschen Spießers sehr ähnlich ist: In den Freikorps, denen sich der sechzehnjährige Salomon anschloß, begegnete ihm »ein ins Ideologische gesteigerter Aktionswille, der wenig nach seinem eigenen Sinn fragte. Der Rausch des Kampfes war Rechtfertigung genug, über ihn hinaus gab es nur ein Thema, mit dem sich die Gedanken und Gespräche beschäftigten: Deutschland.«185

Es ist dies eine Geisteshaltung, die in den 20er Jahren aufblühte und auf die wir an anderer Stelle genauer eingehen werden. Wie wir noch sehen werden, liegen ihre Wurzeln früher: in der Erfahrung des Auseinanderbrechens des Zeitgefüges, die sich auf künstlerischem und politischem Gebiet bereits lange vor dem Krieg wiedergespiegelt hatte. Das Kaiserreich Deutschland hatte seit seiner Gründung 1871 nie über eine eindeutige, für die Nation maßgebliche Tradition, über ein starkes politisches Geschichtsbild verfügt und sich tief in einem solchen verwurzelter gesellschaftlicher Gepflogenheiten erfreuen können. Dieser Mangel war

selber das Werk der deutschen Geschichte und nicht aus einem Zuwenig, sondern aus einem Zuviel, aus dem Wettstreit zu vieler, gegeneinander nicht ausgeglichener Traditionen bzw. Geschichtsbilder entstanden. [...] Das Kaiserreich der Hohenzollern war nicht das Ergebnis einer wirklichen Verschmelzung der deutschen Staaten und Stämme, sondern ein kunstvoller Aus- gleichsversuch zwischen preußischer Überlieferung und gesamtdeutschem Anspruch. Die aus- schlaggebende Beamtenschaft, das Militär und das einflußreiche ostelbische Junkertum Preußens machten andere geschichtliche Perspektiven geltend als der Reichstag, die süddeutschen Staaten und die ökonomischen städtischen Zentren. Beiden, als den staatstragenden Kräften, stand ein sich sehr rasch bildendes, entwurzeltes Industrieproletariat gegenüber, das seiner wirtschaftlichen Funktion entsprechend völlig traditionslos war. Ohne Rückhalt an einer übergreifenden Staatsidee neigte jede dieser Schichten zur Verabsolutierung ihrer besonderen Tradition oder Traditions- losigkeit. In dem eigentümlich geöffneten deutschen Kulturbewußtsein vertieften sich diese Aspekte auf die Vergangenheit zu Weltauffassungen von religiös-metaphysischem Charakter. Ein Ausgleich mit dem Katholizismus fehlte. Die westlichen Ideen des aufgeklärten Humanismus blieben auf das an der liberalen Wirtschaft interessierte städtische Bürgertum beschränkt. So behielt der Volksgedanke seine imaginäre Anziehungskraft. Als Volk war man eins.186

Aus dieser Geisteshaltung entstand das, was man als »Konservative Revolution« bezeichnet. Der Begriff täuscht eine Verankerung in Tradition und Vergangenheit vor, deren Werte es zu bewahren, »konservieren« gelte. Wie wir gesehen haben, fußt dieser Anspruch auf falschen Vorstellungen und Voraussetzungen und suchte daher sein Heil in der utopischen Gegenwelt einer mystischen Kriegergemeinschaft. Schon im Vergleich mit Ernst von Salomon zeigt sich, daß Horváth die Sprache seiner Protagonisten bzw. Erzähler nicht zufällig und unreflektiert gestaltet: Der sprachliche Hinweis auf die Militarisierung von Sport187, Justiz und Kirche als Grundzug der faschistischen Gesellschaft ist deutlich und verweist weiter auf die von Horváth verwendeten Elemente der NS- Sprache.

Daß der Nationalsozialismus ideologisch der beschriebenen Mischung aus Traditionslosigkeit, falscher Tradition, Mystizismus und dem Zeitbruch entsprungenem Drang nach purer Bewegung entsprang, schlägt sich in seiner Sprache unmittelbar nieder. Deren Wortschatz entstammen etwa die folgenden von Horváth verwendeten Begriffe: hochstehende Industrie, ihrem innersten Wesen und Werte nach, der heimische Arbeitsmann, Volksganzes, Sabotage am Vaterland, Humanitätsduselei, Zeitgeist, Opfer, Sippschaft, Hochverräter, Unkraut vertilgen, national, allgemeine Gesundung, aufopferungsfreudig, liberalistische Zeiten, wertvolle Volksgenossen, Durchsiebung, getarnte Staatsfeinde.

Wie sehr der Nationalsozialismus und die geistigen wie kommunikativen Verirrungen, die ihn begünstigten und ihm zugrundelagen, das Bewußtsein des Menschen mit sprachlichen Mitteln formte und wie sehr sich das solchermaßen geformte Bewußtsein wiederum sprachlich äußerte, zeigen die Figuren in Horváths Romanen deutlich und teilweise fast prophetisch. Bevor wir darauf und auf den kurz angesprochenen Bruch des Zeitgefüges genauer eingehen, wollen wir zunächst ein weiteres konstituierendes und beeinflussendes Element der naiven Erzählweise ins Auge fassen.

***

5. Das moderne Märchen

5.1. Kurze Einführung in Geschichte und Theorie des Märchens

Die Bezeichnung Märchen oder Märlein für kleine, meist in Versen gehaltene Erzählungen ist seit dem 15. Jahrhundert bezeugt. Die sprachlichen Wurzeln des Begriffs reichen jedoch bis ins Germanische und Gotische zurück. Es kann daher nicht nur von einer weiten Verbreitung der Erzählform Märchen, sondern auch davon ausgegangen werden, daß es sich dabei um eine der ältesten Erzählformen (nicht nur) der deutschen Literatur handelt.188

Unsere heutige Vorstellung von Begriff, Gehalt und Form des Märchens ist weitgehend geprägt von der Märchensammlung der Brüder Grimm, die diese auf Anregung Clemens Brentanos in zwei Teilen 1812 und 1815 herausgaben und die als erste - im Gegensatz etwa zu den Sammlungen von Musäus (1782 - 1786), Benedicte Neubert (1789 - 1793), Ludwig Tieck (1798) und Ernst Moritz Arndt - auf literarische Umstilisierungen (im Geiste der deutschen Romantik) weitgehend verzichten wollte.189 Unter Märchen sind demnach neben Fabeln, Legenden und Schwänken vor allem Geschichten von Zauber und Wundern zu verstehen, die nicht selten in absichtlicher Betonung ihres lügenhaften und doch wahren Charakters ursprünglich in mündlicher Überlieferung lebten und oft lehrhafte Elemente und moralische Vorbilder transportieren, dabei das Unmögliche mit dem Gewöhnlichen verbinden und in ihrem Motivgehalt archaischen Wurzeln entspringen.190

Der Begriff der Naivität ist mit dem Volksmärchen (im Unterschied zum sich davon bewußt absetzenden Kunstmärchen) untrennbar verbunden. Nicht nur herrscht in der erzählten Welt eine »naive ethische Ordnung«191, auch die Erzählhaltung folgt den Prinzipien der Naivität: Sie ist eindimensional ohne strukturellen Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits192, bedient sich nicht selten einer Art Sprechsprache193 ; seelische Vorgänge und Tiefen werden nicht kommentierend dargestellt; die handelnden Personen sind Figuren ohne individuellen Gehalt.

Bereits vor Jacob Grimm, der auf Motivzusammenhänge zum Heldenepos und zur Fabel verwies und von einem irrationalen Schöpfungsakt der Volksseele, einem »Sichselbstmachen« sprach194, war es vor allem Johann Gottfried Herder, der durch seine im dritten Stück der Adrastea dargestellten Gedanken über Lehrgedicht, Fabel, Märchen, Roman und Idylle zur Entwicklung einer Theorie des Volksmärchens beitrug.195

Typisch für die von den Brüdern Grimm gesammelten (und natürlich nicht nur diese) Märchen sind unter anderem die folgenden Merkmale:

- Die Hauptperson oder eine für deren Schicksal bedeutende Person wird stets im ersten Satz eingeführt;
- die Sprache des Märchens ist durchsetzt von volkstümlichen Doppelausdrücken und Stab- reimpaaren (Speis und Trank, Hab und Gut, Haus und Hof etc.), Verkleinerungsformen (Brüderchen und Schwesterchen)196 und Sprichwörtern, die von den Brüdern Grimm in den ursprünglich im Präsens und der indirekten Rede gehaltenen Text eingefügt wurden;197
- die Gesetze von räumlicher Ordnung und zeitlichem Ablauf werden aufgehoben; es entsteht eine »surreal-verzauberte Welt«, in der es vom Erzähler und den handelnden Figuren ohne weiteres hingenommen wird, daß Tiere sprechen und »Dinge ein Eigenleben entwickeln«198 ;
- die handelnden Figuren treten nicht als individuelle Personen, sondern als »Typen« auf, die in »gut und böse« eingeteilt werden; die Darstellung ihrer Gefühle und seelischen Zustände folgt groben Mustern oder wird ganz vermieden (oder als selbsterklärend den Figuren innewohnend angenommen);
- auch Orte und natürliche Gegebenheiten erhalten weder Namen noch individuelle Gestalt, sie werden nur in der Perspektive und dem Umfang geschildert, in denen sie für die Handlung wesentlich sind; wo auf reale Orte und dort ansässige Personen Bezug genommen wird, ist die Grenze zu Sage und Legende berührt;199
- die Erzählstruktur folgt strengen Schemata, die zwei- oder dreiteiligen Handlungsverläufe gehen dabei meist von Notlagen der handelnden Figuren oder mit Belohnung lockenden Aufgaben aus, die den »guten« Figuren von außen gestellt werden und zu deren Bewältigung zauberhafte Mittel200 notwendig sind;
- eine entscheidende Rolle spielen Verbote und Tabus, deren Mißachtung und die daraus entstehenden Gefahren und Bedrohungen, die oft mit übernatürlichen Vorgängen und drastischer Gewalt verbunden sind.

Zum Inventar des Märchens gehören Repräsentanten von Naturkräften (etwa Hexen, Drachen und Riesen), Elementarwesen (Zwerg Elfe, Nixe) und andere archetypische Symbolfiguren (etwa König, Königin, Prinz, Prinzessin, Müller, Jäger, Großmutter, der jüngste Sohn etc.). Unter den Schauplätzen der Handlung spielt neben symbolischen Orten wie Brunnen und Schloß der Wald eine prominente Hauptrolle, auf die noch näher eingegangen werden wird.

Charakter und Bedeutung des Märchens als literarische Form haben sich in neuerer Zeit verändert. Der Gedanke von Erziehung und sittlicher Lehre, den die Brüder Grimm schon durch den Titel ihrer Sammlung einführten (Kinder- und Hausm ä rchen) ist vor allem für das Volksmärchen prägend. Herder erkannte und betonte im Gegensatz zur distanzierten oder satirischen Haltung des Kunstmärchens den Wert des Naiven, Ursprünglichen für die Bedeutung des Volksmärchens als »tiefste und reinste Poesie aus der Seele des Volkes«.201

***

5.2. Das Märchen als Begriff und Idee bei Ödön von Horváth

Die ersten Arbeiten, mit denen Ödön von Horváth nach dem zurückgezogenen Buch der T ä nze an die Öffentlichkeit trat, waren die Sportm ä rchen, deren erstes der Münchner Simplicissimus am 22. September 1924 unter dem Titel Der Faustkampf, das Harfenkonzert und die Meinung des lieben Gottes abdruckte. Die Form des Märchens zog sich seither wie Hänsels Wegmarkierung durch Horváths Werk, wie schon an vielen Titeln sichtbar wird:

M ä rchen (im Buch der T ä nze); Das M ä rchen vom Fr ä ulein Pollinger; Das M ä rchen in unserer Zeit; Der Gedanke. Ein M ä rchen; Himmelw ä rts. Ein M ä rchen in zwei Teilen;202

In den unter dem Titel Kleine Prosa 203 versammelten Erzählungen und Skizzen finden sich weitere motivische und sprachliche Merkmale märchenhafter Gestaltung. So werden die Hauptpersonen des öfteren gleich mit dem ersten Satz eingeführt, der zudem meist bewußt, dabei teils in ironischer Weise, märchenhaft formuliert ist:

Am Abende jenes Tages [...] nahte sich der einen aus jener Schar, namens Seraphine Hinterteil, zum erstenmal Satan --- (59)

Die Frau des Hannes Moser war ihrem Manne davongelaufen. (63)

In der Haupt- und Residenzstadt [...] lebte [...] ein biederer aufrechter Mann [...] namens Franz Xaver Loibl. (71)

Die christliche Welt schrieb das Jahr 1544, als der Seefahrer Orellana [...] (77)

Es war einmal ein Fräulein, das hieß Anna Pollinger [...] (84)

Der Drogist Lallinger ist ein begeisterter Nazi und zwar schon seit längerer Zeit. (106)

Es war einmal ein möbliertes Zimmer. (118)

In unserer Zeit lebte mal ein kleines Mädchen, das zog aus, um das Märchen zu suchen. (132)

Horváth studierte im Wintersemester 1919/1920 - seinem ersten Semester als Student - in München bei Professor Friedrich von der Leyen »Das Märchen, besonders das deutsche«.204 Ein direkter, wenn nicht motivierender, Einfluß dieser Vorlesung auf Horváths Sportm ä rchen ist anzunehmen, zumal deren Entstehung etwa zur selben Zeit begann. Zwar wandte er sich später in der autobiographischen Notiz Fiume, Belgrad, Budapest, Pre ß burg, Wien, M ü nchen 205 entschieden gegen die seiner Meinung nach für das »alte Österreich-Ungarn« typische »uralte Kultur«, repräsentiert durch »spießbürgerliche Romantik«, doch nahm er das Märchen trotz seiner (wenigstens literarischen) Verbundenheit mit der deutschen Romantik von dieser Ablehnung aus. Obwohl sich Horváth nach den Sportm ä rchen, u.a. unter dem Einfluß von Artur Kutscher, dem Theater zuwandte, bleibt der Einfluß des Märchens spürbar: Auch die in den folgenden Jahren entstandenen Volksstücke tragen märchenhafte Züge und gestalten ihre Personen nicht selten nach Art des Märchens206, wenn diese Personen nicht direkt Gestalten aus Märchen oder Sage repräsentieren (wie etwa die Unbekannte aus der Seine 207 ).

Selbst in der Phase konkreter Zeitkritik verzichtet Horváth nicht auf eine Tendenz zur Typik und Allgemeinverbindlichkeit, die sich im weitgehenden Verzicht auf Nennung konkreter Personen und Institutionen, aber auch im Einsatz von Allegorie und Symbol zeigt. Märchenhafte und scheinbar Harmloses versprechende Titel wie Italienische Nacht, Geschichten aus dem Wiener Wald, Glaube Liebe Hoffnung und Kasimir und Karoline (was, wie Axel Fritz es ausdrückt, »so recht nach ›Hänsel und Gretel‹ klingt«208 ) zeigen die wenigstens unterschwellig fortbestehende Neigung Horváths zur märchenhaften Form.

Die Rückkehr Horváths zur Prosa ist auch eine Rückkehr zum Märchen.209 Er zieht eine ganze Reihe seiner Theaterstücke zurück mit der Begründung: »es waren nur Versuche.«210 Die Sportm ä rchen dagegen läßt er nicht nur weiterhin gelten, er denkt gar an eine Weiterarbeit daran,211 nachdem er bereits in Jugend ohne Gott ein Motiv daraus (die Legende vom Fu ß ballplatz um den Tormann und den Jungen, der sich verkühlt und stirbt) wieder aufgegriffen hatte.

Wie ernst die Anspielungen Horváths auf Geister und märchenhafte Vorgänge zu nehmen sind, von denen Zeugen aus jener Zeit berichten, soll hier nicht erörtert werden. Als Marginalie eine Erwähnung wert ist jedoch die durch Ulrich Becher und Hertha Pauli überlieferte Geschichte von dem Brunnen vor dem Henndorfer Gasthof »Bräu« (wo Horváth ab 10. Juli 1937 längere Zeit wohnte), an dem er »jede Nacht [...] die Geister die Wäsche waschen sah«.212 Franz Theodor Csokor berichtet in einem Brief an Lina Loos genauer:

Natürlich geschieht das bei ihm, einem Nachtarbeiter, der außerdem im Spukzimmer unseres uralten Gasthofes haust, unter dauernder Mitwirkung einer Gespensterwelt, an die er fest glaubt. Entweder werden nach Eintritt der Dämmerung Klinken von einer unsichtbaren Hand niedergedrückt, rhythmische Klopfzeichen funken ein metaphysisches Telegramm an die Fensterscheiben, und schaut er dann hinaus, neigt sich über den Brunnen auf der Gegenseite der Straße eine weiß- gekleidete Frauengestalt und singt eine Melodie ohne Worte [...]. Am anderen Morgen verkündet er dann strahlend: ›Heute nacht waren sie wieder da - die Geister!‹213

Ob man sich auf solch biographische Marginalien einlassen will oder nicht, es bleibt festzustellen, daß in Horváths späten Romanen Gespenster und Geister tragende Rollen spielen. So erscheint etwa in Jugend ohne Gott dem Lehrer der tote Schüler N als in der Kapitelüberschrift auch so genanntes »Gespenst«. (139 ff.) In Ein Kind unserer Zeit fordert der Soldat den toten Hauptmann auf: »Erschein mir doch wenigstens als Geist und erleuchte mich, was ich jetzt beginnen soll!« (73) Der Hauptmann tritt dann auch als Gespenst zumindest der Erinnerung auf, gibt jedoch dem Soldaten keinen Hinweis, wie er sich weiter verhalten soll. (87) Den Weg zu dem Haus, wo sie wohnte, weist ihm dagegen die Stimme des »Fräuleins« (102), die ebenso wie das Schreien und Weinen Evas in Jugend ohne Gott (111 bzw. 113) nur für den Erzähler hörbar ist. Horváths letzter Roman Ein Kind unserer Zeit weist noch eine ganze Reihe weiterer märchenhafter Merkmale auf, die im folgenden genauer betrachtet werden sollen.

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5.3. Ein Kind seiner Zeit: Von einem, der auszog, das Lieben zu lernen

Pfui über einen solchen Sohn, der durch Faulheit, Verschwendung,

Bosheit, und Dummheit seinen alten Vater ins Grab drängt. Franz Kafka, Die st ä dtische Welt 214

Der Satz »Es war einmal ein Soldat« (131) steht den ersten Vorarbeiten zu Ein Kind unserer Zeit bis zum Wechsel in die Ich-Perspektive voran. Auch die endgültige Fassung führt die Hauptperson bereits im ersten Satz ein. Horváths letzter Roman trägt in weiten Teilen Züge eines Märchens. Dies läßt sich schon an den Kapitelüberschriften belegen, die in ihrer Reihenfolge lauten wie folgt:

Der Vater aller Dinge

Der verwunschene Schloß

Der Hauptmann

Der Bettler

Im Hause des Gehenkten

Der Hund

Der verlorene Sohn

Das denkende Tier

Im Reiche des Liliputaners

Anna, die Soldatenbraut

Der Schneemann

Mit Ausnahme von Anna, die Soldatenbraut repräsentiert jede dieser Überschriften ein Stück Märcheninventar an typischen Figuren beziehungsweise Schauplätzen215: der mächtige Vater, das Schloß, der Hauptmann (der Räuber oder Soldat sein könnte), der Arme, der Gehenkte (mit zusätzlichem Verweis auf die Symbolkraft, die von ihm ausgeht, s.u.), das (zumal denkende!) Tier, der in die weite Welt gezogene oder durch das böse Schicksal geraubte Sohn, der Zwerg und sein Reich216, der Schneemann als »kälteres Äquivalent« des Wassermanns.

Deutlich »un-märchenhafte« Kapitelüberschriften wie »Hoch in der Luft«, »Abends im Dorf«, »Die Ballade von der großen Liebe«, »Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht« oder »Die Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung«, die in den Vorarbeiten noch zu finden sind, vermeidet Hovath im schließlichen Text des Romans.217 Dies ist meiner Meinung nach gezielt geschehen, auch wenn beachtet werden muß, daß es sich bei den Titeln in den Vorarbeiten natürlich um Arbeitstitel handelt (oder gerade deswegen).

Ein weiteres Merkmal des Romans, das schon Jugend ohne Gott aufweist, ist die örtliche und zeitliche Unbestimmtheit. Zwar gibt Horváth gelegentliche Striche von (auch sprachlichem) Lokalkolorit, diese verdichten sich jedoch nie zu einem konkreten Ort der Handlung. Weder der von »Führern« regierte Staat und die Stadt, in der der Soldat lebt, noch das Land, das überfallen wird, tragen Namen; die beiden letzteren sind ohne detektivische Spurensuche nicht zu identifizieren. Sie alle sind vielmehr bewußt »typisch« gestaltet. Weder Straßen noch Plätze oder Stadtteile sind namentlich benannt, auch der »Kanal« trägt keinen Namen. Einen solchen hat zwar das Lokal, in dem der Vater des Soldaten arbeitet - »Zur Stadt Paris« (75) -, aber der ist einerseits nicht typisch für die Benennung von Wirtshäusern in einer auch nur grob bestimmbaren Gegend, andererseits enthält er den Namen einer Stadt, als solle der Leser darauf hingewiesen werden, daß die Stadt des Romans gerade keinen Namen trägt.218

Auch zeitlich und historisch ließe sich die Geschichte nicht wirklich einordnen, würde der Soldat nicht Jahreszahlen nennen: seine Geburt, die Heimkehr seines Vaters, der Beginn seiner Erinnerung und der Weltkrieg werden datiert. All diese Datierungen sind auf einer einzigen Seite versammelt (18)219, sie bleiben die einzigen im ganzen Roman: Zwar enthalten die Schilderungen des Feldzugs, an dem der Soldat teilnimmt, Anspielungen auf den spanischen Bürgerkrieg und die Besetzung des Rheinlandes,220 zwar werden weitere Zeiterscheinungen wie Inflation und Arbeitslosigkeit erwähnt; doch nennt Horváth keine Namen von Politikern, Parteien, Firmen, Ländern oder Organisationen, die eine genauere Einordnung ermöglichen könnten.

Es böte sich daher an, das punktuelle Durchbrechen des Märchenschemas durch die Jahreszahlen einer Flüchtigkeit Horváths bei der Reinschrift des Romans zuzuschreiben, zumal durch Zeugen überliefert ist, daß Horváth seine beiden letzten Romane sehr schnell und ohne große Korrekturen niederschrieb.221 Doch ist diese Erklärung natürlich unbefriedigend. Vielmehr ist anzunehmen, daß es Horváth darum ging, den Roman in die Zeitereignisse, die ihn schließlich motivierten, einzuordnen und andererseits die Bedeutung der datierten Ereignisse für das Leben des Soldaten zu unterstreichen. Darauf aufbauend erzählt jedoch Ein Kind unserer Zeit eine durchaus märchenhafte Geschichte, die gewissermaßen ein Modell für Folge und Ergebnis der erwähnten Zeiterscheinungen darstellt und diesen damit durchaus ebenfalls »typischen« Charakter zuweist. Die Jahreszahlen hätten in dieser Deutung die Aufgabe, dem Märchen aktuelle Relevanz zu verleihen.

Wie wichtig die Symbolik des Märchens für den weiteren Verlauf der Geschichte ist, zeigt zum Beispiel eine offensichtliche Unstimmigkeit, auf die Dieter Hildebrandt hinweist:222 »Denn ich bin fast unser Jüngster«, sagt der Soldat (11), spricht jedoch gleich darauf von seiner »jahrelangen«, später auf »sechs Jahre« (14) bezifferten Arbeitslosigkeit, die es, so Hildebrandt, unwahrscheinlich mache, daß der Soldat tatsächlich zu den altersmäßig Jüngsten seiner Truppe gehört. Hildebrandt führt diesen »Fehler« auf die episodische Arbeitsweise zurück, in der Horváth »Szenen, Empfindungen, Motive, Schauplätze früherer Arbeiten« aneinander reihte.223 Diese Erklärung, wiewohl plausibler als der bloße Vorwurf der Flüchtigkeit, vermag nicht vollends zu überzeugen. Dem Satz »Denn ich bin fast unser Jüngster« folgt nämlich unmittelbar die Erklärung:

Aber eigentlich sieht das nur so aus.

Denn eigentlich bin ich viel älter, besonders innerlich. (11)

Als Auflösung für diese auf den ersten Blick verwirrende Ergänzung bietet sich das typische Märchenmotiv des jüngsten Sohnes oder Kindes an, das der Soldat offenbar repräsentiert, auch wenn sein Alter dies eigentlich nicht zuläßt.224 Auch der »verlorene Sohn« aus der biblischen Parabel (Lukas 15, 11 - 32) ist der jüngere von zweien. Horváth nennt das siebte Kapitel des Romans nach diesem Gleichnis und zitiert es in ironischer Weise. Während der biblische Sohn aus echter Reue zu seinem Vater zurückkehrt und von diesem freudig empfangen wird, ist die Reue des Soldaten nur gespieltes Mittel zum Zweck:

Es bleibt dir nur ein einziger Mensch.

Dein Vater. Dein lieber Vater.

Er hat dich in die Welt gesetzt, ohne sich zu erkundigen, ob du es haben wolltest - er muß dir also helfen und wenn er Blut schwitzen sollte.

Du magst ihn zwar nicht, doch das ist egal.

Nütze ihn aus! (74)225

Die biblischen Feierlichkeiten zur Rückkehr des Sohnes sind im Falle des Soldaten und seines Vaters auf zwei Gläser Wein reduziert, die der Vater (oder die Wirtin) seinem Sohn ausgibt, ohne sich zu ihm setzen zu dürfen. Auch ist es in Horváths Version der Geschichte nicht der Sohn, dessen Sinn sich wandelt, sondern der Vater scheint plötzlich seine Vorbehalte gegen das neue Regime verloren zu haben, was er in einem für den Bildungsjargon typischen Schwall von Klischees mit der Verstaatlichung der Rüstungsindustrie erklärt:

Für uns ist das kein Problem mehr, darüber sind wir gottlob hinaus! Seit dem 1. Januar steht doch unsere Rüstungsindustrie unter staatlicher Kontrolle, gewissermaßen ist sie sogar eigentlich bereits verstaatlicht und drum liegen natürlich heutzutag die Dinge diametral anders im Raum! Heutzutag profitiert die Allgemeinheit von jedem Sieg wir alle, ich, du, das ganze Volk - - was glotzt du mich denn so geistreich an? (79)226

Im Grimmschen M ä rchen von einem, der auszog, das F ü rchten zu lernen ist der jüngste Sohn dumm, unbelehrbar und unfähig, Furcht zu empfinden. »Und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: ›Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!‹«227 Horváths Soldat ist gewissermaßen ein »böses« Gegenbild zu dem gutmütigen Märchensohn: Auch er ist dumm - seine klischeehafte Sprache zeigt es - und unbelehrbar. Zwar fällt auch an ihm eine (hier jedoch nicht naive, sondern aus Desillusionierung und ideologischer Verblendung entstandene) Furchtlosigkeit vor den Schrecken (hier des Krieges) auf, doch ist sein eigentliches Problem die Unfähigkeit, Liebe zu empfinden.

Was sich der Märchensohn schließlich zu lernen entscheidet, ist das »Gruseln«, wovon ihm der Vater prophezeit: »dein Brod wirst du damit nicht verdienen«228. Dem Horváthschen Vater erscheint die Entscheidung seines Sohnes, das Kriegshandwerk zu erlernen, nicht weniger sinnlos, dumm und gefährlich. Beide Söhne verlassen ihre Väter im Unguten:

»Ach«, sprach der Vater, »mit dir erleb ich nur Unglück, geh mir vor den Augen weg, ich will dich nicht mehr ansehn. [...] Lerne was du willst [...], mir ist alles einerlei, da hast du funfzig Thaler, damit geh mir aus den Augen und sag keinem Menschen, wo du her bist und wer dein Vater ist, denn ich muß mich deiner schämen.«229

Die »Verabschiedung« des Sohnes bei Horváth ist ähnlich:

»So geh nur in deinen Krieg!« brüllte er. »Geh und lern ihn kennen! Einen schönen Gruß an den Krieg! Fall, wenn du magst! Fall!« (19)230

Doch kehrt der spätere Soldat noch einmal um, um seinen Bleistift mitzunehmen, mit dem er sich Stellenangebote notieren will: »- ja, damals glaubte ich trotz allem noch an Märchen.« (19)

Die folgenden Analogien und Unterschiedlichkeiten seien nur kurz skizziert:

Der Sohn übernachtet bei den Gehenkten unter dem Galgen, lernt aber auch dort das Gruseln nicht. Weil er meint, die Erhängten müßten aufgrund der Kälte »frieren und zappeln«, knüpft er sie los, »schürte das Feuer und blies es an und setzte sie herum, daß sie sich wärmen sollten«.231 Doch hängt er sie wieder auf, als ihre Kleider Feuer fangen - was er für absichtliche Unachtsamkeit hält - und sie ihn damit in Gefahr bringen, mit zu verbrennen.

Der Soldat übernachtet Im Hause des Gehenkten, kann jedoch dort das Lieben nicht lernen. Auffällig ist, daß die Frau des Hauptmanns aufgrund dessen Abschiedsbrief davon ausgeht, ihr Mann habe sich erhängt und der Soldat ihn »abgeschnitten« (57). Seine Verbitterung über die von der Frau »verschuldete« weitere Verschlechterung seines verletzten Armes gipfelt in dem Wunsch, er habe nie versucht, seinen Hauptmann zu retten:

Hätt ich dies nur schon früher gewußt, dann hätt ich heut noch meinen Arm! Denn wer nicht in seine Zeit paßt, den soll man nicht abschneiden. Hoch droben soll er hängen an seinem freiwilligen Galgen, bis ihn die Krähen holen! (72)

Der Sohn im Märchen muß in dem verwünschten Schloß übernachten, um die Königstochter zur Frau zu bekommen (wovon er in einem Wirtshaus erfährt). Der Soldat findet seine Traumfrau in dem »verwunschenen Schloß«, aus dem »Drachen und Teufel« (34) heraus schauen. Ohne sich davon Amusement zu erwarten, betritt er das Schloß, um seinen »Schrecklichkeiten«, die ihm von Anfang an durchschaubar und »zu blöd« (33) erscheinen, zu trotzen - in der unbestimmten, wohl auch ihm selbst nicht wirklich bewußten Erwartung, dadurch in Kontakt mit der jungen Frau zu kommen. Die junge Frau nennt er auf S. 122 »Schwesterlein« (eine märchenhafte Diminuitivform).232

Der Märchen-Sohn macht sich über die Verzerrungen der Wirklichkeit, die seltsamen Erscheinungen, Täuschungen und Gefahren lustig, weil er keine Furcht empfindet. Daher kann es ihn auch nicht gruseln. Dem Soldaten bleibt die ohnehin nicht intendierte Freude an dem verwunschenen Schloß versagt, weil er seine »Schrecken«, Fallen und Verzerrungen schon zu kennen glaubt. (Nur gestolpert wäre er beinahe.)

So lernt der Sohn im Märchen statt des Gruselns die Liebe und das Gruseln am Ende nur als von einem Eimer Wasser voller Gründlinge erzeugten Schauer, während der Soldat statt der Liebe die Furcht findet und die Liebe nur als Ahnung hat.

Zum Märcheninventar gehören sprechende Katzen; der Sohn nimmt das Sprechen der Tiere als ganz natürlich hin. Dem Soldaten wiederum klopft die Zukunft auf die Schulter (11), seine Uniform unterhält sich mit ihm (48), und eine Frage setzt sich zu ihm an den Tisch und läßt ihn »nicht aus den Augen« (80). Auch er nimmt dies als selbstverständlich hin. Zwar ist nicht davon auszugehen, daß im »Handlungs-Film« der Geschichte Zukunft, Frage und Uniform tatsächlich als greifbare Personen auftreten. Sie sind vielmehr stilisierte Elemente des inneren Monologs und stehen für dessen erwähnte Aufteilung in bildliche Handlung und filmischen »Off-Erzähler«. Dennoch ist die Art, wie Horváth sie einsetzt, eine bewußt gewählte märchenhafte.

Horváths »Märchen« nimmt trotz aller Entsprechungen und Ähnlichkeiten einen anderen Verlauf als jenes von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Der Soldat erleidet schließlich - »wie in einem Märchenbuch« (126) - dasselbe Schicksal wie eine der Geistergestalten, die dem Jungen im Schloß begegnen:

Er fühlte ihm ans Gesicht, aber es war kalt wie Eis. »Wart«, sprach er, »ich will dich ein bischen wärmen«, ging ans Feuer, wärmte seine Hand und legte sie ihm aufs Gesicht, aber der Todte blieb kalt.233

Während der Junge den Toten zwar als »gestorben« erkennt, ihn aber dennoch wie einen Lebenden behandelt, ist es am Ende von Horváths Roman weniger das Kind, das sich von dem erfrorenen »Schneemann« »kaum [...] trennen« (127) will, als vielmehr der Tote selbst, der sich zumindest insoweit als Lebender benimmt, daß seine Erzählung mit seinem Tod nicht abbricht. Mag dies auch zum Teil der Technik des filmischen Erzählens geschuldet sein, so bleibt doch in beiden Fällen das märchenhafte Element des »lebenden Toten« deutlich festzustellen.

Hier liegt auch der Unterschied der beiden Erzählungen: Der Junge reagiert auf die Drohung des von ihm »zum Leben erwärmten« Toten, ihn zu erwürgen, indem er ihn sofort in seinen Sarg zurückwirft. Der Soldat, der im »Haus des Gehenkten« ebenfalls die selbstlose Anstrengung unternimmt, einen zumindest innerlich totengleich kalten Menschen »in Frieden ruhen (zu) lassen«234 (71), bezahlt für seine weitergehende Rücksicht, indem die Frau des Hauptmanns mit ihrem Gewicht seinen verletzten Arm »erwürgt«.

Die nächste Figur, die die Bühne des Märchens betritt, ist ein Mann, »der größer war als alle andern« und »fürchterlich« aussieht. Der Junge, zunächst entschlossen, den Mann zu töten, erhört dessen Flehen um Gnade, worauf ihm der Geist die gesuchten Schätze des Schlosses zeigt. Der Soldat hingegen tötet den »Zwerg«, den »Liliputaner« mit dem »verkniffenen, boshaften Gesicht« (93), der »kichert wie eine alte Jungfer« (94), und besiegelt damit sein eigenes Schicksal. Nicht nur kann seine Tat - so sie denn überhaupt einen Sinn haben könnte - Anna nicht mehr retten, sie dem Soldaten daher auch nicht näherbringen; sie ist ein letzter, endgültiger Schritt aus der Legalität der Gesellschaft, zu der er von Beginn an keinen Zugang hatte. Er ist nun selbst im Grunde nur noch Bewohner eines Schattenreiches, der keine Aussicht mehr hat, das zu finden, was zu suchen er »ausgezogen« ist. Ob - die Analogie böse zu Ende gedacht - das Mädchen Anna sich dabei als ähnlich nichtiges Randergebnis erwiesen hätte, wie es das Gruseln (durch einen Eimer voller Fische) für den Jungen des Grimmschen Märchens ist, sei als allzu esoterische Frage dahingestellt.

Ein wesentliches Element und Motiv des Märchens, das in Ein Kind unserer Zeit auf den ersten (und zweiten) Blick keine Rolle spielt, ist der Wald. Wie wichtig der Wald jedoch auch für Ödön von Horváths Erzählungen (und Theaterstücke) ist, wird sich im folgenden zeigen.

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5.4. Der Wald als Grenze der Welt

Welch grundlegende Rolle der Wald im Märchen spielt, bedarf keines ausführlichen empirischen Beleges. Ein zufälliger Blick durch Grimms Kinder- und Hausm ä rchen mag genügen:

Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. (Rotk ä ppchen)

Eines Tages wollte sie in den Wald gehen [...]. (Der Wolf und die sieben jungen Gei ß lein)

Abends kamen sie in einen großen Wald [...]. (Br ü derchen und Schwesterchen)

Als es zwölf Jahre alt war, schloß es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag [...]. (Rapunzel)

Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer, dunkler Wald [...]. (Der Froschk ö nig)

»[...] wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist, [...] und wir sind sie los.« (H ä nsel und Gretel)

Der Weg führte ihn in einen Wald [...]. (Die wei ß e Schlange)

Eines Tages geriet er in einen großen Wald [...]. (Das R ä tsel)

Sie konnten aber die Stadt Bremen in einem Tag nicht erreichen und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten. (Die Bremer Stadtmusikanten)

Einmal war er in den Wald gegangen, [...] da trat ein alter Mann zu ihm, den er noch niemals gesehen hatte [...]. (Das M ä dchen ohne H ä nde)

Die Reihe ließe sich fortsetzen, aber schon die kurze Auswahl an Beispielen zeigt: Wenn im Märchen das Verhängnis, die entscheidende Wende der Geschichte, unter »unheimlichen« oder wunderlichen Umständen vor sich geht, denen der Mensch nicht erkennend oder gar steuernd gewachsen ist, passiert dies meist im Wald oder hängt wenigstens mit einem Gang in den Wald zusammen. Dies hat mit einer Grunderfahrung zu tun, die auch eine Grenzerfahrung ist: Schon römische Autoren wiesen darauf hin, daß die germanischen Stämme für ihre Ansiedlungen Plätze wählten, deren Begrenzung Wald- oder Ödgründe bildeten.235

Dem Zustand der Herrenlosigkeit des Waldes im frühen Mittelalter entsprach seine Funktion als Grenze: In Urkunden ist der Begriff der »Mark« mit »Wald« und »Grenze« gleichgesetzt. Die Zweideutigkeit der Begriffe gibt Aufschluß über die Bedeutung, die der Wald in Realität und Bewußtsein des deutschen Frühmittelalters hatte. Einerseits stand die Abgrenzung des Waldes für die Grenze der Ostmark, von der anderen Seite wurde der Wald als Begrenzung und Umgrenzung des bewohnten Ortes, d. h. des Ortes menschlicher Ordnungserfahrung empfunden. Der Wald wurde insgesamt zur Grenze, die mit zum Ort gehört.

Diese Grenze war geographisch unbestimmt: Sie verlief nicht etwa am Rand, sondern ebensogut an jedem anderen Ort im Wald. Der Wald war namenlos, auch einzelne »Wälder«, wie sie dem heutigen Bewußtsein als Vorstellung geläufig sind, waren nicht faßbar oder gar benennbar. Flächen wurden nur nach ihrem bebauten Maß näher bestimmt, in Urkunden ist von dem »anliegenden Wald« als nicht näher meßbarem Teil dieser Flächen die Rede. Dies galt auch dann, wenn sich die Breite eines Waldstreifens durchaus feststellen ließ. Eine Ausnahme bildet nur der zur unmittelbaren oder baldigen Rodung bestimmte Wald, der bei Eigentumsübertragungen an Grund quasi schon nicht mehr als Wald betrachtet wurde.

Wurde durch Waldrodung neues Land gewonnen (ein Vorgang, der sich über Generationen erstreckte), so waren Rodung und Bewirtschaftung des Neubruchs gleichzeitig die Landmessung. »Unheimliches« Gebiet wurde in »heimliches« Land verwandelt und dadurch als Fläche faßbar.236 Der Rodungsbauer stand als Eroberer auf tatsächlich neuem Land jenseits der alten legalen Verbände.

Er gewann dadurch einen Stand, der im 12. Jahrhundert als »Freiheit« bezeichnet wurde. Der Unterschied zwischen beiden Empfindungen - heimlich und unheimlich, auch verstehbar als Hell und Dunkel - ließ eine neue Bedeutung des Grenzbegriffs entstehen. Durch die Abkehr vom Leben in Einzelgehöften und die zunehmende Sozialität größerer Siedlungen - bedingt schon durch die von Einzelnen praktisch nicht zu bewältigenden Schwierigkeiten der Waldrodung - wurde dieser Grenzbegriff auf den Unterschied zwischen zusammengezogenem, mithin sozialem Leben und seinem Gegenbild übertragen, der Vereinzelung, Rechts-, Schutz- und Herrenlosigkeit des Lebens im Walde, das sich ortlos und unheimlich jenseits einer immer deutlicher empfundenen Grenze abspielte. In der örtlichen Unbestimmtheit des Waldes leben mochten als erste die Eremiten. In ihrer Suche nach einem Ort der solitären Buße, der der Abgeschiedenheit der orientalischen Wüste des biblischen Täufers Johannes entsprach, fanden sie den Wald als unbewohnte und durchaus (menschen-)lebensfeindliche Gegend. So wurde der Begriff »eremus«, der eben jene wüste Einöde bezeichnete, bald auf den Wald erweitert; zunehmende Entfernung von der sozialen Welt verwischte den Unterschied zwischen der Vegetationslosigkeit der »klassischen« Wüste und der dichten Bewachsung der »neuen« Wüste. Dies fand auch literarischen Niederschlag, so etwa schon um 830 in der Versdichtung vom Heliand (Christus), der nach 40 Tagen in der »Steinwüste« aus dem »Wald« in die Gesellschaft zurückkehrt.237 Die Vernachlässigung des Unterschieds zwischen Wüste und dicht bewachsenem Wald führte unter anderem auch dazu, daß man im Hochmittelalter von »Wüstung« sprach, wenn der Wald aufgebene Dörfer überwucherte.

