Eine dekonstruktive Auseinandersetzung mit dem Begriff der psychischen "Erkrankung" in Anlehnung an Foucault

Von den Perspektiven des systemtheoretisch fundierten Konstruktivismus als postmoderne Reflexionstheorie


Bachelorarbeit, 2014

61 Seiten, Note: 1,3

Hannah Horcht (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Beziehungen zwischen konstruktivistischem Denken, Postmoderne und Dekonstruktion
2.1 Das Phänomen der Selbstreferenz als zentraler Aspekt konstruktivistischen Denkens
2.2 Zum Verhältnis zwischen Konstruktivismus und Postmoderne
2.2.1 Die Postmoderne: Ein Eingeständnis an die Pluralität von Wirklichkeiten
2.2.2 Vom Umgang des Konstruktivismus mit dem Verlust einer objektiven Wahrheit
2.3 Dekonstruktion: Der Versuch einer Definition

3 Der Wahnsinn existiert nur in einer Gesellschaft
3.1 Die Geschichte von der ethnologischen Ausschließung des Irren
3.1.1 Das Ausschließungssystem von der Arbeit
3.1.2 Das Ausschließungssystem von der Familie
3.1.3 Das Ausschließungssystem von der Rede
3.1.4 Das Ausschließungssystem von dem gesellschaftlichen Spiel
3.1.5 Foucault über den allumfassenden Ausschluss des Irren
3.2 Der Versuch einer Analyse der Status-Veränderungen des Irren

4 Möglichkeiten und Perspektiven des systemtheoretisch fundiertem Konstruktivismus als postmoderne Reflexionstheorie
4.1 Zum Begriff des problemdeterminierten Systems
4.1.1 Was ist ein Problem ?
4.1.2 und wie kommen Probleme zustande?
4.2 Sprechen wir doch von Problemen anstatt von Krankheiten: Über eine alternative Sicht der Dinge, die sich der Möglichkeit zur Veränderung widmet

5 Dekonstruktion als zentrales Thema therapeutischer Gespräche
5.1 Die Verfremdung des Heimischen: Zum Prozess der Erörterung und des Aussprechens des >>Ungesagten<<
5.1.1 Die Dekonstruktion von Geschichten, in denen Menschen leben
5.1.2 Die Dekonstruktion moderner Machtpraktiken
5.1.3 Die Dekonstruktion von Expertenwissen
5.2 Vergessen wir nicht die Neugier!

6 Fazit

Literaturverzeichnis

A Anhang

1 Einführung

„Neugier ist eine Unart, die nacheinander vom Christentum, von der Philosophie und sogar von einer bestimmten Wissenschaftsauffassung stigmatisiert worden ist. Neugier, Nutzlosigkeit. Das Wort, indessen, gefällt mir. Für mich bedeutet es etwas gänzlich anderes: es weckt >Anteilnahme<; es weckt Achtsamkeit für das, was existiert oder existieren könnte; eine Bereitschaft, das, was uns umgibt, seltsam und einzigartig zu empfinden; eine gewisse Unnachgiebigkeit, mit unseren vertrauten Gewohnheiten zu brechen und die gleichen Dinge auf andere Weise zu betrachten; eine Leidenschaft, zu begreifen, was geschieht und vergeht; eine Lässigkeit gegenüber den traditionellen Hierarchien des Wichtigen und Wesentlichen“ (Foucault 1989, S. 198, zit. n. White 1992, S. 62).

Die Motivation für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der psychischen Erkrankung entsprang der Überlegung, dass das „selbstverständliche und kritiklose Sprechen über psychische >>Krankheiten<<“ (von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 126) in der heutigen Gesellschaft in großem Maße zu der Stigmatisierung und Ausgrenzung betroffener Menschen beitragen könnte.

Worte wie „irre“, „Irrenanstalt“ oder auch „Psychopath“ sind heutzutage noch immer fest im Sprachgebrauch verankert. Vor allen Dingen in den Medien ist ein solch selbstverständlicher Gebrauch dieser Begriffe wahrzunehmen, die doch eigentlich längst der Vergangenheit angehören müssten.

Infolge dessen entstand das Interesse an dem „Wie“ von gegenwärtigen Wirklichkeitskonstruktionen:

Wie gelingt es denn nun einer Kultur, bestimmte einschränkende „Rahmenbedingungen der Wirklichkeitserzeugung so [festzulegen (Anm. d.Verf.)], dass man sich ihrer gar nicht mehr bewusst wird“ (ebd.)?

Es sei darauf hingewiesen, dass eine Verhaltensweise etwa, die in einer Kultur als vollkommen normal bewertet wird, in einer anderen als abnorm gelten kann. Das hieße, dass Normalität und Anomalität keineswegs allgemeingültig wären (vgl. Rosenhan 1988, S. 111) und dass die diesbezügliche Unterscheidung, „die sich in der Psychiatrie traditionellerweise auf das scheinbar objektive Kriterion der >>Wirklichkeitsanpassung<< eines Individuums stützt, … demnach vielleicht nicht ganz so exakt [ist (Anm.d.Verf.)], wie man gemeinhin annimmt“ (ebd.).

Dennoch scheint ein unausgesprochener Konsens darüber zu bestehen, dass Irresein von Normalsein eindeutig abzugrenzen sei. Dieser die psychischen >>Krankheiten<< betreffende Diskurs erweist sich den an ihm teilnehmenden Menschen oftmals als unsichtbar, als nicht greifbar. Trotzdem kann seine Existenz kaum geleugnet werden. Anscheinend gibt es sich dem einzelnen Bewusstsein entziehende Bedingungen, die in besonders mächtiger Weise „die herrschenden Wirklichkeitskonstruktionen und das alltägliche Verhalten bestimmen“ (von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 126). In der einschlägigen Literatur ist auch von dem Thema >>Macht<< die Rede, die sich über gesellschaftliche Handlungsvollzüge bzw. gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen reproduziert und so in implizierter Form bestimmte Diskurse kontrolliert; so auch den Diskurs über die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Vernunft.

Diese in Anlehnung an Michel Foucault - einem „der zentralen Denker der Postmoderne“ (von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 126) - formulierten Überlegungen sind in ihrem Wesen dekonstruktivistisch; sie verfremden das Vertraute, die als selbstverständlich betrachteten Wirklichkeiten und Wahrheiten.

Eben das ist es, was den Kern dieser Bachelorarbeit ausmachen wird: Es geht um die zentrale Praxis der Dekonstruktion, die in diesem Rahmen nicht so sehr als explizite Methode zu verstehen ist, sondern vielmehr „als eine bestimmte kritische >>Haltung<< gegenüber jeglichen bestehenden Beschreibungen“ (ebd, S. 127).

Eine noch explizitere Formulierung der hier fokussierten Thematik könnte lauten: Der scheinbar als selbstverständlich hingenomme und der Wahrheit entsprechende Diskurs über das Wesen psychischer >>Erkrankungen<< soll entlarvt werden als eine der vielen „sogenannten >>Wahrheiten<<, die von den Bedingungen und dem Kontext ihrer Produktion abgespalten sind, einer vergeistigten Sprache, die ihre Voreingenommenheit und Vorurteile verschleiert, und vertrauten Praktiken des Umgangs mit sich selbst und mit Beziehungen, die auf die Unterwerfung anderer hinauslaufen“ (White 1992, S. 48).

Damit soll keineswegs in Frage gestellt werden, dass bestimmte Verhaltensweisen deutlich von dem abweichen, was in einer Gesellschaft als Norm gilt. Auch sollen diesbezügliche Überlegungen nicht die Tatsache anzweifeln, dass Personen, denen eine psychische „Erkrankung“ diagnostiziert wurde, einen hohen Leidensdruck verspüren.

Vielmehr soll verdeutlicht werden, dass es sich bei der Einschätzung oder „Bewertung psychischer Probleme als >>pathologisch<<“ (Schmidt 2000, S. 14) um ein Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses handelt. Demnach weichen „die so eingeschätzten Phänomene … von den Wirklichkeitskonstruktionen des jeweiligen sozialen Kontextes in nicht verstehbarer Weise ab, (...) [sodass (Anm. d. Verf.)] Normalität wie Pathologie als Ausdruck von Wirklichkeitskonstruktionen aufgefasst und analysiert werden können“ (ebd, S. 14f.).

Die in diesem Kontext angestrebte dekonstruktive Auseinandersetzung mit dem Begriff der psychischen >>Erkrankung<< ist somit nur auf der Basis einer konstruktivistischen Weltannahme möglich. Gemäß dieser ist die Welt und die Realität, so wie wir sie zu kennen glauben, vielmehr ein Erkennen; sie sind Produkte unserer Sinneswahrnehmungen, unserer Kommunikationen, Gedanken und Gefühle (vgl. Kleve 2010, S. 11).

Der Konstruktivismus verneint also die Existenz der einen absoluten Wahrheit; er verweist auf die vielen nebeneinanderstehenden Wirklichkeitsbeschreibungen und unterstreicht zugleich deren Daseinsberechtigung.

Damit fokussiert er ein unter dem Begriff Selbstbezüglichkeit oder Selbstreferenz bekanntes Phänomen:

„Weil wir uns als lebende und psychische Systeme ausschließlich auf unsere eigenen Zustände (z.B. Sinneswahrnehmungen, Beobachtungen oder Beschreibungen) beziehen können, ist alles, was wir wahrnehmen und für objektiv gegeben halten, eine durch uns konstituierte Wirklichkeit“ (ebd, S. 17f.).