Die Verdichtung der Besiedelung jenseits des Waldes führte zu dessen »Neukonstruktion« im Bewußtsein der sozial und heimlich lebenden Menschen. Die Neigung des sich organisierenden Weltbilds der christlichen Kirche zur Analogiebildung überdeckte die Ausblendung des eigentlichen Waldes aus dem Bewußtsein. Als »geächtetes« Gelände ist der Wald nun der Ort der Einsamkeit und Vereinsamung, der Loslösung von der Sozialität. Es beginnt eine Unterscheidung der Perspektive danach, ob der Wald von innen oder von außen erlebt und in welche Richtung er beschrieben wird. Der Blick von außen »entleert« den Wald, kann ihn jedoch nicht durchdringen oder fassen. Die Scheu des an der Grenze tätigen Rodenden, den Wald aus der Perspektive seiner Bewohner zu sehen, beruht auf der Verworfenheit des weiteren Gedankengangs: Nicht Einsamkeit wäre demzufolge das wesentliche Merkmal des im Walde Lebenden, sondern seine Zugehörigkeit zu einer anderen Gemeinschaft, deren Leben anderen Regeln folgt. Die Konstitution einer realen Gegenwelt und die Relativierung der eigenen Regelwelt wäre das Ergebnis. Dies muß in der Vorstellungswelt des Mittelalters als ausgeschlossen gelten. (Es geschieht jedoch, wie wir noch sehen werden, geradezu exemplarisch in Franz Kafkas Roman Das Schlo ß.)

Diese Gegenwelt tritt daher nur in verzerrter, fragmentarischer Form ins Bewußtsein des gesellschaftlichen Menschen: durch die Erzählungen von Waldbesuchern, deren Berichte von Wunderlichkeiten und vom »normalen« Erfahrungshorizont nicht abgedeckten Zeit- und Raumerfahrungen in die Welt des Märchens und der Sage »abgeschoben« werden, wo sie eine sinngebende und bisweilen therapheutische Rolle spielen. Schrecken und Wunder des Waldes werden dort als Bedrohung und Prüfung empfunden, die sich den Naturgesetzen entziehen und daher nur dem naiven Auge widerspruchslos zugänglich sind. Der Wald ist nicht nur der Lebensraum fabelhafter Wesen wie Fee, Teufel, Kobold, Einhorn und Zwerg, er ist auch eine Gegend, in der Konventionen der Erlebniszeit aufgehoben werden können, ohne daß dies dem naiven Auge mehr als sonderbar erscheint.

Die neben der etablierten sozialen Chronologie stehende Zeitlichkeit oder Zeitlosigkeit des Waldes macht deren Konventionalität spür- und erlebbar und festigt sie gleichzeitig. Einen solchen Ort zeitlicher Regellosigkeit im gewohnten Sinne betritt (unter etwas anderen Umständen) auch Franz Kafkas »Landvermesser« K. in dem Roman Das Schlo ß: Nachdem er die »Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führt« (9) überschritten hat, ist er aus seinen gewohnten Verstehenszusammenhängen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht weniger befreit als ihrer beraubt. Dies wird ihm an vielen Stellen des Romans bewußt, wenn er immer wieder eine Diskrepanz zwischen seinem (anerzogenen) Zeit- und Raumempfinden und dem erlebten bemerkt: So hat er zwar zu Beginn das Dorf über eine dorthin führende Landstaße erreicht, stellt jedoch gleich darauf fest, daß die vermessenen Anhaltspunkte der außerhalb gelegenen Welt dort nicht gelten: »In welches Dorf habe ich mich verirrt?« (10) fragt er die Dorfbewohner. Immer wieder überrascht ihn seine falsche Einschätzung von Weg- und Zeitspannen.

Sein Streben gilt fortan nicht etwa einem Entkommen aus der fremdartigen, märchenhaften Gesellschaft des Dorfes, er will vielmehr deren Charakter ergründen und glaubt den Schlüssel dazu im Schloß. Im Gegensatz zu den vorher erwähnten Märchengestalten der Gebrüder Grimm und Ödön von Horváths, deren Schicksal sich auf verschiedene Weise in einem »verwunschenen Schloß« entscheidet, erhält jedoch K. nicht nur keinen Zugang zum Schloß, es gelingt ihm noch nicht einmal, herauszufinden, auf welche Weise dieses Schloß erreichbar sein könnte und warum er es nicht erreichen kann. K. verkörpert geradezu typisch den Bewohner der Welt jenseits des Waldes, der das Regelsystem Wald (hier durch das Dorf verkörpert) beobachtend den Maßstäben eines außerhalb gelegenen Regelsystems zu unterwerfen trachtet und daher nur scheitern kann.

Duch seine vielfache Andersartigkeit entwickelt der Wald eine verlockende Wirkung auf den gesellschaftlich eingebundenen Menschen. Es zieht ihn in den Wald, angelockt durch oft wenigstens symbolisch sexuelle Sensationen, die die gewohnte Lebensbahn des angezogenen Menschen in Frage stellen, ihn seiner Herkunft und sozialen Bindung entfremden und ihn in die Verirrung führen, die nur dort, außerhalb der gewohnten (auch räumlichen) Ordnungssysteme möglich ist.

Solche Verlockungen verkörpern in Kafkas Roman in sexueller Hinsicht zwei Frauen: Frieda und Olga. Doch fühlt sich der Landvermesser, dessen Tätigkeit wohl in dem oben erwähnten Zusammenhang zwischen dem Gewinn bis dahin unergründeten Landes und seiner Vermessung verstehbar ist, auch zu Personen hingezogen, die Aufschluß über das Schloß und das es umgebende Regelsystem zu versprechen scheinen. Das Ergebnis seiner Suche sind immer neue Enttäuschungen: Der Wald antwortet auf die Frage nach dem Grund eines Geheimnisses stets mit einem neuen Geheimnis.

Zuflucht und Asyl bietet der Wald jenen, die durch eigenes oder fremdes Verschulden aus der Gemeinschaft ausgestoßen oder aufgrund eigener oder fremder Verfehlungen mit Schande und Tod bedroht sind, ebenso wie den Liebenden, deren Liebe den Konventionen und Erwartungen der Gesellschaft zuwiderläuft. Doch ist die Flucht in den Wald eine Flucht in die Sünde, ins Unabsehbare fremder Gesetze, die fortan auch das Handeln der Flüchtenden bestimmen. Eine wirkliche R ü ckkehr aus dem Leben im Wald kann es nicht geben, denn der Heimkehrende ist kein Bewohner des Waldes. Doch selbst der nur beobachtende Besucher wird von der andersartigen Heimlichkeit des Waldes - die von außen als Unheimlichkeit empfunden wird - »infiziert«, er trägt dessen Gesetze in die Außenwelt.238

Dies geschieht in Horváths Jugend ohne Gott: Die Begegnungen im Wald und die daraus sich entwickelnden Folgen sind den Regeln, die das »Regime« der Außenwelt durchzusetzen versucht, entzogen und entwickeln daher eine Kraft, die sich mit diesen Regeln nicht kontrollieren läßt.239 Im Wald nimmt eine neue Welt ihren Anfang - nicht zufällig überschreibt Horváth das Kapitel, in dem der Wald (zunächst indirekt über das Tagebuch des Jungen Z) als Handlungsort eingeführt wird, Adam und Eva. (62)

Wir schwärmten aus, sehr weit voneinander, aber das Dickicht wurde immer dichter und plötzlich sah ich keinen mehr rechts und keinen mehr links. Ich hatte mich verirrt und war abgeschnitten. (65)

Der Junge Z ist in die andere Welt des Waldes eingetreten. Das Verhältnis der Geschlechter erhält im Wald eine neue Dimension. Bis dahin ist die Frau nur als grotesk verzerrte Karikatur der »rucksacktragenden Venus« (29/40) aufgetreten:

[...] die Mädchen starren mich an, wie Kühe auf der Weide. Nein, der Herr Pfarrer braucht sich keine Sorgen zu machen, denn, alles was recht ist, einladend sehen diese Geschöpfe nicht aus! Verschwitzt, verschmutzt und ungepflegt, bieten sie dem Betrachter keinen erfreulichen Anblick. Die Lehrerin scheint meine Gedanken zu erraten, sie ist also wenigstens noch in puncto Gedanken- lesen ein Weib, und setzt mir folgendes auseinander: »Wir berücksichtigen weder Flitter noch Tand, wir legen mehr Wert auf das Leistungsprinzip als auf das Darbietungsprinzip.« (39 f.)

Im Wald begegnet Z dem Mädchen Eva, das sich nicht nur von den »rucksacktragenden Amazonen« deutlich unterscheidet, sondern ihn auch gleich auf ein wesentliches Merkmal der Wald-Welt hinweist:

»Ich fragte sie, wo sie wohne, und sie sagte, hinter dem Felsen. Aber auf der militärischen Karte, die ich hatte, stand dort kein Haus und überhaupt nirgends in dieser Gegend. Die Karte ist falsch, sagte sie.« (65) - Natürlich, denn wie wir bereits gesehen haben, kann die Kartographie der Außenwelt den Wald erst erfassen, wenn sie ihn rodet und sich einverleibt. Solange er Wald ist, gelten dort nur seine eigenen Gesetze.

Im folgenden erlebt der Junge, wie die ihm bekannten Regeln der Außenwelt im Wald außer Kraft gesetzt werden. Nicht nur tritt unvermittelt die Sexualität in sein Leben, sondern auch die Gewalt: »Da hob sie einen Stein und warf ihn nach mir. Wenn der meinen Kopf getroffen hätte, wär ich jetzt hin. Ich sagte es ihr. Sie sagte, das würde ihr nichts ausmachen.« (65)

Beide, Sexualität und Gewalt, trägt der Besucher des Waldes, der zu einem Teil Waldbewohner geworden und dadurch beiden Welten entfremdet ist, als sein Geheimnis mit sich in die Außenwelt. Die Zauberformel »Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!« (69) soll das Geheimnis bewahren. Als der Lehrer das Geheimnis durch eigene Initiative - und unter Bruch der Konvention - erkundet, löst er weiteres Verhängnis aus, das - wiederum im Wald - tödlich endet. Alle Beteiligten, auch der nur beobachtende Lehrer, sind nun mit dem Gesetz des Waldes »infiziert«240, das möglicherweise241 in Gestalt des »Gottes« in ihr Leben tritt. Die Rückkehr in die Außenwelt gestaltet sich schon deshalb schwierig, weil sich die »Infizierten« (mit Ausnahme des Toten) dagegen wehren: Z und das Mädchen Eva lügen, um den jeweils anderen nicht den Gesetzen der Außenwelt auszuliefern; Z empfindet die Bindung an Eva gar stärker als die an seine Mutter: »Das Mädel ist mehr wert wie du!« (98) T, der ohnehin in der Verbindung von übersteigerter, kalter Rationalität und mythischer Entrücktheit einem imaginären »Wald«, d.h. einer anbrechenden neuen Ordnung der Außenwelt näher ist als der gegenwärtigen, entzieht sich deren Gesetzen durch Selbstmord. Und der Lehrer, der in der »Wüste« des Waldes sein Selbstbild in Frage gestellt und das Geheimnis dessen, was ihm widerfahren ist, als sein eigenes Geheimnis erkannt hat, verstößt durch seine Ehrlichkeit gegen die Regeln der Außenwelt, was ihm als Perspektive nur die Flucht in einen neuen Wald übrig läßt - den afrikanischen Urwald, der auch im 20. Jahrhundert noch die oben dargelegten Merkmale des mittelalterlichen europäischen Waldes besitzt. Er ist somit zum Eremiten geworden.

Auch in Horváths anderen beiden Romanen (und nicht nur in diesen, man denke an die Geschichten aus dem Wiener Wald) spielt der Wald als Ort der Handlung eine entscheidende Rolle. In einem solchen (dem Forstenrieder Park) wird Anna Pollinger in Der ewige Spie ß er zur Prostituierten:

Droben standen die Sterne, und ringsum lag tief und schwarz der Wald. Sie nahm das Geld, als hätte sie nie darüber nachgedacht, daß man das nicht darf. [...] Es war ein Fünfmarkstück, und nun hatte sie keine Gefühle dabei, als wär sie schon tot. (256)

Der Wald ist bei Ödön Horváth der Ort, wo die Dinge ins Leben der handelnden Personen treten, an denen sich ihr Scheitern an der Welt ausdrückt, manifestiert, oder die es auszulösen scheinen. So wird der Wald für die Scheiternden zur Grenze der Welt.

In Ein Kind unserer Zeit sind andere Märchensymbole (das verwunschene Schloß; sein »reales« Gegenbild: die Ruine, wo der Hauptmann den Tod sucht und findet, sowie das »Haus des Gehenkten«) Schauplätze entscheidender Szenen. Es drängt sich jedoch auf, die Stadt, durch die der Soldat nach seiner Entlassung aus der Armee irrt und in der das verwunschene Schloß liegt, als Verkörperung des Waldes zu sehen. Von der nominalen Ortlosigkeit dieser Stadt, deren Straßen und Plätze ebensowenig einen Namen tragen wie die Stadt selbst, war bereits die Rede. Die Stadt wirkt durch das erzählende/beobachtende Auge des Soldaten geheimnisvoll, unfaßbar und in dieser Unfaßbarkeit einheitlich. Als einziger benannter Ort neben dem verwunschenen Schloß wirkt das Wirtshaus »Zur Stadt Paris« wie einer jener aus Märchen bekannten Wald-Gasthöfe, die einen Schnittpunkt zwischen Wald und Welt bilden, indem sie der sie umgebenden Gesetzlosigkeit des Waldes durch ihre Mauern ein Stück »beschreibbaren« Raumes abgewinnen, der dann nicht selten dazu genützt wird, Geschichten über die Wunderlichkeiten des (ihn umgebenden) Waldes auszutauschen.242

Der märchenhafte Wald-Charakter der Stadt zeigt sich auch in der Behauptung des Eismannes, das Schloß sei »zu altmodisch« gewesen: »es paßte nicht mehr in unsere Zeit« (92) und sei deshalb durch eine Autohalle ersetzt worden. Sie ist das Äquivalent des märchenhaften Schlosses im modernen Stadtwald: »Diese blöde Autohalle, wo ein jeder wie der andere für sich allein herumfährt und sich einbilden darf, daß er in seinem eigenen Auto fahren kann, wohin er will -«.243 Der egoistische Individualismus der Moderne hat die Erfahrung der Unheimlichkeit als Gegenbild zur kollektiven Geborgenheit ersetzt und damit eine neue Form der Unheimlichkeit wie auch der Heimlichkeit eingeführt.

Die Märchenwelt, in der die Erfahrung des »Gruselns« den Kontrast herstellt zum Wohlgefühl der Geborgenheit, verschwindet; es bildet sich ein neuer »Wald«, die Stadt als Ort der Entfremdung - wo jeder für sich im Kreis herumfährt -, der ein Gegenbild alter Heimlichkeit fehlt. Erst das Ende bringt dem Soldaten dieses Gegenbild, und ironischerweise ist es der Park als gezähmte, geordnete und vom Menschen gestaltete Rückzüchtung des Waldes, wo er Geborgenheit - »Hier ist es wirklich schön.« (125) - findet, die zugleich eine Rückkehr in die eigene Vergangenheit und der Tod ist.

Indem in Ein Kind unserer Zeit die Stadt die Rolle des Waldes übernimmt, dringt die Grenze zur Welt ins moderne Leben ein, wird allgegenwärtig, ein Gegen-Ort im Diesseits unauffindbar, das Scheitern somit total. Davon wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein.

***

6. Die konservative Revolution entlarvt sich selbst - Der ewige Spießer

Die Dummheit ist eine furchtbare Stärke, sie ist ein Fels, der unerschüttert dasteht, wenn auch ein Meer von Vernunft ihm seine Wogen an die Stirne schleudert. Leichtsinn wurde schon oft von dem sanften Hauch der Liebe, öfter noch von dem rauhen Sturmwind der Erfahrung verscheucht, selbst das Laster ist nicht selten vor dem Licht der bessern Überzeugung geflohen, nur die Dummheit hat sich hinter ein festes Bollwerk von Eigensinn verschanzt, pflanzt beim Angriff noch die spitzen Pallisaden der Bosheit drauf und steht so unbesiegbar da. Johann Nestroy 244

1929 erschien in der Frankfurter Zeitung Siegfried Kracauers ein Jahr später in Buchform zusammengefaßte Artikelserie Die Angestellten, über die Ernst Bloch schrieb:

Eine Gesinnung mit Inhalten, Ironie der Trauer und des revolutionären Hasses, eine unbestechliche Gescheitheit. Definitionen erscheinen, die man nicht vergißt, weil sie die Wirklichkeit auf den Kopf treffen oder auch das falsche Bewußtsein von ihr.245

Diese Beschreibung trifft - den revolutionären Haß ausgenommen - auch auf Ödön von Horváths ersten Roman Der ewige Spie ß er zu, der am 6. Oktober 1930 erschien. Ob Horváth Kracauers Buch kannte, ist aufgrund unserer mangelnden Kenntnis über seine Lesegewohnheiten nicht festzustellen. Wenn man jedoch davon ausgeht, daß Traugott Krischkes Ausführungen über die Entstehung des Romans zutreffend sind, ist eine Beeinflussung Horváths durch Die Angestellten nicht ganz unwahrscheinlich.246 Mit etwas Phantasie könnte man gar einige von Kracauers Feststellungen als »Aufforderung« an Horváth verstehen, den Ewigen Spie ß er zu schreiben; zumindest jedoch bleibt eine frappierende Ähnlichkeit der Motivation unbestreitbar:

Dabei wäre es längst an der Zeit, daß das Licht der Öffentlichkeit auf die öffentlichen Zustände der Angestellten fiele. Ihre Lage hat sich seit den Jahren vor dem Krieg von Grund auf verändert. Schon rein zahlenmäßig: es gibt heute in Deutschland 3,5 Millionen Angestellte, von denen 1,2 Millionen Frauen sind. Im gleichen Zeitraum, in dem sich die Zahl der Arbeiter noch nicht ver- doppelt hat, haben sich die Angestellten annähernd verfünffacht. Auf jeden fünften Arbeiter kommt gegenwärtig ein Angestellter. Auch die öffentlichen Beamten haben einen starken Zuwachs erfahren.247

Und weiter, quasi die Form des Romans zur Beschreibung der Situation einfordernd:

Ergibt sich diese Wirklichkeit der üblichen Reportage? Seit mehreren Jahren genießt in Deutschland die Reportage die Meistbegünstigung unter allen Darstellungsarten, da nur sie, so meint man, sich des ungestellten Lebens bemächtigen könne. Die Dichter kennen kaum einen höheren Ehrgeiz, als zu berichten; die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf. [...] Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat. Sie ist ein legitimer Gegenschlag gegen den Idealismus gewesen; mehr nicht. Denn sie verliert sich nur in dem Leben, das dieser nicht finden kann, das ihm und ihr gleich unnahbar ist. [...] Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.248

Kracauer beschreibt anhand erlebter und erzählter Beispiele reportageartig die »Mittelstandsideologie«249 der Angestellten in der Weimarer Republik, mittels derer sich diese Bevölkerungsgruppe »nach unten« (von den Arbeitern) abzusetzen versucht - um so angestrengter, je mehr sich mit dem Absinken des »neuen Mittelstandes« die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Arbeitsbedingungen beider Klassen verwischen: »Noch steht eine bestimmte berufsständische Ideologie in einem Spannungsverhältnis zu der tatsächlichen Entwicklung«250, stellte Richard Woldt in einer zeitgenössischen Studie über die deutschen Gewerkschaften nach dem ersten Weltkrieg fest. Der aus dieser Anstrengung sich bildende illusionäre Individualismus führt zu einer Entsolidarisierung der abhängigen Klassen oder verhindert das Aufkeimen von Solidarität; rücksichtsloser Egoismus und ein Verbleiben in der trotzig geleugneten Abhängigkeit sind die Folgen. »Sie sind aufeinander angewiesen und möchten sich voneinander sondern.«251 Die ideelle Trennungslinie zu den Arbeitern ist für den mittelständischen Kleinbürger ein schwammiges Bildungsideal.252 Dieses äußert sich nicht nur in seiner bereits erwähnten sprachlichen Ausbildung als Bildungsjargon, sondern auch in der bevorzugten Freizeitgestaltung des Angestellten: Die sich selbst und der Umwelt suggerierten »Kulturbedürfnisse«, auf die der Angestellte im Gegensatz zum Durchschnittsarbeiter mehr Geld verwendet als auf die Ernährung253, befriedigt er in Sport, Kino und populärer Literatur (meist in Form illustrierter Zeitschriften).

Sein kulturelles Handeln bleibt also rezeptiv und somit fremdbestimmt. »Die Stellung dieser Schichten im Wirtschaftsprozeß hat sich gewandelt, ihre mittelständische Lebensauffassung ist geblieben. Sie nähren ein falsches Bewußtsein«, faßt Kracauer, anknüpfend an den oben zitierten Woldt, zusammen254, um dann weiter festzustellen:

Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-Proletariat darin, daß sie geistig obdachlos ist. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen worden sind. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte. Also lebt sie in Furcht davor, aufzublicken und sich bis zum Ende durchzufragen.255

Die kulturellen Aktivitäten der Angestellten richten sich demnach nicht auf die Substanz, sondern den äußeren Schein, nicht auf Bildung, sondern auf Zerstreuung und Unterhaltung. Der Spießer möchte »für billiges Geld den Hauch der großen Welt verspüren«.256 »Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod«257 - oder, um einer Überlegung vorzugreifen, auf die wir noch kommen werden, die Flucht in eine scheinbare, vorgetäuschte Gegenwart.

Nicht zufällig finden sich - neben einem ebenfalls typischen Hang zur Ferien- oder (vorgetäuschten) Bildungsreise - alle drei Freizeit-Beschäftigungen in Sechsunddrei ß ig Stunden und Der ewige Spie ß er wieder. Vom Kino war bereits die Rede. Es bleibt hier nur anzumerken, daß die im Roman erwähnten Filme keinem wie auch immer gearteten wirklichen Bildungsanspruch genügen: Von dem fiktiven Streifen »Der bethlehemitische Kindermord oder Ehre sei Gott in der Höhe« (39), in dem Kastner »eine kleine Rolle« spielt und der von einem »homosexuellen Hilfsregisseur« gedreht wird, über den Western »Tom Mix« (105), den Eugen lieber gesehen hätte als das gleichwohl ebenso niveaulose »Gesellschaftsdrama« (106), bis zu den im Kapitel Das Film-Auge (Anm. 92) erwähnten Henny-Porten-Filmen dienen sie alle lediglich der Zerstreuung.

Dasselbe gilt für die »Literatur« - die mir leider nicht näher bekannte, von Krischke im Anhang als »in Paris erscheinende erotische« (334), inhaltlich wohl als Klatsch-Illustrierte einzuordnende Zeitschrift La Vie Parisienne 258 (37), die im Antiquariat der Tante aufgereihten Sensations-Titel:

Aus dem Liebesleben der Sizilianerinnen. - Sind Brünette grausam? - Selbstbekenntnisse einer Dirne. - Selbstbekenntnisse zweier Dirnen. - Selbstbekenntnisse dreier Dirnen. - Fort mit den lästigen Sommersprossen! - Die unerbittliche Jungfrau. - Gibt es semitische Huren? - Sadismus, Masochismus und Hypnose. - Marianischer Kalender. - Unser österreich-ungarischer Bundesgenosse. - Abtreibung und Talmud. - Wie bist Du, Weib? - Quo vadis, Weib? - Sphinx Weib. - Wer bist Du, Weib? - Wer seid Ihr, Weiber? (55)

Der Informationsbedarf des kleinbürgerlichen Spießers beschränkt sich auf angebliche Sensationen, aufgebauschte Ratgeber zur Politur des äußeren Erscheinungsbildes, die unterdrückte Sexualität stimulierende Meta-Wissenschaftlichkeiten259 und Klatsch aus jenen idealisierten gesellschaftlichen Sphären, denen man sich gerne verbunden sähe. Ihrer aller Bedeutung läßt sich wiederum mit den Worten Siegfried Kracauers beschreiben:

Hypnotiseure schläfern so mit Hilfe glitzernder Gegenstände ihre Medien ein. Ein Gleiches gilt für die illustrierten Zeitungen und die Mehrzahl der Magazine. Bei ihrer genaueren Analyse ergäbe sich vermutlich, daß die in ihnen immer wiederkehrenden Bildmotive wie magische Beschwörungsformeln gewisse Gehalte ein für allemal in den Abgrund bildloser Vergessenheit zu stürzen trachten - jene Gehalte, die von der Konstruktion unseres gesellschaftlichen Daseins nicht umschlossen werden, sondern dieses Dasein selbst einklammern.260

Die solcherart gewissermaßen tabuisierten existentiellen Tatsachen werden ersetzt durch ein assimiliertes Bild von der eigenen gesellschaftlichen Stellung, das selbst im ganz realen Alltag deutliche Züge von Phantasterei und Selbstbetrug trägt. Einen solchen Fall aus einer der großen deutschen Städte, die »keine Industriestädte, sondern Angestellten- und Beamtenstädte«261 sind, schildert Siegfried Kracauer:

»Das steht doch schon alles in den Romanen«, erwiderte eine Privatangestellte als ich sie bat, mir aus ihrem Büroleben zu erzählen. Ich lernte sie sonntags während der Bahnfahrt nach einem Berliner Vorort kennen. Sie kam von einem Hochzeitsgelage, das einen vollen Tag gedauert hatte, und war, wie sie selbst gestand, ein wenig bedudelt. Unaufgefordert plauderte sie ihren Chef aus, einen Seifenfabrikanten, bei dem sie bereits drei Jahre als Privatsekretärin arbeitete. Er sei Junggeselle und bewundere ihre schönen dunklen Augen.

»Ihre Augen sind wirklich wunderschön«, sagte ich.

»Wir gehen immer abends aus. Manchmal nimmt er mich schon nachmittags ins Cafe mit, dann kommen wir nicht mehr zurück. Sehen Sie meine Schuhe an, ich vertanze alle paar Monate die Schuhe. Was interessiert Sie überhaupt das Büro. Ich spreche gar nicht mit dem Büropersonal, die Mädchen platzen vor Neid.«

»Werden Sie Ihren Chef einmal heiraten?«

»Wo denken Sie hin. Mich lockt der Reichtum nicht. Ich bleibe meinem Bräutigam treu.«262

»Weiß Ihr Bräutigam ...«

»Ich werde doch nicht so dumm sein. Was ich mit meinem Chef habe, geht niemanden etwas an.«

Es stellte sich heraus, daß ihr Bräutigam zur Zeit in Sevilla die Filiale eines Wäschegeschäfts leitet. Ich riet ihr, ihn zu besuchen. » In Barcelona ist eben eine Weltausstellung ... « 263

»Wasser hat keine Balken«, entgegnete sie.

Trotz meiner ernsthaften Versicherung glaubte sie nicht, daß Spanien auf dem Landweg zu errei- chen sei. Später will sie mit ihrem Zukünftigen ein kleines Gasthaus in der Umgegend von Berlin bewirtschaften. Dort werden sie einen Garten haben, und im Sommer kommen die Fremden. - Es steht nicht alles in den Romanen, wie die Privatangestellte meint. Gerade über sie und ihres- gleichen sind Auskünfte kaum zu erlangen. Hunderttausende von Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern. [...] Die Intellektuellen sind entweder selbst Angestellte, oder sie sind frei, und dann ist ihnen der Angestellte seiner Alltäglichkeit wegen ge- wöhnlich uninteressant. Hinter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen Intellektuellen nicht leicht. Und die Angestellten selber? Sie am allerwenigsten haben das Bewußtsein ihrer Si- tuation. Aber ihr Dasein verläuft doch in voller Öffentlichkeit? Durch seine Öffentlichkeit ist es, dem »Brief Ihrer Majestät« in E. A. Poes Erzählung264 gleich, erst recht vor Entdeckung geschützt. Niemand bemerkt den Brief, weil er obenauf liegt. Freilich sind gewaltige Kräfte im Spiel, die es hintertreiben möchten, daß einer hier was bemerkt.265

Horváths Roman mag vielfach als humoristisch mißverstanden266 worden sein, auch sind seine Personen nicht in erster Linie Angestellte, sondern haben gewissermaßen die »Seele eines Angestellten«. Dennoch trägt die Lektüre des Romans unbestreitbar dazu bei, das Leben der dargestellten Typen dem Dunkel zu entreißen, in dem es Kracauer noch zu liegen scheinen mußte. Dabei bildet nicht der kontinuierliche Aufbau einer fortlaufenden Geschichte das Kompositionsprinzip, sondern »die lockere Fügung aus einzelnen Texteinheiten, die oft assoziativ aneinandergereiht sind, so daß sich ein summarisch Ganzes aus kleinen Geschichten, Anekdoten, Situationen und Einzelbeobachtungen ergibt«.267

Der ewige Spie ß er ist in dieser »Skizzenhaftigkeit«268 jenes »Mosaik« aus bewußt komponierten »Wirklichkeitsstückchen«, das Kracauer fordert und das sich ohne das »Unliterarische, betont Naive«269 einer solchen Herangehensweise nicht angemessen beschreiben läßt, da sein bestimmender Wesenszug eine ebenso naive Haltung zur quasi »übergewölbten«, dem Verständnis der Handelnden entzogenen Systemhaftigkeit der Welt ist.

Das Scheitern der Personen am Durchschauen dieser Regeln, ihr trotziges Sich-Einrichten in einem falschen, aber offenbar existenzfähigen »Bewußtsein«, spiegelt sich in der szenischen Unmittelbarkeit der Erzählung, die einen sinnvollen Gesamtzusammenhang, eine »Poetisierung« bewußt nicht anstrebt. Der ewige Spie ß er geht jedoch über dieses (erfüllte) Anliegen noch ein ganzes Stück hinaus. Nicht nur zeigt Horváth das deformierte Bewußtsein des pseudo-mittelständischen Spießers auf, seine Darstellung reicht tiefer: Wo Kracauer mit der Darstellung falscher Entwicklungen und ändernswürdiger Zustände die Hoffnung auf Klärung und Verbesserung ganz natürlich verbindet, ist für Horváths Figuren der Weg in ein anderes Bewußtsein und eine andere Gesellschaft verstellt, vermauert und vergessen.

Auch am Ende der Horváthschen Spießer-Erzählungen schimmert Hoffnung, aber nur als verzerrte Karikatur: für Agnes bzw. Anna die Hoffnung, doch noch einen Arbeitsplatz zu ergattern, also Sicherheit in der angestammten, »bewußtlosen« Position der Abhängkeit zu finden. Die Hoffnung, die Eugen Reithofer bleibt, verändert sich, während aus Sechsunddrei ß ig Stunden der Ewige Spie ß er wird. Zwar sind auch in ersterem Selbstmitleid, Geltungssucht und Sentimentalität Kennzeichen seines Handelns gegenüber Agnes, doch wird Horváth in letzterem Roman deutlicher: Das ironisch- amtliche »Zeugnis«, das sich Reithofer selbst für seine Liebe, Güte und Selbstlosigkeit ausstellt, schließt nun die Handlung ab, ohne daß der Leser zweifeln könnte, ob nicht doch ein Anflug jener »menschlichen Solidarität« (275) - die Eugen in typischem Bildungsjargon beim Namen nennt, ohne dessen Gehalt zu verstehen - die Motivation für Eugens Suche nach einem Arbeitsplatz für Agnes gewesen sein könnte. »Und er hatte dabei ein angenehmes Gefühl, denn nun konnte er es sich gewissermaßen selbst bestätigen, daß er einem Mistvieh geholfen hatte.« (275)

Individuell-isoliertes Glücksstreben und sozialer Egoismus sind Merkmale eines Zeitbewußtseins, das sich auch in anderen, mindestens ebenso verhängnisvollen Kennzeichen äußert. Das Schlagwort »Konservative Revolution« kann uns bei deren Diagnose als Anhaltspunkt dienen.

Die Euphorie, die sich in den zwanziger Jahren, bis zur Raserei gesteigert im folgenden Jahrzehnt, mit bestimmten politischen und philosophischen Ideen verband, kann als Ergebnis einer gescheiterten Wahrnehmung der Welt und gescheiterter Versuche, sich in ihr sinnvoll einzurichten, gesehen werden. Die daraus folgende verklärende Rückwendung in eine konstruierte Historie drückt Ernst Jünger in Das abenteuerliche Herz mit folgenden Worten aus:

Wo ist das Bewußtsein geblieben, daß Gedanken und Gefühle ganz unvergänglich sind [...]? Die einzig tröstliche Erinnerung knüpft sich an Augenblicke aus dem Kriege, in denen plötzlich der Feuerschein einer Explosion die einsame Gestalt eines Postens aus dem Dunkel riß, der dort schon lange gestanden haben mußte. Ihr Brüder, durch diese unzähligen und schrecklichen Nachtwachen in der Finsternis habt ihr für Deutschland einen Schatz angesammelt, der nie verzehrt werden kann.270

Der Krieg als Ideal des übersteigerten Nationalismus, als ersehnte Verbindung von Hingabe an den Augenblick und Rückkehr in eine elementare Dynamik der Welt und des Lebens wird in den späten Romanen Horváths zu einem zentralen Thema. Bereits im Ewigen Spie ß er sind jedoch Züge des melancholischen Heroismus, der dem Gefühl der Fremdheit in der real erlebten Welt entspringt und der Begeisterung für die Mobilisierungswirkung des Faschismus zugrundeliegt, festzustellen. Sie äußern sich vor allem sprachlich, und sie sind, verbunden mit der ihnen zugehörigen verstellten oder verzerrten Sicht auf die Welt, das Grundmotiv der gemeinsamen Erlebnisse von Kobler und Schmitz auf dem Weg nach Barcelona.

Den übersteigerten Nationalismus, der keiner realen Verbundenheit mit Land und Leuten entspricht, sondern ein politisches Ersatzideal für eben diese verlorene Bindung ist, läßt Horváth mit valentinesker sprachlicher Absurdität aus der Zeitung sprechen, die im Zug nach Barcelona ein Herr »mit einem energischen Zug« liest:

In der Zeitung stand unter der Überschrift »Nun erst recht!«, daß ein Deutscher, der sagt, er sei stolz, daß er ein Deutscher sei, denn wenn er nicht stolz wäre, würde er ja trotzdem auch nur ein Deutscher sein, also sei er natürlich stolz, daß er ein Deutscher wäre - »ein solcher Deutscher«, stand in der Zeitung, »ist kein Deutscher, sondern ein Asphaltdeutscher.« (156)

An dieser Stelle wird spürbar, wie wirkungsvoll Horváths naive Erzählweise das verdrehte Denken, das aus verdrehtem Bewußtsein resultiert, aufzeigt und gleichzeitig entlarvt: Jede Form von Kommentar würde entweder zu einer unangemessenen Erhöhung des sinnlosen Gedankengangs führen oder vom Leser als ebenfalls unangemessene Arroganz empfunden.

Michael Schneider beschreibt das Scheitern der Versuche der beiden »Zweck-Touristen«, die von ihnen bereiste Gegend wahrzunehmen:

Ihre viel gerühmten Sehenswürdigkeiten prallen nach einer durchzechten Nacht an den verkaterten Hirnen der beiden Junggesellen ab. Ihr »Bildungserlebnis« bleibt sogar unter dem Niveau der Reiseprospekte.271

Die Dummheit, die das Denken von Kobler und Schmitz bestimmt (das heißt eigentlich: verhindert), gibt ihnen jenes von Horváth im Motto der Geschichten aus dem Wiener Wald erwähnte »Gefühl der Unendlichkeit«272. Sie glauben tatsächlich, alles zu erkennen, zu durchschauen und begründen zu können. Horváth gibt diese Gedankengänge nicht nur einfach wieder, als naiver Erzähler scheint er sie quasi zu übernehmen, zu objektivieren, und macht dadurch die ihnen zugrundeliegende Dummheit um so deutlicher, wenn er etwa die Aggressivität des italienischen Faschismus damit erklärt, daß Mussolini »in permanenter Wut ist, daß es bloß vierzig Millionen Italiener gibt«. (168)

Die für die »Konservative Revolution« typische »Soldatisierung« jeglicher Politik, gepaart mit einer tiefen Verachtung für den realpolitischen, diplomatischen Geist des zivilisierten Bürgers, haben wir bereits bei Ernst von Salomon konstatiert.273 Horváth beschreibt dieses bestimmende Grundgefühl als naiver Erzähler ohne poetisierende Überhöhung:

Er [Kobler] war nämlich kein Soldat gewesen, weil er sich während des Weltkrieges gerade in den Flegeljahren befunden hatte, und dieses Niemals-Soldat-Gewesensein störte ihn manchmal, wenn er mit älteren Herren zusammenkam, von denen er annahm, daß sie wahrscheinlich verwundet worden waren. (179)

Die Geisteshaltung, die dieser Scham über die Nichtteilnahme an der nationalkollektiven Niederlage entspricht, äußert sich im trotzigen Gebrauch von Schlagwörtern und Parolen, den Schmitz unfreiwillig entlarvt: »Ich kenn das sofort am Kopf. Die Deutschen haben nämlich alle dicke Köpfe, natürlich nur im wahren Sinne des Wortes.« (177) Diesen Köpfen entfährt, angeregt möglicherweise auch durch das dynamisierende Erlebnis der Reise - die Kobler schon im Vorfeld zur Stärkung seines Ansehens benützt und die ihn sofort nach Beginn einem wahren Phrasengewitter anderer Reisender aussetzt -, Sprachgewölk, das die eigene Unsicherheit nach außen ebenso vernebeln soll wie nach innen.

Nach einiger »Lehrzeit« (in der Kobler die anderen »Schwätzer« noch als solche empfindet und einige Dinge ansatzweise durchschaut) und angeregt durch Schmitz' Tiraden, beginnt auch Kobler diesen konservativ-revolutionären Jargon zu beherrschen:

Bei mir muß alles einen Sinn haben. (146)

»Ich fahr durch Italien nur lediglich durch«, sagte Kobler und strengte sich an, genau nach der Schrift zu sprechen [...]. (158)

»Wir jungen deutschen Handelsleute müßten noch bedeutend innigere Beziehungen mit dem uns wohlgesinnten Ausland anknüpfen. Zu guter Letzt müssen wir dabei natürlich die nationale Ehre hochhalten.« (159)

»Ich bin ein reichsdeutscher Faschist«, sagte Kobler. (172)

Der Chianti löste ihre Zungen, und Kobler erzählte, er wäre ja politisch schon immer rechts gestanden, allerdings nur bis zum Hitlerputsch. Gegenwärtig stünde er so ziemlich in der Mitte, obwohl er eigentlich kein Pazifist sein könne, da sein einziger Bruder auf dem Felde der Ehre gefallen sei. (186)

Er dachte nicht gern an seine Vergangenheit, aber noch ungerner sprach er über sie. Er hatte näm- lich häufig das Gefühl, als müßte er etwas vertuschen, als ob er etwas verbrochen hätte - und er hatte doch nichts verbrochen, was nicht in den Rahmen der geltenden Gesellschaftsordnung gepaßt hätte.

Drum sprach er auch jetzt beim Chianti lieber über die Zukunft. »Der Weltkrieg der Zukunft wird noch schauerlicher werden«, erklärte er Schmitz, »aber es ist halt nicht zu verwundern, daß es bei uns in Deutschland Leute gibt, die wieder einen Krieg wollen. Sie können sich halt nicht daran gewöhnen, daß wir zum Beispiel unsere Kolonien verloren haben.« (188)

»Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet«, meinte Kobler gelassen, »haben Sie schon sehr recht, aber ich glaub halt, daß wir uns nur sehr schwer verständigen werden, weil keiner dem andern traut, jeder denkt, der andere ist der größere Gauner. Ich denk jetzt speziell an Polen.« (189)

Die Skepsis, mit der Kobler im letzten Zitat noch Schmitz' flammenden Parolen entgegentritt, legt er im folgenden ab. Welch wichtige Rolle das Trinken dabei spielt, läßt Horváth Kobler wiederum selbst beschreiben: »›Wenn ich nichts trink, tut mir das Denken oft direkt weh, besonders über so weltpolitische Probleme.‹« (189 f.) Enthemmt durch den Alkohol, bricht sich das vom Schmerz der Realitätsahnung befreite »neue« Denken unerbittlich Bahn: »›Oft versteh ich Ihre Generation überhaupt nicht. Oft wieder scheinen mir Ihre Thesen schal, dürftig, adionysisch in einem höheren Sinn‹« (190), spricht die »Konservative Revolution« aus Schmitz' Mund.

Die Gespräche der beiden Betrunkenen drehen sich nun nur noch um Themen an sich: »die Politik an sich, [...] die Kunst an sich, und Schmitz beklagte sich noch besonders wegen der europäischen Zerfahrenheit an sich.« (191) Währenddessen fliegt vor ihrem Fenster eine Welt vorbei, die nicht mehr aus realen Gegenständen und Anhaltspunkten, sondern nur noch aus »Ideen« besteht: »›Bin soeben an Ihrer gewesenen Windmühle in Brescia vorbeigefahren‹« (191), schreibt Kobler in valentinesker Sinnverdrehung an seine Hauswirtin, und Schmitz fügt einen Gruß an die ihm völlig Unbekannte hinzu, der er sich gleichwohl »sehr ergeben« wähnt. Die Szene endet mit der ansteckenden Primitiv-Geste des Faschistengrußes, die wegen der Niedrigkeit ihres verbindenden Gehalts auch die Büffettdame ansteckt.

Als Zusammenfassung ließe sich über diese Zitate sagen: Auf das Scheitern seiner Versuche, die Welt verstehend zu durchdringen, reagiert der konservativ-revolutionäre Spießer mit der als Konstruktion mißverstandenen Übernahme einer »Weltanschauung«.

Horváth entkleidet die großen Worte ihrer glänzenden Hülle, indem er Schmitz und Kobler ihre Durchdringung vom Grundgedanken allumfassender Käuflichkeit feststellen läßt: »Hörens her: erst wenn alle menschlichen Werte ehrlich und offen vom kaufmännischen Weltbild aus gewertet werden, dann werden die Kaufleut ihren Höhepunkt erreicht haben.« (182) »Und wo eine Nachfrage ist, da ist halt auch ein Angebot da. Das sind halt so Urtriebe!« (201) ergänzt Kobler später. Wie »ehrlich und offen« Schmitz die »Kaufleut« einschätzt, verraten seine weiteren Gedanken:

Vielleicht ist das gar ein Schnorrer und pumpt mich an. [...] Kaufmann ist er, hat er gesagt. Wer ist heut kein Kaufmann? Und was werden Sie schon für ein Kaufmann sein, lieber Herr? Es geht mich ja nichts an. Betrügen tut er sicher [...]. (184)

Schmitz' Rolle ist dabei eine ambivalente: Zwar benützt er das ganze Arsenal von Phrasen, das für den konservativ-revolutionären Spießer typisch ist, dennoch kann man seinen Worten und Gedanken eine gewisse Distanz zu dessen »Weltanschauung« entnehmen, die gleichzeitig dem Autor Horváth als Instrument zu deren Entlarvung dient. So stellt Schmitz etwa gleich zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Kobler fest, daß er nur »so halb Deutscher« (177) ist. Und seine Jugenderinnerungen, die »beim Anblick der grauen Torpedoboote und Panzerkreuzer« (195) in Toulon in ihm hochsteigen, lösen einen Anflug von Melancholie aus, der auf der Erkenntnis seiner Verständnislosigkeit ebenso beruht wie auf einer plötzlichen und klaren Ahnung über den Zustand der Welt: »Bei den Faschisten ist dieser Rüstungswahn nur natürlich, wenn man ihren verbrecherischen Egoismus in Betracht zieht [...].« (196)

Dieser »verbrecherische Egoismus« ist als faschistische Grundhaltung nichts anderes als der kollektive, in staatlich-dynamische Form gebrachte Egoismus aufgrund von Individualisierung, von dem eingangs dieses Abschnitts die Rede war. Seine Grundfunktion ist die Bewegung, der plakativ vorangetragene Nationalismus ein quasireligiöses System, dem die an der Gegenwart Gescheiterten »eine solche Gewalt zu verleihen« suchten, daß, wie Ernst Jünger verlangte, »sie jeder Diskussion entzogen sind«.274

Der antiwestliche Kulturfundamentalismus, der sich gegen eine Herleitung seiner »Weltanschauung« aus der Historie bis hin zur Gegnerschaft gegen den »legalen« Nationalsozialismus wehrte, alle Einflüsse von Rationalismus und christlicher Religiosität strikt ablehnte und selbst den italienischen Faschismus aufgrund seiner Gutstellung mit den »Zivilisationsjuden« verachtete, bemächtigt sich des Denkens des Menschen, der auf die Überforderung einer undurchschaubaren Welt mit der Sehnsucht nach Rückkehr zu den »ursprünglichen bäuerlichen Wurzeln deutschen Seins« reagiert.275

In Koblers verkaterter Übelkeit drückt sich das so aus: »›Jetzt bin ich noch gar nicht am Ziel meiner Reise, und schon bin ich tot‹« (194), während Schmitz in dieser Lage bereits düstere Ahnungen hegt:

»Ich werd halt das Gefühl nicht los, daß Westeuropa noch bedeutend bürgerlicher ist, weil es den Weltkrieg gewonnen hat. Ich möcht aber nicht wissen, was sein wird, wenn die Westeuropäer mal dahinterkommen, daß sie den Weltkrieg zu guter Letzt auch nur verloren haben! Wissens, was dann sein wird? Dann werden auch hier die Sozialdemokraten Minister.« (195)

Um, so könnte man mit etwas Zynismus ergänzen, zum Ziel politischer Attentate der Funda- mentalopposition einer Konservativen Revolution zu werden, die sich über die totale Ablehnung des von ihnen versuchten Vordringens in die Realität der Gegenwart definiert. »›Nur nichts mehr wissen!‹ wehrte sich Kobler mit schwacher Stimme« (196) gegen Schmitz' Versuche, ihm die Welt zu beschreiben. (196) Fortan begegnet er ihr mit einem das natürliche Mißtrauen übersteigenden Pessimismus.

Für sein Vorhaben, die bezeichnenderweise deutsche Rigmor auf betrügerische Weise amouröspekuniär an sich zu binden, verzichtet Kobler auf die gerade erst antrainierten politischen Klischees von »Paneuropa« und schwenkt ins Gegenteil um: oberflächlichen Antisemitismus, Militarismus und Sympathie für die nationalrevolutionären Mörder Matthias Erzbergers (212). Auch diese neue Haltung entspringt reinem Zweckdenken, speist sich ausschließlich aus Parolen und Klischees und verstellt Kobler nun vollends die Sicht auf die Realität.

»Was hat doch dieser Schmitz in Milano gesagt?« fiel es ihm ein, als er sich kämmte: »›Ihr junge Generation habt keine Seele‹, hat er gesagt.276 Quatsch! Was ist das schon, Seele?« Er knöpfte sich die Hosen zu. »Man muß immer nur ehrlich sein!« fuhr er fort. »Ehrlich gegen sich selbst, ich weiß ja, daß ich nicht gerade fein bin, denn ich bin halt ehrlich. Ich verschleier mich nicht vor mir, ich kanns schon ertragen, die Dinge so zu sehen, wie sie halt sind!« (216)

Mit der »Seele« ist, wie an anderer Stelle des Romans277, die Fähigkeit des Liebens gemeint. Der Zustand, in dem seine »Ehrlichkeit« Kobler nach der entscheidenden Erfahrung der »Schlechtigkeit« der Welt im Scheitern seines Heiratsansinnens zurückläßt, entspricht daher einer Art Totenstarre aufgrund »seelischen Selbstmords«: Kobler ist unfähig zu fühlen, zu denken und wahrzunehmen. Das Schicksal des Stiers in der Arena, das Horváth deshalb in aller Ausführlichkeit beschreibt, spiegelt Koblers von Anfang an zum Mißlingen verurteilte Versuche, sich der Gegenwart zu bemächtigen, bis er schließlich »mit einem furchtbar vorwurfsvollen Blick« (222) zusammenbricht. Kobler mißversteht auch diesen »Wink« der Geschichte, wähnt sich in der Rolle des Toreros und denkt kaufmännisch. Dies tut ironischerweise jedoch auch Rigmor:

Und dann weinte sie wieder ein bißchen, sie hätte sich jetzt schon so sehr gefreut auf diese vier- zehn liebverlebte Tage mit ihm (Kobler), aber sie müsse halt den Mister Kaufmann [!] heiraten, schon wegen ihres Papas, der dringend amerikanisches Kapital benötige, trotz der Größe seiner Firma, aber Deutschland sei eben ein armes Land, und besonders unter der Sozialversicherung litte ihr Papa unsagbar. (226)

Nun wird Kobler sein Scheitern, das er in einer von Selbstmitleid induzierten neuen Stufe der Selbstüberschätzung und Identifikation »nationalisiert«, bewußt:

»Was macht Deutschland?« fragte [d]er Amerikaner. »Es geht uns sehr schlecht«, antwortete Kobler mürrisch, aber der Amerikaner ließ nicht locker. »Wie denken Sie über Kunst? Wie denken Sie über Liebe? Wie denken Sie über Gott?«

Kobler sagte, heut könne er überhaupt nichts denken, nämlich er hätte fürchterliche Kopfschmerzen. (227)

Während in Koblers Vorstellung nun »über Europa [...] der Schatten des Mister A. Kaufmann mit seiner unordentlichen Libido« als Verkörperung der »westlichen Gefahr« fällt, auf den er als im direkten Vergleich unterlegene Verkörperung des schwachen Deutschland mit einem pseudopaneuropäischen Gedankengewirr reagiert, verpaßt er die Chance, die Idee eines wirklichen Paneuropismus kennenzulernen, und verharrt in jener seelischen Totenstarre, die im Namen der sie verursachenden Person warnend aufschien.278

Das in den »ewigen Spießern« aufkeimende, euphorisierte, von Dummheit, mißverstandenen Ideen und verdrehter Mythologie getragene »Bewußtsein«, das einem fundamentalen Scheitern an der Gegenwart der Realität entwächst und sich in Horváths Roman vielmündig selbst die Maske vom Gesicht quasselt, wird, nach seiner institutionellen Festigung, in Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit auf geradezu unheimliche Weise sein mörderisches wahres Gesicht und die Zwangsläufigkeit seiner Umstände und Folgen zeigen. Heimat, Vaterland und Nation werden zu transzendenten, utopischen Größen, denen weder ein real faßbarer »Volkskörper« noch ein begrenztes Territorium Form geben. Aus dem »Zeitalter der Kaufleute« wird das Zeitalter der Fische und schließlich das Zeitalter der eisigen Erstarrung.

***

7. Horváths Wandlung

Wahrheit ist das Recht auf Existenz. Axel Matthes, sub rosa 279

Allein zu sein und ohne Götter das ist er, ist der Tod. Friedrich H ö lderlin 280

Die Gesetze der Erinnerung verkehren die Gesetze der Perspektive: Je größer die Entfernung, desto größer die Dinge, an die man denkt. Sinowij Sinik, Emigration als literarische Form 281

Die Veränderungen, die Horváths Leben und sein Werk in den 30er Jahren bestimmten, sind oft beschrieben und Deutungsversuchen unterzogen worden, die sich in den meisten Fällen auf die Situation von Exil und Emigration beziehen. Tatsächlich war Horváths Lage schwierig geworden: Politische Anspielungen in seinen Stücken, aber auch seine grundsätzliche und für die nationalsozialistische Herrschaft provokante Absage an den Mythos des »Deutschtums« vor dem ersten Weltkrieg und das Ideal einer »Heimat als Möglichkeit des politischen und kulturellen Engagements«282 - wie sie etwa in der autobiographischen Notiz Fiume, Belgrad, Budapest, Pre ß burg, Wien, M ü nchen 283 und im Interview mit Willi Cronauer284 zum Ausdruck kommt - riefen Reaktionen des Regimes und seiner selbsternannten Sprecher hervor, die von Unmutsäußerungen bis zu blanken Drohungen reichten (»Wird sich der Ödön noch wundern!« schloß etwa der V ö lkische Beobachter in typisch impertinenter Goebbels-Diktion seinen Kommentar zur Italienischen Nacht. 285 )

Der Regierungsantritt Hitlers und der NSDAP verstärkte für Horváth »eine ganz spezifische Situation des Exils, die je länger, desto mehr zur Identitätskrise wird. Daher ist auch die Legitimation zu nehmen, sein Werk nach 1933 aus dem Blickwinkel der Exilsituation heraus zu betrachten.«286 Es ist jedoch festzustellen, daß sich wenn schon nicht Horváths Situation, dann doch seine Einstellung im Laufe der Exiljahre veränderte. Hans Weigel spricht in Zusammenhang mit der »Wiener und Henndorfer Zeit« von dem »vergeblichen Versuch, sich als Stückeschreiber weiter zu behaupten«, und der »explosive[n], hektische[n] Manier, Texte skizzenhaft, al fresco, aus sich heraus zu schleudern ... in dem verzweifelten Bewußtsein: Es nützt ja doch nichts.«287 Krischke erzählt in gleichem Sinne für das Jahr 1937:

Zum erstenmal schreibt Horváth Worte existentieller Angst nieder, spricht in flüchtigen Notizen von dem Einlullen der Nacht, in den »Schlaf des Nichts«. Er hat Angst vor der Leere. Des »Ehkeinen-Sinn-Habens«, wie er es nennt.288

Das Grundgefühl des Scheiterns, das Horváth Weigel zufolge schon als Voraussetzung seiner literarischen Arbeit in den Jahren ab 1936 annahm und akzeptierte289, drückt sich in der nun eine neue Stufe erreichenden naiven Erzählweise seiner späten Romane aus, die dieses Gefühl als Arbeitshaltung geradezu bedingt. Die daraus zunächst folgende »große schöpferische Krise«290 bereitet den »Durchbruch zu einer neuen Form« vor, »über die Komödie hinaus zur erzählten, verdichteten Realität. Die zweite Karriere beginnt, ein Weg wird sichtbar, aber er führt in den Untergang.«291

Eine ganze Reihe von Autoren hat versucht, die Veränderungen im Motivgehalt der späten Romane im Vergleich zu früheren Werken als »Regression«292 zu deuten. Diesen Begriff verwendet etwa Urs Jenny293, der Horváth als »Zeit-Autor« bezeichnet, da die im Abstand von drei Jahrzehnten betriebene Beschäftigung mit Horváths Werk den Irrtum seiner »überlebenden Freunde« zeige, die in den Mittelpunkt ihrer »Prophezeiungen einer Horváth-Renaissance [...] das Überzeitliche und Ewigmenschliche der späteren Werke (aus den Emigrationsjahren)« stellten. »Das Überzeitliche, verschwommen Metaphysische«, so Jenny, »ist hingewelkt, das Zeitbezogene aktuelle geblieben.«294 Der von Jenny gelobte plakative Marxismus in Horváths frühen Stücken295 - so sich ein solcher überhaupt feststellen läßt, was ich wenigstens für problematisch halte296 - ist es jedoch gerade, wovon sich Horváth in seinen späten Romanen zu deren Vorteil, in einer losen Kehrtwendung zur Symbolik und Motivation seiner frühen Werke297, befreit. Jenny stellt weiter fest:

Er schrieb keine realistischen Zeitstücke mehr; und dies, paradoxerweise, obwohl er nun in seiner Arbeit entschieden politische und moralische Absichten zu verfolgen begann. Er begann, was er sich bisher versagt hatte (oder was ihn bisher nicht interessiert hatte), über seine Figuren ein Urteil zu fällen; und als besonders schuldhaftes Verhalten begann er nun (bei seinen Figuren) eben jenes zu verurteilen, das er selbst als Autor früher seinen Figuren gegenüber geübt hatte: die teilnahms- lose, nur nachsichtig registrierende Haltung des Beobachters, die Passivität dessen, der, um sich nicht zu irren, nicht Partei nimmt.298

Jenny steht mit diese Argumentation nicht allein. Einen Schritt weiter geht Jürgen Schröder, der nicht nur ebenfalls in Jugend ohne Gott den »grausame[n] Realismus des unbeteiligten Beobachters«299 in einem »innere[n] Selbstgericht des Lehrers, des ›geistigen Mörders‹, und seines Autors«300 als verbrecherischen Irrtum entlarvt sieht, sondern auch eine Kontinuität festzustellen meint, dergestalt, daß Horváths Werken schon zuvor »eine entschiedene gesellschaftskritische Perspektive und Kraft«301 gemangelt habe, und somit aus der »Regression« einen grundsätzlichen Mangel macht.

Schröder sieht die Ursache dieses Mangels »in dem unbewältigten Weltkriegstrauma Horváths, das unter den deprimierenden Umständen des Exils erst richtig zum Vorschein gekommen«302 sei.

Schröder widersprechend, spricht Wolfgang Müller-Funk von einer zeitlich begrenzten »Schaffenskrise« in den Jahren 1933 - 1936303 und folgt damit Horváths eigener Argumentation in »Die Komödie des Menschen«, mit der er die Stücke »zurückzog«, die er in den Jahren 1932 - 1936 geschrieben hatte. Horváth erklärt den »Sündenfall« des Stücks Mit dem Kopf durch die Wand damit, daß er »ein Geschäft machen [wollte], sonst nichts«. Das Durchfallen des Stücks sei »eine gerechte Strafe«304 gewesen.

Als Arbeitsvorgabe für die unter dem Titel »Komödie des Menschen« fortan zu schreibenden Stücke nimmt Horváth die bereits zitierte »Tatsache, daß im ganzen genommen das menschliche Leben immer ein Trauerspiel, nur im einzelnen eine Komödie ist«.305 Dies entspricht Weigels eingangs dieses Abschnitts zitierter Feststellung des »Durchbruchs zu einer neuen Form über die Komödie hinaus zur erzählten, verdichteten Realität«. Grundlage dieser Verdichtung ist »eine ebenso konsequente wie originelle Bildhaftigkeit«, begleitet von »der Miteinbeziehung des poetischen Subjektes in den Prozeß ästhetischer Wahrnehmung306, [...] der Mehrschichtigkeit der Sinnebenen und gleichzeitig [...] der Verallgemeinerbarkeit der Aussage, die freilich mit einer Distanzierung und Verfremdung der empirisch-›realen‹, historischen Welt einhergeht«.307 Wie Horváth diese Vorgaben und Ansprüche umsetzte, haben wir im Kapitel über das Film-Auge bzw. (für die »Distanzierung und Verfremdung«) das Märchen bereits beschrieben.

Besonders auffallend ist an Horváths »Spätwerk«308 eine grundlegende Änderung, die sich aus der Kritik an und folglich Aufgabe der Position des »kalten Beobachters« ergibt. Während in dem »skeptisch-resignativen Menschenbild, welches das Denken des Autors in den frühen dreißiger Jahren prägt«309, die Möglichkeit einer inneren Entwicklung der Figuren im Prinzip ausgeschlossen ist, steht nun gerade diese »Möglichkeit einer radikalen Wandlung des einzelnen hin zu einer moralisch zu verantwortenden Lebensführung«310 im Mittelpunkt von Horváths Schaffen. An die Stelle der »Horváthschen Volksstückdramaturgie mit ihrer ›carrousel structure‹, mit der ihr eigenen Entwicklungsunfähigkeit von Individuum und Kollektiv«311 tritt der Versuch, religiös und/oder moralisch motivierte Wandlungen einzelner Menschen durchzuspielen, ihr Aufbegehren gegen falsche Strukturen und dessen Scheitern darzustellen.312

Zwar schließe ich mich nicht der Meinung an, die beiden späten Romane dokumentierten »den Willen eines exilierten Schriftstellers, sich nicht mehr auf eine eher beiläufige, sichtlich distanzierte Kommentierung des zeitgeschichtlichen Prozesses zu beschränken, sondern politisch Stellung zu beziehen und auf die Ereignisse einzuwirken«.313 Dennoch: die späten Romane lediglich als kritische Zustandsbeschreibungen des deutschen Nationalsozialismus lesen zu wollen, muß in solcher Sicht selbst als »regressiver« Mangel der Horváth-Rezeption erscheinen.314

Das Scheitern spielt als Motiv und Thema der späten Romane Horváths - wie wir sehen werden - eine zentrale Rolle, die sie vom Ewigen Spie ß er grundlegend unterscheidet. Dennoch bezeichnet es andererseits eine Kontinuität: Ansätze zu seiner Darstellung, die im Ewigen Spie ß er bereits feststellbar waren, werden wieder aufgegriffen und weiter verfolgt.

Die von Müller-Funk konstatierte »Miteinbeziehung des poetischen Subjekts in den Prozeß ästhetischer Wahrnehmung« bezeichnet die Wandlung: Nicht nur sind beide späten Romane erstmals in der Ich-Form geschrieben315 ; Horváth unterwarf dem Prozeß der Erkenntnis der Unausweichlichkeit des Scheiterns nun auch sich selbst. So ist zu verstehen, was Jenny als Paradox erscheint: daß Horváth die »teilnahmslose, nur unnachsichtig registrierende Haltung des Beobachters« in seine »Kritik« miteinbezieht. Die Flucht des Lehrers, das Ende seines alter Ego T., die »Erstarrung« des Soldaten sind Motive, in denen Horváth sein eigenes Scheitern reflektiert, ohne der Resignation zu verfallen. Die für die Weltsicht der »Konservativen Revolution« typische Haltung des »kalten Beobachters« ist es, die Horváth, nachdem er sie an sich selbst konstatiert hat316, zum Ausgangspunkt der weiteren Suche nach Gegenwart im Bewußtsein des unausweichlichen Scheiterns wird.

Die darin schon im Grunde notwendig vorhandene Ambivalenz oder, anders gesagt, die Unmöglichkeit der Besetzung und Aneignung eines eindeutigen Standpunkts ist es, was m. E. zu der beschriebenen Irritation der Interpreten geführt hat. Horváth unternimmt den »Versuch einer Vertiefung ethisch-moralischer Probleme, die bereits in seinen früheren Stücken - oft latent - angelegt war«.317 Daß dieser Versuch in der Erkenntnis der Notwendigkeit des Scheiterns endet, ist jedoch nicht als Scheitern des Versuchs selbst zu verstehen, sondern als Ansatz zur Darstellung der Existenz des Menschen im Rahmen und unter den Vorgaben und Bedingungen eines poetischen Nihilismus, zu dessen endgültiger Ausführung Horváth keine Zeit mehr blieb. Was davon in Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit bereits angelegt und feststellbar ist, übersteigt jedoch an Gewichtigkeit und Klarheit nicht nur den Rahmen der gesellschaftskritischen Perspektive früherer Stücke, sondern auch den Erkenntnishorizont mancher literarischer Zeitgenossen Horváths. So mag auch zu erklären sein, daß Horváth die anfänglichen Depressionen, die mit seiner Exilsituation verbunden und dadurch hervorgerufen waren318, offensichtlich immer mehr überwand und in einer von Menschen, die ihn kannten, übereinstimmend empfundenen und beschriebenen Ausgeglichenheit neuen Lebensmut fand.319

»Man müßte ein Nestroy sein, um all das definieren zu können, was einem undefiniert im Wege steht!« schrieb er am 23. März 1938 aus Budapest an Franz Theodor Csokor.320 Den Weg dazu, ein solcher »Nestroy« zu werden, ahnte Horváth, der nun auch dem Begriff der Heimat eine neue Bedeutung zuwies:

Die Hauptsache, lieber guter Freund, ist: Arbeiten! Und nochmals: Arbeiten! Und wieder: Arbeiten! Unser Leben ist Arbeit - ohne sie haben wir kein Leben mehr. Es ist gleichgültig, ob wir den Sieg oder auch nur die Beachtung unserer Arbeit erfahren, - es ist völlig gleichgültig, solange unsere Arbeit der Wahrheit und der Gerechtigkeit geweiht bleibt. So lange gehen wir auch nicht unter, so lange werden wir auch immer Freunde haben und immer eine Heimat, denn wir tragen sie mit uns - unsere Heimat ist der Geist.321

Sechs Wochen später ergänzt er, wiederum in einem Brief an Csokor (diesmal aus Zürich):

Mein liebster Freund, für uns, für Dich, gibt es jetzt nur eines: einfach weiter arbeiten, ja sich nicht durch die lauten Weltereignisse stören lassen, und seien sie noch so laut - wenn man arbeitet, das heißt: wenn man weiß, was man zu sagen hat, wird auch die lauteste Umwelt nur zu einer Bestätigung des eigenen Wissens -322

Man könnte den »souveränen und radikalen Skeptiker«, wie Egon Friedell Nestroy nannte323, selbst antworten lassen:

Das Leben hat eine Sammlung von Erscheinungen, die wahrscheinlich von sehr hohem Wert sind, weil sie den Ungenügsamsten zu der genügsamen Äußerung hinreißen: »Da hab' ich schon gnua«.324

Und: »Der Glanz alles Glänzenden wird durch schwarze Unterlag' gehoben;«325

***

8. Flucht in die Wahrheit - Jugend ohne Gott

Denn mein sind, diese gefügigen Liebhaber zu bannen, zwei reine Spiegel, die alle Dinge schöner machen: meine Augen, meine weiten Augen voll ewiger Klarheiten! Charles Baudelaire, Die Sch ö nheit 326

Der Mensch ist aber auch ein Fisch, denn er tut oft Unglaubliches mit kaltem Blut, und hat auch Schuppen, die ihm zwar plötzlich, aber doch g'wöhnlich zu spät von den Augen fallen. Johann Nestroy 327

Horváths zweiter Roman, den er im Sommer 1937 unter Rückgriff auf frühere Notizen und das Dramenfragment Der Lenz ist da! in relativ kurzer Zeit niederschrieb, ist das erste Prosa-Ergebnis seiner persönlichen und künstlerischen »Wandlung«, von der im vorangegangenen Abschnitt die Rede war. Jugend ohne Gott erschien am 26. Oktober 1937 und wurde ein großer Erfolg.328 Die literarische Kritik war - trotz allgemein wohlwollender bis lobender Aufnahme des Romans - gespalten. Auf den Aspekt der Zeit- und Ideologiekritik wurde vor allem von Zeitschriften im Exil befindlicher Deutscher hingewiesen, während die ausländische Presse, möglicherweise unter Einfluß diplomatischer Rücksichten, den metaphysisch-religiösen und moralischen Gehalt des Romans hervorhob.329

Obwohl der Roman nach dem zweiten Weltkrieg mit Erfolg wieder aufgelegt wurde, stand er zunächst im Schatten der dramatischen Werke Horváths. Nach einer Phase der überwiegenden Konzentration auf die sozialkritischen Elemente in Horváths Werken, in der die späte Prosa als »fatale, blaß-epigonale Randerscheinung«330 empfunden wurde, erfuhr Jugend ohne Gott erst ab den frühen siebziger Jahren eine zögernde Neubewertung.

Die angemessenen Interpretationen des Romans rücken in den Mittelpunkt meist die Beschäftigung mit der Frage von Schuld und Gewissen.331 So stellt etwa Ulrich Schlemmer fest, »mit dem Aussprechen der Wahrheit ohne Rücksicht auf Konsequenzen, wodurch er weiteres Unheil verhindert«, werde die Schuld des Lehrers »eingelöst«.332 Obwohl ich eine solche Betrachtungsweise grundsätzlich für legitim halte, bin ich in diesem speziellen Fall anderer Ansicht. Der Lehrer läßt mehrere Gelegenheiten, durch sein Eingreifen die nächste Stufe des Unheils zu verhindern, tatenlos verstreichen. Zunächst versäumt er es, durch ein Geständnis gegenüber dem Schüler Z zu verhindern, daß der N in Verdacht gerät, dessen Kästchen mit dem Tagebuch aufgebrochen zu haben (70), und läßt so die Steigerung der Spannungen zwischen Z und N zu. Als sich N mit der Bitte um Hilfe an ihn wendet, sichert er ihm zwar zu, er werde ihm helfen, verschweigt jedoch weiterhin die eigene Täterschaft, weil er zu wissen glaubt, er habe »den N verurteilt«. (71)

Auch während der Beobachtung von Eva und Z im Wald setzt der Lehrer seinen befehlsartig gefaßten Vorsatz (»Geh hin! Sag, daß du das Kästchen erbrochen hast! Du, nicht der N! Geh hin, geh!« (74)) nicht in die Tat um. Als N bereits vermißt wird, faßt er diesen Entschluß erneut, nun schon etwas halbherzig: »Jetzt muß ichs ihm aber sogleich sagen, es wird allmählich Zeit!« (76) Doch bleibt auch diese Gelegenheit ungenützt.

Jede dieser verpaßten Möglichkeiten stellt eine neue Stufe des Scheiterns weniger der Schuld- begleichung als vielmehr der Unheilsverhinderung dar, das in Form von Passivität über weite Strecken des Romans das Leben des Lehrers bestimmt. Der Zugang zur Welt in sinn- und planvollem Handeln ist ihm verwehrt, er verharrt im Zustand beobachtenden Wartens, das gekennzeichnet ist von der Lähmung der Lieblosigkeit. Der Lehrer betritt die Geschichte in Gestalt des illusionslosen »kalten Beobachters«. Seine Haltung ist - innerlich wie äußerlich - ein erzwungener Zustand des Nicht-Handeln-Könnens, begleitet von Melancholie und innerem moralischen Protest. Als spiegelbildliches Gegenteil dieser Haltung tritt ihm später der Schüler T entgegen, auch er ein »kalter Beobachter«, doch motiviert von seelenloser Neugier und Gefühlskälte. Diese Begegnung - die dadurch ausgelöste Erkenntnis des eigenen Zustands - motiviert die Wandlung des Lehrers.333 Erst die zum aufkeimenden Gefühl der Verantwortlichkeit transformierte »Liebe« zu Eva - die sich anfangs in rein körperlicher Anziehung äußert (»Sie gefällt mir immer mehr. [...] Sie hat herrliche Beine.« (74)), später eine Form annimmt, die vergleichbar ist damit, wie Maurice Blanchot Felice Bauers Wirkung auf Kafka beschreibt: »Eher ist es die Versuchung, die von einem Leben ausgeht, das ihn reizt, weil es so fremdartig scheint, daß ihm die Schuld fremd bleibt;«334 - erst diese »Liebe« löst die Lähmung. Da ist es jedoch zu spät, es bleibt nur noch die Flucht.

Aufgrund dieser Überlegungen möchte ich nicht den Komplex »Schuld«, sondern erneut das Motiv des Scheiterns in den Mittelpunkt meiner Auseinandersetzung mit dem Roman stellen, da sich das Denken und Handeln des Lehrers und seine »Versäumnisse« m. E. nur unter diesem Aspekt angemessen fassen lassen. Gerade die Naivität der Horváthschen Erzählweise rückt das Motiv des Scheiterns in den Mittelpunkt der Geschichte: Zwar wird »Schuld« immer wieder thematisiert, ohne jedoch Gegenstand wirklicher Reflexion zu sein:

Wie ein Raubvogel zieht die Schuld ihre Kreise. Sie packt uns rasch. Aber ich werde den N freisprechen. Er hat ja auch nichts getan. Und ich werde den Z begnadigen. Und auch das Mädel. Ich lasse mich nicht unschuldig verurteilen! (71)

Das Selbstgespräch des Lehrers zeigt die diffuse Ungenauigkeit seiner naiven Perzeption von Schuld: Er empfindet Z und »das Mädel« als schuldig, will sie daher »begnadigen«, während in seiner Sicht nicht nur der N (»freisprechen«), sondern auch er selbst (zumindest in diesem Moment) »unschuldig« ist.335

Alle Versuche des Lehrers, sein Verhältnis zur Welt zu definieren, scheitern: Er scheitert als Lehrer, als Richter und als Sohn. Zwar könnte man die Gründung des »Klubs«, der verbotene Bücher liest, wenigstens indirekt auf seine Lehrtätigkeit zurückführen. Die Motivation ist aber nicht eindeutig: Der Schüler B betont, der Lehrer habe »natürlich sehr recht gehabt mit den Negern« (116), doch sagt er dies so, als habe der Lehrer lediglich etwas bestätigt, was er schon wußte. Immerhin: Der Klub kommt durch die Aussage des Lehrers zu der Ansicht, »daß Sie der einzige Erwachsene sind, den wir kennen, der die Wahrheit liebt«. (118) Auch diese Feststellung ist jedoch eigentlich ein Anlaß für die Umkehrung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses: Die im Klub versammelten Schüler sind es, die die »Vermessungstätigkeit«, die die Wahrheit schließlich aufklärt, in die richtigen Bahnen lenken.

Daß sich der Lehrer aufgrund der Erkenntnisse, die er über die Vorgänge im Lager und im Wald gewonnen hat, die Rolle eines Richters anmaßt, muß aus zwei Gründen negative Folgen haben: Zum einen sind seine Erkenntnisse unzureichend und von ungenauen Ahnungen ebenso verzerrt wie von seiner plötzlich aufflammenden »Liebe« zu Eva. Zum anderen ist es seine lähmende, unbeteiligte Passivität, die ein förderliches Wirken verhindert:

Ich halte plötzlich, denn es wird mir ganz seltsam zumute. Ich entrüste mich ja gar nicht über diesen Roheitsakt, geschweige denn über das gestohlene Brot, ich verurteile nur. Warum bin ich nur nicht empört? (43)

Es ist das Fehlen einer emotionalen Bindung, das dem Lehrer die »Synchronisation« mit dem Weltgeschehen unmöglich macht, wie sich in direktem Anschluß zeigt: Da versucht er, dem Karton, der für eine paramilitäische Übung ein verschollenes Flugzeug darstellen soll, ein menschliches Schicksal und Individualität zu geben (»Oder lebst du noch? Bist schwer verwundet und sie finden dich nicht? Bist ein feindlicher oder ein eigener? Wofür stirbst du jetzt, verschollener Flieger?« (43)) - eine Individualität, die er in seiner Vorstellung den - wie er gleich darauf einsehen muß - tatsächlich menschlichen und individuellen Mädchen verweigerte.

Ebenso übernimmt er - vielleicht unbewußt - die Bezeichnung »Unkraut« (42/60) für die im Wald lebenden Kinder, in deren eines er sich verliebt, und muß durch die Bekanntschaft mit dem »Klub« seine einheitliche Meinung über seine Schüler (»Ihr Ideal ist der Hohn, es kommen kalte Zeiten.« (117)) revidieren. Seine Urteile beruhen in vielen Fällen auf Verallgemeinerungen, die zum Irrtum führen. Sein aus diesen Urteilen abgeleitetes Handeln - oder Nichthandeln - hat unheilvolle Folgen, die der Lehrer wiederum falsch einschätzt, wenn er etwa glaubt, »den N verurteilt« (71) zu haben. Am vielleicht deutlichsten ist der Mangel einer emotionalen Bindung im Verhältnis des Lehrers zu seinen Eltern. Diese Beziehung äußert sich innerhalb des Romans im wesentlichen in drei Briefen. Im ersten wünschen beide Eltern ihrem Sohn unabhängig voneinander in fast gleichem Wortlaut von Gott »Gesundheit, Glück und Zufriedenheit« bzw. »Glück, Zufriedenheit und Gesundheit« (11), was dem Lehrer nur den kurzen, oberflächlichen Kommentar abnötigt, »zufrieden« sei er »eigentlich nicht. Doch das ist ja schließlich niemand.« (11) Im dritten Brief, diesmal vom Lehrer selbst kommentarlos wiedergegeben, sind die Eltern »froh, daß ich eine Stellung habe, und traurig, daß ich so weit weg muß über das große Meer«. (148) Der möglicherweise aus diesem dritten Brief heraus spürbar werdende Wunsch nach Nähe zu ihrem Sohn trifft bei diesem auf keine Resonanz. Er hat sein Verhältnis zu den Eltern anhand des zu Weihnachten erhaltenen Morgenrocks bereits beschrieben: Nicht nur haben sie »keinen Farbensinn«; ihre Versuche, mit ihm zu kommunizieren, werden vom Sohn als lächerliche Phrasen abgetan: »Sie sagten schon immer. ›Du kannst doch nicht ohne Morgenrock leben!‹« (114) Der trennende Punkt zwischen beiden Sätzen betont ihren im Sinngehalt ohnehin deutlichen Phrasencharakter.

Die Wandlung des Lehrers, seine selbstgefundene Bestimmung zur Wahrheit verlangt auch den Bruch der offenbar nur auf falschen Gesten und Ritualen beruhenden Beziehung zu den Eltern. Diesen ist sein Verhalten vor Gericht unverständlich; Sicherheitsdenken und Egoismus (»Ob ich denn nicht an sie gedacht hätte, als ich ganz überflüssig die Sache mit dem Kästchen erzählte, und warum ich sie denn überhaupt erzählt hätte?!« (121)) verhindern den Einbruch der Wahrheit in ihr Leben, deren Platz statt dessen ein falscher Gott einnimmt, der nur die Funktion eines Katalysators für eben dieses Sicherheitsdenken und eben diesen Egoismus hat. Zwar schreibt der Lehrer seinen Eltern schließlich zurück: »›Macht Euch keine Sorgen, Gott wird schon helfen!‹« (123) Er weiß jedoch, daß sein Gott ein anderer als der ihre ist. Und er weiß, daß er dies seinen Eltern nicht verständlich wird machen können. Und er empfindet diese Unmöglichkeit als »Egal!« (123), wodurch sein Bruch mit den Eltern vollzogen ist.

Erst die Erkenntnis der Unausweichlichkeit des Scheiterns und der daraus folgende Entschluß zur Flucht begründen eine sinnvolle Handlungsweise, die jedoch ihren Sinn dadurch erhält, daß der Lehrer nicht mehr Teil der Welt ist, in der er wirkt. Er gehört weder dem Club noch dem System an, seine Mission ist mit dem Tod des »Gegenspielers« T erfüllt. Da der »böse« Fisch (der, wie der eingangs zitierte Nestroy es ausdrückt, »Unglaubliches mit kaltem Blut tut«) die Welt verlassen hat, ist es auch für den »guten« Fisch (dem »die Schuppen plötzlich, aber zu spät von den Augen fallen«) Zeit, zu gehen. So steht das Bild des Fischs nicht nur im Sinne Nestroys für gefühlloses, unmoralisches Handeln und plötzliche, verspätete Erkenntnis, sondern durchaus auch im biblischen Sinne als Symbol für den Heilsbringer336: Durch die Tat des T, der in die scheinbar heile Welt eines im Grunde amoralischen Systems den Tod bringt - und zwar in einer allen Beteiligten sinnlos und daher unheimlich erscheinenden Gestalt -, wird der Charakter dieses Systems sichtbar. Der Lehrer kann die Tat des T nicht ungeschehen machen oder »sühnen«, ihm obliegt es einzig, die Tat aufzudecken und ihr damit die Möglichkeit zu geben, im beschriebenen »erlösenden« Sinne Wirkung zu entfalten. Ob die Welt diese Möglichkeit annimmt und nützt, bleibt ihr selbst überlassen. Der Lehrer als Teil des tödlichen Reinigungsprozesses hat darauf keinen Einfluß. Er hat seine Entscheidung nicht unter dem Aspekt einer möglichen politischen oder sozialen Wirkung (im Mikrokosmos der an der Geschichte Beteiligten) getroffen, sondern aus der individuellen Spannung seiner neuen Beziehung zu der durch Gott repräsentierten Wahrheit und ist damit nicht mehr Teil der von seiner Entscheidung betroffenen Welt.

Zu ähnlichen, wenn auch etwas anders gelagerten Erkenntnissen führt die Beschäftigung mit dem Beruf des Lehrers: Er ist nicht nur Lehrer und als solcher vom Staat beauftragt, »die ihm anvertrauten Schüler [...] zu charakterlicher Haltung und zu Verantwortung gegenüber Volk und Staat erziehen«337, sondern durch die Wahl seiner Fächer näher charakterisiert: Geschichte und Geographie338. Die Geographie steht symbolisch für den im Abschnitt über den Wald erwähnten Vorgang des »Vermessens«; der Lehrer hat in solcher Sichtweise im Prinzip die gleiche »Aufgabe« wie der Landvermesser K. in Kafkas Roman Das Schlo ß: Er soll sich in einer »Gegend« erkennend zurechtfinden, die ihm unbekannt und in den Verhaltensweisen ihrer Bewohner fremd ist. (»Ich muß die Gestalt der Erde erklären und ihre Geschichte deuten.« (55)) Seine Arbeit wird behindert durch die Autorität der fremden »Gegend«339. Die Tätigkeit des Geographen ragt dabei teilweise über die Gegend, die er vermi ß t, hinaus, da zu dieser Aufgabe auch die Vermittlung seiner Erkenntnisse an den außenstehenden Leser gehört.340

Dies schließt an sein zweites Lehrfach an, das diese Vermittlungsfunktion auch innerhalb des Romans repräsentiert: Da die Gegenwart »nichtig wird, wenn sie in den engen Horizont des Tages zur bloßen Gegenwart sich verliert«341, kommt den aus dem Studium der Geschichte gewonnenen Erkenntnissen die Funktion zu, die »vermessene« Welt mit Sinn zu erfüllen. »Nur die gesamte Menschheitsgeschichte vermag die Maßstäbe für den Sinn des gegenwärtigen Geschehens zu geben. Der Blick auf die Menschheitsgeschichte aber führt uns in das Geheimnis unseres Menschseins.«342

Die Lehrtätigkeit des Lehrers besteht also darin, die Strukturen der Welt zu erkunden und zu vermitteln und dadurch ihren Bewohnern das Bewußtsein von Gegenwart und Menschsein zu geben. Daß sich die Vorgänge des Erkundens und Vermittelns nicht mehr synchronisieren lassen, ist dem Lehrer bewußt: »Die Erde ist noch rund, aber die Geschichten sind viereckig geworden.« (55) - Was er bei seiner Vermessung der Welt entdeckt und vorfindet, läßt sich in den geschichtlichen Strukturen, die die Welt bestimmen, nicht mehr ausdrücken. Realität und Ordnung klaffen auseinander. Der Roman wird solcherart auch zum

Paradigma für das gestörte Verhältnis zwischen (Exil-) Autor und (nationalsozialistisch konditioniertem) Leser: Wie der Lehrer seinen Schülern die Ideale der Menschheit nicht vermitteln kann, liegt dem Roman die störende Erfahrung zugrunde, daß Autor und Leser, das einsame Ich und die Masse des (potentiellen) Publikums einander nicht verstehen.343

Hier zeigt sich die Wirkung der naiven Erzählweise:

Der Lehrer ist nicht einfach das literarisch-fiktive Alter ego des Autors Horváth, sondern gleichermaßen ein Mittel der Selbstverständigung (Horváths) wie der Mitteilung (für den Leser). Dem Wunsch des Lehrers, die Geschichte zu deuten, seinen Schülern etwas beizubringen, entspricht die Aufklärungsabsicht des Romans.344

Daher ist der Lehrer auch zuständig für Geographie und Geschichte und scheitert in beiden:

Das politische Geschehen, das Horváth im Roman modellhaft beschreibt, der Triumph einer vorsätzlich amoralischen, militaristischen Diktatur, entwickelt eine ähnliche Eigendynamik wie die Ereignisse im Zeltlager. Dem Schriftsteller bleibt da nicht mehr viel (will er nicht heroisch untergehen) als das Exil, jene aus Flucht und Widerstand zusammengesetzte Reaktionsweise: Sie ist die einzig mögliche, um die »Sündflut« zu überdauern.345

Der Schüler Z, der »Realist«, erkennt das Spannungsverhältnis, in dem sich der Lehrer gegenüber der Welt befindet und aus dem auch sein abstraktes und melancholisches Verhältnis der Welt gegenüber herrührt:

Und er sagt einen sonderbaren Satz: »Die Ansichten des Herrn Lehrers waren mir oft zu jung.« Der Präsident staunt.