Da sich diese Arbeit ausdrücklich dem systemtheoretischen Konstruktivismus verschreibt, sei an dieser Stelle bereits auf den Unterschied zu den älteren konstruktivistischen Erkenntnistheorien hingewiesen:

„Im Gegensatz etwa zur kantischen Epistemologie zeigt systemtheoretisches Denken, dass mit Selbstreferenz nicht nur die Operationen des Bewusstseins beschrieben werden können, sondern vielmehr alle Operationen von lebenden, psychischen und sozialen Systemen, ,die sich selbst auf anderes und dadurch auf sich selbst' (Luhmann 1986, S. 269) beziehen (Kleve 2010, S. 19f.).

Nähere das konstruktivistische und dekonstruktive Denken betreffende Ausführungen werden im nachfolgenden Kapitel ihren Platz finden. Des Weiteren wird in diesem Abschnitt eine ausführlichere Erklärung dessen gegeben, was der Begriff >>postmodern<<, der bereits Einklang in dem Titel dieser Bachelorarbeit gefunden hat, konkret meint und wie der systemtheoretisch fundierte Konstruktivismus in diesem Sinne als postmoderne Reflexionstheorie verstanden werden kann.

Im Anschluss an diese das Fundament bildende theoretische Einbettung wird in Kapitel drei ein Versuch erfolgen, den vermeintlich natürlichen Charakter der >>Geisteskrankheit<< infrage zu stellen. Es soll der These nachgegangen werden, dass der Wahnsinn als solcher lediglich in einer Gesellschaft existieren könne, die ihn ausschließt und zurückweist.

In diesem Zusammenhang werden primär Michel Foucaults Gedankengänge aufgenommen, die sich als eine Art „archäologische Methode“ (von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 126) präsentieren. Foucaults ausdrückliches Interesse an dem, was in einer Gesellschaft ausgeschlossen wird, führte schlussendlich zu seinem Interesse am Wahnsinn, „da dieser in einer Gesellschaft wie der unsrigen und wahrscheinlich in jeder Gesellschaft … offenbar in ganz besonderem Maße ausgeschlossen“ (Foucault 2003, S. 611) wird.

Um das Kernanliegen dieser Vorgehensweise zu verdeutlichen, sollten an dieser Stelle Foucaults (ebd., S. 614) eigene Worte Beachtung finden: „[Zunächst (Anm. d. Verf.)] möchte ich Ihnen zeigen, dass es in allen Gesellschaften einen allgemeinen Status des Irren gibt, dessen Äußerungsformen in den europäischen Gesellschaften des Mittelalters, des 17. und 18., aber auch des 19. und 20. Jahrhunderts anzutreffen sind. Nach dieser allgemeinen Analyse werde ich zu zeigen versuchen, wie und warum der Status des Irren in Europa zunächst im 17. und dann noch einmal im 19. Jahrhundert verändert wurde, allerdings nur in einer begrenzten Weise, die den Kern der Sache nicht berührte. Ich werde zu zeigen versuchen, dass diese Veränderungen im allgemeinen Status des Irren den, wie man sagen könnte, ethnologisch allgemeinen Status des Wahnsinns unberührt ließen“.

Nach dieser ethnologischen Analyse, die den Anspruch hat, den heutigen Status des mittlerweile als >>psychisch krank<< oder >>geisteskrank<< bezeichneten Menschen durch die Aufarbeitung der „geschichtlichen Veränderungen in der Figur des Irren“ (ebd., S. 632) nachzuvollziehen, sollen eher die praktischen Konsequenzen, die sich aus den bisherigen Ausführungen ergeben, in den Vordergrund gestellt werden.

Das vierte Kapitel soll demnach in überzeugender Weise verdeutlichen, wie der Begriff der >>psychischen Erkrankung<< in diesem Sinne zu verflüssigen ist, sodass nicht mehr von einem „Ausdruck einer inhärenten >>Dysfunktionalität<< (einer Pathologie) einer Person oder eines sozialen Systems“ (von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 157) gesprochen werden muss. Somit verweist dieses Kapitel ausdrücklich auf die Möglichkeiten und Perspektiven, die dem systemtheoretisch fundiertem Konstruktivismus als postmoderne Reflexionstheorie inneliegen.

Im weiteren Verlauf soll es darum gehen, den Nutzen von dekonstruktiven (und somit zugleich konstruktiven) Praktiken für Menschen hervorzuheben, die von psychischem Leiden betroffen sind. Im engeren Sinne soll in diesem Kontext ersichtlich gemacht werden, wie dienlich sich diese Praktiken erweisen, um „sich von einschränkenden Daseinsweisen zu trennen“ (White 1992, S. 61).

Ein abschließendes Fazit soll dann reflektieren, ob die vorliegenden Ausführungen aus ihren Bestrebungen danach, „dem Gewohnten die Dimension des Exotischen“ zurückzugeben - also aus ihren dekonstruktiven Vorgehensweisen - schlussendlich doch zu konstruktiven Wegen führen konnten; und zwar konstruktiv in dem Sinne, als dass die angestrebte Verflüssigung des Begriffs der psychischen >>Erkrankung<< uns die Möglichkeit zur Veränderung eröffnet. Und erscheint es doch wesentlich aussichtsreicher, uns diejenigen „Lebens- und Denkweisen“ (ebd., S. 49), nach denen wir leben wollen, „durch die Objektivierung [unserer (Anm.d. Verf.)] … vertrauten Welt deutlicher bewußt“ (ebd.) zu machen und sie dadurch überhaupt erst anderen Lebens- und Denkweisen vorziehen zu können, die bis dahin unser Dasein formten; ja erscheint diese Perspektive auf Veränderung doch wesentlich aussichtsreicher, als aufgrund einer Zuschreibung einer psychischen >>Erkrankung<< in einem Gefühl der Hilf- und Hoffnungslosigkeit zu münden.

Zudem soll bewertet werden, ob sich der systemtheoretisch fundierte Konstruktivismus gemäß dieser Auffassung in der Rolle einer postmodernen Reflexionstheorie als nützlich und gewinnbringend erwiesen hat.

So soll diese Bachelorarbeit ihrem tiefsten Anliegen gerecht werden und bei all den wissenschaftlichen Diskursen über scheinbare Normalität und Pathologien das Wesen des Menschen wieder in den Mittelpunkt des Geschehens rücken.

Denn „im Falle der Psychiatrie haben wir es [eben genau mit diesem (Anm. d. Verf.)] … Wesen Mensch zu tun. Und was der Mensch ist, ist letzten Endes eine metaphysische Frage, für die es keine Beweise gibt“ (Watzlawick 2005, S. 58).

Vielleicht könnte diese Arbeit auch als eine Rückbesinnung auf eine scheinbar verlorengegangene Freiheit zum selbstbestimmten Existenzentwurf verstanden werden. In den Worten Ehalts (2005, S. 11) gesprochen hieße das: „Die Erkenntnis, daß Wirklichkeiten immer Konstruktionen sind, gibt dem Individuum die Möglichkeit, frei zu sein, sich für eine Wirklichkeit zu entscheiden, sich diese selbst auszusuchen“.

2 Beziehungen zwischen konstruktivistischem Denken, Postmoderne und Dekonstruktion

„Konstruktivistische Reflexionen können uns (…) ,die Arroganz [...] nehmen, die aus vermeintlichem Wahrheitsbesitz herrührt' (Schmidt 1987, S. 75). Wahrheit als eine absolute Kategorie, die sich außerhalb unserer subjektiven und sozialen Kontexturen und Kontexte verankern läßt und damit Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, ist aus konstruktivistischer Sicht unmöglich. Der Konstruktivismus dekonstruiert sozusagen als ,wahr' angenommene Aussagen“ (Kleve 2007, S. 90).

Die philosophische Erkenntnistheorie des Konstruktivismus ist eng verwoben mit dem Phänomen des Postmodernismus. Im Grunde ist das eine ohne das andere nicht denkbar. So ist auch die zentrale Praxis der Dekonstruktion als Resultat dessen anzusehen, was im Allgemeinen als konstruktivistische Haltung gegenüber der Welt bezeichnet wird (vgl. White 1992, S. 49).

Um diese Beziehungen zwischen konstruktivistischem Denken, dem Phänomen der Postmoderne und der bereits als „eine bestimmte kritische >>Haltung<< gegenüber jeglichen bestehenden Beschreibungen“ (von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 127) definierten zentralen Praxis der Dekonstruktion verständlich darzulegen, eignet sich eine nähere Betrachtung der einzelnen Phänomene.

Demnach wird Kapitel 2.1 das Phänomen der Selbstreferenz als Kern konstruktivistischen Denkens behandeln.

Auf dieser Grundlage soll in Kapitel 2.2 anschließend das Verhältnis zwischen eben diesem systemtheoretisch fundiertem Konstruktivismus und der Postmoderne in den Fokus gerückt werden. Dafür ist es notwendig, zunächst einmal darzulegen, was genau mit >>postmodern<< gemeint ist, um daraufhin den Umgang des Konstruktivismus mit den Hauptthesen der Postmoderne nachzuvollziehen.

Schließlich soll ein Versuch erfolgen, der Frage nachzugehen, was Dekonstruktion ist und wie dieses vielschichtige Phänomen, das „jeweils ganz verschieden präsentiert“ (ebd.) wird, im Rahmen dieser Bachelorarbeit verstanden und genutzt werden soll.

2.1 Das Phänomen der Selbstreferenz als zentraler Aspekt konstruktivistischen Denkens

„Könnte es sein, daß menschliches Wissen selbst nichts anderes ist als der Versuch, zu bewirken, daß sich die Dinge in schönen Verhältnissen aufeinander beziehen“ (Giambattista Vico 1710, zit. n. Richards & Glaserfeld 1987, S. 192)?