»Wieso?«

»Weil der Herr Lehrer immer nur sagte, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist.« (90)

Gerade dieser auf dem »Gebiet [...], wo das Radio regiert« (90) nicht zu verwirklichende ethische Anspruch an sich selbst und an die Welt ist es, der den Lehrer an jenem Gott zweifeln läßt, der nicht nur »einen Krieg zuläßt« (46), sondern auch Armut und Hoffnungslosigkeit: »Wie kann Gott durch jene Gasse gehen, die Kinder sehen und ihnen nicht helfen?« (52)

Im Lauf seiner Vermessungstätigkeit begegnet der Lehrer neben der ihn bedrohenden und die Welt bestimmenden Autorität einer Reihe symbolischer Figuren, an denen sich sein Scheitern manifestiert.346 Das erste in symbolischer Weise personifiziert auftretende Motiv ist die Wirklichkeit: Der sie darstellende Schüler W347 ist in der aktuellen, von den per Radio verbreiteten Maximen und Ideen bestimmten Welt nicht anwesend. Er hat sich eine im weiteren Verlauf tödliche Krankheit zugezogen, während er versuchte, dieser Welt zu entfliehen ins Fußballstadion, wo die dort herrschenden Regeln des Spiels in solchem Maße die Realität bestimmen, daß »für den Zuschauer nichts auf der Welt« existiert: »Dann hat er alles vergessen. Was ›alles‹? Ich muß lächeln: die Neger, wahrscheinlich -- « (14)

Durch die gegenwartsbildende Wirkung des Sporterlebnisses ist es also möglich, dem System der falschen und künstlichen Versuche, eine neue Realität zu etablieren, zu entfliehen.348 Diese Flucht führt aus dem geistig beschränkten und beschränkenden Rahmen des Systems hinaus in remde Länder:

Und der Tormann erzählte. [...] Er zeigte seine Narbe auf der Stirne, die er sich in Lissabon bei einer tollkühnen Parade geholt hatte. Und er sprach von fernen Ländern, in denen er sein Heiligtum hütete, von Afrika, wo die Beduinen mit dem Gewehr im Publikum sitzen, und von der schönen Insel Malta, wo das Spielfeld leider aus Stein besteht - (33)

Der Tod des Schülers W bezeichnet das Verschwinden der in seiner Gestalt manifesten »anderen Weltwirklichkeit« aus der Erlebnisrealität des Lehrers. Die Bedrohlichkeit seiner Situation wird ihm bei der Beerdigung bewußt, ebenso die Identität seiner Gegenspieler:

Und während der Pfarrer von der Blume sprach, die blüht und bricht, entdeckte ich den N. [...] Jetzt sah er mich an. Er ist dein Todfeind, fühlte ich. Er hält dich für einen Verderber. Wehe, wenn er älter wird! Dann wird er alles zerstören, selbst die Ruinen deiner Erinnerung. [...] Und wie ich so dachte, spürte ich, daß mich außer dem N noch einer anstarrte. Es war der T. Er lächelte leise, überlegen und spöttisch. Hat er meine Gedanken erraten? (33 f.)

Die »Blume, die blüht und bricht« ist ein Symbol für die - wie auch der direkte Erlebniszu- sammenhang nahelegt - durch den Schüler N repräsentierte Natur. Die ihr innewohnende Dynamik bewirkt nicht nur, daß sie alles von Menschen Geschaffene zerstört, »selbst die Ruinen«. Sie bringt den erlebenden Erzähler auch in Berührung mit der Sexualität, die durch die Begegnung des Schülers Z mit dem Mädchen Eva in die Geschichte tritt, indem der N den Lehrer auf das Tagebuch des Z hinweist.

Ohne durch menschliche Moralkonzepte und Gefühle gesteuert oder eingeschränkt zu sein, entwickelt sich die Sexualität im weiteren Verlauf zu einer bedrohlichen Kraft: »ohne Liebe, als bloßes Begehren oder als ›fischäugiges Erkennenwollen‹«349 wiederholt sie die Erbsünde im Sinne Erich Fromms, die darin besteht, daß sich Adam und Eva in der biblischen Geschichte nicht in Liebe nähern, sondern »einander als getrennte, isolierte, egoistische Menschen gegenübertreten, die ihre Trennung nicht durch den Akt liebender Vereinigung überwinden können«.350 Ernst Glaeser läßt den Helden seines Romans Jahrgang 1902 die Beobachtung einer in solchem Geist »begangenen« Kopulation durch das Auge des naiven Erzählers beschreiben:

Sie haßten sich. Sie schlugen gegeneinander. Sie schrien. Sie wollten sich töten!! [...] »Das Geheimnis ist Mord,« dachte ich, »sie hassen sich dabei ...«351

Die von der Erkenntnis des Sündencharakters der beobachteten Vereinigung ausgelöste Reaktion des Glaeserschen Helden:

Ich wollte ihm zu Füßen fallen und rufen: »Vater, vergib mir, ich habe mich getäuscht. Ich wußte nicht, daß die Menschen sich beinahe dabei töten ...« Und wenn er dann nur ein wenig seine Hand zu mir neigte, wollte ich ihm schwören, alles, was ich gesehen hatte, zu vergessen, wieder zu sein, wie früher, ohne Neugierde, zärtlich und folgsam, und niemals erwachsen zu werden.352

ließe sich als einem »autoritären Seinsmodus«353 zwingend folgende Regression beschreiben: Sehnsucht nach Rückkehr in die Kindheit, ins Paradies vor dem Sündenfall, in die unvermessene, nicht durch »kalte« Beobachtung entweihte Gegend - den Urwald.354

Der Lehrer erlebt - aus zweiter Hand - eine ähnliche Szene. Er liest im Tagebuch des Z dessen Beschreibung der sexuellen Begegnung mit Eva, die von Gewalttätigkeit und Lieblosigkeit geprägt ist:

Sie gab mir einen Kuß auf den Mund. Dabei steckte sie mir die Zunge hinein. Ich sagte, sie ist eine Sau und was sie denn mit der Zunge mache? Da lachte sie und gab mir wieder so einen Kuß. Ich stieß sie von mir. Da hob sie einen Stein auf und warf ihn nach mir. Wenn der meinen Kopf ge- troffen hätte, wär ich jetzt hin. Ich sagte es ihr. Sie sagte, das würde ihr nichts ausmachen. [...] Da packte sie mich plötzlich und stieß mir noch einmal ihre Zunge in den Mund. Da wurde ich wütend, packte einen Ast und schlug auf sie ein. [...] Sie gab keinen Ton von sich und brach zusammen. Da lag sie. Ich erschrak sehr, denn ich dachte, sie wäre vielleicht tot. [...] Ich wollte schon weg, aber da bemerkte ich, daß sie simulierte. Sie blinzelte mir nämlich nach. [...] - ich erfaßte vorsichtig unten ihren Rock und riß ihn plötzlich hoch. Sie hatte keine Hosen an. Sie rührte sich aber noch immer nicht und mir wurde es ganz anders. Aber plötzlich sprang sie auf und riß mich wild zu sich herab. Ich kenne das schon. Wir liebten uns. Gleich daneben war ein riesiger Ameisenhaufen. (65/66)

Schon die Erwähnung des Ameisenhaufens als Symbol seelenloser Tätigkeit im Zusammenhang mit der sexuellen Vereinigung deutet auf die Erbsünde hin, die der Lehrer kurz darauf bei seiner Beobachtung von »Adam« (Z) und Eva deutlicher anspricht: »Im Schweiße eueres Angesichtes solltet ihr euer Brot verdienen, aber es fällt euch nicht ein.« (74)

So erklärt sich auch die nunmehr öfter auftauchende, unbewußte Sehnsucht des Lehrers nach einer »Heimkehr« zu einem gleichwohl neuen Gott: Dessen Stimme, die ihm im Zigarettengeschäft den Unterschied zum Gott seiner Eltern und seine Verpflichtung zur Wahrheit klarmacht, ist der Auslöser für den späteren Entschluß, durch sein Geständnis aus dem Rahmen des ihn als Funktionsträger einbettenden Systems auszubrechen.

Daß dieses Geständnis nicht nur den Weg zur Wahrheit, sondern tatsächlich auch eine Art von Heimkehr bezeichnet, zeigt sich in den Augen, die danach - und fortan dann, wenn die Wahrheit ins Geschehen tritt - auf dem Lehrer ruhen: »Still, wie die dunklen Seen in den Wäldern meiner Heimat.« (102) Hier liegt auch der Keim für die Motivation, schließlich das Land zu verlassen, denn ganz offensichtlich ist diese »Heimat« nicht identisch mit dem Land oder der Gegend, in der der Lehrer und seine Eltern leben.

Der Einbruch der Sexualität in das Leben des Lehrers, genauer: die Erkenntnis ihres Charakters - erlebt hat er sie ja schon vorher -, spielt dabei eine wesentliche Rolle.

Die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes [...] macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinne brav und erziehbar; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die privateigentümliche Ordnung angepaßten, trotz Not und Erniedrigung sie erduldenden Staatsbürgers.355

Folglich kann sich der Lehrer erst gegen die Regeln der »Denkhemmung und Kritikunfähigkeit« auflehnen, nachdem das beobachtende Erlebnis der Sexualität die Grenzen der Beobachterrolle durchbrochen und ihn in seiner dadurch erstmals erfahrenen Seele berührt hat.

Die Feststellung jedoch, daß sich Z und Eva nicht in Liebe, sondern in der erwähnten Erbsünde vereinigt haben (»›Nein‹, sagt sie leise, ›ich liebe ihn nicht.‹ [...] ›Ich hab ihn auch nie geliebt‹, sagt sie ewas lauter und senkt den Kopf.« (104 f.)) ist gleichbedeutend mit der endgültigen Realität dessen, was die Kapitelüberschrift Vertrieben aus dem Paradies (102) ausdrückt. Die Zukunft, verkörpert durch den solchermaßen »betrogenen« Z, hat verloren:

Er wollte sie beschützen, aber sie liebt ihn nicht.

Er wollte sich für sie verurteilen lassen, aber sie liebte ihn nie.

Es war nur so -

An was denkt jetzt der Z?

Denkt er an seine ehemalige Zukunft? An den Erfinder, den Postflieger?

Es war alles nur so -

Bald wird er Eva hassen. (105)

Der Lehrer, obgleich ahnend, daß er dank seines Geständnisses ohne Rücksicht auf die drohende Suspension vom Lehramt nun »Gott«, d. h. die Wahrheit, in sich trägt (»Wohnt er jetzt auch bei mir?« (107)), weiß jetzt ebenfalls, daß das »Paradies« in der einmal der »Erbsünde« verfallenen Gegend nicht mehr zu finden oder wiederherzustellen ist. Seine »Sendung« (126), die sich in der von ihm innerlich schon verlassenen Gegend nicht eigentlich mehr verwirklichen läßt, besteht (nach der Befreiung Evas, der er die Motivation zur Auflehnung wie auch seine Erkenntnis der »Vertreibung« verdankt) darin, das noch »unvermessene«356 Paradies - Afrika - im Geiste Gottes als der Wahrheit (und nicht »als schmutziges Geschäft« (126)) zu entdecken. Der Pfarrer indes, der den Weg des Lehrers zur Wahrheit nicht ohne Einfluß begleitete, hat dadurch seine Mission erfüllt, er darf nun wieder Zivil tragen: seine »Strafzeit ist vorbei«. (124)

Als (wiederum etwas gewagter) Schlußgedanke ließe sich vermuten, daß der Buchstabe K in der Liste der Schüler deshalb fehlt (12), weil die kathartische, die reinigende Kraft einzig in dem Lehrer selbst verkörpert ist und nun, nach dem Scheitern seiner Mission, in der von ihm verlassenen Gegend nicht mehr weiter wirken kann.357

***

9. Entfesselte Bewegung und gefrorenes Gewissen - Ein Kind unserer Zeit

Als Don Juan zum Strom der Unterwelt hinabstieg und als er Charon seine Münze entrichtet hatte, griff ein düstrer Bettler, stolzen Auges wie Antisthenes, mit starkem Rächerarm nach jedem Ruder.

Die schlaffen Brüste weisend und die offenen Gewänder, krümmte dort eine Schar Frauen sich unter schwarzem Firmament, und wie von großer Herde dargebrachter Opfertiere schleifte lang ihr Ächzen hinter ihm.

Sganarell heischte lachend seinen Lohn, indes Don Luis mit zitterndem Finger allen Toten, die am Gestade irrten, den Sohn wies, der vermessen seines weißen Hauptes spottete.

Fröstelnd unter ihrem Witwenschleier, keusch und hager neben dem treulosen Gatten, der ihr Geliebter war, schien ihn Elvira um ein letztes Lächeln anzuflehn, daß sie in dessen Schimmer die Süße seines ersten Schwures wiederfände.

Aufrecht in seiner Rüstung stand gewaltig ein Mann aus Stein am Steuer, das die schwarze Flut durchschnitt; doch unbewegt der Held, auf sein Rapier gestützt, sah auf die Spur im Strome und geruhte anders nichts zu sehn. Charles Baudelaire, Don Juan in der Unterwelt 358

Letzter Weg führt über Schneefeld. Letzter Weg kennt nicht Begleiter. Letzter Weg ist ohne Mutter. Letzter Weg ist Einsamkeit. Ernst Toller, Masse Mensch 359

Mit der Arbeit an seinem dritten Roman Ein Kind unserer Zeit begann Horváth noch während oder unmittelbar nach der Niederschrift von Jugend ohne Gott. Die Buchfassung erschien unmittelbar nach seinem Tod. Auch diese letzte literarische Arbeit Horváths wurde, wie der Vorgängerroman, unmittelbar nach Erscheinen in mehrere Sprachen übersetzt.360 Die Kritik lobte an Ein Kind unserer Zeit die »Sparsamkeit des Ausdrucks«, mit der Horváth das Schicksal des Soldaten »dem wirklichen Leben ab[lauschte], das hinter jedem Wort pulsiert«, die überzeugende Darstellung des »leidenschaftliche[n] Verlangen[s] dieser Jugend, aus einer Atmosphäre, die von politischem Haß und sozialen Spannungen vergiftet war, zu entfliehen«, und nannte es »eines der wichtigsten deutschen Dokumente des Zeitalters«.361

Doch fiel der Roman, wie das gesamte literarische Werk Horváths, während des zweiten Weltkriegs einer Vergessenheit zum Opfer, die sein Biograph Dieter Hildebrandt damit erklärt, daß Horváth zu Lebzeiten nicht wirklich prominent gewesen sei. »Seine Erfolge waren keineswegs so spektakulär (und langanhaltend) wie die Zuckmayers oder Brechts oder Kaisers oder Tollers oder Bruckners. [...] Horváth saß also nicht so fest im Gedächtnis des Publikums.«362

Von der »Wiederentdeckung« Horváths, die im Zeichen der politischen Zeitkritik stand, blieb der Roman - mehr noch als Jugend ohne Gott - zunächst weitgehend ausgenommen.363 Bis heute ist kein »Materialienband« erschienen, wie er zu anderen Werken Horváths vorliegt.364 Auch in neuerer Zeit steht Ein Kind unserer Zeit im Schatten seines Vorgängers. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, daß bei oberflächlicher Betrachtung die stilistischen Ähnlichkeiten den Verdacht nahelegen könnten, es handele sich um die Fortsetzung eines mit Jugend ohne Gott etablierten literarischen »Erfolgsrezepts«, der somit notwendigerweise epigonale Züge anhafteten. Dies wird aber andererseits sicherlich damit zu tun haben, daß aus Ein Kind unserer Zeit praktisch alle Reste von Optimismus, die Jugend ohne Gott zum Beispiel für den Schulunterricht interessant machen365, verschwunden sind. Der Roman strahlt eine fundamentale Düsternis aus und endet in Erstarrung.

Das Bild der nationalsozialistischen Gesellschaft, das er vermittelt, ist auf wenige konkrete Aspekte beschränkt und weit weniger »prototypisch« als das in Jugend ohne Gott. Dagegen überwiegen die oft besprochenen »metaphysischen« Züge der Geschichte, die eine Rezeption des Romans als Beispiel antifaschistischer Gesellschafts- und Zeitkritik schwierig machen, wenn nicht ausschließen. Zumindest ist eine solche Interpretation nicht geeignet, dem Anspruch gerecht zu werden, den Horváth mit seiner erneuten Hinwendung zu Form und symbolischem Inventar des »modernen Märchens« verfolgte.366

War es in Jugend ohne Gott die »Wahrheit«, die, als Gott personifiziert, im Mittelpunkt des Symbolgehalts der Geschichte stand, so nimmt in Ein Kind unserer Zeit die - ebenfalls »persönlich« auftretende - Zukunft diese Stelle ein. Die Identitätskrise, die den Soldaten wie alle wichtigsten Figuren in Horváths Spätwerk befallen hat367, ist eine existentielle und hängt damit zusammen. Seine Zukunftslosigkeit betont der Erzähler schon im sechsten Satz: »Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot.« (11)

Die Naivität des Erzählers, der mehr noch als der Lehrer in Jugend ohne Gott identisch ist mit seiner Hauptfigur368, verhindert zunächst eine weitere Reflexion, macht aber den Zustand desto deutlicher: Die Zukunft war »schon begraben«. (11) Der Versuch, diese Zukunftslosigkeit zu durchbrechen, ist die Euphorie für das Militär, den scheinbaren Zugang zur Welt (der sich später als toter Gang erweist). Neues Leben gibt dem Soldaten vor allem das Empfinden von Bewegung und Ordnung: »- immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen.« (11)

Die naive Freude des Soldaten an der reinen, von historischer Verankerung befreiten Bewegung ist ein für die Entwicklung des faschistischen Geistes aus dem Zerbrechen des Zeitgefüges nach der Jahrhundertwende sehr typisches Motiv. Nicht umsonst stand der Gedanke, ja die Ideologie der Bewegung als Begriff im Zentrum der nationalsozialistischen Idee, ebenso wie die der ordnenden Zusammenfassung und der Etablierung einer pseudohistorischen Verwurzelung. »Und an diese sollte sich auch die junge Bewegung in erster Linie wenden«, beschrieb Hitler in Mein Kampf deren »Zielpublikum« und Strategie:

Sie soll nicht eine Organisation der Zufriedenen, Satten bilden, sondern sie soll die Leidgequälten und Friedlosen, die Unglücklichen und Unzufriedenen zusammenfassen, und sie soll vor allem nicht auf der Oberfläche des Volkskörpers schwimmen, sondern im Grunde desselben wurzeln.369

Daß die Methode der Bewegung, die in solchem Geist funktionierte, grundsätzlich die der militärischen Entfesselung reiner Geschwindigkeit war, ließ ihr »Führer« außer Zweifel:

Damit aber lautet die Frage einer Wiedergewinnung deutscher Macht nicht etwa: Wie fabrizieren wir Waffen?, sondern: Wie erzeugen wir den Geist, der ein Volk befähigt, Waffen zu tragen? Wenn dieser Geist ein Volk beherrscht, findet der Wille tausend Wege, von denen jeder bei einer Waffe endet!370

Dieser Geist spricht aus den Gedankengängen des Soldaten:

Denn wir haben erkannt, daß das Höchste im Leben des Menschen das Vaterland ist. Es gibt nichts, was darüber steht an Wichtigkeit. Alles andere ist Unsinn. Oder im besten Fall nur so nebenbei.

Wenn es dem Vaterland gut geht, geht es jedem seiner Kinder gut. Gehts ihm schlecht, geht es zwar nicht allen seinen Kindern schlecht, aber auf die paar Ausnahmen kommts auch nicht an im Angesicht des lebendigen Volkskörpers. (17)

Man beachte die scheinbar unfreiwillige Ironie, mit der Horváth den Soldaten Hitlers Idee des »Volkskörpers« karikieren läßt: Wenn es dem Vaterland schlecht geht, sollte es im Idealfall auch »allen seinen Kindern« schlecht gehen. Der Soldat paraphrasiert dann weiter Hitlers Idee vom »Geist«, der zum Waffentragen »befähigt«:

Und gut gehts dem Vaterland nur, wenn es gefürchtet wird, wenn es nämlich eine scharfe Waffe sein eigen nennt -

Und diese Waffe sind wir. (17)

Daß nicht logische Überlegung und vernünftige Abwägung zum Erfolg einer solchem Gedankengut entsprungenen Bewegung führen, ist einer der Grundgedanken der Hitlerschen Strategie:

Die Größe jeder gewaltigen Organisation als Verkörperung einer Idee auf dieser Welt liegt im religiösen Fanatismus, indem sie sich unduldsam gegen alles andere, fanatisch überzeugt vom eigenen Recht, durchsetzt.371 [...] Der Glaube ist schwerer zu erschüttern als das Wissen, Liebe unterliegt weniger dem Wechsel als Achtung, Haß ist dauerhafter als Abneigung, und die Triebkraft zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser Erde lag zu allen Zeiten weniger in einer die Masse beherrschenden wissenschaftlichen Erkenntnis als in einem sie beseelenden Fanatismus und manchmal in einer sie vorwärtsjagenden Hysterie.372

All diese ideologischen Grundsätze schlagen sich im Denken und Fühlen des Soldaten nieder, dessen Betonung der Identifikation des Einzelnen mit der Masse, die ihn erst macht, in krassem Widerspruch steht zu seiner innerlich wie äußerlich vollkommenen Isolation.

Das Leiden an dieser Isolation ist der Hintergrund, vor dem sowohl Euphorie für das Militär als auch die finale Verzweiflung erstehen. Es bleibt ihm verwehrt, »Details und Erfahrungen in ihrer Komplexität [zu] sehen, in Faktoren [zu] zerlegen [...] und daraus wiederum eine komplexe, aber jetzt erfaßbare Wirklichkeit in der Zusammenschau [zu] machen [...]. Es bleibt [...] nichts anderes übrig, als zu glauben.«373 Der Glaubensgrundsatz »Es gibt kein Recht ohne Gewalt« (19) - bei Hitler: »Das Volk sieht zu allen Zeiten im rücksichtlosen Angriff auf einen Widersacher den Beweis des eigenen Rechtes, und es empfindet den Verzicht auf die Vernichtung des anderen als Unsicherheit in bezug auf das eigene Recht, wenn nicht als Zeichen des eigenen Unrechtes«374 - dieser Grundsatz legitimiert den pseudoreligiösen Fanatismus der kriegerischen Ausbreitung auf das Territorium eines anderen Staates, dessen Name »bald der Geschichte angehören« (35) wird, der »beherrscht« wird »von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt« (35), und der daher »ein lebensunfähiges Gebilde« (35) sein muß.

Die »Liebe« des Soldaten zu seinem Hauptmann entspringt nicht der Achtung vor dessen verzweifelten Versuchen, den Ehrenkodex eines »anständigen« Militarismus zu erhalten, der, wie der Hauptmann in seinem Abschiedsbrief damit auch für sich selbst feststellt, »nicht mehr in die Zeit« (58) paßt und an den sich der Soldat »nur dunkel« erinnert: »wir haben ihn nicht mehr gelernt.« (59) Diese Liebe, für die der Hauptmann »ein idealer Vater« (14) ist, hat kein rationales Fundament und ist daher auch rationalen Überlegungen nicht zugänglich. »Wie er möchten wir gerne sein. Wir alle« (15), stellt der Soldat bewundernd fest, doch beruht dies nicht auf einer Identifikation mit dem Verhalten des Hauptmanns und seiner Motivation, seinen Grundsätzen oder dem erwähnten »Ehrenkodex«, sondern nur auf einem Gefühl der Geborgenheit in der Unterwerfung: »er schaut durch die Ausrüstung hindurch in unsere Seelen.« (15)

Der »Haß« schließlich ist Grundlage und Triebfeder der Ideologie und ihrer Umsetzung in Bewegung:

Wir sagen: »Hasse deine Feinde!«

Mit der Liebe kommt man in den Himmel, mit dem Haß werden wir weiterkommen -- (23)

Moralische Bedenken, die man unter dem Begriff des Gewissens fassen könnte, können im Rahmen eines solchen Ideensystems keine Rolle spielen und werden deshalb als »fade[s] pazifistische[s] Gesäusel« (16) diffamiert und diskreditiert. Und doch ist es das Gewissen als Grundlage und Keimzelle der Liebesfähigkeit des Einzelnen, an dem der Soldat schließlich scheitert.

Zwar befreit er sich von dem Glaubensgrundsatz, »daß der einzelne nichts zählt«, sondern »erst etwas [wird] in Reih und Glied« (23). Doch kann diese Erkenntnis ihm keine Brücke zurück in die Welt bilden, da die Welt durch das Wirken des Geistes, dessen »Waffe« seinesgleichen bildeten und bilden, eine andere geworden ist. Seine »Linie« - das Mädchen Anna und gleichzeitig die durch sie verkörperte Grenze zur Welt - ist nicht mehr zu finden375, die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen, das einmal Geschehene nicht löschen. Der Mord als finaler »Befreiungsschlag« entspringt und entspricht im Grunde dem oben erwähnten Glaubensgrundsatz von der »Herstellung« des Rechts durch die Vernichtung des Gegners und befreit den Soldaten daher ebensowenig von seiner Schuld, wie er den Grundsatz, daß der einzelne nichts zählt, mit dessen Rezitator aus der Welt schaffen kann. Er führt nur zur endgültigen Entfernung von und aus jener Welt; die Kälte, die als Symbol für die Unfähigkeit zu lieben376 das Leben des Soldaten von Anbeginn an bestimmt hat, ist sein Schicksal.

In der schließlichen Erstarrung ist nicht nur die Lähmung, die schon das Handeln und Fühlen des Lehrers in Jugend ohne Gott erfüllt hat377, zur Vollkommenheit gelangt378 ; sie ist auch - als deren absoluter Gegensatz - das Ende der Bewegung, der Tod der Zukunft.

Der Soldat nimmt damit vorweg, was sein fanatisierter »Volkskörper« im Erlebnis der totalen Niederlage 1945 erfahren mußte: Was bleibt, ist nur die unsichere, für das eigene Leben nicht mehr relevante Hoffnung, nicht vergessen zu werden, doch haftet selbst dieser Hoffnung die Ambivalenz von Mahnung (»Denn er gab seinen Arm für einen Dreck.« (127)) und Entschuldigungsversuch (»Bedenk es doch: er wußt sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit.« (127)) an. Wolfgang Kaempfer hat in seinem Aufsatz zum Bruch des Zeitgetriebes um die Jahrhundertwende darauf hingewiesen, daß durch diesen Bruch »die alte sinnlich-gegenständliche und die Welt der großen Abstraktionen, die bescheidene und eingeschränkte Welt der menschlichen Geschichte und die Welt der ›globalen Strategien‹ auseinandertraten wie für immer«.379 Zu den »großen Abstraktionen«, die durch das Auseinandertreten von Verkehrszeit und Geschichtszeit an die Stelle traditioneller, sinnlich faßbarer Begriffe traten, gehören neben dem - den Grundzustand der Bewegung symbolisierenden - Zeitgeist praktisch alle ideologischen »Ideen« des frühen 20. Jahrhunderts.

Die vom einzelnen erfahrene Sinnlosigkeit, weil Endlichkeit des eigenen Daseins, das sich nicht mehr in natürliche Zusammenhänge einer Gegenwartserfahrung einfügen ließ, führte zum Durchbruch solcher Ideen wie der des »Volksganzen«, des »Volkskörpers« als Ersatz für die nicht mehr herstellbare Gegenwart der Welt, die sich, so Kaempfer, zwischen den festen Territorien von Vergangenheit und Zukunft aufgelöst hatte:

Im Grunde war man damit gar nicht mehr in einer Zeit zu Hause, die noch Gegenwart genannt werden könnte, sondern in einer von Tag zu Tag erneuerten, wiederholten, transtemporalen actualitas.380

Die Verzweiflung über diese Erfahrung äußert Franz Kafka:

Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist, wenn wir unsern Zeitbegriff fallen lassen immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles frühere für nichtig erklären im Recht, denn es ist noch nichts geschehn.381

Ein Gedanke, über den Siegfried Kracauer schrieb, er falle »Welt-fremd [...] mit der Tür ins Haus der Welt«.382 Möglicherweise war sich Kafka nicht bewußt, wie nahe er mit dieser Überlegung - deren erster Teil mehr der Hoffnung als der Erkenntnis entspringt - jener Erfahrung des gesprungenen Zeitgefüges kam, die sich als Entsynchronisierung und Leerlauf bemerkbar machte. Das aus der Einsicht in die Sinnlosigkeit der Welt resultierende teleologische Vakuum füllen die neuen totalitaristischen Ideologien des Faschismus in seinen unterschiedlichen Varianten383 mit quasi- religiösen Ersatzbegriffen, die verfälschten Traditionen entstammen, und der Entfesselung einer aus dem zersprungenen Zeitgefüge befreiten Bewegung: »Alle großen Fragen der Zeit sind Fragen des Augenblicks [...].«384

Der »fanatischen« Gier des Faschismus nach Ausbreitung in der Gegenwart entspricht nicht nur seine Forderung nach »Lebensraum«, sondern auch die nach bedingungsloser Unterwerfung aller Teile des Volkes als Einzelpersonen.385 Umwandlung, Umformung, Umerziehung wurden zu zentralen Elementen einer »Liebe zur Bewegung an sich, auch ohne Zweck und ohne ein bestimmtes Ziel«.386 Dem entspricht der bereits zitierte Satz des Soldaten: »Mit der Liebe kommt man in den Himmel, mit dem Haß werden wir weiterkommen -- «(23) In diesem Satz vereint sich die durch das »Kitsch- Denken«387 entstandene Extrempolarisierung von »Liebe« und »Haß« als abstrakten, unpersönlichen Begriffen mit dem modernen Anspruch der dem Zeitgefüge entfallenen faschistischen Ideologie: »In ihr [der Bewegung] , und in ihr allein, setzt und sucht man das wahre Leben«, schrieb Friedrich Ancillon bereits im frühen 19. Jahrhundert388 und nahm damit vorweg, was sich mit dem »Vulkanausbruch« (Kaempfer) des ersten Weltkriegs allgemein durchsetzen sollte.

Am vielleicht deutlichsten, weil in diesem Geist offensiv formuliert, findet sich der Drang zur puren Bewegung im Manifest der Futuristen, die die Bewegung auf die Essenz der entdinglichten, reinen Geschwindigkeit reduzieren und damit gleichzeitig die Befindlichkeit der in der Erfahrung des zerbrochenen Zeitgefüges lebenden Menschen wiedergeben:

Wenn wir die Vierzig überschritten haben, kommen andere, Jüngere, Würdigere und werfen uns in den Papierkorb wie überfällige Manuskripte. [...] Sie umzingeln uns, keuchend vor Angst und vor Bosheit [...] und stürzen sich auf uns, um uns umzubringen, getrieben von um so größerem Haß, als ihre Herzen voll sind von Liebe und Bewunderung für uns389,

schreibt Filippo Marinetti 1909 in seinem »Fondazione e Manifesto del futurismo«. Wiederum fällt die antagonistische Verbindung von Haß und Liebe auf, beide durch Entdinglichung und Reduktion auf eine abstrakte Idee ins Manische übersteigert. Das bestimmende Bild der sinnlosen Bewegung kulminiert im

Sog des Nichts, der Leere, des Nirwana, in denen keinerlei Ziele mehr ausgemacht werden können. Zum empfohlenen Aufbruch kann allein der Weg anleiten, absch ü ssig und tief wie das Bett von Katarakten. Gleichwohl empfiehlt sich dazu ein Auto, ein Rennwagen mit seinen gewaltigen R ö hren, die feuerspeienden Schlangen ä hneln. Dieses Auto tost, als sei es auf einem Maschinengewehr montiert, und ist sch ö ner als die Nike von Samothrake.390

Der Hinweis auf die bereits erwähnte Verbindung von Sport, Technik und im Militarismus sich äußerndem Kriegsmythos erübrigt sich eigentlich; daß auch der Futurist sich das Rennauto als Symbol dieser Verbindung wählte, sollte nicht als Indiz für eine ideologische Verbindung von Futurismus und Faschismus mißverstanden werden. Beide sind, wie wir gezeigt haben, Ausdruck desselben »Weltgefühls«, das sich aus der Entsynchronisation von persönlich erlebter Zeit und historischer Zeit speist.

Die Erfahrung der daraus entstehenden Sinnlosigkeit nutzt die faschistische Ideologie zu ihren Gunsten, wie der Philosoph Nicolai Hartmann im Oktober 1933 (selbstentlarvend) formulierte:

Immer hat der Mensch gemeint, sich über die Sinnlosigkeit der Welt beklagen zu müssen. Er hat mit der Gottheit gerechtet um sie. Er hätte ihr auf den Knien danken sollen für sie.391

Die Totalitarität des in seinem Wesen traditionslosen392 Faschismus verkörpert sich in seiner pseudo-religiösen Idee von Volk und Staat. Das Gebot »Du sollst kein anderes Diesseits haben als den Staat«393 läßt Horváth seinen Soldaten noch deutlicher formulieren:

Für uns gibts nur eine Ewigkeit: das Leben unseres Volkes. Und nur eine himmlische Pflicht: für das Leben unseres Volkes zu sterben. (23)

Daß alle der faschistischen Ideologie auch nur teilweise verfallenen Helden bei Horváth an dem Versuch, diese sinngebend im Leben umzusetzen, scheitern, zeigt, daß Horváths Kritik über die Kategorien bloßer Zeit- oder Sozialkritik mit »weltverbesserischem« Anspruch weit hinausgeht: Im Scheitern der Helden äußert sich das Scheitern des modernen Menschen als solchem an einer gegenwartlos gewordenen, unzugänglichen und von leeren abstrakten Begriffen verstellten Welt. Es ist bereits erwähnt worden, daß Horváth mit Ein Kind unserer Zeit die Rückkehr zu Form und Gedanken des Märchens vollzogen hat. Daß der Roman auch in anderer Hinsicht eine Rückwendung zur Symbol- und Gedankenwelt seiner frühesten Arbeiten ist, belegt eine zunächst unscheinbare, im Textzusammenhang merkwürdig unmotiviert und isoliert wirkende Stelle:

Ich lese ein Buch über Tibet, das geheimnisvolle Reich des Dalai-Lama am höchsten Punkte der Welt. (81)

Und, etwas später:

Das Grammophon spielt, ich lese im Buch über Tibet von dem salzigen See Tschargut-tso, aber meine Gedanken sind weiter weg. (83)

Diese zweite Stelle gibt einen Hinweis auf eine mögliche Motivation für die Erwähnung Tibets: Der Satz »Und ich freu mich über meine Gedanken, selbst wenn sie Wüsten entdecken« (83) verweist - in Analogie zur Reise des Lehrers in Jugend ohne Gott nach Afrika - auf die Sehnsucht nach unerforschtem, »unvermessenem« Land, die zugleich die Sehnsucht nach Rückkehr in die imaginäre Unschuld der frühesten Kindheit ist und hier wie dort der Erfahrung der Lieblosigkeit einer sexuellen Vereinigung folgt (hier: mit der Witwe des Hauptmanns).

Daß Horváth für die Beschreibung dieser »Gegend« Tibet wählt, ist kein Zufall: Einerseits ist damit angedeutet, daß die Sehnsucht des Soldaten über die Welt hinausreicht, da seine Gedanken »weiter weg« sind als der »höchste Punkt der Welt«. Andererseits findet sich das Motiv des Himalaya als Ort der Buße für die Vermessenheit des gottvergessenen Menschen bereits im Buch der T ä nze unter dem Titel Asket:

Einer büßt im Himalaya

was er als König getan, der mit weicher Seide angetan in seiner Paläste Labyrinthen in Wolken heiliger Hyazinthen ging, und tausende schönster Frauen und weißer Elefanten seinem launischen Auge lauschten, und alle Dinge waren wie seine Sklaven ...

Einer leidet in öder Nacht, weil er vergaß, daß Einer ist, der Alles maß.

Einer wartet.

Wartet auf den Morgen

der da kam

als träumten junge Mütter ohne Sorgen ...

Einer war geworden.394

Dabei liegt »Tibet« als Ort der reinigenden Buße und Menschwerdung für den Soldaten durchaus nicht im Himalaya, sondern es ist der Ort, an dem er selbst ist und das symbolische Buch liest.395

Doch ist er für die Erkenntnis nicht reif: Seine Gedanken kehren zurück zu seiner wirtschaftlichen Situation, zu »Volk« und »Vaterland«, von denen er sich innerlich zu entfernen beginnt, da er sich um die gerade erst gefunden geglaubte Zukunft betrogen fühlt:

Und der Staat ist das Volk.

Warum verdien ich also nichts?

Gehör ich denn nicht zu meinem Volk?

Ich hab doch nur verloren -

Warte nur, bald gibts nichts zum Lachen!

Wie kalt das Licht wird, wenn man denkt -

Mein Herz beginnt zu frieren. (85)

Schon hier zeigt sich, daß der Versuch des Soldaten, der eigenen, als Kälte empfundenen Liebesunfähigkeit zu entwachsen oder durch Rückkehr in die Geborgenheit und Unschuld der Kindheit zu entfliehen, zum Scheitern verurteilt ist. Auch jenes imaginäre Reich der Kindheit ist, ebenso wie der verschneite Himalaya, ein Reich der Kälte: »›Es ist kalt‹, das bleibt meine erste Erinnerung ---« (126) - und die letzte.396 Der Unfähigkeit zur Liebe entspricht die Unmöglichkeit der Trauer als entgegengesetzter Empfindung, weshalb man das Ende des Soldaten mit den Worten von Alfred Hirsch erklärend beschreiben könnte:

Nur in der Öffnung für die Evidenz erfahrener Trauer und Liebe scheint daher die ursprüngliche Abwesenheit des Anderen - und mit ihr die ursprüngliche Trauer - erträglich zu werden. In der Abweisung der Trauererfahrung lauert daher umgekehrt eine depressive Zeiterfahrung. Denn wenn das Subjekt von seinem primordialen Zugang zur Abwesenheit des Anderen abgeschnitten wird, muß daraus eine Erstarrung und Verkapselung in der Gegenwart folgen. Indem das Subjekt von der Erfahrung des Verlustes des Anderen in der Trauer ausgeschlossen ist, verliert es den Bezug zur eigenen Zukunft und zum Tod: Die Zeit stockt, weil das Ich der zeitlichen Vermittlungsleistung des Andren nicht mehr vermittels der Trauerarbeit gedenkt. [...] Das Subjekt ist in seiner Gegenwart absolut von der Zukunft seines Todes getrennt und ist daher allein durch die Beziehung zum Tode nicht auch schon in einer Beziehung zur Zeit. Erst durch die Mittlerrolle des Andren [...] vollzieht sich »Zeit«, erst hier vermag die »Gegenwart auf die Zukunft« überzugreifen.397

Mit dieser Negation der Möglichkeit, die fehlende Fähigkeit des Liebens zu erwerben, mit der Feststellung, daß Rettung in der Welt nicht zu finden ist - nicht einmal in der Flucht in »unvermessene« Ferne, die in Jugend ohne Gott solches noch verhieß, hatte Horváth - möglicherweise beeinflußt durch den eingangs zitierten Baudelaire398 - in gewisser Weise einen Bereich erreicht, den ich als »poetischen Nihilismus« bezeichnen und abschließend noch etwas genauer besprechen möchte.

***

10. Der endgültige Tod - poetischer Nihilismus und die Sehnsucht nach der verlorenen Welt

Ich throne in der Bläue gleich einer unverstandenen Sphinx; ein Herz aus Schnee schlägt unter meiner schwanenweißen Haut; ich hasse die Bewegung, die die Linien verschiebt, und niemals weine und niemals lache ich. Charles Baudelaire, Die Sch ö nheit 399

Ich bin ja wie aus Stein, wie mein eigenes Grabdenkmal bin ich, da ist keine Lücke für Zweifel oder für Glauben, für Liebe oder Wiederwillen, für Muth oder Angst im besonderen oder allgemeinen, nur eine vage Hoffnung lebt, aber nicht besser, als die Inschriften auf den Grabdenkmälern. Franz Kafka, Tageb ü cher, 15. Dezember 1910 400

In seiner Vorschule der Ä sthetik verwendet Jean Paul die Begriffe »poetischer Nihilismus« und - als Gegensatz - »poetischer Materialismus« zur Abgrenzung dessen, was ihm die wahre Poesie ist: ein mit der Darstellung und der Verständlichmachung der Natur beschäftigter Schaffensprozeß, der weder in einer von reiner Phantasie bestimmten Verachtung der Wirklichkeit - eben dem von ihm so genannten »Nihilismus«, noch in deren bloßer Nachahmung (Materialismus) sich erfüllt, sondern auf der gegenseitigen Durchdringung der beiden entgegenstehenden Elemente des Unendlichen und der Wirklichkeit beruhen soll. Den sich der Darstellung der Wirklichkeit und ihrem Eindringen in die Phantasie widersetzenden »poetischen Nihilisten« vergleicht Jean Paul dem »regellose[n] Maler, der den Äther in den Äther mit Äther malt«.401

Doch hilft uns in unserem Zusammenhang Jean Pauls Definition nicht recht weiter, weil ihrem Erdenker eine wesentliche Erfahrung erspart blieb, die die literarischen Werke, mit denen wir uns beschäftigen, ebenso zeichnet wie die Welt, in der sie entstanden sind: Es ist wiederum der mehrmals erwähnte Bruch des Zeitgefüges, der die Darstellung der Welt in »Zeichnungen ihrer unendlichen Gestalt«402 scheitern läßt, der es irrelevant erscheinen läßt, »uns eine neue Natur [zu] erschaffen, indem es [das Genie] die alte weiter enthüllet«.403

Ödön von Horváth mag diesen Bruch zumindest fühlend erahnt haben. Den Zusammenhang der beiden Zeitsysteme nämlich stellt auch Oswald Spengler fest, dessen Untergang des Abendlandes Horváth stark beeinflußt hat:

Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer naturhaften, die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen die g a n z e Welt. Nur das Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein anderes.404

Wem die Welt aus den Fugen geraten ist, dem bleibt als Verstehen nur die Einsicht in das eigene Scheitern und die Analyse dieses Prozesses und seiner Ursachen. Der wohl erste, dem die Darstellung dieses existentiellen Dilemmas umfassend gelang, ist Charles Baudelaire. Sein Name kann daher auch symbolisch stehen für »das objektive Desaster der Kategorie Zukunft«405. Die Zukunft, die als Personifikation der (verlorenen) Orientierung in Horváths Roman Ein Kind unserer Zeit an der Stelle des Gottes der Wahrheit in Jugend ohne Gott steht, ist in Baudelaires Sicht zur Schimäre verblaßt. Ihr »Tod«, den Nietzsche als Fluchtweg nach-idealistischer Metaphysik in den Tod Gottes umformulierte (und milderte), ist nicht nur die Bestätigung für die Nichterreichbarkeit des Glücks, sondern auch das Ende jeder Illusion schematischer Aufklärung.

Beides spricht aus einer Tagebuchnotiz Franz Kafkas vom 2. Januar 1912, in der er sich an seine Kindheit erinnert:

Überhaupt fehlte es mir hauptsächlich an der Fähigkeit, für die tatsächliche Zukunft auch nur im Geringsten vorzusorgen. Ich blieb mit meinem Denken bei den gegenwärtigen Dingen und ihren gegenwärtigen Zuständen nicht aus Gründlichkeit oder zu sehr festgehaltenem Interesse, sondern, soweit es nicht Schwäche des Denkens verursachte, aus Traurigkeit und Furcht, aus Traurigkeit, denn weil mir die Gegenwart so traurig war, glaubte ich sie nicht verlassen zu dürfen, ehe sie sich ins Glück auflöste, aus Furcht, denn wie ich mich vor dem kleinsten gegenwärtigen Schritt fürch- tete, hielt ich mich auch für unwürdig, bei meinem verächtlichen kindischen Auftreten ernstlich mit Verantwortung die große männliche Zukunft zu beurteilen, die mir auch meistens so unmöglich vorgekommen ist, daß mir jedes kleine Fortschreiten wie eine Fälschung erschien und das Nächste unerreichbar. Wunder gab ich leichter zu als wirklichen Fortschritt, war aber zu kühl, um nicht die Wunder in ihrer Sphäre zu lassen und den wirklichen Fortschritt in der seinen.406

Versuche, der melancholischen Gewißheit der Zukunftslosigkeit zu entkommen, hat es zu allen Zeiten gegeben, stets war die Literatur ein wesentliches Feld ihrer Entfaltung. Die alte, theologische Unsterblichkeitsidee wurde dabei im 18. Jahrhundert von einer ästhetischen Teleologie des Trostes abgelöst, die den personalen Unendlichkeitswillen des Menschen in der Idee vom Tod als »Bruder des Schlafes« spiegelte und ihn vom Schrecken des Sterbens trennte, wie Lessing dies unternahm:

Der Tod ist von allen diesen Schrecken das erwünschte Ende, und es ist nur der Armut der Sprache zuzurechnen, wenn sie beide diese Zustände, den Zustand, welcher unvermeidlich in den Tod führet, und den Zustand des Todes selbst, mit einem und eben demselben Worte benennet.407

Nicht zufällig ist es gerade der von Jean Paul als »Seiten- und Wahlverwandter der poetischen Nihilisten, wenigstens deren Lehenvetter«408 bezeichnete Romantiker Novalis, der in seinen Hymnen an die Nacht »die präbaudelairesche Bewältigung des Todes durch Ästhetisierung zum quasi modernen Ende und Gebrauch transformiert«409 hat. Die solchermaßen der Endgültigkeit des Todes vorgehaltenen »Masken neuzeitlichen Illusionstheaters«410 haben sich als praktisch-zivilisatorische Normen im Grunde bis heute erhalten. Weitgehend unbemerkt oder ignoriert geblieben ist dabei ein Paradigmenwechsel, der mit Baudelaire eintritt: Seine Erkenntnis des absoluten Endes führt nicht nur den Tod ohne Transzendenzversprechen als feste Tatsache ein; sie stellt weitergehend fest, daß der Tod nicht etwa das Ende des Lebens oder seine Folge, sondern das Leben selbst ist.

Im Lichte dieser Reflexion relativieren sich alle historisch-teleologischen, selbst religiösen Fragestellungen, »schmilzt die Frage nach dem äußeren Ende, sei es nun eschatologisch christlich oder immanent historisch, zu einer akademisch etwas aufgeplusterten, letztlich uninteressanten Marginalie«.411 »Wenn ich einmal tot bin, kann es mir egal sein, ob ich in Berlin oder in Paris begraben liege«412, formuliert Horváth die Erkenntnis, mit der der wiewohl dem poetischen Nihilismus sehr nahe Melancholiker Wassili Rosanow hadert:

Was bedeutet es, wenn »ich sterbe«?

Daß die Wohnung auf der Kolomenskaja frei wird und der Vermieter sie einem anderen weitervermietet.413

Was noch?

Daß die Bibliographen meine Bücher katalogisieren.

Aber ich selbst?

Ich selber - nichts.

Das Beerdigungsinstitut erhält 60 Rbl. fürs Begräbnis, und im »März« werden diese 60 Rbl. in die »Bilanz« eingehen. Aber da fließt schon alles mit anderen Begräbnissen zusammen; kein Name, kein Seufzen mehr.

Entsetzliche Vorstellung!414

Literarische Ergründungsversuche helfen nicht weiter. Mit den Worten:

Immer ängstlicher im Niederschreiben. Es ist begreiflich. Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister - dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung - wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht ob Du willst oder nicht.415

beginnt Franz Kafka seinen letzten Tagebucheintrag, der mit dem irritierenden Satz schließt: »Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen.«

Wenn Kafka seinen Roman Der Proce ß mit der Feststellung enden läßt: »es war, als sollte die Scham ihn überleben«416, so reduziert sich auf diesen Halbsatz die ganze Sinnlosigkeit der zuvor unternommenen Bemühungen um eine Lösung des lebensbedrohenden Rätsels. Die »Entscheidung«, die die beiden Herren, die K. töten, beobachten, ist eine, die von Anfang an feststand und so sehr nie in Zweifel geriet, daß ihre Beschreibung ebenso kurz ausfallen kann wie ihre Beobachtung eigentlich überflüssig ist. Es ist der Tod, der immer da war, der nichts löst und niemanden erlöst.417 Kafka spricht davon, daß er selbst schon als Kind »selbst innerhalb des Familiengefühls« den »kalten Raum unserer Welt«418 erahnte, den Schrecken spürte, den der eisige Hauch des Nichts erzeugt und der ihn sein schreibendes Leben lang begleiten sollte. Schreibend wollte er »das Gefühl des Nichtseins zur Gewißheit erheben: um es zum Fundament des Lebens zu machen, versucht er das Nichts zu beweisen.«419

Ähnliches gilt für den Soldaten in Horváths Ein Kind unserer Zeit: Die Kälte, die ihn schließlich körperlich tötet, ist nicht etwa eine plötzlich eintretende äußere Erscheinung, sondern die Grundempfindung, die sein im »Irrtum« geführtes Leben bestimmt, seit jener frühesten Kind- heitserinnerung, die auch seine letzte Empfindung ist: »Es ist kalt.« Dies meint nicht nur den Soldaten, sondern das gesamte Spätwerk Horváths, das sich wie ein Mantel der reinen Erinnerung ausnimmt, den sich der Autor umlegt, um selbst über die Kälte des einsamen Beobachters, den eisigen Hauch des Nichts, der seine letzten Gestalten umweht, hinauszukommen, ihm wenigstens zu entgehen.

Er ist Kafka sehr nahe, wenn er in einem seiner letzten Texte schließlich das Zerbrechen des Zeitgefüges und den vollkommenen Zustand der Melancholie in einem seiner schönsten Bilder darstellt, das gleichzeitig alle Aspekte und unerfüllten Sehnsüchte seines Spätwerks in einem Atemzug zusammenfaßt:

Er wollte nicht weit, gewissermaßen nur um die Ecke der Zeit, in die Tage der Kindheit, denn dort schien es ihm schön gewesen. Ja, der Garten der Kindheit hängt voller goldener Äpfel, aber das Gold ist nichts wert, denn man kann sie essen. Und die Bäume sind höher, die Plätze weiter, die Straßen länger, die Blumen größer, der Schnee weicher - und das alles wird noch viel schöner in der Erinnerung. Der Schnee fällt sanfter, und die Pferde können sprechen, die Hunde denken und die Blumenbeete werden zerstört. Die Lehrer werden harmlos, die bösen Parkaufseher personifizierte Engel, alle Gefahren verschwinden, lösen sich auf in wehmutvoller Erinnerung. - Es war ein grauer Herbstmorgen, naß und voll Nebel, als der Onkel zu seiner ersten Probefahrt startete. Und als er nun Gas gab, da schien der Nebel noch dichter zu werden, er sah garnichts mehr, nur eine dicke gelbe Wand vor sich, wie Lehm. Das Auto schien sich in die Luft zu erheben, als rollte die Erde unter ihm weg, so ein Gefühl hatte er. Er fuhr wie durch Watte. Der Zeitgeschwindigkeitsmesser stand auf siebzig Lichtkilometer, auf dem Schaltbrett flammte es auf, grün und gelb, blau - und dann rot. Da hielt das Auto mit einem Ruck, die Sonne brach durch, als wärs aus den Wolken gefallen. Und es stand am selben Fleck. Nur sah der Fleck anders aus ...420

Doch geht Horváth den Weg der Erkenntnis des Absurden, an die äußersten Grenzen der Ver- neinung, nicht so weit wie Kafka. Dessen unbeirrbare Konsequenz - unbeleuchtet vom Schein des Lebens und seiner Horváth persönlich sehr wohl zugänglichen Leichtigkeit -, die Außerordentlichkeit seines den mystischen Trieb zum Absoluten kontrollierenden Verstandes und der Antagonismus aus Überempfindlichkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst »machen seine Aussage zu der eines Haupt- und Kronzeugen und sein Scheitern zu etwas Endgültigem«.421

Gemeinsam ist beiden Autoren jedoch die auffällige Heiterkeit und Zuversicht, die Horváth nach Abschluß des Romans Ein Kind unserer Zeit ebenso findet wie Kafka am Ende seines Lebens: »Er wirkte fast abgeklärt. Man konnte das Gefühl haben, daß er sein Leben bereits gelebt hatte«, beschreibt Ödöns Bruder Lajos seinen Eindruck.422 Die »Waffen«, von denen Kafkas letzter Tagebucheintrag spricht, sind ein Hinweis auf einen ähnlichen Gemütszustand; die »Zuversicht, mit der er sich dem Tod anvertraut, nachdem er sich mit dem Leben ausgesöhnt hat«423, spricht aus seinen Briefen der Jahre 1923 und 1924424, deren letzter so endet, wie im Grunde alle Bemühungen Kafkas um eine Annäherung an die Welt in ihrem Absolutheitsanspruch endeten: als unvollendetes und nicht zu vollendendes Fragment.425

Horváth irritiert den Leser seiner beiden letzten Romane, indem er zunächst - in Jugend ohne Gott - scheinbare Hoffnung keimen läßt auf eine Rettung durch die Hinwendung zur Wahrheit, in Ein Kind unserer Zeit jedoch der allzu leichten Bereitschaft des Lesers, auf die Wende zum Besseren zu hoffen, die negative Erkenntnis entgegensetzt, daß Wahrheit an Wiedererweckung nicht glaubt. Der stumme Appell des Soldaten an das ihn schockiert betrachtende Kind, verstehbar als Appell an den zukünftigen Leser und doch in solcher Sicht trivial und weit unterschätzt, erhält in diesem Licht beinahe zynisch-ironische Züge. »Alle menschliche Einsicht zieht hin zur Gewißheit einer letzten Verzweiflung, bis dann - als deus ex machina - aus ebendieser Verzweiflung Hoffnung konstruiert wird.«426 Eine Hoffnung, die kaum selbst an sich glauben mag im Augenblick der Gewißheit des Todes:

Und die Zeit verschlingt mich Minute um Minute, wie einen frosterstarrten Körper ungeheurer Schnee; von meiner Höhe betrachte ich die runde Welt und halte dort nicht mehr nach einer Hütte, die mich schütze, Ausschau!427

Der Gedanke, »daß es nichts zu retten gibt«428, wird zur faktischen Grundlage der Beobachtung. Nicht nur die Hoffnung, auch die Erinnerung entlarvt Baudelaire als lebensnotwendige Täuschung:

Wie wärest du mir lieb, o Nacht! ohne jene Sterne, deren Licht eine bekannte Sprache spricht! Denn ich suche die Leere, und die Schwärze, und die Nacktheit! Doch die Finsternisse sind selbst Gemälde, aus denen, meinen Augen zu Tausenden entspringend, Dahingegangene lebendig mich anschaun mit vertrauten Blicken!429

Die Melancholie, die die Erkenntnis der Konstruiertheit jeder Erinnerung begleitet, entstammt der Empfindung, dem vertrauten Gang der Zeit entfallen zu sein. Eine Vorarbeit zu Ein Kind unserer Zeit, in der der Soldat mit Erschrecken feststellt, daß er sich nicht mehr an das Gesicht des Mädchens im »verwunschenen Schloß« erinnern kann, trägt den bezeichnenden Titel Am Rande der Zeit:

Und plötzlich fiel es mir auf, es kam der Zweifel, ob sie wirklich so aussieht und ich wünschte es mir so, daß ich mich nicht täuschen sollte.

Und ich dachte, sie wird wie alle sein --

Aber ich erschrak über diesen Gedanken.

Nein, nein! Sie darf nicht wie alle sein! Sie darf nicht!

Sie muß so sein, wie es meine Sehnsucht will! (159)

Die Unerträglichkeit der »Allgegenwart« von »Zerstörung, Auslöschung, Verschwundensein des eben noch Gewesenen«430 läßt den Menschen Hilfskonstruktionen ersinnen, die sein Gedächtnis als Raum der Wahrnehmung etablieren: Jahrestage, Jubiläen, aber auch die nostalgische Liebe zu Kitsch und ihren Zusammenhängen entrissenen Alltagsgegenständen vergangener Zeiten sind symbolische »Inkarnationen« des naiven Geistes, der das in ihnen sich manifestierende Verlorene zurückhaben will, während der poetische Nihilist weiß, »daß jedwede glückliche Erfahrung ohne Kontinuität ist, daß ihr enthusiastisches Präsens eine Fälschung ist«.431

Karl Valentins erwähnte trotzige Weigerung, die asynchrone Realität seiner Zeit zu akzeptieren (und zu betreten), führte zur Skurrilität seines Sammlerwahns, zum sich selbst ironisierenden Panoptikum und zu dem kaum als wissenschaftliches Interesse mißzuverstehenden Hang zu pseudo-historischen Szenarien, in denen etwa Die Raubritter vor M ü nchen oder Ritter Unkenstein spielen.432 Dem entgegen steht die Faszination, die technische Apparate auf ihn ausübten, doch endete diese Faszination meist so, wie es schon das Schicksal seiner selbstgebauten Musikmaschine gewesen war: Um sich den verwirrenden Versuchen der Technik, ihn zu beherrschen und weiter zu verwirren, zu entziehen, bleibt nur die Flucht in unbewußt ausgelöstes Chaos und Zerstörung. Karl Valentin verkörpert solcherart gewissermaßen den durch den Bruch des Zeitgefüges entstandenen Leerlauf der ihrer wechselseitig sinngebenden Verbindung entfallenen Systeme.

Der Kitsch als Brücke in die scheinbar synchrone Erinnerung an nie Gewesenes spielt auch für Horváth eine große Rolle. In einem Entwurf zur Gebrauchsanweisung schreibt er: »Ich wehre mich gegen das Wort ›Kitsch‹. Ich verstehe das nicht. Das Leben ist doch kitschig!« Und, etwas später im gleichen Text: »Kitsch: man ist gegen Kitsch. Man will seinen Geschmack bilden, - jeder Mensch begeht aber täglich durchschnittlich zehn Schweinereien. Zumindest als Gedankensünde.«433

Zentrales Element des poetischen Nihilismus im Sinne Baudelaires ist die Reduktion aller Aussagen auf die Aussage des einsamen Beobachters. Auch Oswald Spengler richtet seinen Blick »aus der Höhe und Ferne«434 auf die Welt - eine Haltung, die Horváth nicht unwesentlich beeinflußt haben dürfte, wie wir gesehen haben. Doch sind es bezeichnenderweise die beiden späten Romane, in denen sich Horváth von dieser Position zumindest teilweise entfernt. Dem Lehrer wie dem Soldaten, anders gesagt: dem Erzähler in beiden Romanen, wird seine Einsamkeit bewußt, als die Erfahrung der Isolation, der schuldhaften Unbeteiligtheit, ihn zur Identifikation drängt, die nicht gelingen kann. Die Position des einsamen Beobachters übernimmt in Jugend ohne Gott der ehemalige Lehrer Julius Caesar als Symbol für den organischen Zustand des Verfalls; ihn läßt Horváth explizit Spenglers Ansichten - ironisch gespiegelt in seinem Namen - vertreten, von denen sich der Erzähler zu distanzieren versucht.435 Dies gelingt ihm jedoch nicht aus eigenem Antrieb, sondern erst durch das Angebot des Pfarrers, das ihn außer Landes bringt. Ob diese Flucht als gelungen angesehen werden kann, bleibt offen: die Geschichte der Suche des Lehrers nach Gegenwart beginnt mit dem Ende des Romans von neuem; ebenso die ihres Autors.

Im Gegensatz zu Jugend ohne Gott ist in Ein Kind unserer Zeit der Tod allgegenwärtig. Gott spielt ihm gegenüber nur noch eine Randrolle. In einer Vorarbeit zum Roman steht sein Name in Anführungszeichen. (189) In der endgültigen Fassung derselben Szene ist es dann nur noch die Schwester, die von Gott spricht. Der Erzähler nimmt eine ironisch distanzierte Haltung zu Gott ein, nennt ihn »der liebe Gott« (50) und glaubt nicht daran, »daß einem die Beterei was nützt«. (45) Nur gelegentlich durchbricht die Ahnung einer Göttlichkeit diese Haltung:

Die Blumen blühen, aber es ist bitter kalt.

Und ich muß denken, ich werde Gott fragen, warum es so kalt ist.

Denn man kann ja auch mit Gott reden, fällt es mir ein.

Ich erinner mich immer deutlicher, daß man ihm etwas versprechen soll, damit er einem hilft - Richtig, damit er einem hilft!

Man muß ihm etwas geben, irgend etwas, und wärs das Kleinste, er ist für alles dankbar - Als wär er ein Bettler. (47)

Doch tut er diesen »Anfall« von Gottnähe schon kurze Zeit später als »Ausgeburt der Schwäche« (50) ab. Erst im Angesicht des Todes beschließt er, »den lieben Gott« zu fragen, »warum es Kriege geben muß«, die die Ursache der Kälte sind, weil es »nach einem Krieg [...] oft keine Kohlen« gibt. (126) Diese Frage bleibt jedoch unbeantwortet.

In scheinbarem Widerspruch zu diesen Überlegungen steht die Tatsache, daß Horváth offenbar in den letzten Jahren seines Lebens an Gott glaubte und trotz aller Trauer zu jener Religiosität fand, die

dem Soldaten verschlossen bleibt.436 Doch sieht Robert Rochefort - auf Kafka bezogen - im »Erlebnis des Nichts« und der »Gottferne« eine »notwendige Voraussetzung für ein neues und tieferes Glaubensverständnis«.437 Sein »Experiment der totalen Verneinung« sei, wie der Kampf des K. in Das Schlo ß, nur Zeichen dafür, daß der moderne Mensch Gott nur mehr als »den Abwesenden« zu begreifen vermag, »den er in seiner Not und bis in die Überzeugung, daß alles absurd ist, verspürt«438:

Bei Kafka nun ist die Persönlichkeit Gottes zergangen. Es ist wohl Göttlichkeit da, aber sie ist ganz anonym geworden, wie sich das in den verschlossenen Türen und unzugänglichen Beschluß- instanzen des »Prozesses« ausdrückt. Alle jene Momente, welche Gottes Unbegreiflichkeit ins Helle, in die Wahrheit und Treue führen, sind verschwunden. Was bleibt, ist dumpfe Unversteh- barkeit. Aus dem Herrn, der wohl furchtbar in seinem Zorn, aber auch großmütig in seiner Gnade und nahe in seiner Güte ist; dessen Geheimnis immer wieder durch Erfahrungen erleuchtet wird, wie sie die Psalmen 120, 129, 130 und viele andere ausdrücken, ist eine nur dunkle und drohende Macht geworden. Alles, was im Verhältnis zwischen Vater und Sohn an Einengendem und Vergewaltigendem, an Ohnmacht und Groll liegen kann, dringt vor und beherrscht die Atmo- sphäre.439

Horváth scheint dieser letzten Konsequenz zumindest in Jugend ohne Gott auf eine Weise ausgewichen sein, die man mit den Worten Michael Theunissens ausdrücken könnte:

Der Sprung in den Abgrund der Vorstellung, daß für Gott alles möglich sei, erscheint als der einzige Ausweg aus einer Situation, in der für den Menschen nichts mehr möglich ist.440

Man könnte darin allerdings auch einen weiteren Schritt vorwärts sehen: indem er zeigt, daß die Unnahbarkeit und Schrecklichkeit dieses Gottes nur auf einer falschen Annäherung an ihn beruht. Das Problem der Annäherung an das Absolute steht auch in anderer Hinsicht im Mittelpunkt der letzten Romane Horváths. Die Rolle des kalten Beobachters weiter denkend, steht er im Konflikt zwischen Empfindung und Überzeugung - möglicherweise unwissentlich - auf der Seite Baudelaires, dem alles reine Empfindung ist441 und der seine Position wohl deshalb auch nicht durchsetzen konnte gegen die naturferne, aber in ihren scheinbar logischen Konstruktionen schwer zu erschütternden Gebäude der Überzeugung, deren Melancholie ein Satz Kierkegaards ausdrückt:

Mut habe ich zu zweifeln, ich glaube an allem; ich habe Mut zu kämpfen, ich glaube mit allem; aber ich habe nicht den Mut, etwas zu erkennen.442

Es ist das tragische Schicksal des Soldaten, an eben diesem Konflikt zu scheitern, den Weg aus der Überzeugung in die Empfindung nur im Tod finden zu können; jenen Weg, der den Lehrer in Jugend ohne Gott der Gesellschaft der Überzeugung entfremdet und ihn schließlich aus ihr hinausführt.

Geradezu obsessiv beschwört Horváth immer wieder den Tod, wie ihn das Unbewußte auffaßt, den Tod als Befreier aus Kälte und Verlassenheit in, mit Barlach gesprochen, »uranfängliche Geborgenheit« - und immer besiegelt er doch nur die Vernichtung, oder es bleibt doch zumindest zweifelhaft, ob er noch mehr und anderes bedeute, und das heißt auch, ob das Leben noch mehr sei als ein Totentanz, der Mensch mehr als »Dung«.443

Die möglicherweise verbleibende Hoffnung setzt Horváth in Jugend ohne Gott nicht auf revolutionäre Forderungen - die manche von ihm erwartet haben mögen und deshalb von seinen späten Romanen enttäuscht sind -, sondern auf das der wahrhaftigen Empfindung entwachsende Beispiel, von dem Gustav Meyrink in Das gr ü ne Gesicht den Pfeill sagen läßt: »›[...] Nicht einmal Jesus hat sich unterfangen, zu organisieren, er hat ein Beispiel gegeben.‹«444

Doch möchte ich feststellen, daß an dieser Stelle die Richtung der im Rahmen dieser Arbeit vorgenommenen Interpretation verweht und die Grenzen unserer Bemühungen aufscheinen. Den Weg der Wahrheit weiter zu gehen, als ihn das naive Erzähler-Auge Horváths und Kafkas gegangen ist, mag Großes versprechen, doch bleibt uns einstweilen nur, einen Schlußsatz zu zitieren, der als Motto dieser Arbeit ebenso voranstehen könnte wie jeder Beschäftigung mit dem späten Prosawerk eines möglicherweise viel zu früh verstummten Suchers:

»Wieder einmal verfügt Horváth Stille.«445

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Literatur

Einige notwendige Anmerkungen vorab: Die Form, in der das Horváthsche Werk vorliegt, macht es nötig, vier verschiedene Ausgaben von »Gesammelten Werken« zu zitieren. Da diese zudem unterschiedlich geordnet, allesamt auf verschiedene Weise unvollständig und ein Sammelsurium zum Teil fortgeschriebener Druckfehler sind, müssen Einzelausgaben, Sammlungen und von Dritten herausgegebene Anthologien als Vergleich heran- gezogen werden. Der Wunsch nach einer vernünftigen, ordentlich recherchierten und fehlerfrei gesetzten Aus- gabe der Werke Horváths ist des öfteren geäußert worden. Ich kann ihn nur wiederholen. Um die Auffindung im Text zitierter Werke zu erleichtern, verzichtet dieses Literaturverzeichnis auf eine the- matische Gliederung; getrennt werden nur die literarischen Werke von der Sekundär- und sonstigen Literatur. Sammelbände werden nicht nach dem Herausgeber zitiert, sondern - den Gepflogenheiten des Buchhandels folgend - nach ihrem Titel.

Abweichend von der üblichen wissenschaftlichen Praxis werden einige Werke nicht nach den neuesten, textkritischen Ausgaben zitiert, sondern nach solchen, die Ödön von Horváth zur Verfügung gestanden haben könnten. Die Textlage wurde in solchen Fällen überprüft und darf als eindeutig gelten.

Verzeichnis der abgekürzten Titel:

GW -- Gesammelte Werke (siehe Horváth).

KNLL -- Kindlers Neues Literatur Lexikon.

Materialien ÖvH -- Materialien zu Ödön von Horváth. Hrsg. Traugott Krischke.

ÖvH - Kind seiner Zeit -- Krischke, Traugott: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit.

ÖvH (stm) -- Ödön von Horváth. Hrsg. Traugott Krischke.

ÖvH verschwiegen ... -- Schulte, Birgit: Ödön von Horváth verschwiegen - gefeiert - glattgelobt.

Valentin, SW -- Valentin, Sämtliche Werke.

Über ÖvH -- Über Ödön von Horváth

Ödön von Horváth:

- Gesammelte Werke. Herausgegeben von Traugott Krischke und Dieter Hildebrandt. Frankfurt am Main 1971 (4 Bände). Zitiert als: Gesammelte Werke, Band I - IV
- Gesammelte Werke. Herausgegeben von Traugott Krischke und Dieter Hildebrandt. Frankfurt am Main 1972 (8 Bände). Zitiert als: GW(es) I - IV
- Gesammelte Werke. Herausgegeben von Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main 1988 (4 Bände). Zitiert als: GW 1 - 4
- Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden. Herausgegeben von Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main 1994 ff. (14 oder 15 angekündigte Bände, Zahl der erschienenen Bände unsicher). Zitiert unter den Titeln der Einzelb ä nde (Der ewige Spie ß er, Jugend ohne Gott, Ein Kind unserer Zeit usw.)

Franz Kafka:

- Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der kritischen Ausgabe herausgegeben von Hans-Gerd Koch. Frankfurt 1994. Zitiert werden die einzelnen B ä nde unter ihrem jeweiligen Titel wie folgt:

- Band 1: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten.
- Band 2: Der Verschollene.
- Band 3: Der Proceß.
- Band 4: Das Schloß.
- Band 5: Beschreibung eines Kampfes und andere Schriften aus dem Nachlaß.
- Band 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß.
- Band 7: Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß.
- Band 8: Das Ehepaar und andere Schriften aus dem Nachlaß.
- Band 9: Tagebücher 1909 - 1912.
- Band 10: Tagebücher 1912 - 1914.
- Band 11: Tagebücher 1914 - 1923.
- Band 12: Reisetagebücher.

- Briefe 1902 - 1924. O.O. (Frankfurt am Main) 1966.

- Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922 - 1924. Herausgegeben von Josef Cermák und Martin Svatos. Frankfurt am Main 1993.

- Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Herausgegeben von Erich Heller und Jürgen Born. O.O. (Frankfurt am Main) 1967.

- Briefe an Milena. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Willy Haas. Frankfurt am Main 1981 (1966).

- Briefe an Ottla und die Familie. Herausgegeben von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach. Frankfurt am Main 1974.

Karl Valentin:

· Sämtliche Werke in acht Bänden. Herausgegeben auf der Grundlage der Nachlaßbestände des Theater- museums der Universität zu Köln, des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek München sowie des Nachlasses von Liesl Karlstadt von Helmut Bachmaier und Manfred Faust. Einzelbände:

- Band 1: Monologe und Soloszenen. Herausgegeben von Helmut Bachmaier und Dieter Wöhrle. München 1992.
- Band 2: Couplets. Herausgegeben von Helmut Bachmaier und Stefan Henze. München 1994.
- Band 3: Szenen. Herausgegeben von Helmut Bachmaier und Stefan Henze. München 1995.
- Band 4: Dialoge. Herausgegeben von Manfred Faust und Andreas Hohenadl. München 1996. (Band 5: Stücke, ist noch nicht erschienen.)
- Band 6: Briefe. Herausgegeben von Gerhard Gönner. München 1991.
- Band 7: Autobiographisches und Vermischtes. Herausgegeben von Stefan Henze und Andrea Heizmann in Zusammenarbeit mit Max Auer. München 1996.
- Band 8: Filme und Filmprojekte. Herausgegeben von Helmut Bachmaier und Klaus Gronenborn. München 1995.

Zitiert als: Valentin SW 1 - 8

- Anekdoten. Zusammengetragen von Hannes König. Freiburg im Breisgau 1967.
- Das Valentin-Buch. Von und über Karl Valentin in Texten und Bildern. Herausgegeben von Michael Schulte. München 1984.
- Karl Valentins Filme. Herausgegeben von Michael Schulte und Peter Syr. Mit einem Nachwort von Helmut Bachmaier. München 1989.
- Was war wahr? Was wahr war! Karl Valentin. Anekdotisches gesammelt von Hannes König. Offenbach 1969.

Weitere literarische Originalwerke und Sammlungen:

- Baudelaire, Charles: Gesammelte Werke/Briefe. In acht Bänden. Herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München/Wien 1975.
- Feuchtwanger, Lion: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. O.O. (Köln) 1989.
- Glaeser, Ernst: Jahrgang 1902. Potsdam 1928.
- Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen. Nach der zweiten vermehrten und verbesserten Auflage von 1819, textkritisch revidiert und mit einer Biographie der Grimmschen Märchen versehen. Herausgegeben von Heinz Rölleke. München 19894.
- Grimm, Brüder: Märchen. Urfassung. Nach der Ölenberger Handschrift herausgegeben und eingeleitet von Eugen Thurnher. Salzburg/München 1984.
- Herder, Johann Gottfried: Adrastea, in: Herder's Sämmtliche Werke. Herausgegeben von Bernhard Suphan. Dreiundzwanzigster Band. Berlin 1885.
- Herder, Johann Gottfried: Werke. Herausgegeben von Wolfgang Pross. München/Wien 1984 (Band I), 1987 (Band II).
- Hesse, Hermann: Siddharta. Eine indische Dichtung. Frankfurt am Main 1972.
- Jean Paul: Sämtliche Werke. Frankfurt am Main 1996.
- Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Stuttgart 1979.
- Kierkegaard, Sören: Entweder - Oder. München 1988.
- Meyrink, Gustav: Das grüne Gesicht. (Gesammelte Werke, Zweiter Band.) Leipzig 1916.
- Mutzenbacher, Josefine: Die Geschichte einer wienerischen Dirne. Frankfurt am Main/Berlin 1987.
- Nestroy für Minuten. »Das ist klassisch« - Herausgegeben und mit einer Vorrede von Egon Friedell. O.O. (Frankfurt am Main) 1985.
- Nietzsche, Friedrich: Werke in zwei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von August Messer. Leipzig 1930.
- Rosanow, Wassili: Abgefallene Blätter. Frankfurt am Main 1996.
- von Salomon, Ernst: Die Geächteten. Berlin 1930.
- Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in vier Hauptbänden und zwei Ergänzungsbänden. Herausgegeben von Paul Merker. Leipzig 1922.
- Tucholsky, Kurt: Deutschland, Deutschland über alles. Berlin 1929 (Reprint: Reinbek 1973).

Sekundär- und andere Literatur:

- Bachmaier Helmut: Die Filme Karl Valentins, in: Karl Valentins Filme, S. 215 - 220.
- Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunst- soziologie. Frankfurt am Main 1996.
- Bihalji-Merin, Oto: Die Kunst der Naiven. Beziehungen, Analogien und Abgrenzungen, in: Die Kunst der Naiven - Themen und Beziehungen. (Katalog zur Ausstellung.) München o.J. (1975), S. 9 - 27.
- Birbaumer, Ulf: Trotz alledem: die Liebe höret nimmer auf. Motivparallelen in Horváths »Der Lenz ist da!« und Jugend ohne Gott, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 116 - 128.
- Blanchot, Maurice: Von Kafka zu Kafka. Frankfurt am Main 1993.
- Bloy, Léon: Auslegung der Gemeinplätze. Frankfurt am Main 1995.
- Böckelmann, Frank: Das Andere des Waldes im Mittelalter, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Band 8. Wetzlar 1986.
- Bohrer, Karl Heinz: Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik, in: Entzauberte Zeit, S. 42 - 76.
- Bossinade, Johanna: Vom Kleinbürger zum Menschen. Die späten Dramen Ödön von Horváths. Bonn 1988.
- Brod,, Max: Franz Kafka. Eine Biographie. Frankfurt am Main 19543.
- Brod, Max: Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas. Frankfurt am Main 1959.
- Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main 1976.
- Deutsche Philosophen 1933. Hrsg. Wolfgang Fritz Haug. Hamburg 1989.
- Dietrich, Stefan: Gesellschaft und Individuum bei Oedoen von Horváth. Interpretation anhand von Stücken bis zur Emigration. Glattbrugg 1975.
- Eckhardt, Juliane: Horváths Romane unter literaturdidaktischem Aspekt, in: Horváths Prosa, S. 220 - 260.
- Eckhardt, Juliane: Jugend ohne Gott im Literaturunterricht, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 198 - 221.
- Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Harvard-Vorlesungen (Norton Lectures 1992 - 93). München 1994.
- Emrich, Wilhelm: Franz Kafka. Frankfurt am Main 19574.
- Emrich, Wilhelm: Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur. Studien. Frankfurt am Main 1965.
- Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne. Hrsg. Ludger Heidbrink. München 1997.
- »Es sind natürlich unbegabte Menschen« - Der Regisseur Hans Neuenfels über Ödön von Horváths Figuren und Sprache, in: die tageszeitung, 4./5. Januar 1997, S. 15.
- Franchi, Riccardo: Der Spiesser und seine Sprache. Eine Untersuchung von Oedon von Horváths Werk. Zürich 1982.
- Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 19887.
- Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt am Main 1953/1960.
- Friedrich, Volker: Melancholie als Haltung. Berlin 1991.
- Fritz, Axel: Ödön von Horváth als Kritiker seiner Zeit. Studien zum Werk in seinem Verhältnis zum politischen, sozialen und kulturellen Zeitgeschehen. München 1973.
- Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart 1976.
- Gamper, Herbert: Horváths komplexe Textur. Dargestellt an frühen Stücken. Zürich 1987.
- Gamper Herbert: Todesbilder in Horváths Werk, in: Horváth-Diskussion, S. 67 - 81.
- Garbe, Burckhard: »Ja, es kommen kalte Zeiten«. Beobachtungen zur poetischen Sprache Horváths in Jugend ohne Gott, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 92 - 115.
- Gernhardt, Robert: Was gibt's denn da zu lachen? Kritik der Komiker. Kritik der Kritiker. Kritik der Komik. Zürich 1988.
- Glasmeier, Michael: Karl Valentin. Der Komiker und die Künste. München/Wien 1987.
- Grimm, Reinhold: Nach dem Naturalismus. Essays zur modernen Dramatik. Kronberg im Taunus 1978.
- Gros, Peter: Plebejer, Sklaven und Caesaren. Die Antike im Werk Ödön von Horváths. Bern 1996.
- Haug, Wolfgang Fritz: Nicolai Hartmanns Neuordnung von Wert und Sinn, in: Deutsche Philosophen 1933, S. 159 - 187.
- Hauser, Arnold: Der Begriff der Zeit in der neueren Kunst und Wissenschaft, in: Merkur 91/1955, S. 801 - 815.
- Heidsieck, Arnold: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. Stuttgart 1969.
- Herzinger, Richard: Wachtposten in der Götternacht des Nihilismus. Der melancholische Heroismus der Kon- servativen Revolution, in: Entzauberte Zeit, S. 184 - 209.
- Hildebrandt, Dieter: Ödön von Horváth. Reinbek 1975/1995.
- Hirsch, Alfred: Ethik der Trauer. Der Entzug des Anderen, in: Entzauberte Zeit, S. 231 - 254. · Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 1937.
- Holl, Adolf: Gott ist die Wahrheit oder: Horváths Suche nach der zweiten religiösen Naivität, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 147 - 156.
- Horváth-Diskussion. Hrsg. Kurt Bartsch, Uwe Baur Dietmar Goltschnigg. Kronberg im Taunus 1976.
- Horváths Jugend ohne Gott. Hrsg. Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1984.
- Horváths Prosa. Hrsg. Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1989.
- Horváths Stücke. Hrsg. Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1988.
- Huder, Walter: Exil als Todesfalle. Eine sentimental-heroische Fatalität der Geschichte: Exempel Ödön von Horváth, in: Deutschsprachige Exilliteratur. Studien zu ihrer Bestimmung im Kontext der Epoche 1930 bis 1960. Bonn 1984, S. 193 - 203.
- Huder, Walther (sic!): Ödön von Horváth. Existenz und Produktion im Exil, in: Die deutsche Exilliteratur 1933 - 1945. Hrsg. Manfred Durzak. Stuttgart 1973, S. 232 - 244.
- Janouch, Gustav: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1981.
- Jansen, Wolfgang: Das Groteske in der deutschen Literatur der Spätaufklärung. Ein Versuch über das Erzähl- werk Johann Carl Wezels. Bonn 1980.
- Jarka, Horst: Sprachliche Strukturelemente in Ödön von Horváths Volksstücken. In: Colloquia Germanica 4.
- Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1983.
- Jenny, Urs: Ödön von Horváths Größe und Grenzen, in: Über Ödön von Horváth, S. 71 - 78.
- Kadrnoska, Franz: Sozialkritik und Transparenz faschistischer Ideologeme in Jugend ohne Gott, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 69 - 91.
- Kaempfer, Wolfgang: Die zerbrochene Zeit. Zum Ausfall des Zeitgetriebes in der europäischen Moderne, in: Entzauberte Zeit, S. 120 - 143.
- Kahl, Kurt: Ödön von Horváth. Velber 1971.
- Kaiser, Wolf: Jugend ohne Gott - ein antifaschistischer Roman?, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 48 - 68.
- Karl Valentin Fundsachen. Hrsg. Münchner Filmzentrum/Freunde des Münchner Filmmuseums e.V., Redaktion Ulrich Kurowski/Thomas Brandlmeier. München 1976 (Heft »Film« 1), 1982 (»Film« 2).
- Kassel, Norbert: Das Groteske bei Franz Kafka. München 1969.
- Keaton, Buster: Schallendes Gelächter. Eine Autobiographie. Unter Mitarbeit von Charles Samuels. München 1986.
- Kim, Jeong-Yong: Das Groteske in den Stücken Ödön von Horváths. Frankfurt am Main 1995.
- Kindlers neues Literatur-Lexikon. Hrsg. Walter Jens. München 1996. Zitiert als: KNLL 1 - 21
- Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975/199614.
- Kluke, Paul: Zum politischen Problem des deutschen Heeres unter Republik und Diktatur, in: Merkur 95/1956, S. 78 - 88.
- Koch, Christiane: Arme Zeiten - Heiße Stimmung. Alltag der zwanziger Jahre, in: Die wilden Zwanziger. Weimar und die Welt 1919 - 33, Reinbek 1988, S. 33 - 53.
- Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt am Main 1971.
- Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main 1977.
- Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1964.
- Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Frankfurt am Main 1984.
- Krischke, Traugott: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit. München 1980. Zitiert als: Ö vH - Kind seiner Zeit
- Kurzenberger, Hajo: Horváths Volksstücke. München 1974.
- Lambrecht, Roland: Melancholie. Vom Leiden an der Welt und den Schmerzen der Reflexion. Reinbek 1994.
- von der Leyen, Friedrich: Das deutsche Märchen und die Brüder Grimm. Düsseldorf/Köln 1964.
- von der Leyen, Friedrich: Das Märchen. Ein Versuch. Heidelberg 1958.
- von der Leyen, Friedrich: Die Welt der Märchen. Düsseldorf o.J. (1953; Band 1), 1954 (Band 2).
- Lurker, Manfred: Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 19915.
- Martini, Fritz: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 19589.
- Materialien zu Ödön von Horváth. Hrsg. Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1970. Zitiert als: Materialien Ö vH
- Mattheiß, Uwe: Am Rande einer mißglückten Party, in: die tageszeitung, 4./5. Januar 1997, S. 15.
- Meier, Elisabeth: Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind, in: Sprachnot und Wirklichkeits- zerfall. Düsseldorf 1972, S. 19 - 61.
- Melzer, Gerhard: Das Phänomen des Tragikomischen. Untersuchungen zum Werk von Karl Kraus und Ödön von Horváth. Kronberg 1976.
- Müller, Karl: Einheit und Disparität - Ödön von Horváths »Weg nach innen«, in: Horváths Prosa, S. 156 - 177.
- Müller-Funk, Wolfgang: Faschismus und freier Wille. Horváths Roman Jugend ohne Gott zwischen Zeitbilanz und Theodizee, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 157 - 179.
- Naif. Alltagsästhetik oder ästhetisierter Alltag. Hrsg. Ina-Maria Greverus, Otfried Schütz, Willi Stubenvoll. Frankfurt am Main 1984.
- Ödön von Horváth. Hrsg. Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1981. Zitiert als: Ö vH (stm)
- Ophüls, Max: Spiel im Dasein. Eine Rückblende. Stuttgart 1959.
- Perspektivität in Sprache und Text. Hrsg. Peter Canisius. Bochum 1987 (Bochumer Beiträge zur Semiotik 6).
- Plessner, Helmuth: Die Legende von den zwanziger Jahren, in: Merkur 167/1962, S. 33 - 46.
- Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. Frankfurt am Main 1981.
- Robinson, David: Chaplin. Sein Leben. Seine Kunst. Zürich 1989.
- Rochefort, Robert: Kafka oder die unzerstörbare Hoffnung. Wien 1955.
- Rudloff, Holger: Kafka-Bezüge in Horváths Ein Kind unserer Zeit, in: Horváths Prosa, S. 133 - 155.
- Schlemmer, Ulrich: Ödön von Horváth. Jugend ohne Gott. München 1993 (Oldenbourg Interpretationen, Band 65).
- Schneider, Michael: Eine Tragödie der Dummheit. In: Romane von gestern - heute gelesen. Hrsg. Marcel Reich-Ranicki. Band 2, 1918 - 1933. Frankfurt 1989, S. 236 - 244.
- Schnitzler, Christian: Der politische Horváth. Untersuchungen zu Leben und Werk. Frankfurt am Main 1990 (Marburger germanistische Studien, Band 11).
- Schröder, Jürgen: Das Spätwerk Ödön von Horváths, in: Ödön von Horváth, S. 125 - 155.
- Schulte, Birgit: Ödön von Horváth verschwiegen - gefeiert - glattgelobt. Analyse eines ungewöhnlichen Rezeptionsverlaufs. Bonn 1980.
- Schulte, Michael: Karl Valentin. Reinbek 1987.
- Sebald, W.G.: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Frankfurt am Main 1994.
- Sinik, Sinowij: Emigration als literarische Form, in: Das sichtbar Unsichtbare. Kunst zwischen Tradition und Freiheit. Texte zur Philosophie der Kunst. Mit einer Einführung von Taja Gut. Ostfildern 1994.
- von Soden, Kristine: Sexualreform - Sexualpolitik. Die Neue Sexualmoral, in: Die wilden Zwanziger, Reinbek 1988, S. 181 - 194.
- Sontag, Susan: Über Fotografie. Frankfurt am Main 1980.
- Spengler, Oswald: Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. München 1953.
- Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit. München 1920; Zweiter Band: Welthistorische Perspektiven. München 1922.
- Steets, Angelika: Erzähler und Erzählsituation bei Ödön von Horváth, in: Ödön von Horváth, S. 87 - 124.
- Steets, Angelika: NS-Sprache in Horváths Romanen, in: Horváths Prosa, S. 113 - 132.
- Steets, Angelika: Die Prosawerke Ödön von Horváths. Versuch einer Bedeutungsanalyse. Stuttgart 1975.
- Strelka, Joseph: Brecht Horváth Dürrenmatt. Wege und Abwege des modernen Dramas. Wien/Hannover/Bern 1962.
- Der Stummfilm. Hrsg. Elfriede Ledig. München 1988 (diskurs film. Münchner Beiträge zur Filmphilologie 2).
- Theunissen, Michael: Der Begriff der Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard. Frankfurt am Main 1993.
- Theunissen, Michael: Melancholie und Acedia. Motive zur zweitbesten Fahrt in der Moderne, in: Entzauberte Zeit, S. 16 - 41.
- Timm, Werner: Müritz. Franz Kafkas Begegnung mit Dora Dymant, in: Freibeuter 38. Berlin 1988, S. 17 - 22.
- Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 198913.
- Tworek-Müller, Elisabeth: Horváth und Murnau. Murnau 1988.
- Tworek-Müller, Elisabeth: Kleinbürgertum und Literatur. Zum Bild des Kleinbürgers im bayerischen Roman der Weimarer Republik. München 1985.
- Über Ödön von Horváth. Hrsg. Dieter Hildebrandt/Traugott Krischke. Frankfurt am Main 1972. Zitiert als: Ü ber Ö vH
- Viehoff, Reinhold: »Neben Brecht einer der bedeutendsten deutschprachigen Schriftsteller unseres Jahrhunderts«. Zur Rezeption Ödön von Horváths ... und zur Rezeptionsforschung, in: Horvàths Prosa, S. 190 - 219.
- Vögele, Meinrad: Oedön von Horváth. Der jüngste Tag. Bern/Frankfurt am Main/New York 1983.
- Vondung, Klaus: Zwis chen Melancholie und Euphorie: Die Apokalypse, in: Entzauberte Zeit, S. 161 - 183.
- Walder, Martin: Die Uneigentlichkeit des Bewußtseins. Zur Dramaturgie Ödön von Horváths. Bonn 1974.
- Weigel, Hans: Horváth, Wien und die Wiener, in: Über Ödön von Horváth, S. 7 - 15.
- Wein, Hermann: Zur Rechtfertigung des Nihilismus, in: Merkur 187/1963, S. 821 - 833.
- Widmer, Urs: Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur. Zürich 1995.
- von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 19897.
- Wöhrle, Dieter: Die komischen Zeiten des Karl Valentin. Von der Rezeption zur Werksanalyse. Rheinfelden 1985.
- Wörterbuch der Kunst. Begründet von Johannes Jahn, fortgeführt von Wolfgang Haubenreißer. Stuttgart 199512.
- Zischler, Hanns: Kafka geht ins Kino. Reinbek 1996.
- Zuckmayer, Carl: Volkssänger, weiter nichts. Über Karl Valentins »Sturzflüge im Zuschauerraum«, in: Der Spiegel, Nr. 51/1969, S. 156 f.