Wir (er)kennen die Welt nur so, wie wir sie sehen. Ihre Absoulutheit bleibt uns verborgen. So ist der Kontruktivismus auch nicht zu verstehen als der Versuch einer Abbildung der absoluten, objektiven Wirklichkeit (vgl. von Glasersfeld 1988, S. 37). Vielmehr das Gegenteil ist der Fall, denn: „Konstruktivisten desillusionieren insbesondere jene Forschenden oder praktisch Handelnden, die davon ausgehen, dass sie sich auf die objektiv, d.h. unabhängig von ihnen existierende Realität beziehen“ (Kleve 2010, S. 17).

Konstruktivistisches Denken verweist demnach ausdrücklich auf ein Phänomen, das als Selbstbezüglichkeit oder Selbstreferenz bezeichnet wird (vgl. ebd.). Diesbezüglich formulierte Heinz von Foerster, der Gründer der Kybenetik zweiter Ordnung, dazumal sehr radikal wirkende Schlussfolgerungen, die im Folgenden in Fritz B. Simons (1997, S. 16) Worten dargelegt werden: „(...) er stellt die Möglichkeit objektiver Erkenntnis ganz generell in Frage. Er zeigt auf, wie der Mensch sich selbst die Objekte, die er da draußen in der Welt außerhalb seiner selbst lokalisiert, konstruiert; und wie er sich selbst, seine Strukturen und Verhaltensweisen dabei stabil hält“.

Die Konsequenzen, die sich aus dieser (neuen) Sicht der Wirklichkeit ergeben, sind vielseitig: Nicht nur, dass der Begriff der Objektivität auf einmal als etwas erscheint, was sich unserer Wahrnehmung entzieht und somit für uns nicht zugänglich ist (vgl. Kleve 2010, S. 18); nämlich als „eine von den beobachtenden Systemen (z.B. der subjektiven Psyche) unabhängige und getrennte Wirklichkeit“ (ebd.).

Auch die Erkenntnis, dass wir als „Organismus keinen kognitiven Zugang zu unserer Umwelt [haben (Anm. d. Verf.)], sondern nur als Beobachter “ (Schmidt 1987, S. 18), ist ihrerseits wegweisend für den systemtheoretisch fundierten Konstruktivismus.

Denn an diese Überlegung anschließend ergibt sich, dass sich nicht nur mit einem Bewusstsein ausgestattete menschliche Beobachter/innen ihre psychische Wirklichkeit selbstreferentiell konstruieren. Auch soziale Systeme oder lebende Zellen müssen sich dem Konstrukt einer systeminternen Differenz bedienen, um Orientierung in ihrer Umwelt zu erlangen. Diese Unterscheidung kann durchaus mit der Subjekt/Objekt- Trennung, die das Bewusstsein vornimmt, verglichen werden (vgl. Kleve 2010, S. 19).

Luhmann (1990, S. 34) beschreibt dieses Phänomen als „System/Umwelt-Differenz“. „Und genau an diesem Punkt unterscheidet sich der moderne systemtheoretische Konstruktivismus von älteren konstruktivistischen Erkenntnistheorien“ (Kleve 2010, S. 19): Selbstreferenz bezeichnet also nicht mehr lediglich Operationen des Bewusstseins, sondern jegliche Operationen von psychischen, sozialen und lebenden Systemen, „die sich selbst auf anderes und dadurch auf sich selbst“ (Luhmann 1986, S. 269) beziehen. So kann Selbstreferenz als „universales Organisationsprinzip“ (Kleve 2010, S. 20) aufgefasst werden, welches die Basis für die Selbstorganisation jeglicher komplexer Systeme bildet.

Denn wenngleich sich die besagten Systemklassen des Psychischen, Sozialen und des Biologischen wechselseitig bedingen; und auch wenn diese - in Hinblick auf ihre „ allgemeine Organisationsweise - nach demselben Modell [der (Anm. d. Verf.)] Autopiese beschrieben werden können“ (ebd., S. 16); so verwirklichen die charakteristischen Komponenten jeder dieser Klassen ihre „ konkrete Organisation [doch (Anm. d. Verf.)] auf eigenständige Weise“ (ebd.).

Und eben dies ist der Grund dafür, dass jegliche Versuche einer reduktionistischen Analyse, die „Funktionen einer Systemebene auf eine andere“ (ebd.) zurückführen wollen, eher dem Untergang geweiht sind.

Um den bisherigen Ausführungen gerecht zu werden, ist darauf hinzuweisen, dass auch der Konstruktivismus selbst dieser Selbstreferenz unterliegt. Das heißt, seine Forderung nach einer Neukonzipierung bestimmter Begriffe „wie >Objekt<, >Wahrheit<, >Realität< oder >Objektivität< … in Richtung der Annahme, dass sich im kognitiven Prozess die Gegenstände nach den mentalen Funktionen richten und nicht umgekehrt “ (Schmidt 2000, S. 16), ist ihrerseits subjektiv bzw. als soziale Konvention zu vestehen.

Somit kann der Konstruktivismus nicht behaupten, dass seine Weltanschauung, nach der „die Realität das Material liefert, aus dem kognitiv und emotional Erfahrungswirklichkeiten produziert (konstruiert) werden“ (ebd.), die einzig richtige und wahre sei (vgl. ebd., S. 18). Denn seinem Verständnis nach „bleiben Fragen nach objektiver Richtigkeit und Wahrheit unbeantwortete Fragen“ (ebd.).

2.2 Zum Verhältnis zwischen Konstruktivismus und Postmoderne

„Unausweichlich konfrontiert uns offensichtlich erst die postmoderne Vielfältigkeit von Werten, Normen, Lebenseinstellungen oder -welten mit der selbstreferentiellen Konstitution der persönlichen und sozialen Wirklichkeiten“, so beginnt Kleve (2010, S. 20) seine Argumentation, Konstruktivismus als Antwort auf postmoderne Probleme zu nutzen. Freilich ein sehr aussichtsreicher Versuch, betrachten wir die Postmoderne als „Verfassung radikaler Pluralität“ (Welsch 1987, S. 4) und den Konstruktivismus als Referent dessen, dass zwar alles genau so sein kann, wie wir es sehen; dass es aber ebenso gut - von anderen Weltansichten oder Standpunkten aus betrachtet - ganz anders sein kann (vgl. Kleve 2010, S. 21).

Bevor nun aber der Konstruktivismus als mögliche Antwort auf postmoderne Problematiken postuliert wird, ist es unumgänglich, sich zunächst dem „vernünftigen Kern des Themas“ der Postmodernen, wie Welsch (1987, S. 1) es formulierte, zuzuwenden.

2.2.1 Die Postmoderne: Ein Eingeständnis an die Pluralität von Wirklichkeiten

>>Postmodern<< - ein Ausdruck, der sich als irreführend erweist. Der Terminus legt nahe, es handle sich um eine Epoche, die der Moderne folgt; doch >>postmodern<< meint keinesfalls eine Zeitbestimmung (vgl. Welsch 1993, S. 35). „>>Postmodern<< bezeichnet einfach einen Gemüts- oder vielmehr einen Geisteszustand“ (Lyotard 1986, zit. n. Welsch 1993, S. 35).

Und eben dieser Zustand wurde nicht erst durch eine angebliche Epochenbeendigung mit dem Namen Moderne ermöglicht; er wurde schon zuvor erreicht, allerdings zeigt sich seine Dominanz erst heutzutage (vgl. ebd.).

Wenn also von >>postmodern<< die Rede ist, „tut man gut daran, … zunächst von der vordergründigen Semantik dieses Ausdrucks selbst abzusehen. (…) Man sollte versuchen, sich auf die Gehalte zu konzentrieren, die - mehr oder minder glücklich - mit diesem Etikett versehen wurden, ohne daß sie auf es angewiesen wären“ (ebd.).

Es gilt, den Aufruf Welschs (ebd.) zu folgen, der da lautet: „Hören Sie also bitte, wenn ich von >>Postmoderne<< spreche, nicht die Proklamation einer neuen Epoche heraus, sondern vor allem die Anführungszeichen mit“! Doch was ist nun das Charakteristische dieser besagten postmodernen Haltung? Und weshalb zeigt sie sich in der heutigen Zeit von so großer Dominanz? Die Beantwortung der ersten Frage wird sogleich Aufschluss über die zweite geben:

So charakterisierte Lyotard die Postmoderne als das Ende der Meta-Erzählungen, die in jedem bisherigen Zeitalter eine oberste Maxime anstrebten und damit Glück und Segen für jedermann versprachen (vgl. ebd., S. 36). So kann auch von dem „Ende der großen Entwürfe“ (von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 124) gesprochen werden, wenn von der >>Postmoderne<< die Rede ist.

Zur Verdeutlichung, was unter >>Meta-Erzählungen<< oder >>großen Entwürfen<< verstanden wird, soll nun eine kurze Reise durch eine Hand voll Epochen mit ihren jeweiligen Leitideen erfolgen:

„Emanzipation durch Wissenschaft in der Aufklärung, Teleologie des Geistes im Idealismus, Befreiung der Menschheit durch die Revolution des Proletariats im Marxismus, Beglückung aller durch Reichtum im Kapitalismus, endgültige Problemlösung durch Informationsmaximierung im Technologischen Zeitalter“ (Welsch 1993, S. 36). >>Postmodern<< meint also, diesen Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr zu schenken und so lässt sich nach postmoderner Auffassung konsequenterweise auch „kein objektiv gültiger Einheitsbericht [mehr (Anm. d. Verf.)] anfertigen, der z.B. allgemeinverbindliche Lebenseinstellungen, Normen, Werte oder Problemlösungsmuster vorgeben könnte“ (Kleve 2010, S. 21).