Bild- und Tonträger:

- Qualtinger liest Ödön von Horváth. Aus dem Roman »Der ewige Spießer«. (aufgenommen im Juli 1967; liegt als CD vor: Best. Nr. 7 17281 90198.)
- München - Volkssänger. Rare Schellacks 1902 - 1948. München 1994. (CD Trikont US-0199.)
- Karl Valentin. Programm I: Orchesterprobe/So ein Theater/Musik zu zweien/Im Photoatelier/Der Antennendraht/Der Firmling. (Video: Atlas Film, Best.-Nr. 2749.)
- Karl Valentin. Programm II: Beim Nervenarzt/Im Schallplattenladen/Der Theaterbesuch/Der verhexte Scheinwerfer/Das verhängnisvolle Geigensolo/Der Zithervirtuose/In der Apotheke. (Video: Atlas Film, Best.- Nr. 3495.)
- Valentin, Karl: Die karierte Weste. Beim Rechtsanwalt. Die Erbschaft. (Private Video-Aufzeichnungen im Besitz des Verfassers.)

[...]


1 Tagebücher 1909 - 1912, S. 103.

2 Urs Widmer, Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur, S. 50 f.

3 Widmer, S. 29.

4 Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse/Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt/Main 1953, S. 95. Angesichts unseres geringen Wissens über die Lesegewohnheiten Ödön von Horváths macht es wenig Sinn, postulieren zu wollen, Horváth habe dieses oder ein anderes der erwähnten zeitgenössischen Werke gekannt. Bei einzelnen mag dies wahrscheinlich sein, bei anderen ist es höchstens denkbar. Es sei deshalb darauf hingewiesen, daß alle hier konstruierten Zusammenhänge auf eine solche Kenntnis nicht hindeuten sollen. Interessant mag jedoch im Zusammenhang mit dem hier zitierten Werk Freuds der Hinweis auf eine Bemerkung Klaus Manns sein: »Er wußte viel von der Angst, von jenem tiefen lähmenden Unbehagen, welches Freud als ein zentrales Element unserer Kultur erkannt hat und dessen Überhandnehmen vielleicht das entscheidende, verhängnisvolle Ereignis der Epoche bedeutet.« (Zitiert nach: Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 235.)

5 Vgl. KNLL 17, S. 388.

6 Jürgen von der Wense, Epidot, Hrsg. Dieter Heim, München 1987, S. 71.

7 Tagebücher 1909 - 1912, S. 114.

8 Wörterbuch der Kunst, S. 592.

9 Ebd.

10 Ebd.

11 Oto Bihalji-Merin, Die Kunst der Naiven, S. 9.

12 Vgl. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Sämtliche Werke, Dritter Band, S. 278 - 376; vgl. hierzu auch die im Schlußkapitel erwähnten Ausführungen Jean Pauls zu poetischem Nihilismus und Materialismus; vgl. zudem Kafkas wohl diesbezügliche Bemerkungen: »Schiller irgendwo: Die Hauptsache ist (oder ähnlich) ›den Affekt in Charakter umzubilden‹« (Tagebücher 1909 - 1912, S. 188), und, am 8. Dezember 1911: »Noch mehr, ich glaube, daß sich an mir etwas vollzieht, daß [sic!] jener Schillerschen Umbildung des Affekts in Charakter sehr nahesteht. Über alles Wehren meines Innern muß ich das Aufschreiben.« (Tagebücher 1909 - 1912, S. 219.)

13 Schiller, S. 283 f. (auch für das folgende Zitat).

14 Für Horváth-Leser interessant ist die angefügte Erklärung: die »Naive« ist demnach die »Darstellerin eines jugendlich-naiven Mädchens auf der Bühne«. Deutlicher wurde hier der alte Duden: »jugendliche Schauspielerin (für Backfischrollen)«.

15 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 264.

16 Wilpert, S. 265.

17 Susan Sontag, Über Fotografie, S. 146.

18 Johann Gottfried Herder, Werke II, S. 225. Herder bezieht sich auf Moses Mendelssohns Brief-Essays ü ber die Empfindungen (Berlin 1755, zu finden in: Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Band 1, Stuttgart-Cannstatt 1971 (Faksimile-Nachdruck der Ausgabe Berlin 1929), S. 41 - 123). Vgl. den Kommentar bei Herder, S. 870.

19 Otfried Schütz, Naive Kunst? Wider eine ästhetische Kategorie, in: Naif. Alltagsästhetik oder ästhetisierter Alltag, hier: S. 11.

20 Vgl. etwa KNLL 8, S. 62: »In seiner Skizzenhaftigkeit läßt der Roman die ihm zugrundeliegende Arbeitsweise Horváths und seinen Entstehungsprozeß noch gut erkennen: Nicht der kontinuierliche Aufbau einer fortlaufenden Geschichte bildet das Kompositionsprinzip, sondern die lockere Fügung aus einzelnen Texteinheiten, die oft assoziativ aneinandergereiht sind [...].«

21 KNLL 9, S. 50.

22 Vgl. etwa Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte, S. 511: »Doch eben der Krieg erwies sich als endgültiger Zusammenbruch aller überlieferten Werte. Er war die Katastrophe des bürgerlich-materialistischen Fortschrittsglaubens. Mit ihm gingen nicht nur Kaiser und Krone, nicht nur die offizielle Ideologie, auch das Erbe des klassisch-romantischen Idealismus endgültig verloren. Die Grundlagen der Gesellschaft und der Kultur wie Gesittung schienen fragwürdig geworden zu sein. Das feste, erstarrende Gehäuse der bürgerlichen Lebensnormen war aufgebrochen. Das Bewußtsein der großen Krise des europäischen Geistes prägte sich erschreckend tief ein, besonders in Deutschland [...].«

23 GW 4, S. 825.

24 Ebd.; auf die »Regression« in Horváths Spätwerk, die als Folge eines »unbewältigten Weltkriegstraumas« gedeutet wurde, wird im Kapitel zu Horváths Wandlung noch einzugehen sein.

25 Vgl. hierzu (cum grano salis) eine zeitgenössische Einschätzung: »Der revolutionäre Wille zum Bruch mit der Überlieferung setzte sich zuerst in der Literatur durch. In der ohnedies belanglosen Lyrik war dieser Sieg der Jungen eigentlich schon vor Kriegsausbruch entschieden worden. Aber es war kein Zufall, daß, während draußen die Schlachten an der Somme tobten, die zurückgebliebene literarische Jugend wie plötzlich dem Bann des großen Zerstörers Strindberg verfiel [...] Als das Kriegsende mit einem Schlag alle optimistischen Hoffnungen begrub, hatte die neue Richtung die beherrschende Stellung schon eingenommen. Der Kampf galt dem Materialismus im weitesten Sinn, denn als Materialismus wurde nun auch das uferlose, nach immer kleinlicheren Teilerfolgen strebende Anhäufen der wissenschaftlichen Erkenntnisse empfunden. Oswald Spenglers geistvolles Buch Der Untergang des Abendlandes verfocht die von bedeutenden Forschern schon zugegebene Relativität auch der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, und Theodor Lessing wollte in der Geschichtsschreibung nur noch eine Sinngebung des Sinnlosen entdecken. Sogar die längst zum Fachgelehrtentum erstarrte Philosophie brachte es mit Hans Vaihingers ›Philosophie des Als - Ob‹ wenigstens wieder zu einem zugkräftigen Schlagwort [...].« Johannes Scherr, Illustrierte Ge schichte der Weltliteratur, Elfte neubearbeitete und bis auf die neueste Zeit ergänzte Auflage von Dr. Ludwig Lang u.a., Zweiter Band, Stuttgart o. J. (1926), S. 289. Auf die Bedeutung Strindbergs für Horváth weist u.a. Herbert Gamper an vielen Stellen hin. Auf Spengler werden wir noch zu sprechen kommen.

26 Zitiert nach: Bihalji-Merin, Die Kunst der Naiven, S. 10 (auch die folgenden Zitate).

27 Zur Motivation der Erzählung vgl. KNLL S. 38 f.; vgl. hierzu auch Kracauers Bemerkungen über die in Beim Bau der chinesischen Mauer versammelten Erzählungsfragmente: »Sie sind in den Jahren des Kriegs, der Revolution und der Inflation niedergeschrieben. Obwohl sich kein einziges Wort im ganzen Band unmittelbar auf diese Ereignisse bezieht, gehören sie doch zu seinen Voraussetzungen. Vielleicht hat erst ihr Einbruch Kafka dazu

befähigt, die Verwirrung in der Welt zu ermessen und auszukonstruieren.« (Kracauer, Das Ornament der Masse, S. 256.)

28 Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte, S. 544.

29 Wolfgang Kaempfer, Die zerbrochene Zeit. Zum Ausfall des Zeitgetriebes in der europäischen Moderne, in: Entzauberte Zeit, hier: S. 121.

30 Kaempfer, S. 122.

31 Kaempfer, S. 124.

32 Vgl. als Illustration Dora Dymants Erinnerung an Kafka (zitiert nach: Werner Timm, Müritz. Franz Kafkas Begegnung mit Dora Dymant, in: Freibeuter 38, hier: S. 20): »Nun, ich kam aus dem Osten, ein dunkles Geschöpf voller Träume und Vorahnungen, wie entsprungen aus einem Roman Dostojewskis. So vieles hatte ich schon vom Westen gehört, von seinem Wissen, seiner Klarheit, seinem Lebensstil. Mit einer aufnahmebereiten Seele kam ich nach Deutschland - und es gab mir viel. Aber bald erkannte ich: Europa war nicht, was ich von ihm erwartet hatte, seine Menschen kannten in ihrem Sein keine Ruhe. Irgend etwas fehlte ihnen. Als ich Kafka zum erstenmal sah, entsprach seine Erscheinung meiner Idee vom Menschen.«

33 Valentin, SW 7, S. 14; vgl. dazu die verfremdete Beschreibung Valentins (»Komiker Balthasar Hierl«) in Lion Feuchtwangers Roman Erfolg als »trüben Hanswursten, der mit melancholischer Scheinlogik verstockt an trotteligen Problemen herumbohrt. Gefragt etwa, warum er eine Brille ohne Gläser trage, erwidert er, besser als nichts sei es doch. Man erklärt ihm, die Besserung der Sehschärfe liegt an den Gläsern, nicht am Gestell. Warum man dann ein Gestell trage? fragt er zurück. Um die Gläser zu halten, wird ihm geantwortet. Also, meint er befriedigt, das sage er ja, besser als nichts sei es doch. [...] Aber so wie dieser Mann mit der leeren Brille ist das ganze Volk.« Die Strategie der Naivität, mit der Valentin sich dem Sprach- und Denkverhalten seiner Figuren und deren realer Vorbilder nähert, mißversteht Feuchtwanger (oder sein Romanheld Dr. Geyer) total und leitet daraus die haarsträubende Analogie ab: »Ihm [dem Volk] genügt das leere Gestell der Justiz, auch wenn es schmerzhaft einschneidet, den Sinn will es nicht.« (Feuchtwanger, Erfolg, S. 121 f.) Robert Gernhardt hat, wie diese Stelle zeigt, nicht unrecht, wenn er über Erfolg schreibt: »Eine quälende, lehrreiche Lektüre. Feuchtwangers Gesinnung ist untadelig, sein Wissen groß, sein Thema - die Reaktion in Bayern - heute noch aktuell. Doch er erzählt derart unbedarft und ungenau, daß sein Roman nicht aufklärt, sondern zuschwallt. Daher ist ›Erfolg‹ auch kein satirischer Roman, sondern selber eine Stimme in jenem nichtabreißenden besinnungslosen Geschwätz, gegen das die Satire ihre Waffen zu richten hat [...].« (Gernhardt, Was gibt's denn da zu lachen?, S. 99.)

34 Valentin, SW 7, S. 14 f.

35 Valentin, SW 6, S. 22.

36 Valentin, SW 2, S. 118 ff.

37 Zitiert nach Michael Schulte, Karl Valentin, S. 36.

38 Vgl. Das futuristische Couplet - Ein Gegenst ü ck zu der modernen Malerei, in dem Valentin seinen Eindruck von deren Bruchstückhaftigkeit und Sinnlosigkeit im Ganzen sprachlich »nachbildet«. (Valentin, SW 2, S. 128 f.)

39 geschrieben um den 30. Dezember 1929; vgl. Valentin, SW 6, S. 41 und S. 249.

40 Valentin, SW 6, S. 27.

41 Valentin weist in einer Anklage v. K.V. vom 25. Oktober 1940 selbst darauf hin: »Die idiotischsten Texte, noch dazu in einem haarsträubenden bayerischen Dialekt geschrieben, werden mir angedichtet und alle diese Anekdoten sind natürlich › wahre Begebenheiten ‹ . « (Valentin, SW 7, S. 35.)

42 Vgl. hierzu wiederum Feuchtwanger, Erfolg, S. 219: »Alte Bürger saßen behaglich, Liebespaare hockten breit, selig. Höhere Beamte, andere Goßkopfige waren zahlreich in die Masse der Kleinbürger hineingesprengt. Denn der Komiker Balthasar Hierl beschränkte sich eigensinnig auf volkstümliche Vergnügungsstätten.« Die Gleichsetzung von Kleinbürgern und Volkstümlichkeit könnte ironisch gemeint sein.

43 Was war wahr? Was wahr war! Karl Valentin, S. 61.

44 Ebd., S. 68; daß Valentin dennoch Presseartikel über sich sammelte und in einem »Pressespiegel« abdrucken ließ, läßt darauf schließen, daß die vordergründige Ablehnung zumindest zum Teil durchaus bewußt inszeniert war. Vgl. Dieter Wöhrle, Die komischen Zeiten des Karl Valentin, S. 108 (Anm. 11).

45 Zitiert nach: Wöhrle, S. 8. Eine Anekdote erzählt dieselbe Geschichte in Zusammenhang mit dem Schriftsteller Otto Ehrhardt-Dachau und seinem Buch Das sterbende Moor (Das Valentin-Buch, S. 392 f.), was als Beispiel für die erwähnte Fragwürdigkeit solcher Anekdoten dienen mag.

46 Vgl. ergänzend zu diesem Abschnitt das Kapitel Zwischenspiel: Film und Roman in: Kracauer, Theorie des Films, S. 307 - 322, insbesondere Kracauers Einwände gegen Etienne Souriaus Thesen über die Unvereinbarkeit der Sprachen von Film und Roman, S. 309 ff., auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, obwohl es lohnend wäre.

47 Das Valentin-Buch, S. 465.

48 Man denke etwa an die Impressionisten: Schon Camille Corot hatte, noch ohne auf Photographien als Malvorlagen zurückzugreifen, bestimmte photographische Erscheinungen wie den Lichthof-Effekt als gestalterische Mittel benutzt. Aaron Scharf konnte unter anderem nachweisen, daß Bazille und Cezanne Photographien als Vorlagen für Kompositionen verwendet haben. Claude Monet ahmte nicht nur in seinen Stadtszenen den Effekt nach, der sich ergibt, wenn man Menschen aus einiger Entfernung photograhiert. »Es ist kaum übertrieben, wenn man wie Stieglitz sagt, daß sich ›die impressionistischen Maler an einen Kompositionsstil halten, der ganz und gar fotografisch ist‹. Die Übersetzung der Wirklichkeit durch die Kamera in streng polaris ierte Bereiche von Licht und Dunkel, das freie und eigenwillige Zurechtstutzen des Bildes in der Fotografie, [...] das waren die wichtigsten Anstöße für das Bekenntnis der impressionistischen Maler zum wissenschaftlichen Interesse an den Eigenschaften des Lichts, für ihre Experimente mit unräumlichen, unvertrauten Perspektiven und dezentralisierten Formen, die durch den Bildrand abgeschnitten werden. [...] Ein historisches Detail: die erste impressionistische Ausstellung fand im April 1874 in Nadars Foto-Studio am Pariser Boulevard des Capucines statt.« (Susan Sontag, Über Fotografie, S. 91 (Fußnote).)

49 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 11. Daß sich weder Maler noch Schriftsteller gerne zu dem Einfluß bekannten, den Photographie und Kino auf ihr Schaffen hatten, hängt sicherlich mit dem schlechten Ruf zusammen, den die neuen Techniken hatten. So nannte man etwa den Film in seiner Anfangszeit »galopping tintypes«, was mit »galoppierende Jahrmarktsphotographien« übersetzbar wäre. Vgl. David Robinson, Chaplin, S. 134.

50 Vgl. Kracauer, Theorie des Films, S. 109.

51 Vgl. den Artikel Film in Wilperts Sachwörterbuch der Literatur (S. 299): »Wort wie Musik ordnen sich als andeutende Interpretation der Schau unter und bedingen andere Wirkungsmöglichkeiten, -grenzen u. künstlerische Wertmaßstäbe.« Aus teilweise verständlichen Gründen geht Wilpert auf literarische Züge des Films nicht ein, seine strikte Trennung von »Interpretation« und »Schau« halte ich dennoch für problematisch. Eine etwaige Funktion des Bildes als Interpretation bzw. des Textes als filmische »Schau« ist damit grundsätzlich ausgeschlossen.

52 Man denke an Buster Keatons Stummfilm The Cameraman von 1928, der dieses »Sich-selbst-Erzählen« zum Thema hat: Keaton stellt darin einen Straßenphotographen dar, der sich als Reporter versucht, um ein Mädchen zu beeindrucken, und dessen Unbeholfenheit und Verträumtheit dazu führt, daß ihm keine einzige Aufnahme gelingt. Er zerschlägt in dem Versuch, das umgestürzte Stativ aufzuheben, Türen und Fenster, um dann die Kamera erneut umzuwerfen. Schließlich muß er die Kamera im Stich lassen, um das Mädchen vor dem Ertrinken zu retten. Dennoch ist am Ende eine Reportage (nicht nur) über seine Heldentat entstanden: der dressierte Affe des Helden hat den Film eingelegt und die Kamera bedient. Vgl. Buster Keaton, Schallendes Gelächter, S. 207 ff.

53 Karl Valentin einen Schriftsteller zu nennen, widerstrebt mir, da er sich selbst nicht als solchen, sondern »zunächst einmal als Musiker« begriff. Sein »medienuniversaler Ansatz und Anspruch« läßt den Hilfsbegriff »Künstler« passender erscheinen, auch wenn er ein Hilfsbegriff bleibt; vgl. Glasmeier, Karl Valentin, S. 11.

54 Zitiert nach: Karl Valentins Filme, S. 24.

55 Kracauer, Von Caligari zu Hitler, S. 22 (auch die beiden vorhergehenden Zitate).

56 Über diesen Film schrieb Siegfried Kracauer 1929: »Die Bagatelle erinnert an die frühen Filme Chaplins, die sogar zum Teil wahrscheinlich etwas später hergestellt worden sind. Dabei ist die Art des Humors hier und dort durchaus verschieden. Valentin ist nicht ein Vagabund wie Chaplin, sondern ein Kleinbürger, der freilich durch die Melancholie sein Kleinb ü rgertum aufhebt.« (Kracauer, Warum macht Valentin keine Filme mehr?, in: Von Caligari zu Hitler, S. 414 f., Kursivierung von mir - MS.)

57 Valentins erster Film war wahrscheinlich das Fragment Der Ku ß, außerdem entstand 1913 noch die Episodenfolge Karl Valentin privat und im Atelier. Aus dem filmischen Werk der Jahre 1914 bis 1922 ist nichts erhalten. Vgl. Karl Valentins Filme, S. 11, 24 und 212, vgl. auch Valentin, SW 8, S. 568 f. (Filmographie).

58 Vgl. Robinson, Chaplin, S. 134 f.

59 Max Ophüls, Spiel im Dasein, S. 154 f.

60 Glasmeier, Karl Valentin, S. 15.

61 Enno Patalas, Vor Geiselgasteig stand der Valentin, in: Karl Valentin Fundsachen 2, hier: S. 12.

62 »Sein Avantgardismus zeigt sich besonders in seiner literarischen Produktion, die mit den Kategorien der klassischen Ästhetik und ihrer Komiktheorien nicht angemessen beurteilt werden kann. Sicherlich war er auch ein Volkssänger und damit seiner regionalen Tradition verhaftet. Jedoch hat keiner seiner Münchner Kollegen eine solche Medienvielfalt vorzuweisen solche künstlerischen Innovationsschübe bewirkt wie Valentin.« (Helmut Bachmeier, Die Filme Karl Valentins, in: Karl Valentins Filme, hier: S. 215.)

63 Tucholsky, Deutschland, Deutschland über alles, S. 137; der hier zitierte Artikel Der Linksdenker ist auch in Das Valentin-Buch enthalten (S. 71 - 74). Allerdings ist die hier zitierte Stelle dort falsch wiedergegeben (S. 74: statt »seine« steht »eine«).

64 Carl Zuckmayer, Volkssänger, weiter nichts, in: Der Spiegel, Nr. 51/1969, hier: S. 157.

65 Zitiert nach: Glasmeier, S. 23. Glasmeier zitiert Hans Scheugl/Ernst Schmidt, Karl Valentin, der Dialektiker des Humors, 2. Teil, in: Film 1 (1968) S. 19.

66 Glasmeier, S. 24.

67 Horváths eigene Feststellung, er knüpfe mit seiner neuen Form des Volksstücks »formal mehr an die Tradition der Volkssänger und Volkskomiker an als an die Autoren der füheren Volksstücke« (im Interview mit Cronauer, GW 4, S. 844), die sich leicht verändert auch in der Gebrauchsanweisung findet (GW 4, S. 861), könnte mit Karl Valentin zu tun haben. Jedoch läßt sich dies nicht belegen und bleibt daher reine Vermutung. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Victor Klemperers von 1912: »Das Kino bietet das Ideal des Volksstückes, ja vielleicht das dramatische Ideal überhaupt, denn der Film sieht alles in Bewegung und Ereignissen, da ist keine kleinste Fuge, in die sich Lyrik oder Epik einnisten könnten.« (Klemperer, Das Kino bekannter Zeitgenossen, in: Der Kinematograph, 25. 9. 1912.)

68 Erste Ergebnisse aus Zischlers Beschäftigung mit dem Thema erschienen 1983 in der Zeitschrift Freibeuter. Das Buch selbst folgte 1996.

69 Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, S. 11. Ich zitiere diesen Ausdruck, um die inhaltliche Verbindung zwischen Kino und nächtlichem Briefeschreiben in beider »schlafwandlerischem« Charakter anzudeuten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

70 Zitiert nach Zischler, S. 15.

71 Zischler erwähnt zum Beispiel, daß zu den Vorführungen der Brüder Ponrepo in ihrem Kino in Prag diese nicht nur zwischen den Filmen Zauberkunstücke darboten, sondern auch während der Filme als »Erklärer« auftraten. Vgl. Zischler, S. 21.

72 Im Gegensatz etwa zu Max Brod, worauf Zischler (S. 22) hinweist.

73 Zischler, S. 22.

74 Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, S. 313 f.

75 Ein Beispiel für letztere Technik wäre die Erzählung Josefine, die S ä ngerin (Ein Landarzt, S. 274 ff.), in der Kafka auf »filmische« Elemente praktisch gänzlich verzichtet.

76 Zischler, S. 13.

77 Eigentlich notwendige Bemerkungen zu Handlungs- und Diskurszeit müssen hier aus Gründen ebenso notwendiger thematischer Einschränkung unterbleiben. Es sei hierzu verwiesen auf Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen, S. 75 ff.

78 Reisetagebücher, S. 22.

79 Tagebücher 1909 - 1912, S. 36 f.

80 Vgl. Kafka, Briefe 1902 - 1924, S. 62 f.

81 Zitiert nach Zischler, S. 18; Es sei bemerkt, daß der zweite erwähnte Film Der galante Gardist, zumindest nach der Verleihreklame zu urteilen, keinerlei lustige Elemente aufweist (vgl. Zischler, S. 19). Kafka schreibt in seinem Brief dennoch von dem »Lachen [...], das Ihnen heute abend der ›galante Gardist‹ bereiten wird [...]«. (Briefe 1902 - 1924, S. 63.)

82 Briefe 1902 - 1924, S. 73.

83 Daß sich neben dem Kino und anderen Erzählformen vor allem die des Briefs in Kafkas Werken niederschlug, ist nicht Thema dieser Arbeit. Es sei jedoch auf die Eigenart hingewiesen, in der Wiedergabe der wörtlichen Rede die nur in Briefen gebräuchliche Großschreibung von Anredepronomen zu verwenden.

84 Es muß erwähnt werden, daß die beiden Gehilfen nicht nur filmischen »Vorbildern« (oder Anregungen) entspringen: Die Gehilfen hat Kafka selbst gesehen, in einer Aufführung von Joseph Latteiners Meschumed, die er in einem Tagebucheintrag am 5. Oktober 1911 beschreibt. Da sind sie »Gemeindediener, Angestellte des Tempels, bekannte Faulenzer, mit denen sich die Gemeinde abgefunden hat, irgendwie aus religiösen Gründen bevorzugte Schnorrer, Leute, die infolge ihrer abgesonderten Stellung gerade ganz nahe am Mittelpunkt des Gemeindelebens sind, [...] die Verhältnisse aller Ge meindemitglieder genau durchschauen aber infolge ihrer Beziehungslosigkeit zum Berufsleben nichts mit diesen Kenntnissen anzufangen wissen. [...] Sie scheinen sich aus jedem einen Narren zu machen [...].« Deutlich erwähnt Kafka im Folgenden das pantomimische Spiel der »2 im Kaftan«, das »einem ernsten Stück [...] eigentlich viel Sorge machen« müßte. (Tagebücher 1909 - 1912, S. 48 f.)

85 Vgl. Janouch, Gespräche mit Kafka, S. 176 f.

86 Janouch, S. 177.

87 Der Gaumont-Film Roman eines Verschollenen aus dem Jahr 1912 ist leider ebensowenig erhalten wie die Natur-Aufnahmen New York (1908 bei Pathé), deren in der Verleihreklame genannte einzelne Stationen geradezu frappierend den Stationen von Karl Roßmanns Ankunft in New York ähneln: »Statue der Freiheit / Ankunft eines Dampfers im Hafen / Ellis Insel -- Die Station der Auswanderer / Auswanderer an Bord eines Dampfers - Ausschiffung / Broadway - Ansicht des Hauses St. Paul / Einige Wolkenkratzer - Haus der City Investing Co. / Häuser von 50 Etagen im Bau / Brooklyn-Brücke / Die öffentlichen Promenaden im Central-Park«. Vgl. Zischler, S. 82 f.

88 Es sei nur kurz erwähnt, daß auch die Szene, in der Roßmann und sein Onkel sich erkennen, deutliche Slapstick-Züge trägt, wie überhaupt das plötzliche Erkennen einer seit langem im Geschehen anwesenden Person ein häufiges Stummfilm-Motiv ist.

89 Briefe an Felice, S. 332.

90 Dieser Feststellung wohnt eine gewisse Ambivalenz inne, die sich zum Beispiel darin äußert, daß Horváth seine eigenen Arbeiten für den Film (er schrieb 1934 in Berlin Dialoge für Unterhaltungsfilme) als »moralischen Tiefstand« bezeichnete. Er setzte diese Arbeiten in anderer Form dennoch fort. Vgl. Krischkes Anmerkung »Zu den Film-Exposés« in: Gesammelte Werke, Band IV, S. 41*. Krischke weist das Zitat nicht nach. Zu einem besseren Verständnis dieses Widerspruchs könnte der weithin konstatierte künstlerische Abstieg des deutschen Films in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre beitragen. Man denke etwa an Kracauers Bemerkung über die Weigerung großer Filmgesellschaften, mit Karl Valentin zu arbeiten: »Sie begeben sich damit aus unerfindlichen Gründen einer der paar Möglichkeiten, dem völlig herabgekommenen deutschen Film wieder aufzuhelfen.« (Von Caligari zu Hitler, S. 415.)

91 Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf den Band Der ewige Spie ß er, in dem Sechsunddrei ß ig Stunden enthalten ist.

92 Diese doch etwas waghalsige Verkürzung verdient wenigstens eine erweiternde Fußnote. Henny Porten (1890 - 1960), die Krischke in einer Anmerkung (Der ewige Spießer, S. 334) als »erster deutscher Stummfilmstar« bezeichnet, begann ohne vorherige Bühnenerfahrung eine ungewöhnlich erfolgreiche Filmkarriere. Die Gestalt der »blonden Naiven« (!) als Idealtyp der deutschen Frau war ab etwa 1910 ihre Domäne. In komischen wie tragischen Rollen, als gewöhnliche Bäuerin oder empfindsame Dame, etablierte sie ein regelrechtes Genre, das sich bis in die dreißiger Jahre behaupten konnte; vgl. Porten, Mein Leben, in: Ufa-Magazin, 22. - 28. April 1927. Über ihren Film Skandal um Eva schreibt Siegfried Kracauer am 16. Juni 1930 in einer vernichtenden Kritik, die (in etwas anderem Duktus) auch der Feder Horváths entstammen könnte: »Da ist sie wieder, die ältliche Jungfrau, die sich des im Dunklen erhaltenen Kusses schämt. Da bekommen es Spießer mit der Angst zu tun, weil sie badende Frauen durchs Astloch beobachtet haben. [...] Und Herz, was begehrst du mehr als Mädchen, die Laute zupfen und in den Abend hinein singen? Als das süße Stimmchen eines Bübchens in Großaufnahme? Als die holde Schalkhaftigkeit Henny Portens selber, wenn sie, vom Scheitel bis zur Sohle ein Gretchen, ihren Minister umarmt? Vermutlich steht der Minister rechts von der Deutschen Volkspartei. [...] Skandalös ist viel eher, daß ein Regisseur wie G. W. Pabst, der WESTFRONT 1918 gedreht hat, das Arrangement eines solchen Plunders besorgt. [...] Der größere Skandal jedoch ist die beifällige Aufnahme des [...] Films durchs Publikum. Oder vielleicht kein Skandal, sondern eine traurige Bestätigung dafür, daß der Krieg vergessen ist und breite Volksschichten nichts dazugelernt haben. Sie sind stabilisiert. Sie fühlen sich schon wieder in der Stickluft von anno dazumal wohl.« (Von Caligari zu Hitler, S. 435.)

93 Bei »Tom Mix« handelt es sich um eine Serie von Westernfilmen, die später auch als Comic-Heft-Serie sehr erfolgreich war.

94 Es handelt sich, wie Krischke in seiner Horváth-Biographie schreibt, um den Film Kleine Aff ä ren gro ß er Leute, in dessen Inhaltsangabe Horváth die Handlung des Films Die Dame und ihr Chauffeur einarbeitet. Vgl. Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 81 f. sowie S., 46 wo Gustl Schneider-Emhardt gemeinsame Kinobesuche mit Horváth in München erwähnt; vgl. z. B. auch die Anspielungen auf die Filme Ben Hur und Quo vadis in Zur sch ö nen Aussicht (GW 1, S. 141 bzw. S. 158).

95 Es sei am Rande auch daran erinnert, daß die Photographie in Form von »Aktpostkarten« (29) und »pikanten Akten« (39) eine nicht geringe Nebenrolle in Sechsunddrei ß ig Stunden spielt. In Jugend ohne Gott sieht der Lehrer im Kino eine Wochenschau, einen Film über »ein Mäuslein, das die größten Katzen besiegt, und dann eine spannende Kriminalgeschichte, in der viel geschossen wird, damit das gute Prinzip triumphieren möge«. (25) Bei ersterem könnte es sich um einen Zeichentrickfilm aus der Serie Tom & Jerry oder einer ähnlichen handeln.

96 Diese sehr verkürzte Darstellung besitzt natürlich keine literaturwissenschaftliche Allgemeingültigkeit, da das Gebiet noch weitgehend Neuland ist. Es sei noch einmal auf die Bemerkungen zu Kafkas Verwendung der Parallelmontage verwiesen.

97 Auch dies ist eine an sich unzulässige Verkürzung. Es sei zur Vertiefung (und Berichtigung) auf den Artikel Kapitel in Wilperts Sachwörterbuch der Literatur verwiesen (S. 441).

98 Bereits über die Uraufführung von Revolte auf C ô te 3018 schrieb 1927 ein Kritiker: »Hier wird nicht Schicksal, sondern filmartiges Geschehen.« (zitiert nach: Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 61) - Die im Entstehen begriffene Technik Horváths wurde unbewußt verstanden (wenn auch falsch), die Motivation jedoch nicht.

99 Vgl. Victor Klemperers Bemerkungen zur Funktion des Gedankenstrichs im Naturalismus: »Die Sätze die Gedankenreihen sind nicht mit sorgfältiger Schreibtischlogik durchgeführt, sondern reißen ab, deuten an, bleiben unvollständig, haben ein flüchtiges, springendes assoziatives Wesen wie das dem Zustand ihres Entstehens wie es einem inneren Monolog und auch einem erregten Gespräch insbesondere zwischen denkungewohnten Menschen, entspricht.« (Klemperer, LTI, S. 78.)

100 Gleichzeitig folgt Horváth durch die relative Unbestimmtheit der Umgebung, in der die Szene spielt, einem anderen Grundsatz, den Kracauer wie folgt formuliert: »Nun muß das Kino aber umgekehrt die Vorstellung unerschöpflicher Möglichkeiten erwecken, indem es uns durchweg den Eindruck gibt, daß der fotografierte Schauplatz nur einer von vielen ist, daß man ebensogut einen andern hätte wählen können und daß das Kamera- Auge, ohne Schaden anzurichten, imstande ist, sich nach allen Seiten hin zu bewegen.« (Kracauer, Theorie des Films, S. 116.)

101 François Truffaut, Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, S. 12; ob Horváth die frühen Filme Alfred Hitchcocks gekannt hat, bleibt der Spekulation überlassen, es spielt jedoch für die hier entwickelten Überlegungen auch keine entscheidende Rolle.

102 Robinson, Chaplin, S. 138.

103 Natürlich läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, daß der kurze Satz »stürzt ab« eine sozusagen »böswillige Aufforderung« darstellt. Aufgund der vorherigen Aussagen des Soldaten über die Flieger als sich dem Fußsoldaten überlegen fühlende Elite erscheint diese Annahme jedoch naheliegend.

104 Truffaut, S.14.

105 Interview mit Thomas Pampuch, in: die tageszeitung vom 4./5. Januar 1997, S. 15.

106 Kracauer, Theorie des Films, S. 121.

107 Ebd.

108 Vgl. Kracauers Bemerkungen zu Carl Dreyers »Vampyr«-Film: Theorie des Films, S. 131 f.

109 Ich halte mich im Folgenden im wesentlichen an die Theorie des Grotesken, die Arnold Heidsieck (Das Groteske und das Absurde im modernen Drama) gibt (zusammengefaßt auch bei Jeong-Yong Kim, Das Groteske in den Stücken Ödön von Horváths, S. 12 ff.).

110 Horváth drückt diesen Zusammenhang in seiner Gebrauchsanweisung so aus: »Alle meine Stücke sind Tragödien -- sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind. Das Unheimliche muß da sein.« (GW 4, S. 862.)

111 Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 353.

112 Kim, S. 2.

113 Widmer, Die sechste Puppe im Bauch der fünften ..., S. 50 f.

114 Mit diesem weiter unter genauer beschriebenen »Verweisen auf die Realität« ist nicht gemeint, daß das Groteske sinnvolle Versuche zuließe, es direkt auf die Realität übertragend zu deuten. Dies unternimmt etwa Wolfgang Jansen (Das Groteske in der deutschen Literatur der Spätaufklärung, S. 74) mit Kafkas Erzählung Die Verwandlung, die er als »die groteske Veranschaulichung der Hauptspielregel der auf Geschäfts- und Geldbeziehung reduzierten kapitalistischen Gesellschaft« interpretiert. Mag eine derartige Interpretation auch zulässig sein, so hat sie doch m. E. den Effekt, den meisten der vielen zugänglichen »Türen« zum Gehalt der Geschichte gewissermaßen Riegel vorzuschieben.