Im Grunde kann dieser Geisteszustand, der mit dem Namen >>postmodern<< versehen wurde, als eine Art kognitiver Bruch verstanden werden, der sich in der Moderne vollzog. Denn das „Projekt der Moderne“ (Kleve 2007, S. 18) kann vielleicht am besten beschrieben werden „als ein permanentes Ringen um Ordnung, Eindeutigkeit, Rationalisierung, Kontrolle, Klassifizierung und Bestimmung“ (ebd.), welches schließlich in einer Einsicht enden sollte, die als wegweisend für die Postmoderne galt: „nämlich daß der großangelegte Versuch, Ordnung, Eindeutigkeit, Bestimmung oder Lösungen zu produzieren, zugleich Unordnung, Irrationalität, Uneindeutigkeit, Unbestimmbarkeit oder soziale Probleme produziert“ (ebd., S. 18f.).

Und genau an diesem Punkt angekommen, lässt sich die Frage beantworten, warum sich die postmoderne Haltung erst in der heutigen Zeit von so großer Dominanz zeigt. Es ist der Befund, dass „sich beispielweise vieles, was wir einst für vernünftig gehalten hatten, zunehmend als irrational [erweist (Anm. d. Verf.)]“ (Welsch 1990, S. 195).

Und eben dieser Befund, so stellt Welsch (ebd.) fest, lässt sich heutzutage „alltäglich den Zeitungen entnehmen“. Die Grenzen dessen, was im menschlichen Ermessen liegt, werden uns schwarz auf weiß aufgezeigt: Ganz gleich wie rational ein Plan sein mag oder wie präzise eine Vorgehensweise erarbeitet wurde (vgl. Kleve 2007, S. 19); sie scheinen „mit ihren Gegenteilen, den Diffusionen, dem Schmutz, dem Abfall, der Irrationalität untrennbar verbunden zu sein“ (ebd.).

So lässt sich der „vernünftige Kern des Themas“ (Welsch 1987, S. 1), dem mit Hilfe dieser Ausführungen nachgegangen werden soll, vielleicht am ehesten wie folgt beschreiben: „Die Postmoderne beginnt dort, wo das Ganze aufhört“ (ebd., S. 39).

Es wird auch von einer „Verfassung radikaler Pluralität“ (ebd., S. 4) gesprochen; radikal, da die postmoderne Pluralität sich nicht bloß auf ein „Binnenphänomen innerhalb eines Gesamthorizonts“, wie Welsch (ebd.) es formulierte, konzentriert. Vielmehr wird die Existenz des einen Gesamthorizonts in Frage gestellt, sodass sich anstatt dessen „eine Vielheit der Horizonte“ (ebd.) durchsetzt.

Demnach meint >>postmodern<< als Verfassung radikaler Pluralität, in die Tiefe zu gehen. „Sie geht an die Substanz, weil an die Wurzeln“ (ebd.) und verweist somit in radikaler Weise auf eine Vielheit, die in ihrem Wesen von basaler Bedeutung ist.

Und da diese Pluralität mittlerweile zu einer allgemeinen Grundverfassung geworden ist, die unserer aller Lebenswirklichkeiten beeinflusst und bestimmt, so verändert sich das gesamte (gesellschaftliche) Spiel (vgl. ebd., S. 5) - und zwar in einer zutiefst positiven Vision: Denn die Verabschiedung von den großen Entwürfen wird nicht länger als schmerzhafter Verlust verspürt; sie wird als ein Zugewinn betrachtet, sodass der bereits erwähnte kognitive Bruch mit einer emotiven Umstellung einhergeht (vgl. Welsch 1993, S. 37). Eben diese „Bejahung der Vielheit“ (ebd.) ist es, die sich als „wirklich neuartig“ (ebd.) erweist.

Die >>Postmoderne<< vertritt also eine anti-totalitäre Position. Sie spricht sich - „auf Grund ihrer Erfahrung des Rechts des Verschiedenen und auf Grund ihrer Einsicht in den Mechanismus seiner Verkennung“ (Welsch 1987, S. 5) - offensiv für Vielheit aus, indem sie eben diese „in ihrer Legitimität und Eigenart zu sichern und zu entfalten sucht“ (ebd., S. 39).

Vornehmlich diese Pluralität gilt als der gemeinsame Nenner, den postmoderne Phänomene in ganz verschiedenen Bereichen aufweisen: Ob nun Literatur, Architektur, Kunst, Politik oder Ökonomie; postmoderne Phänomene erweisen sich diesbezüglich in geradezu eklatanter Art und Weise als kongruent (vgl. ebd., S. 5f.).