115 Vgl. Reinhold Grimm, Nach dem Naturalismus, S. 82 bzw. S. 91.

116 Vgl. Juliane Eckhardt, Horváths Romane u. literaturdidaktischem Aspekt, in: Horváths Prosa, hier: S. 233 f.

117 Axel Fritz, Zeitthematik und Stilisierung in der erzählenden Prosa Ödön von Horváths, Aalborg 1981; hier zitiert nach Kim, S. 4.

118 Vgl. Anm. 110 sowie Horváths Äußerung über Die Unbekannte aus der Seine: »Es ist der Versuch, das Komische und Groteske der Tragik aufzuzeigen. [...] Ich werde keineswegs verwundert sein, wenn das Publikum bei den erschütterndsten und tragischsten Stellen in Gelächter ausbricht. Es soll eben gezeigt werden, wie die tragischen Ereignisse sich im Alltagsleben oft in eine komische Form kleiden. Das Stück repräsentiert aber keineswegs das was man eine Tragikomödie nennt. Es ist ein ganz und gar tragischer Stoff und die Komik, die ihm das Alltagsleben verleiht, kann beispielsweise darin liegen, daß ein Dialog erschütterndsten Inhaltes in Unterhosen geführt wird.« (Zitiert nach: Materialien ÖvH, S. 189 f.)

119 Gerhard Melzer, Das Phänomen des Tragikomischen, S. 158 f.

120 Sinnbildlich für die Melancholie steht der Nebel; vgl. Volker Friedrich, Melancholie als Haltung, S. 32 ff. 34

121 Vgl. Kim, S. 31.

122 Vgl. Jansen, S. 62.

123 Vgl. Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 11 ff.

124 Camus, S. 15.

125 Vgl. Jansen, S. 76.

126 Vgl. etwa Kim, S. 35 ff.

127 Christian Schnitzler, Der politische Horváth, S. 112.

128 Glaube Liebe Hoffnung, S. 13.

129 Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 824.

130 Das Valentin-Buch, S. 314 f.

131 Ebd.; schon der Titel Der Theaterbesuch trägt gewisse absurde Züge: Das Stück handelt nicht etwa wirklich von einem Theaterbesuch, sondern von den Versuchen, diesen zu »organisieren«, die nicht nur als solche immer wieder scheitern, sondern - wie der Zuschauer und die handelnden Figuren am Ende erfahren - durch die dem ganzen Unterfangen immanente Sinnlosigkeit (die Aufführung findet erst am nächsten Tag statt) von vornherein absurd sind. Man könnte in der hier zitierten Stelle mit etwas Phantasie die von einigen Autoren geforderte sozialkritische Tendenz des Grotesken konstatieren, indem man die erwünschte »Verdoppelung« der Essensportion als Anspielung auf die materielle Not zu Beginn der 30er Jahre deutet. Dies führt uns jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter.

132 Das Valentin-Buch, S. 315 f.

133 Wiedergabe des Kurzfilms Der Zithervirtuose (1934); Vgl. Karl Valentins Filme, S. 138.

134 Das Valentin-Buch, S. 313.

135 Ein weiteres Mal mag hier der bereits zitierte Lion Feuchtwanger als Zeuge dienen, der in seinem Roman Erfolg eine Aufführung des Valentinschen Tingeltangel (Das Valentin-Buch, S. 75 - 118) beschreibt (S. 220 ff.; das Kapitel trägt den Titel Der Komiker Hierl und sein Volk): »Todernst, dürr, hoffnungslos, die Waden um die Stuhlbeine gewickelt, traurig, verstockt, emsig, gewissenhaft arbeitete man. Das Publikum schrie, brüllte, tobte vor Lachen, fiel von den Stühlen, japsend, sich an Bier und Speisen verschluckend.« Man beachte den Kontrast zwischen dem vom Erzähler als überaus melancholisch empfundenen Bühnengeschehen und der Reaktion des Publikums. Vgl. die Bemerkungen Urs Widmers zur Funktion der Komik (S. 29 f. dieser Arbeit).

136 Vgl. Klaus Vondung, Zwischen Melancholie und Euphorie: Die Apokalypse; in: Entzauberte Zeit, hier: S. 171. 39

137 »Surrealismus ist die Kunst, das Groteske zu verallgemeinern und dann darin Nuancen (und Reizvolles) zu entdecken.« (Susan Sontag, Über Fotografie, S. 76.)

138 Wilhelm Emrich, Geist und Widergeist, S. 287; Emrich zitiert hier Gustav Janouch, vgl. seine Fußnote 1.

139 Tagebücher 1909 - 1912, S. 93 (auch das folgende Zitat).

140 Der Ausdruck ist hier durchaus nicht abwertend gemeint und steht daher in Anführungszeichen.

141 Emrich, S. 287.

142 Tagebücher 1909 - 1912, S. 27. Nebenbei mögen diese und die im folgenden zitierten Stellen auch als Beleg für die These gelten, daß Kafka seine auffällige Praxis der auf den ersten Blick scheinbar wahllosen Kommasetzung sehr bewußt betreibt, auch sie in den Dienst der naiven Erzählweise stellend.

143 Ohne dies wissenschaftlich zu meinen, könnte man hier Karl Valentin antworten lassen: »›So ein Blödsinn‹ - sagte Valentin zu einem Bekannten - ›ich feile an meinen Stücken. Der des gschriebn hat, hat keine Ahnung von einer Feile! Da schaugatn meine Stücke sauber aus!‹« - zitiert nach Wöhrle, S. 107, wo die Anekdote ohne Herkunftsnachweis steht.

144 Vgl. etwa die (ansonsten positive) Kritik Hermann Kestens, zitiert in: Der ewige Spießer, S. 322.

145 Horst Jarka, Sprachliche Strukturelemente in Ödön von Horváths Volksstücken. In: Colloquia Germanica 4, S. 317.

146 In der Gebrauchsanweisung, GW 4, S. 861.

147 Vgl. Franchi, Der Spiesser und seine Sprache, S. 11.

148 Léon Bloy, Auslegung der Gemeinplätze, S. 21.

149 Vgl. Franchi, S. 61.

150 Elisabeth Meier, Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind, in: Sprachnot und Wirklichkeitszerfall, hier: S. 27.

151 Die Seitenzahlen beziehen sich wiederum auf den Band Der ewige Spie ß er, in dem Sechsunddrei ß ig Stunden enthalten ist.

152 Die Stelle ist in Der ewige Spie ß er gekürzt übernommen (235).

153 Am Rande sei erwähnt, daß Rimbaud zu den Lieblingsdichtern des jungen Horváth gehörte und ihm, laut Franz Theodor Csokor, auch äußerlich ähnelte. Vgl. Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 24 bzw. 216. Auf die Bedeutung der vielen autobiographischen Anspielungen in Horváths Romanen kann im Rahmen dieser Arbeit leider nicht eingegangen werden, obwohl der Gedanke sich anböte, darin ein Merkmal grundlegender Naivität seiner Erzählweise zu vermuten.

154 Riccardo Franchi teilt die sprachlichen Klischees, die den Bildungsjargon kennzeichnen, in elf Arten ein: Abgegriffene Redensarten, Überbrückungsfloskeln, Leerformeln, Zitate, Politische Schlagworte, Tautologien, Pauschalisierungen, Euphemismen, Anekdoten, Witze, Metaphern (Franchi, S. 77 f.). Auf diese zum Teil etwas problematische Einteilung möchte ich auch aus Platzgründen nicht näher eingehen, sie sei aber immerhin erwähnt.

155 Man beachte Horváths Vorbemerkung zum Ewigen Spie ß er: »[...] denn der neue Typ des Spießers ist erst im Werden, er hat sich noch nicht herauskristallisiert.« (129) Vgl. hierzu Gampers Anmerkungen zur »Zwischenzeit«, S. 178 ff.

156 Klemperer, LTI, S. 15. Es sei mir erlaubt, auf den durchaus valentinesken Sprachwitz des letzten Satzes hinzuweisen.

157 Kracauer, Die Angestellten, S. 17.

158 GW 4, S. 840.

159 Beide Bezeichnungen sind problematisch und sprachwissenschaftlich unkorrekt. Doch müssen sie im Rahmen dieser Arbeit quasi als »Platzhalter« dienen, da eine genaue sprachwissenschaftliche Diskussion über unser Thema weit hinausführt; vgl. Angelika Steets, Erzähler und Erzählsituation bei Ödön von Horváth, in: ÖvH (stm), hier: S. 92.

160 Franchi, Der Spiesser und seine Sprache, S. 61.

161 Die Kursivierung stammt nicht von Horváth, sondern wurde von mir zur Verdeutlichung gesetzt.

162 Bloy, Auslegung der Gemeinplätze, S. 22.

163 So Horváth im Interview, GW 4, S. 843; in dem autobiographischen Vorentwurf zu diesem Interview ist anstelle des Dialekts von der »Volksstücksprache« die Rede (GW 4, S. 853).

164 Die hier genannten Merkmale stilisierter Sprechsprache finden sich auch bei Karl Valentin, etwa in den unter 3. zitierten Szenen. Durch die etwas stärkere Dialektfärbung in wiederkehrenden Formeln (net, neinschauen usw.) hebt Valentin den bewußten Einsatz hochdeutscher Wörter im dialektalen Kontext noch deutlicher ab, etwa in dem Dialog: »[...] aber er hat ja keine Ahnung, jetzt, wenn er nicht neinschaut? [...] Das ist Grundbedingung, daß er neinschaut.« - Beide Sätze sind in dieser Form weder als Dialekt noch als Hochsprache sprechbar. (Das Valentin-Buch, S. 316.)

165 Vgl. Léon Bloys Ausführungen zum Fanatismus (Auslegung der Gemeinplätze, S. 320 f.): »Fanatismus - das ist, wenn man in Hinsicht auf etwas Beliebiges ja oder nein sagt. Es gibt keine andere Definition. ›Eure Rede sei ja, ja; nein, nein. Alles, was darüber ist, das ist vom Übel.‹ Das ist die Formel des Fanatismus in der Bergpredigt. Sie sehen, wie einfach das ist. Man muß es nur wissen. Wenn man sie fragt: ›Sind Sie Christ?‹, und Sie umstandslos mit Ja antworten, sind Sie ein Fanatiker. Wenn Sie mit Nein antworten, sind Sie immer noch ein Fanatiker. Wenn Sie gar nicht antworten, wird man Sie des gefährlichsten Fanatismus zeihen. Und ebenso wird es sein, wenn es sich um irgend etwas anderes Religiöses handelt. Im allgemeinen sind Lakonismus, bündige Knappheit und folglich auch jede Art von Präzision des Fanatismus verdächtig, und die Reisigbündel entzünden sich ganz von allein. Ein Sekretär, der in der Lage ist, übermäßig zu plärren, ein geschwätziger Advokat, ein redseliger, sogar bauchrednerischer Abgeordneter oder ein Seiltänzer auf dem Gerüst werden niemals Fanatiker sein. Ich denke, das bedarf keines weiteren Beweises.« Ich denke, das bedarf keines weiteren Kommentars. Vgl. dennoch Klemperers Kapitel Fanatisch (LTI, S. 62 ff.).

166 Vgl. hierzu Burckhard Garbe, »Ja, es kommen kalte Zeiten« Beobachtungen zur poetischen Sprache Horváths in »Jugend ohne Gott«, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 92 ff.; vgl. auch Angelika Steets, Erzähler und Erzählsituation bei Ödön von Horváth, in: ÖvH (stm), hier: S. 96.

167 Für weitere Beispiele vgl. Garbe, »Ja, es kommen kalte Zeiten«, S. 96 und S. 98 f.

168 Garbe, S. 99, zitiert Martin Sperrs Nachwort zu: Bayrisches Lesebuch, Hrsgb. G. Deckart, G. Kapfhammer, München 1971, S. 416 f.

169 Zu diesem Zitat aus der Gebrauchsanweisung (GW 4, S. 858) sei ergänzend gesagt, daß sich Horváth hierbei ausdrücklich auf seine Stücke bezieht. Deren Texte sind jedoch im Gegensatz zu den Erzählungen eigentlich nicht zum Lesen, sondern zum »Hören« gedacht. Es kann daher ohne näheren Beleg davon ausgegangen werden, daß die meisten der erwähnten dialektalen Merkmale in Horváths Prosatexten durchaus nicht auf die »Unfähigkeit« des Autors zurückzuführen sind, anders als süddeutsch zu schreiben. Im Falle einer Form wie »die werdn« (statt »die werden«) wäre eine solche Vermutung nichts anderes als Unfug.

170 Ich folge bei dieser Aufzählung (wie schon im Vorangegangenen) mit einigen Ergänzungen weitgehend Garbes Ausführungen, da diese meiner Meinung nach größtenteils richtig und treffend sind. Einzelne Ausdrücke und Wörter ordne ich allerdings anders (oder gar nicht) zu, ohne im Einzelnen darauf hinzuweisen.

171 Vgl. Garbe, S. 100.

172 Vgl. hierzu Angelika Steets, NS-Sprache in Horváths Romanen, in: Horváths Prosa, S. 113 - 132.

173 Klemperer, LTI, S. 25.

174 Ebd.

175 Ebd.

176 Man mag darüber diskutieren, ob der Soldat die folgenden Sätze »sagt« oder »denkt«. Ich verweise hierzu auf das im Kapitel über Das Film-Auge Gesagte.

177 Klemperer, LTI, S. 21.

178 Klemperer, S. 33.

179 Auf die ironische Verdrehung des Ausrufs »Dieser Feind steht rechts!« weist Traugott Krischke in einer Erläuterung zu Sechsunddrei ß ig Stunden hin (344). Allerdings fiel dieser Satz des Reichskanzlers Wirth erst ein Jahr nach der Ermordung Karl Gareis' am 9.6.1921.

180 Ernst von Salomon, Die Geächteten, S. 37.

181 Um den Zusammenhang zu verdeutlichen, sei erwähnt, daß Ernst von Salomon an der bei Horváth erwähnten Ermordung des Außenministers Walter Rathenau am 24. Juni 1922 als »Helfer« beteiligt war, zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde und in Die Ge ä chteten seine Entwicklung bis zu dem Attentat sowie seine Haftzeit beschrieb. Die geistigen Maßstäbe, nach denen Salomon und seine Komplizen handelten, entstammten »dem Begriffsarsenal des deutschen Irrationalismus«, das Horváth immer wieder thematisiert: Nation, Volkstum, Mythos, Heldentum, nationale Ehre usw. Bereits für 1922 läßt Salomon den Attentäter Kern feststellen: »Wenn Hitler seine Stunde begreift, ist er der Mann, für den ich ihn halte!« Vgl. KNLL 14, S. 672.

182 KNLL 14, S. 672.

183 Ebd.

184 Gemeint ist nicht, daß Salomon sich wie Horváth bewußt auf die naive Ebene seiner handelnden Personen begäbe, sondern daß er sich auf dieser bereits befindet - unfähig, ihr zu entwachsen und etwa eine ironische Position einzunehmen.

185 KNLL 14, S. 672.

186 Helmuth Plessner, Die Legende von den zwanziger Jahren, in: Merkur 167/1962, S. 38.

187 »Überhaupt hat das Militär eine starke Ähnlichkeit mit dem Sport«, läßt Horváth den Soldaten in Ein Kind unserer Zeit sagen (S. 15).

188 Bei weitem nicht nur der deutschen Literatur, wie die Vielzahl populärer Sammlungen von Märchen aus allen Teilen der Welt belegt, wie sie z. B. der Diederichs Verlag seit vielen Jahren herausgibt. Natürlich ist die Anwendung der Bezeichnung »Märchen« dabei häufig problematisch, doch existiert eine Reihe gemeinsamer Merkmale, die diese zumindest teilweise rechtfertigt.

189 Es handelte sich dabei natürlich um die erste deutsche Märchensammlung in diesem Sinn. Im Orient, aber auch in europäischen Ländern wie Italien und Frankreich gab es solche Sammlungen zum Teil wesentlich früher. Auf sie kann aber hier nicht näher eingegangen werden. Es muß außerdem erwähnt werden, daß der Verzicht auf literarische Bearbeitung hauptsächlich als Anspruch bestand. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß vor allem durch die konzeptionelle Anbindung an Arnim und Brentano sehr wohl ein literarischer Zusammenhang bestand, der sich in Auswahl und Bearbeitung der Märchen äußert. Vgl. KNLL 6, S. 914. Zur Geschichte der Grimmschen Märchensammlung vgl. auch Friedrich von der Leyen, Das deutsche Märchen und die Brüder Grimm, S. 5 ff.

190 Diese äußerst kurze Beschreibung muß hier aus Platzgründen zunächst genügen. Für eine genauere Einführung vgl. wiederum von der Leyen, Das deutsche Märchen und die Brüder Grimm, S. 20 ff.

191 Vgl. Kleines literarisches Lexikon, S. 247.

192 Von der Leyens Einwand gegen Max Lüthis These von der »Geradlinigkeit« des Märchens (Das deutsche Märchen und die Brüder Grimm, S. 22) bleibt hier unberücksichtigt, da er sich hauptsächlich auf die Entstehung der Buchmärchen aus den mündlichen Überlieferungen bezieht. Er ist damit jedoch nicht wiederlegt.

193 Die Brüder Grimm selbst beschreiben ihre sprachliche Wiedergabe durch den Grundsatz, alles »durch den Mund des Volkes« Überlieferte »so rein als möglich [...] treu und genau mit aller Eigentümlichkeit selbst des Dialekts, ohne Zusatz und sogenannte Verschönerung wiederzugeben«. Zitiert nach: KNLL 6 S. 914.

194 Vgl. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 547 ff.; vgl. weiterhin KNLL 6, S. 914 ff. sowie KNLL 7, S. 709, auch für das Folgende.

195 Vgl. Herder, Adrastea, in: Sämmtliche Werke, Dreiundzwanzigster Band, hier vor allem: 6. Märchen und Romane, S. 273 (132) - 297 (174).

196 Streng genommen stellt bereits die Bezeichnung Märchen eine solche Diminuitivform dar.

197 Vgl. insbesondere KNLL 6, S. 915; dort werden u. a. I. Bennung (Das deutsche Märchen als Kinderliteratur, Halle 1975) und B. Stolt (Textsortenstilistische Beobachtungen zur »Gattung Grimm«, in: Die Brüder Grimm, Erbe und Rezeption, Hrsg. A Stedje, Stockholm 1985) zitiert.

198 Ebd. (nach Antti Aarne, The Types of the Folktale. A classification and bibliography, Helsinki 1928).

199 Letzteres gilt im übrigen auch für außergewöhnliche Formen des Handlungsverlaufs, etwa das Fehlen eines »happy end«; vgl. (z. B.) Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 461.

200 L. Schmidt weist darauf hin, daß die »Welt der Volkserzählung« (wie er den Urtyp des Märchens nennt) »keine Welt des Zaubers« ist, »sondern die einer anderen Wirklichkeit«. Diese Unterscheidung sei nur der Korrektheit halber angefügt (hier zitiert nach: Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 460).

201 Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 548.

202 Axel Fritz erwähnt zudem eine »Liste über 77 kleine Märchen unserer Zeit« aus dem unveröffentlichten Material des Nachlasses, aus der sich offenbar einiges in den späten Romanen wiederfindet. Darin aufgeführte Titel wie »Krieg ohne Kriegserklärung« (ein Kapitel aus Ein Kind unserer Zeit) und andere weisen darauf hin. Vgl. Fritz, ÖvH als Kritiker seiner Zeit, S. 256; vgl. auch den Anhang zu Ein Kind unserer Zeit, S. 207 ff.

203 in GW 4, S. 51 - 138; die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe der Erzählungen, die auch in zahlreichen anderen Ausgaben vorliegen.

204 Vgl. Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 32 sowie Hildebrandt, Horváth, S. 23; diese Vorlesungen liegen meines Wissens leider nicht schriftlich fixiert vor; zumindest findet sich in der einschlägigen Literatur, die ich konsultierte, kein Hinweis darauf. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß sie auf von der Leyens Arbeiten Das M ä rchen und Das deutsche M ä rchen beruhten, die acht bzw. zwei Jahre vor der von Horváth besuchten Vorlesung erstmals erschienen (siehe Literaturverzeichnis).

205 GW 4, S. 826 f.

206 Hier sei zum Beispiel die »wesentliche Allgemeingültigkeit dieser Menschen« erwähnt, die Horváth in der Gebrauchsanweisung betont (GW 4, S. 863).

207 Zur Figur der »Unbekannten« als Verkörperung der Undine vgl. Johanna Bossinade, Vom Kleinbürger zum Menschen, S. 38 ff.; dort finden sich auch Hinweise auf die Bedeutung von Nixen im Frühwerk Horváths, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

208 Fritz, Ödön von Horváth als Kritiker seiner Zeit, S. 254; für das Vorangegangene vgl. auch dort S. 250 ff.

209 Vgl. Herbert Gamper, Horváths komplexe Textur, S. 11. Gamper stellt fest, daß Horváth in der dritten Phase seines literarischen Schaffens »in Wiederanknüpfung an das Frühwerk« erneut christliche Symbolik und die metaphysische Dimension in den Mittelpunkt stellte und damit den »Fatalismus« teilweise überwand, in dem ihn die Beschäftigung mit der Psychoanalyse in seiner »zweiten Phase« bestärkt hatte. Vgl. auch Karl Müller, Einheit und Disparität - Ödön von Horváths »Weg nach innen«, in: Horváths Prosa, S. 156 - 177.

210 GW 4, S. 869; zum Problem der Fragwürdigkeit dieser Notiz vgl. Hildebrandt, Horváth, S. 106.

211 Vgl. Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 53 und S. 234, wo der geplante Titel »77 kleine Märchen aus unserer Zeit« erwähnt wird (vgl. Anm. 202). Außer den Anspielungen auf den Sport in Was soll ein Schriftsteller heutzutag schreiben? (GW 4, S. 865 ff., hier S. 867) findet sich in den von Krischke herausgegebenen Werkausgaben kein Hinweis auf die von ihm erwähnten »Titel, die er zu schreiben plant«. Krischke nennt als Quelle »Aufzeichnungen aus dem Nachlaß. Zit. nach Reuther« (ohne Seitenangabe).

212 Vgl. Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 240 f.

213 Ebd.; Krischke zitiert hier ohne Seitenangabe Csokors Buch Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933 bis 1950 (München 1964), das mir leider nicht zugänglich war.

214 Tagebücher 1909 - 1912, S. 119.

215 In vorbereitenden Notizen zu dem Roman verwendet Horváth für einen Abschnitt der Geschichte außerdem die Bezeichnung »Das Märchen im Stundenhotel« (213), erwähnt des weiteren u. a. »Gespenster«, »Das Schloss mit den Gespenstern« (215), »die beiden Brüder« (216); letztere sind ein häufiges und vielbesprochenes Märchenmotiv (vgl. Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 114).

216 Zu dem auch in Kasimir und Karoline vorkommenden Liliputaner vgl. Fritz, ÖvH als Kritiker seiner Zeit, S. 258.

217 Einige dieser Titel sind schon in den Notizen handschriftlich getilgt (vgl. 269); dagegen übernimmt er den als einzigen nicht märchenhaften Titel Anna, die Soldatenbraut aus einem sehr frühen Entwurf (214).

218 Es sei nur sehr weit am Rande erwähnt, daß in der Ilias des Homer Paris die schöne Helena entführt und den Achill tötet. Ersteres gelingt Horváths Soldaten nicht. Eine weitergehende Deutung in dieser Richtung ist sicherlich abwegig.

219 Lediglich das Zeugungs- und Geburtsjahr der Soldaten wird noch einmal erwähnt (74).

220 Vgl. die Hinweise Krischkes in Anmerkungen zu den Seiten 21, 35, 36, 37, 38, 42.

221 Vgl. etwa Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 237 f. und Hildebrandt, Horváth, S. 108.

222 Vgl. Hildebrandt, S. 110.

223 Hildebrandt, S. 109.

224 Hildebrandt ließe sich auch anders widersprechen: Wenn der Soldat 1917 geboren ist, könnte er durchaus nach Abschluß seiner Schulzeit bereits in sehr jungem Alter »arbeitslos« geworden sein. In einer Vorarbeit schreibt Horváth: »Ja, ich bin 18 Jahre - geboren am 5. Nov. 1917.« (210) Ein Arbeits- bzw. Lehrbeginn mit zwölf Jahren war in den zwanziger Jahren durchaus nicht ungewöhnlich. Vgl. etwa Kracauer, Die Angestellten, das Kapitel Ach wie bald ... (S. 44 ff.).

225 Man könnte allerdings auch die Bibelstelle in diesem Sinne deuten, da der durch materielle Not ausgelöste Sinneswandel des Sohnes sich dort nur in den Worten »Da ging er in sich« äußert. Die Motivation für die Rückkehr zum Vater ist nicht eigentlich als Reue erkennbar, vielmehr entspringt der Entschluß dem Hunger des Sohnes und der Überlegung: »Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um.« Folgerichtig bietet er dem Vater an, ihm als Tagelöhner zu dienen. Der Spruch, mit dem sich der Sohn beim Vater wieder einführt, entspricht wörtlich dem, den er sich bei seinem In-sich-Gehen zurecht gelegt hat. Ich möchte jedoch anfügen, daß ich diese Deutung nicht wirklich für überzeugend halte, zumal das eigentliche Thema des biblischen Gleichnisses m. E. nicht die Reue des Sohnes ist, sondern die Bereitschaft des Vaters, ihm zu vergeben und für seine Rückkehr dankbar zu sein.

226 Der letzte Satz, mit dem die gerade erst aufgeblasenen Illusionen schlagartig wieder verpuffen, könnte ein erneutes Zitat des Brechtschen »Glotzt nicht so romantisch!« (aus Trommeln in der Nacht) sein, auf das sich möglicherweise bereits der Satz »Glotzt doch nicht so dämlich!« im Mord in der Mohrengasse (GW 1, S. 37) bezieht; vgl. Hildebrandt, S. 26.

227 Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Erster Band, S. 17.

228 Ebd., S. 18.

229 Ebd., S. 19.

230 Die auffällige Übereinstimmung der Seitenzahlen beruht sicherlich auf einem Zufall.

231 Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Erster Band, S. 20.

232 Es sollte erwähnt werden, daß sie, sicherlich absichtlich, zunächst »Fräulein« genannt wird, »das mein Schwesterlein geworden war«.

233 Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Erster Band, S. 24.

234 Auf die Ironie, die in der Verwendung dieses normalerweise wirklich Toten vorbehaltenen Ausdrucks liegt, sei nur erwähnend hingewiesen.

235 Vgl. Frank Böckelmann, Das Andere des Waldes im Mittelalter, S. 18 ff. (auch für das Folgende). 67

236 Ganz am Rande sei hier der Hinweis auf die Rolle angebracht, die die »Vermessung des Waldes« im übertragenen Sinne in der kritischen Literatur spielt: Jacob Grimm veröffentlichte seine ersten, sehr spekulativen »Grammatischen Ansichten« in den Altdeutschen W ä ldern (1813, vgl. KNLL 6, S. 906); auch Herder gab seinen »Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften« den Titel Kritische W ä lder (Riga 1769, vgl. KNLL 7, S. 721 f.); der Zusammenhang zwischen »Rodung«, d.h. »Gewinnung« und »Vermessung« eines Gebiets wurde also auch wissenschaftlich verstanden. Vgl. auch Umberto Ecos »Streifzüge durch die Literatur«, die er unter dem Titel Im Wald der Fiktionen herausgab: »Der Wald ist eine Metapher für den erzählenden Text, nicht nur für Märchen, sondern für jede Art von Erzählung.« (S. 15.)

237 Hier zitiert nach Böckelmann, S. 23.

238 Vgl. Gampers Bemerkung zum Wald in Mord in der Mohrengasse: »Der Wald ist Symbol der Introversion, des Regresses in die verlockende Tiefe, die [...] die Mutter [ist] und der Tod. Die Windstille bezeichnet den Zustand vor Anheben dessen, was ›über uns‹ komme, gemäß der analogen Funktion des Windes in Bergbahn den Zustand vor dem Sündenfall, das heißt [...] vor der Geburt. Der windstille Wald entspricht so den Wäldern der Heimat in Jugend ohne Gott und den schwarzen Wäldern um die stillen Weiher der Kindheit im Schlamperl- Fragment, deren ›großer braver Bruder‹ das Meer.« (Gamper, Horváths komplexe Textur, S. 25.)

239 Vgl. andererseits auch den Gedankengang des Lehrers zum »Indianerspiel« des »Klubs«: »Auch in meiner Kindheit spielten wir Indianer. Aber jetzt ist der Urwald anders. Jetzt ist er wirklich da.« (120) Möglicherweise könnte diese Stelle als früher Hinweis auf die weiter unten beschriebene Rolle der Stadt als »neuer Wald« gesehen werden.

240 Vgl. wiederum die bereits erwähnte »Urwald«-Stelle (Anm. 239).

241 Das Wort »möglicherweise« hat hier eine notwendige einschränkende Funktion: Alle erwähnten Vorgänge können anders gedeutet werden und sind verschiedentlich anders gedeutet worden. Diese anderen Deutungen sind durch die hier vorgetragene Interpretation nicht zu entkräften.

242 Man denke etwa an Wilhelm Hauffs »Mährchen-Almanach« Das Wirtshaus im Spessart, der unter anderem das Schwarzwald-Märchen Das kalte Herz enthält.

243 Vgl. hierzu und zum folgenden auch die Deutung von Axel Fritz (ÖvH als Kritiker seiner Zeit, S. 258), der jedoch die Autohalle lediglich als »Nährboden sozialer Illusionen« und den Liliputaner in Analogie zu den Sägewerksaktionären in Jugend ohne Gott als Repräsentanten der »negativen Folgeerscheinungen und sozialen Ungerechtigkeiten des Kapitalismus« sieht, was mir bei weitem nicht ausreichend und befriedigend erscheint.

244 Nestroy für Minuten, S. 29.

245 Zitiert nach: Kracauer, Die Angestellten, S. 2; das Zitat steht dort ohne Nachweis.

246 Vgl. den Anhang: Der ewige Spießer, S. 317 - 321, wo allerdings festgestellt wird, daß zumindest S echsunddrei ß ig Stunden vor dem Erscheinen, also in sicherer Unkenntnis von Die Angestellten entstand. Zur Korrelation Horváth-Kracauer vgl. Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 154ff. und S. 158; vgl. auch Hajo Kurzenberger, Horváths Volksstücke, S. 125; sowie Hildebrandt, Horváth, S. 63.

247 Kracauer, Die Angestellten, S. 10 f.

248 Kracauer, Die Angestellten, S. 15 f.

249 KNLL 9, S. 721.

250 Zitiert nach: Kracauer, Die Angestellten, S. 81.

251 Ebd., S. 83.

252 Zum »Standesbewußtsein« des Angestellten vgl. ebd., S. 18/19.

253 Vgl. ebd., S. 92; Kracauer zitiert hier eine statistische Studie von Otto Sohr (Wirtschaftspolitiker des AfaBundes) von 1928.

254 Ebd., S. 81.

255 Ebd., S. 91. Wie recht Kracauer mit dieser Feststellung hatte, läßt sich an der fanatischen Begeisterung ablesen, mit der gerade der orientierungslose Mittelstand auf das Eintreffen des Nationalsozialismus reagierte, der mit einem Mal Lehre, Ziel und ein »Haus der Begriffe und Gefühle« bot, ohne ein eigenes »Durchfragen« zu verlangen (oder auch nur zu erlauben).

256 Kracauer, Die Angestellten S. 95.

257 Ebd., S. 99.

258 Ich schließe dies in Analogie zu in der Nachkriegszeit erschienenen kleinformatigen Illustrierten wie dem Wiener Magazin, deren Themen sich weitgehend auf neue Kinofilme und das Privatleben der darin auftretenden »Stars« beschränkten, die - meist ohne inhaltlichen Zusammenhang - auf ganzseitigen Nacktbildern gezeigt wurden.

259 Das gestörte Verhältnis zur Sexualität, das sich auf der einen Seite in Tabuisierung und Empörung über »Freizügigkeiten«, auf der anderen in der heimlichen Lüsternheit der Pornographie und der Gier nach »metawissenschaftlicher Aufklärung« äußert, ist ein ganz wesentlicher Charakterzug des Spießers, auf den genauer einzugehen den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen würde. Es sei daher nur festgestellt, daß Horváth in vielen seiner Stücke und in seinen Romanen dieses Problem berührt, ironisiert und demaskiert. Vgl. hierzu (z.B.) Kristine von Soden, Sexualreform - Sexualpolitik, Die Neue Sexualmoral, in: Die wilden Zwanziger, S. 181 - 194. Erwähnenswert, da typisch für den Ewigen Spie ß er, ist die kurze Episode über das Leben von Eugen Meinzinger, dem Onkel des Radierers Achner. Dieser »saß oft stundenlang auf Kinderspielplätzen« und leidet noch in seinem Todeskampf an unterdrückten Schuldgefühlen wegen seiner Pädophilie und eines vielleicht von ihm getöteten Kindes. (242 f.) Horváth spielt mit dem Namen des Kindes möglicherweise auf den Felix Salten oder Schnitzler zugeschriebenen pornographischen Roman von der Josefine Mutzenbacher an. Dort ist »Mizzi« ein dreizehnjähriges Mädchen, das die Erzählerin in die »Geheimnisse« der Sexualität einführt. Vgl. Mutzenbacher, Die Geschichte einer wienerischen Dirne, S. 19 ff.

260 Kracauer, Die Angestellten S. 99.

261 Ebd., S. 15.

262 Vgl. hierzu Jugend ohne Gott, S. 128: »Die [Filmschauspielerin X] hab ich erst unlängst gesehen. Als Fabrikarbeiterin, die den Fabrikdirektor heiratet.«

263 Bei Kracauer nicht kursiv.

264 Gemeint ist die Erzählung The Purloined Letter, in der Poe seinen Detektiv Dupin ein Plädoyer gegen rein »mathematische« Versuche, die Welt zu begreifen, halten läßt. Der Verstand müsse sich, so Dupin, gerade an unscheinbare Anhaltspunkte halten, um zu finden, was sich den Beobachtungskriterien von »Form und Größe« entziehe. Am schwersten zu entdecken ist Dupins Gedankengang zufolge, was gar nicht erst verborgen ist. Wie wichtig Poe dieser Gedankengang war, mag man daran ablesen, daß er die Erzählung in einem Brief an James R. Lowell seine beste Detektivgeschichte nannte. Edgar Allan Poe, Tales, New York/London 1845; deutsch (Übertragung: Hans Wollschläger): Der stibitzte Brief, in: Gesammelte Werke in 5 Bänden, Band III: Der schwarze Kater, Zürich 1994.

265 Kracauer, Die Angestellten, S. 11 f.

266 Hiermit ist die Intention, nicht die Wirkung gemeint. Daß Der ewige Spie ß er natürlich Züge von Humorismus trägt, zeigt sich beispielsweise sehr deutlich und amüsant in Helmut Qualtingers Interpretation (siehe Literaturverzeichnis). Allerdings ergibt sich diese Wirkung auch aus Qualtingers Textauswahl, die z. B. auf märchenhafte Stellen verzichtet und Koblers Reiseerlebnisse ebenso ausläßt wie den Schluß des Romans.

267 KNLL 8, S. 62.

268 Ebd.

269 Ebd.

270 Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Band 9, S. 40.

271 Michael Schneider, Eine Tragödie der Dummheit, S. 237.

272 GW 2, S. 5.

273 Vgl. S. 51 dieser Arbeit.

274 Zitiert nach: Richard Herzinger, Wachtposten in der Götternacht des Nihilismus, in: Entzauberte Zeit, hier: S. 197. Herzinger zitiert Louis Dupeux, der wiederum Jünger zitiert.

275 Vgl. Herzinger, Wachtposten in der Götternacht des Nihilismus, S. 198 f.; vgl. auch (dort zitiert): Ernst Niekisch, Hitler - ein deutsches Verhängnis. Berlin 1931.

276 Horváth zitiert sich hier selbst, möglicherweise in ironischer Absicht. In dem Aufsatz » Sie haben keine Seele « schreibt er über die »dreierlei Art«, auf die sich die Seele äußert: »1. Ewige Kraft. 2. Das Individuum, was es alles opfern muß, also geht es auf einer anderen Seite hinaus. 3. Liebe zum Nächsten.« (GW 4, S. 835.) Der Text ist leider nicht datiert.

277 Vgl. S. 237 sowie die entsprechende Stelle in Sechsunddrei ß ig Stunden (S. 44).

278 Rig or mor tis ist die medizinische Bezeichnung der Totenstarre. Die Bezugnahme auf den Namen Rigmor (der sich natürlich nicht von der Totenstarre herleiten läßt) mag abwegig erscheinen; sie ist dennoch reizvoll.

279 Axel Matthes, sub rosa, in: Der Pfahl VI, München 1992, S. 275 f., hier: S. 276.

280 Zitiert nach: Matthes, S. 275.

281 Sinowij Sinik, Emigration als literarische Form, in: Das sichtbar Unsichtbare, hier: S. 69.

282 Franz Kadrnoska, Sozialkritik und Transparenz faschistischer Ideologeme in »Jugend ohne Gott«; in: Horváths Jugend ohne Gott, hier: S. 70.

283 »Also, wie gesagt: Ich habe keine Heimat und leide natürlich nicht darunter, sondern freue mich meiner Heimatlosigkeit, denn sie befreit mich von einer unnötigen Sentimentalität.« (GW 4, S. 826.)

284 »Aber ich glaube in meinem persönlichen Interesse, daß die Produkte derartiger Rassenmischungen nicht unbedingt die schlechtesten sein müssen. - Es gibt bekanntlich solche Rassengemischte, die spätere Zeiten dann - und mit Recht - als die echtesten und größten Repräsentanten deutschen Wesens bezeichnet haben.« (GW 4, S. 839.)

285 Vgl. Hildebrandt, Horváth, S. 66.

286 Kadrnoska, S. 70.

287 Hans Weigel, Horváth, Wien und die Wiener; in: Über ÖvH, S. 7 - 15; hier: S. 11.

288 Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 236.

289 Dagegen spricht die von Schnitzler geäußerte und mit einer Randbemerkung zu einem Brief Horváths an Csokor belegte Vermutung, Horváth habe »noch im November 1937 auf eine Rezeption seiner gerade erschienenen Erzählung Jugend ohne Gott im ›Dritten Reich‹ spekuliert« und daher die Personen und Instanzen in dem Roman anonym gehalten, was »auch aus der naiven Hoffnung resultieren [mag], die Zensur der reichsdeutschen Kulturbürokratie unterlaufen zu können.« Ich halte diese Vermutung für wenig überzeugend. Vgl. Schnitzler, Der politische Horváth, S. 191.

290 Weigel, Horváth, Wien und die Wiener, S. 12.

291 Ebd. Zur »Mythisierung« des Todes Horváths und seiner Umstände vgl. Reinhold Viehoff, »Neben Brecht einer der bedeutendsten ...«, in: Horváths Prosa, hier: S. 190 ff.

292 Vgl. Meinrad Vögele, Ödön von Horváth. Der jüngste Tag, S. 11: »Die Beschäftigung Horváths mit alten idealistischen und individualistischen Konzepten, Werten, Vorstellungs- und Gefühlsmustern der bürgerlichen Weltanschauung, wie er sie in seiner Volksstückphase zwischen 1928 und 1933 ironisch entlarvt und satirisch bekämpft hat, entspricht dem anthropopsychologischen Prozess einer inneren Regression. Denn was anderes als Identitätssuche ist es, wenn er immer wieder in die Bereiche der Heimat, der Kindheit, des Märchens, des Traumes, des märchenhaften Gespensterglaubens, an die Schwelle des verlorenen Paradieses, zurück zur Mutter der Geliebten, zugleich in den Mutterschoß und in den Tod führt.«

293 Urs Jenny, Ödön von Horváths Größe und Grenzen; in: Über ÖvH, S. 71 - 78. In Folge der politischen Instrumentalisierung des wiederentdeckten Horváth wurde es in den frühen 70er Jahren geradezu modisch, ihm das »Scheitern« seiner späten Romane, den Rückzug aus der sozialen und politischen Kritik in »metaphysische Tendenzen«, vorzuwerfen. Aus der Vielzahl in ähnliche Richtung zielender Ansätze werden hier nur einige, weitgehend zufällig ausgewählte, stellvertretend vorgestellt. Vgl. z. B. auch Schnitzler, Der politische Horváth, S. 167. Nicht näher eingehen möchte ich auf die Aufsätze von Hellmuth Karasek (Das Prosawerk von Ödön von Horváth; in: Über ÖvH, S. 79 - 82) und Marcel Reich-Ranicki (Horváth, Gott und die Frauen. Die Etablierung eines neuen Klassikers der Moderne; in: Über ÖvH, S. 83 - 90), da beide in einem solchen Maße von Verwirrung und Unkenntnis gezeichnet sind, daß sich eine Diskussion ihrer »Thesen« in wissenschaftlichem Kontext verbietet. Ersterer läßt durch die Bezeichnung Alfons Koblers als »Der Held dieses Romans« (S. 82) vermuten, daß er offensichtlich vom Ewigen Spie ß er nur den ersten Teil überhaupt kennt. Zweiterer wirft Horváth vor, seine »Romane, Geschichten und Märchen, seine publizistischen und autobiographischen Beiträge« seien »in einem farblosen und sterilen Deutsch geschrieben, dessen gelegentliche Unbeholfenheit mitnichten beabsichtigt war.« Eine solche These ist meines Erachtens nicht diskussionswürdig. Karaseks und Reich-Ranickis Reproduktion eines kleinbürgerlichen Halbbildungsanspruchs macht deutlich, wieso ihnen Horváths Prosa verschlossen bleiben muß: Ihresgleichen Positionen sind mit Horváths Spießer-Kritik gemeint. Daß beide, Karasek wie Reich- Ranicki, auf anderen Gebieten verdienstvolle Arbeit geleistet haben, soll hierdurch nicht in Abrede gestellt werden.

294 Jenny, S. 71 (auch die vorhergehenden Zitate).

295 Vgl. Jenny, S. 73.

296 Der Begriff des »Marxismus« ist m. E. schon aufgrund der Fülle und teilweisen Widersprüchlichkeit der Auslegungen Marxscher Thesen einer der am meisten mißverständlich verwendeten und mißverständlichen. Jenny selbst weist darauf hin, daß »in den Stückentwürfen [...] seltsam oft statt des sozialen Motivs ein viel pivateres« steht, »daß der wirkliche Verlust, unter dem Horváths unglückliche Geschöpfe leiden, ein metaphysischer ist: Verlust des Glaubens oder Gottvertrauens«. (S. 73 f.) Eine weitere Diskussion des Einflußanteils von Marx in Horváths Werken möchte ich mir aus Platz- und thematischen Gründen im Rahmen dieser Arbeit gerne ersparen.

297 Vgl. Gamper, Horváths komplexe Textur, S. 8 ff.; allerdings sieht auch Gamper darin Auswirkungen einer »Regressionsproblematik« (vgl. Anm. 292), die er als »privates psychisches Problem« des Autors deutet; im gleichen Sinne äußert sich der weiter unten zitierte Jürgen Schröder. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, daß beide den Begriff der Regression im psychologischen Sinne verwenden und damit nicht (Gamper) bzw. nicht zwangsläufig (Schröder) eine Kritik am literarischen Werk Horváths verbinden. M. E. ist der Begriff »Regression« von anderen Autoren übernommen worden, ohne seine Implikationen zu beachten.

298 Jenny, Ödön von Horváths Größe und Grenzen, S. 77.

299 Jürgen Schröder, Das Spätwerk Ödön von Horváths, in: ÖvH (stm), hier: S. 136.

300 Ebd., S. 137.

301 Ebd., S. 148; Wolfgang Müller-Funk (Faschismus und freier Wille. Horváths Roman »Jugend ohne Gott« zwischen Zeitbilanz und Theodizee; in: Horváths Jugend ohne Gott, hier: S. 158) zitiert diese Stelle mit falscher Seitenangabe.

302 Schröder, S. 131; Jenny hingegen bezeichnet es als »schwer verständlich, warum gerade ihn [Horváth], der sich doch nie als Deutscher gefühlt hatte, sondern als ungarischer Emigrant in der deutschen Literatur, die Emigration so fassungslos machte, so aus der Bahn warf«. (Ödön von Horváths Größe und Grenzen, S. 77.)

303 Müller-Funk, S. 159.

304 GW 4, S. 869 (auch für das Vorhergehende).

305 Ebd., S. 870.

306 Vgl. hierzu ergänzend und weiterführend: Peter Hasenberg, Erzählen ohne Erzähler?, in: Perspektivität in Sprache und Text, S. 52 - 82, hier: S. 71 ff. (Das Verhältnis von Erzähler und Figur).

307 Müller-Funk, Faschismus und freier Wille, S. 159.

308 Der Begriff steht in Anführungszeichen, um deutlich zu machen, daß bei einem in der Mitte des vierten Lebensjahrzehnts stehenden Autor von einem »Spätwerk« eigentlich nicht die Rede sein kann.

309 Schnitzler, Der politische Horváth, S. 193.

310 Ebd.

311 Ebd.; Schnitzler zitiert Krishna Winston, Horváth-Studies, Close Readings of Six Plays (1926 - 1931), Berne/Frankfurt am Main/Las Vegas 1977, S. 129.

312 Zur Rolle, die Franz Theodor Csokor in Bezug auf Horváths Religiosität spielte, vgl. Schröder, S. 129 f.

313 Schnitzler, S. 180.

314 Für ganz verfehlt halte ich in diesem Zusammenhang die Kritik von Christian Schnitzler, der im Gefolge Jürgen Schröders versucht, Horváth persönlich zu diskreditieren, um dem offensichtlichen »Mangel« an tagespolitischen Bezügen im Spätwerk Horváths beizukommen: »Von Horváth wäre mehr zu erwarten gewesen als sporadische verhaltene Anspielungen auf das zeitgeschichtliche Geschehen in ansonsten nahezu unpolitischen Arbeiten«, glaubt er zum Beispiel zu wissen. Dazu bemängelt Schnitzler den »gelegentlich bohemienhaften Lebensstil des Autors, der für einen Schriftsteller der deutschen Emigration nicht gerade typisch ist«. Vgl. Schnitzler, S. 167 bzw. S. 173. Daß gerade ein allzu deutlicher und vordergründiger Bezug auf das »zeitgeschichtliche Geschehen« ein enttäuschender Rückschritt in Horváths Entwicklung gewesen wäre und den persönlich-politischen Anforderungen z. B. Schnitzlers nicht gerecht geworden wäre, sondern im Gegenteil das Bild eines unbeteiligten, oberflächlichen Besserwissers evozieren hätte können, ist ein Gedanke, der eigentlich zu nahe liegt, um ihn zu übersehen.

315 Auch einige Stücke der Kleinen Prosa, etwa die Geschichte einer kleinen Liebe (GW 4, S. 69 f.), Souvenir de Hinterhornbach (GW 4, S. 104 f.), Die gerettete Familie (GW 4, S. 109 - 112) und Der Gedanke. Ein M ä rchen (GW 4, S. 134 - 136) sind in der Ich-Form geschrieben. Sie sind jedoch nach den vorliegenden Werkausgaben nicht datierbar, daher bleibt mit einer gewissen Vorsicht vorläufig der Ausdruck »erstmals«.

316 In einem Konzept für den geplanten Roman »Adieu Europa!« schreibt Horváth: »Wenn ich zurückdenke, so weiß ich, daß alles leer in mir war. Aber heut weiß ichs, daß es nicht so wichtig war, heut weiß ichs, daß es nur mein Hohn war.« Zitiert nach Schnitzler, Der politische Horváth, S. 177.

317 Müller-Funk, Faschismus und freier Wille, S. 159.

318 Letzteres ist natürlich nur eine Vermutung. Im Nachlaß Horváths finden sich die beiden folgenden Stellen: »Ich sitze auf meinem Zimmer und bin abgeschnitten von der Welt. Vielleicht wissen aber auch die Spitzen des Geists nicht das, was ich weiß. Denn sie leben nicht so, wie ich, in geistiger Not und Angst.« Und: »Wo ist die Sonne? Ich seh zum Fenster hinaus, es ist trüb. Ich muß das Licht herinnen anzünden, obwohl es Mittag ist. So gehts schon seit langer Zeit, der Nebel will nicht weichen, er hat sich eingehängt. Wann kommt die Sonne?« (Zitiert nach: Schnitzler, Der politische Horváth, S. 179.) Beide Texte können nicht nur als Anhaltspunkte für Depressionen, sondern mit der Erwähnung von Einsamkeit, Angst und Nebel auch als Musterbeispiele literarischer Melancholie gedeutet werden. Allerdings sind hierbei natürlich die Grenzen fließend.

319 Vgl. Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 259 ff.

320 Gesammelte Werke, Band IV, S. 680 f.

321 Ebd.

322 Ebd.

323 Nestroy für Minuten, S. 10; Friedell schreibt weiter: »Er ist von einer kristallenen Nüchternheit, einer brennenden Luzidität, die die Menschen und Dinge förmlich zerleuchtet, und dabei doch voll heimlicher Sehnsucht nach all den verwirrenden, narkotischen Dingen, die das Leben erst begehrenswert und interessant machen; ein starker, wissender und weltkundiger Geist und dabei doch umwittert von dem Aroma der problematischen Natur.« (S. 11) Besser ließe sich auch der späte Horváth m. E. kaum charakterisieren.

324 Ebd., S. 26.

325 Ebd., S. 81.

326 Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Band 3, S. 91.

327 Nestroy für Minuten, S. 24 f.

328 Bis 1939 waren bereits zehn Übersetzungen erschienen. Vgl. Horváths Jugend ohne Gott, S. 260; zu Entstehung und Rezeption des Romans vgl. auch Ulf Birbaumer, Trotz alledem: die Liebe höret nimmer auf. Motivparallelen in Horváths »Der Lenz ist da!« und »Jugend ohne Gott«, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 116 - 128, sowie den Anhang der kommentierten Einzelausgabe des Romans (S. 153 - 160).

329 Vgl. Wolf Kaiser, »Jugend ohne Gott« - ein antifaschistischer Roman?, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 48 - 68.

330 UIrich Schlemmer, Ödön von Horváth - Jugend ohne Gott, S. 17; Schlemmer zitiert hier Jürgen Schröder.

331 Vgl. zur ähnlichen Motivation Kafkas: Rudloff, Kafka-Bezüge in Horvàths Ein Kind unserer Zeit, in: Horváths Prosa, hier: S. 143 ff. Rudloff bezieht sich nicht auf Jugend ohne Gott, doch wird uns das Thema »Schuld und Sühne« im folgenden Abschnitt zu Ein Kind unserer Zeit nicht mehr beschäftigen. Vgl. hierzu auch Gampers (S. 41 f.) Herleitung des Kapitels Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit aus Nietzsches diffamierender Schopenhauer-Paraphrasierung: »Dies, dies ist das Ewige an der Strafe ›Dasein‹, daß das Dasein auch ewig wieder Tat und Schuld sein muß! ›Es sei denn, daß der Wille endlich sich selbst erlöste und Wollen zu NichtWollen würde -‹: doch ihr kennt, meine Brüder, dies Fabellied des Wahnsinns!« Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Werke, Band 1, S. 411.

332 Schlemmer, S. 82.

333 Vgl. hierzu Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, das Kapitel Von der unbefleckten Erkenntnis, in: Werke 1, S.393 ff. Auf die Rolle, die der Mond bei Nietzsche wie bei Horváth (vgl. die Kapitelüberschrift Der Mann im Mond) spielt, kann hier leider nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu Gamper, S. 41.

334 Maurice Blanchot, Von Kafka zu Kafka, S. 185; Blanchot weist besonders auf die von Kafka mehrfach betonte »Leere« hin, die Felices Gesicht »offen trug« (Tagebücher 1912 - 1914, S. 79). Eine ähnliche »Leere« könnte man bei freier Auslegung als Voraussetzung dafür deuten, daß den Lehrer in Jugend ohne Gott aus Evas Gesicht die »anderen Augen« Gottes ansehen können (102 f.).

335 Vgl. hierzu den Satz des Hudetz in Der j ü ngste Tag: »Die Hauptsach ist, daß man sich nicht selber verurteilt oder freispricht --« (GW 3, S. 620.)

336 Daß diese Deutung nahelegt, den Lehrer für eine Verkörperung Jesu Christi zu halten, ist nicht beabsichtigt. Ich halte eine solche Deutung auch nicht für sehr sinnvoll. Dennoch sei darauf hingewiesen, daß der Lehrer vom Vater des Schülers W an dessen Krankenbett gerufen wird mit dem Hinweis, »nur ein Wunder könnte ihn retten«. (31) Mit dem Wunder ist zwar nicht der Lehrer, sondern der Tormann gemeint, doch sieht der Vater im Lehrer immerhin den, der dieses Wunder herbeiführen könnte.

337 Dollheimers Großes Buch des Wissens in zwei Bänden, Zweiter Band. Leipzig 1938; S. 878 f.; die Definition wurde absichtlich einem Lexikon aus der Zeit der Entstehung des Romans Jugend ohne Gott entnommen, um die gesellschaftliche Rolle des Lehrers spezifisch verständlich zu machen. Ausgelassen wurde die Passage »gleich ob Kinder oder Erwachsene, in natsoz. Geiste«.

338 In einem ersten Entwurf schreibt Horváth, der Lehrer lehre »Lesen und Schreiben« (154). Da unter der Tätigkeit des Vermessens auch das Lesen einer Landschaft und unter Geschichte auch die Geschichts schreibung verstanden werden kann, können Geographie und Geschichte gewissermaßen als Präzisierungen von Lesen und Schreiben verstanden werden.

339 Das Wort Gegend steht hier in Anführungszeichen, da im Falle von Jugend ohne Gott nicht eigentlich eine r ä umliche Gegend gemeint ist, sondern die politischen, sozialen, psychologischen und moralischen Bedingungen eines Systems, die sich im Denken, Fühlen und Handeln ihrer Bewohner ausdrücken.

340 Daß der ursprünglich wohl von Horváth intendierte Leserkreis (»Ich überreiche dieses Buch der Öffentlichkeit unserer Zeit«, schreibt er in einem ersten Entwurf (154)) nur bedingt als außenstehend bezeichnet werden kann, spielt dabei keine Rolle, da der Autor im Sinne seiner Motivation zum Schreiben des Romans davon ausgehen muß, daß die Leser sich über ihre eigene Verwicklung in die dargestellten Vorgänge nicht im klaren sind. Dem erlebenden und erzählenden Lehrer kommt - so oder so - die Rolle des Vermittlers zwischen dem Lehrsystem des reduzierten Wirklichkeitsausschnitts und den Bewohnern der Welt, der der Ausschnitt entstammt, zu. Eine Diskussion der sich aus diesem Gedankengang ergebenden Folgen für die Wirkung des Romans auf spätere Generationen von Lesern (»Aus den Schlacken und Dreck verkommener Generationen steigt eine neue Jugend empor. Der sei mein Buch geweiht! Sie möge lernen aus unseren Fehlern und Zweifeln!« (154)) wäre reizvoll, muß aber im Rahmen dieser Arbeit unterbleiben.

341 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 5.

342 Ebd., S. 15.

343 Wolfgang Müller-Funk, Faschismus und freier Wille, in: Horváths Jugend ohne Gott, hier: S. 161.

344 Ebd.

345 Ebd., S. 173.

346 Die folgenden Gedankengänge, insbesondere die Deutung der durch Buchstaben repräsentierten Namen, stellen ein Experiment dar, das nur bedingt wissenschaftlichen Charakter hat.

347 Die Verbindung der Namens-Initialen der Schüler mit den durch sie repräsentierten Motiven ist im Rahmen dieser Arbeit - s. o. - bestensfalls als versuchsweiser Vorschlag zu betrachten. Daß Horváth, wie Burkhard Garbe meint, das »namens-statistische privatissimum« auf S. 12 »nicht zu buchstabenmystik ausweitet«, sondern mit der (nur im Falle des ersten erwähnten Schülers Franz Bauer und des N, der mit Vornamen Otto heißt, durchbrochenen) Reduktion der Namen auf Monographen »versachlichung, objektivitätszuwachs, konnotationsausschluß« bezwecke, halte ich für plausibel. Gesichtslosigkeit und Anonymität der Initial- Benennungen sind andererseits ein Element der von Horváth im Sinne des Märchens angestrebten zeitlichen und räumlichen Unbestimmtheit im Sinne von Übertragbarkeit und Allgemeingültigkeit, was eine weitergehende symbolische Deutung m. E. durchaus nahelegt. Vgl. Garbe, »Ja, es kommen kalte Zeiten«, S. 96; vgl. auch Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 605. Im übrigen sei darauf hingewiesen, daß die Namen T und N in einer anderen, dennoch ähnlichen Konstellation in dem Film-Expose Die Geschichte eines Mannes (N), der mit seinem Gelde um ein Haar alles kann (Gesammelte Werke IV, S. 643 - 645) die Hauptrollen spielen. Dort ist T die Witwe eines Großbauern, die sich in den zwanzig Jahre jüngeren N verliebt und ihn heiratet. Da er untreu ist, spioniert sie ihm nach und erkältet sich dabei. N setzt sie der Zugluft aus und wird dadurch »geräuschlos und grotesk ihr Mörder«. N wird durch das umfangreiche Erbe »ein direkter Lebemann«, begegnet jedoch seinem »Schicksal«, einem »jungen Mädchen aus verarmter Familie«, das er wegen einer Unterschlagung »jederzeit dem Staatsanwalt ausliefern« könnte, was er jedoch unterläßt und es dadurch an sich bindet. N stirbt schließlich unter dem »durchdringenden« Blick der Enkelin seiner Frau.

348 Vgl. Horváths Bemerkung in dem Aufsatz Was soll ein Schriftsteller heutzutag schreiben?: »Der Sport ist auch ein Fundament zur Entwicklung der Individualität. Aber es ist eine völlig ungeistige Individualität.« (GW 4, S. 867.) Daneben wäre ein Satz aus einem wohl als Entwurf zum Interview zu betrachtenden Text zu erwähnen, dessen erste Hälfte im Interview selbst fehlt: »Natürlich hat das Interesse am Theater auch aus sportlichen Gründen nachgelassen --- aber nicht zu guter Letzt, weil wir kein richtiges, echtes, im guten Sinne des Wortes bodenständiges Volkstheater mehr haben.« (GW 4, S. 855.) Horváths Interesse am Sport belegen außerdem nicht nur die Sportm ä rchen, sondern auch die Erinnerung von Heiner Emhardt an gemeinsame Fahrten nach München zu »Ringkämpfen, Boxkämpfen und Fußballspielen«. (Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 49.)

349 Gamper, Horváths komplexe Textur, S. 77.

350 Erich Fromm, Haben oder Sein, S. 123; vgl. hierzu auch Gamper, Horváths komplexe Textur, S. 76 f.

351 Ernst Glaeser, Jahrgang 1902, S. 148. Daß Glaesers Roman auf Horváths späte Romane eingewirkt hat, vermutet auch Gamper (S. 79).

352 Glaeser, Jahrgang 1902, S. 152 f.

353 Fromm, Haben oder Sein, S. 122.

354 Zur grotesken Verbindung zwischen Sexualität und Tod und zur Sexualverdrängung vgl. Kim, Das Groteske in den Stücken Ödön von Horváths, S. 147 ff.

355 Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, S. 49.

356 Daß dieses »Gebiet« tatsächlich gänzlich »unvermessen« ist, zeigt sich in der das biblische Buch Genesis zitierenden Kapitelüberschrift Ü ber den Wassern: Als Gottes Geist über den Wassern schwebt, sind zwar Himmel und Erde erschaffen, »die Erde aber war wüst und wirr«. Es gibt weder Nacht und Tag noch Lebewesen. Auf Jugend ohne Gott übertragen könnte man dies so deuten: Der Lehrer ist nach seiner Abreise aus der »alten« Welt mit Gott allein.

357 Aus dem Fehlen des Buchstaben K in der Liste der Schüler nicht nur auf dessen Verkörperung im Lehrer, sondern aufgrund der oben erwähnten Ähnlichkeit ihrer Tätigkeiten wiederum auf den Landvermesser K., also auf einen direkten Einfluß des Romans Das Schlo ß auf Horváth zu schließen, läge nunmehr nahe und wäre reizvoll, soll jedoch hier unterbleiben. Bis auf eine kleine Randbemerkung vielleicht, die den Unterschied zwischen dem Grotesken bei Horváth und dem Absurden bei Kafka betrifft: Horváths Lehrer verläßt das Land, Kafkas Landvermesser ist dies nicht möglich. Er kann sich dem Geheimnis weder nähern noch von dessen Anziehungskraft befreien.

358 Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Band 3, S. 87.

359 Ernst Toller, Gesammelte Werke, Band 2, München 1978, S. 106.

360 Zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte und verschiedenen Vorarbeiten vgl. den Anhang: Ein Kind unserer Zeit, S. 207 ff.

361 Rezensionen von Maria Arnold und Stefan Zweig, zitiert nach: Ein Kind unserer Zeit, S. 264.

362 Brief von D. Hildebrandt an Birgit Schulte; zitiert nach: Birgit Schulte, ÖvH - verschwiegen ..., S. 23.

363 Bei Birgit Schulte etwa, die versucht, den Rezeptionsverlauf des Horváthschen Werkes umfassend darzustellen, wird der Titel des Romans überhaupt nicht erwähnt. Eine andere Meinung vertritt Reinhold Viehoff (»Neben Brecht der bedeutendste ...«, S. 193): »Wie wir heute aus den historischen Studien und Fortschrittsberichten zur Rezeption des Werkes Ödön von Horváths wissen, war weder der Dramatiker Horváth je vergessen noch der Romancier.« Viehoff belegt den zweiten Teil dieser These u. a. mit den Neuauflagen von Jugend ohne Gott (Wien 1948) und Ein Kind unserer Zeit (Wien 1951), was mir schon aufgrund fehlender Auskünfte über Auflagenhöhe und Verbreitung nicht überzeugend erscheint. Als »Gegen-Beleg« könnte man Fritz Martinis Deutsche Literaturgeschichte von 1958 anführen, in der sich der Name Horváth nicht findet.

364 Es ist lediglich der Band Horv á ths Prosa erschienen (siehe Literaturverzeichnis). In Ü ber Ö vH findet sich der Artikel Das Prosawerk von Ö d ö n von Horv á th von Hellmuth Karasek, der aus den in Anm. 293 dargelegten Gründen keine Basis einer wie auch immer gearteten wissenschaftlichen Auseinandersetzung bilden kann. Karasek erwähnt den Titel des Romans nicht, er nennt ihn lediglich »Horváths dritter Roman« (Über ÖvH, S. 80).

365 Vgl. Schlemmer, Ödön von Horváth - Jugend ohne Gott, S. 91 f. sowie Juliane Eckhardt, Jugend ohne Gott im Literaturunterricht, in: Horváths Jugend ohne Gott, S. 198 - 221.

366 Vgl. hierzu den Abschnitt über das Märchen bei Horváth.

367 Vgl. Meinrad Vögele, Ödön von Horváth. Der jüngste Tag, S. 8 f.

368 Auf das Problem der Beziehung zwischen erlebendem und erzählendem Ich und der grundsätzlichen Funktion des »ich« kann aus Platzgründen hier leider nicht näher eingegangen werden. Ich verweise daher auf: Angelika Steets, Erzähler und Erzählsituation bei Ödön von Horváth, in: ÖvH (stm), S. 87 - 124, deren sehr ausführliche und treffende Untersuchung ich ohnehin nur paraphrasieren könnte; hier: S. 109 ff.

369 Hitler, Mein Kampf, S. 364.

370 Ebd., S. 365 f.

371 Ebd., S. 385; zum »religiösen« Charakter der faschistischen Ideologien und ihrer Funktion als Ersatz für Religion vgl. den Entwurf zu Ein Kind unserer Zeit (im Anhang S. 207).

372 Hitler, Mein Kampf, S. 371.

373 Stefan Dietrich, Gesellschaft und Individuum bei Ödön von Horváth, S. 158.

374 Hitler, S. 371.

375 Vgl. hierzu auch die Ausführungen über die Stadt als »neuen Wald«, als ins »vermessene« Leben eingedrungene und dieses erfüllende Grenze (Abschnitt 5.4.).

376 Den Zustand des »seelischen Todes« signalisiert Horváth bereits in dem frühen Stück Die Bergbahn durch den Schnee, in dem Schulz ausrutscht und der verwundete Moser erfriert. (GW 1, S. 100 f. bzw. S. 123 f.) In Jugend ohne Gott ist der Schnee als Symbol für Liebesunfähigkeit überdies verbunden mit dem symbolischen Element des Waldes: »Bald wird es schneien, und du wirst dich den Menschen nähern. Aber dann werde ich dich zurücktreiben! Zurück in den Wald, wo der Schnee meterhoch liegt.« (145) Vgl. Abschnitt 6.

377 Daß die Lähmung der Lieblosigkeit ein Anzeichen für den Tod der Seele ist, deutet der Lehrer an: »Unsere Seelen sind voller schwarzer Beulen, bald werden sie sterben. Dann leben wir weiter und sind doch tot.« (Jugend ohne Gott, S. 24 f.) Dem »lebenden Toten« ist die Wirklichkeit gespenstisch, zu hohler Fassade und Maske ausgezehrt, oder, und damit knüpft Horváth wiederum an sein Frühwerk an: es »rennt Alles im Kreise«. (Pestballade, GW 4, S. 799.) Vgl. auch das Bibelzitat: »Wer nicht liebt, bleibt im Tod.« (Erster Brief des Johannes 3, 14.)

378 Hier liegt ein Grund für die gänzlich andere Gesamtwirkung des Romans im Gegensatz zu Jugend ohne Gott, dessen Ende offen bleibt; vgl. Kracauer, Theorie des Films, S. 351 f.

379 Wolfgang Kaempfer, Die zerbrochene Zeit, S. 126.

380 Ebd., S. 135.

381 Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 164.

382 Kracauer, Das Ornament der Masse, S. 267.

383 Ohne näher darauf einzugehen, sei durch diese Formulierung darauf hingewiesen, daß allzu oft in der Betrachtung der faschistischen Ideologie der deutsche Nationalsozialismus als isolierter Sonderfall hervorgehoben und darüber die weite Verbreitung faschistischer Denkweise und Ideologie im (oder: seit dem) frühen 20. Jahrhundert übersehen wird. Tatsächlich ist meiner Ansicht nach der Faschismus grundsätzlich weniger eine deutsche als eine für die Zeit nach dem Auseinanderbrechen des Zeitgefüges um die Jahrhundertwende typische Erscheinung. Eine nähere Erörterung muß jedoch hier schon aus Platzgründen unterbleiben.

384 Hitler, Mein Kampf, S. 372.

385 Diese fanatische Gier nach Ausbreitung in der Gegenwart, deren ungeheure Dynamik und Kraft sich auch im offenbar unbemerkt bleibenden Fehlen einer definierten Jenseitsvorstellung (oder auch nur einer Idee davon, was nach dem Tod des »Führers« aus dem »Reich« werden sollte) äußert, führt im übrigen nicht zur Erkenntnis (es gibt keine Gegenwart), sondern zum Mythos (Gegenwart ist der »Volkskörper«). Hier liegt eine Quelle für das Mißverständnis Horváths als Sozialkritiker. Es ging ihm nicht um die sozialen Implikationen des Faschismus, sondern um Grundsätzliches, daher der wiederholte Versuch, den »faschistischen« (Soldat) und den »quasifaschistischen« (Lehrer) Menschen in seinem Scheitern an der Welt zu zeigen; vgl. das Zitat aus einem Brief an Csokor im Anhang zu Ein Kind unserer Zeit, S. 219.

386 Kaempfer, Die zerbrochene Zeit, S. 135; vgl. hierzu Wolfgang Fritz Haug, Nicolai Hartmanns Neuordnung von Wert und Sinn, in: Deutsche Philosophen 1933, hier S. 181: »Da aber ›Geist‹ = ›wesentlich Sinngebung‹, ist Geschichte, die den Geist stärker werden läßt, = Sinnerfüllung, ›ohne auf Sinn hin angelegt zu sein‹, und wie zuvor das Bedürfnis nach Theodizee, ist auch das nach Geschichtsteleologie unvermittelt wieder zufriedengestellt.«

387 »Kitsch« steht hier für jede Art der Darstellung, die »mit Hilfe aufgesetzter, gemachter Symbolik, falscher Metaphorik und gekünstelter [...] Sprache« sowie Schwarzweiß-Darstellung einen Wert vorzutäuschen sucht, »der einem blassen, innerlich unwahren, mit Pseudoidealen verbrämten«, im Grunde trivialen Gegenstand Wirklichkeit geben und die »Teilhabe an Höherem« vortäuschen soll; vgl. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 451 f.

388 Friedrich Ancillon, Über die Perfectibilität der bürgerlichen Gesellschaft, in: Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen, Berlin 1828 und 1831, Teil 1, S. 192. Hier zitiert nach Kaempfer, S. 135 f.

389 Hier zitiert nach Kaempfer, S. 140 f.

390 Kaempfer, S. 141. Kaempfer zitiert hier Marinetti (kursive Stellen).

391 Zitiert nach: Haug, Nicolai Hartmanns Neuordnung von Wert und Sinn, S. 177.

392 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Zitat von Thimoteus Aclines: »Heutzutage vergönnt man der Weltgeschichte keine Zeit mehr zur Geburt, man will nichts sich entwickeln lassen, mit einem Male soll eine Gegenwart dastehn, die keine Tochter der Vergangenheit ist.« (Zitiert nach: Kaempfer, S. 136.)

393 Haug, S. 185.

394 GW 4, S. 803.

395 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang folgendes Postscriptum Kafkas zu einem Brief an Milena: »Man ist doch ein Ausbund von Dummheit. Ich lese ein Buch über Tibet; bei der Beschreibung einer Niederlassung an der tibetanischen Grenze im Gebirge wird mir plötzlich schwer ums Herz, so trostlos verlassen scheint dort das Dorf, so weit von Wien. Wobei ich dumm die Vorstellung nenne, daß Tibet weit von Wien ist. Wäre es denn weit?« (Briefe an Milena, S. 29) Natürlich konnte Horváth diesen Brief keinesfalls kennen. Gelesen haben könnte er jedoch Hermann Hesses 1922 erschienene »indische Dichtung« Siddharta, in der Hesse versuchte, »das zu ergründen, was allen Konfessionen und allen menschlichen Formen der Frömmigkeit gemeinsam ist«. (Zitiert nach: KNLL 7, S. 802, wo das Hesse-Zitat ohne Nachweis steht; es sollte darauf hingewiesen werden, daß Hesse dort teilweise falsch zitiert wird!) Siddharta besteht auf dem eigenen Weg zum Heil, wenn er zu Buddha sagt: »›[...] Ich habe nicht einen Augenblick gezweifelt, [...] daß du das Ziel erreicht hast, das höchste [...] Du hast die Erlösung vom Tode gefunden. Sie ist dir geworden aus deinem eigenen Suchen, durch Gedanken, durch Versenkung [...] Nicht ist sie dir geworden durch Lehre! [...] keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre! [...]‹« (Hesse, Siddharta, S. 34 f.) Sein individualistisches Bekenntnis bestimmt Siddhartas weiteren Lebensweg: Er wird der Geliebte einer Kurtisane, verfällt als Kaufmann der Raffgier und schließlich Suff und Glücksspiel. Vor Selbsthaß entschlossen, sich das Leben zu nehmen, erfährt er in einer Vision seine Wiedergeburt und erkennt, aus dem Schlaf erwacht: »Viele Jahre mußte ich damit hinbringen, den Geist zu verlieren, das Denken wieder zu verlernen, die Einheit zu vergessen. Ist es nicht so, als sei ich langsam und auf großen Umwegen aus einem Mann ein Kind geworden [...] Ich habe Verzweiflung erleben müssen, ich habe hinabsinken müssen bis zum törichtesten aller Gedanken, zum Gedanken des Selbstmordes, um Gnade erleben zu können.« (Hesse, Siddharta, S. 88 f.) Auch der Soldat kehrt am Ende seines Lebens in die Kindheit zurück, doch findet er auch dort nur Kälte. Einen Ausweg gibt es nicht. Es sei noch erwähnt, daß Hermann Hesse über Jugend ohne Gott an Alfred Kubin schrieb: »sie [die Erzählung] hat Fehler, ist dennoch großartig, und schneidet quer durch den moralischen Weltzustand von heute.« (Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 245.)

396 Auf die Rolle des Tores zum Park als Tor zu Paradies kann hier leider nur in einer Fußnote eingegangen werden. Vgl. daher Gamper, Horváths komplexe Textur, S. 26: »Verloren sein heißt: vertrieben sein aus dem Paradies - das aber keines ist und nie eines war. Durch die Erbsünde wurde es verloren und verlor der Mensch ›sich selber und seine Menschlichkeit‹. In Christus, in christlicher Liebe, habe er sie wiedergefunden. So suchen Don Juan und der Soldat - verlorene Söhne auch sie (Kapitelüberschrift: Der verlorene Sohn) - ihre Seele, und zwar - was mit christlicher (Marien-)Mystik nicht unvereinbar ist - in der verlorenen oder nie besessenen Geliebten bzw. ›Braut‹. Diese hat aber im Roman die Stimme der toten Mutter.« - Die Suche ist daher von Beginn an zum Scheitern verurteilt, ihr Ziel liegt im »Reich« des Todes, das kein Reich ist. - Gamper weiter: »Paradies- und Erlösungssehnsucht, wie immer auch christlich begriffen, ist im ganzen Werk Horváths zugleich Sehnsucht nach einer idealen Kindheit, nach Unschuld, Heimat, Geborgenheit - nach dem Mütterlichen, dem aber eine wirkliche Mutter so wenig je entspricht, wie die wirkliche Kindheit paradiesisch war. Die Sehnsucht findet Erfüllung im legendenhaften letzten Stück, Pompeij - dort zwar im christlichen Sinn, doch in den Katakomben, die auch als Symbol des Mutterleibes gelten können. Dagegen findet Don Juan statt seiner ›Seele‹ die Großmutter, die ›alte Hex‹, und erfriert am Grab der Geliebten; der Soldat im Roman erfriert rückkehrend in die Kindheit, die ›kalt‹ war.« Die Gestalt der Mutter ist geteilt - diese Duplizität ist, so Gamper (S. 27), »Basis eines unlösbaren Konflikts: - in die ersehnte, idealisierte Mutter, die im Roman zusammenfällt einerseits mit der ›Linie‹, der unerreichbaren Seelenbraut, andererseits mit der dicken Krankenschwester, der Hebamme der seelischen Wiedergeburt des Helden ... und [...] in die Mutter als ›Hure‹, im Roman repräsentiert durch die Witwe des Hauptmanns, also Frau des ›Vaters‹«. Vgl. hierzu die Beschreibung des Gesichts der »Göttin der Liebe« in einer Variante zum Schlamperl: »Und er versuchte sich das Bild zu rekonstruieren, und da bemerkte er, daß das doch in keiner Weise das Lottchen war, sondern ein ganz anderes Gesicht, fein und zart und verlegen und voll hemmungsloser Ordinärheit. Und Zerstörung und Aufbau.« (Gesammelte Werke IV, S. 446.) Vgl. zur Kindheitsproblematik auch Schröder, Das Spätwerk Ödön von Horváths, S. 134 ff.

397 Alfred Hirsch, Ethik der Trauer, in: Entzauberte Zeit; hier: S. 233 und S. 237. (Kursivierungen von mir zur Verdeutlichung - MS.)

398 Ob Horváth Baudelaires Werke kannte, ist nicht festzustellen. Die aus dem Don-Juan-Stoff in Don Juan kommt aus dem Krieg und Ein Kind unserer Zeit übernommenen Züge des enttäuschten Helden, der sich in seiner Suche nach dem Ideal (auch Horváth verwendet den Namen Anna) betrogen sieht und daraufhin gegen Gott und die Menschen revoltiert, könnten auch von E.T.A. Hoffmann oder anderen beeinflußt worden sein; vgl. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, S. 158 f.

399 Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, S. 91.

400 Tagebücher 1909 - 1912, S. 102 f.

401 Jean Paul, Sämtliche Werke, Abteilung I, Band 5, S. 34.

402 Ebd., S. 32.

403 Ebd., S. 33.

404 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Erster Band, S. 10. Zum Einfluß Spenglers auf Horváth, der sich etwa in der Verwendung des Begriffs »Plebejer« in Jugend ohne Gott zeigt, vgl. Peter Gros, Plebejer, Sklaven und Caesaren, S. 41 - 48.

405 Karl Heinz Bohrer, Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik, in: Entzauberte Zeit, hier: S. 42.

406 Tagebücher 1909 - 1912, S. 260.

407 Zitiert nach: Bohrer, S. 44.

408 Jean Paul, Sämtliche Werke, Abteilung I, Band 5, S. 32.

409 Bohrer, S. 45.

410 Bohrer, S. 45.

411 Ebd., S. 46; vgl. hierzu die Anm. 386 über Nicolai Hartmann.

412 Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit S. 223.

413 Vgl. hierzu Jugend ohne Gott, S. 26: »[...] und was würde die Welt nicht alles versäumen, wenn ich ihr Licht nicht erblickt hätte? Was würde die Sonne dazu sagen? Und wer würde denn dann in meinem Zimmer wohnen?«

414 Wassili Rosanow, Abgefallene Blätter, S. 6.

415 Tagebücher 1914 - 1923, S. 236 (auch die folgende Stelle).

416 Der Proceß, S. 241.

417 Kafka selbst könnte dies allerdings anders empfunden haben. Man vergleiche den drittletzten Satz des Romans (»Aber an K.'s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte.« - S. 241) mit einer Tagebuchnotiz, die gut drei Jahre früher, am 2. November 1911, entstand: »Heute früh zum erstenmal seit langer Zeit wieder die Freude an der Vorstellung eines in meinem Herzen gedrehten Messers.« (Tagebücher 1909 - 1912, S. 172.)

418 Tagebücher 1909 - 1912, S. 116.

419 Rochefort, Kafka oder die unzerstörbare Hoffnung, S. 22.

420 GW(es) VIII, S. 463.

421 Rochefort, Kafka oder die unzerstörbare Hoffnung, S. 25.

422 Zitiert nach: Krischke, ÖvH - Kind seiner Zeit, S. 246.

423 Rochefort, S. 26.

424 Vgl. Kafka, Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922 - 1924.

425 Vgl. ebd., S. 83. Der Schluß ist im Grunde ein doppeltes Fragment, da auch Dora Dymants Zusatz offen und unvollendet bleibt.

426 Bohrer, Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik, S. 49.

427 Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Band 3, S. 207.

428 Bohrer, S. 59.

429 Baudelaire, S. 205/207.

430 Bohrer, Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik, S. 50.

431 Bohrer, S. 60.

432 Diese Szenarien ironisierte Valentin, wenn er etwa in den Raubrittern den Wachmann Bene zum Michl sagen läßt: »jetzt holst an Kaffee, da hast fuchzehn Kreuzer, Pfennig hats seinerzeit noch keine gebn [...].« (Das Valentin-Buch, S. 182) In den von Hannes König zusammengetragenen Anekdoten ist die Ironie dieser Stelle noch weiter getrieben: »Bringst mir einen Kaffee und zwei Bananen - na halt, de hat's ja damals no gar net geb'n!« (Anekdoten, S. 41 f.) König weist außerdem darauf hin, das Stück spiele »um 1830, und in ihm kämpfen Biedermeier-Soldaten mit Rittern des 14. Jahrhunderts!« (Ebd.)

433 GW 4, S. 886.

434 Spengler, Jahre der Entscheidung, S. 9; geht man davon aus, daß Horváth dieses Buch, in dem Spenglers Verherrlichung des Preußentums und (bei aller Kritik an der NSDAP, die das Erscheinen des zweiten Bands unmöglich machten) zumindest präfaschistische Tendenzen deutlich wurden, gelesen hatte, so ist als möglich anzunehmen, daß er seine erzählerische Position auch aufgrund dieser Lektüre einer grundlegenden Kritik unterzog.

435 Vgl. Gros, S. 47 f.

436 Zu Csokors Einfluß in dieser Beziehung vgl. Anm. 312.

437 Rochefort, Kafka oder die unzerstörbare Hoffnung, S. 27.

438 Ebd., S. 26.

439 Romano Guardini, Zum Geleit, in: Rochefort, Kafka oder die unzerstörbare Hoffnung, S. 20.

440 Michael Theunissen, Der Begriff der Verzweiflung, S. 117.

441 Vgl. hierzu Jürgen Schröders Bemerkung: »das Denken war Horváth nur als sinnliches Denken zugänglich« (Das Spätwerk Ödön von Horváths, S. 141).

442 Sören Kierkegaard, Entweder - Oder, Band 1, S. 32.

443 Gamper, Horváths komplexe Textur, S. 25. Gamper zitiert: Rudolf zur Lippe, Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung, Frankfurt 1975. Vgl. dazu auch Gamper, Todesbilder in Horváths Werk, in: Horváth-Diskussion, S. 67 - 81.

444 Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 151.

445 Hildebrandt, Horváth, S. 105.

Fin de l'extrait de 130 pages

Résumé des informations

Titre
Verlorene Gegenwart. Die naive Erzählweise als Ausdruck des Scheiterns des Helden bei Ödön von Horvath und Franz Kafka
Cours
Institut für Bayerische Literaturgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München; Betreuer: Prof. Herbert Rosendorfer
Note
1
Auteur
Année
1997
Pages
130
N° de catalogue
V94779
ISBN (ebook)
9783638074599
ISBN (Livre)
9783656753742
Taille d'un fichier
1118 KB
Langue
allemand
Mots clés
Verlorene, Gegenwart, Erzählweise, Ausdruck, Scheiterns, Helden, Autor, Welt, Berücksichtigung, Romane, Horvaths, Erzähl-, Denkhaltung, Franz, Kafka, Institut, Bayerische, Literaturgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München, Betreuer, Prof, Herbert, Rosendorfer
Citation du texte
Michael Sailer (Auteur), 1997, Verlorene Gegenwart. Die naive Erzählweise als Ausdruck des Scheiterns des Helden bei Ödön von Horvath und Franz Kafka, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94779

Commentaires

  • invité le 13/11/2002

    DER Michael Sailer? Der Musikkritiker?.

    DER Michael Sailer? Der Musikkritiker?

  • invité le 10/6/2002

    gut.

    ich finde die arbeit sehr gut aber sehr unübersichtlich

  • invité le 30/1/2002

    guter inhalt...ABER DIE FORM!.

    also, von den inhaltsaspekten sieht es aus, als ob jemand versucht hat den "wieviele unschuldige wörter zwinge ich, in EINEN aufsatz zu klettern"-wettbewerb gewonnen hätte. (ich habs ausgedruckt, die papierindustrie dankt!)
    nicht um es schlechtzumachen -der inhalt ist dehr interessant. aber GNADE, es ist viel zu lang, viel zu ungegliedert, die themen sind viel zu vermischt--man kriegt höchstens nach 6 wöchigem lesen einen überblick!! kreisch!!

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