Zu guter letzt soll noch einmal Bezug genommen werden auf die anfänglich formulierte Terminus-Skepsis. Dort hieß es: „>>Postmodern<< - ein Ausdruck, der sich als irreführend erweist. Der Terminus legt nahe, es handle sich um eine Epoche, die der Moderne folgt; doch >>postmodern<< meint keinesfalls eine Zeitbestimmung (vgl. Welsch 1993, S. 35)“1.

Wie bereits ersichtlich, ist es wohl das größte Missverständnis, die Postmoderne als das aufzufassen, „was ihr Name suggeriert … : [als (Anm. d. Verf.)] eine Trans- und Anti-Moderne“ (Welsch 1987, S. 6). Denn für die Pluralität, die ihren Kern ausmacht, wurde bereits in der Moderne (des 20. Jahrhunderts) geworben. In der Postmoderne wird nun dieser Wunsch Wirklichkeit und somit ist sie in ihrer Erscheinung keinesfalls antimodern (vgl. ebd.); vielmehr ist sie „als die exoterische Einlösungsform der einst esoterischen Moderne des 20. Jahrhunderts zu begreifen“ (ebd.). Wir leben also in einer postmodern geformten Moderne.

Aus dieser Auffassung resultiert schließlich folgende Einsicht: Post-modern - in engem Sinne - ist die heutige postmoderne Moderne lediglich gegenüber der Moderne im Sinn der Neuzeit, deren Grundobsession der Einheitsträume nun verabschiedet wird. Daher kann einerseits formuliert werden, dass die Postmoderne in einem strikten Sinn nach-neuzeitlich ist; andererseits - bezogen auf die Moderne des 20. Jahrhunderts - kann sie als radikal-modern verstanden werden (vgl. ebd.).

2.2.2 Vom Umgang des Konstruktivismus mit dem Verlust einer objektiven Wahrheit

„Licht ist immer Eigenlicht. Das alte Sonnen-Modell - die eine Sonne für alles und über allem - gilt nicht mehr, es hat sich als unzutreffend erwiesen. Wenn man diese Erfahrung nicht verdrängt, sondern wirksam werden läßt, gerät man in die 'Postmoderne'. Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural“ (Welsch 1987, S. 5).

Postmodernes Denken offenbart etwas, was zugleich als ihr Kernproblem wahrgenommen wird: Den „Verlust einer objektiven Wahrheit“ (Gergen 1990, S. 191). Wir wurden der Illusion beraubt, die Gesellschaft, so wie sie wirklich ist, in ihrer Gesamtheit objektiv erfassen oder auch nur beschreiben zu können. In einer Gesellschaft wie der heutigen, in der Komplexität und Pluralität zur allgemeinen Grundverfassung geworden sind, wird zunehmend deutlich (vgl. Kleve 2010, S. 21), „dass jedes psychische oder soziale System nicht umhin kann, Komplexität zu reduzieren; was nichts anderes heißt, als anhand systemspezifischer Kriterien eine operationsfähige, sozusagen überschaubare Weltperspektive bzw. Wirklichkeit zu konstruieren“ (ebd.).

Es ist die Grundaussage der Postmoderne, die sich hier eindrücklich zeigt: Das „unüberschreitbare Recht hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster“ (Welsch 1987, S. 5), die sich häufig als sehr gegensätzlich präsentieren und trotz dessen ihre Berechtigung haben, nebeneinander zu stehen; denn sie vermitteln „alle ein für sich passendes Bild von der Wirklichkeit“ (Kleve 2010, S. 21).

Soll nun eine Möglichkeit gefunden werden, mit diesem >>Problem<< der radikalen Pluralität umzugehen, so erweist sich konstruktivistisches Denken als äußerst hilfreich. Kleve (ebd.) bezeichnet den Konstruktivismus als Antwort auf das postmoderne Kernproblem des Verlusts einer objektiven Wahrheit, indem er [der Konstruktivismus (Anm. d. Verf.)] „auf dieses Problem reagiert, indem er referiert, dass alles so sein kann, wie wir es sehen, aber dennoch … auch andere Standpunkte, Meinungen, Modelle oder Weltbilder möglich“ sind.

Demnach erscheinen die Gehalte unserer psychischen und sozialen Wirklichkeiten, die sich aus unseren Beobachtungen oder Beschreibungen zusammensetzen, als kontingent.

Unter Kontingenz wird die Möglichkeit und gleichzeitige Nichtnotwendigkeit[2 ] einer Aussage verstanden; und genau dort liegt die Stärke des Konstruktivismus. Im Sinne der Kontingenz „bezeichnet er Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen“ (ebd.); er zeigt sich als Theorie, die der Reflexion der Praxis dient; er nimmt das Phänomen der Selbstreferenz in seinen Kern auf und regt dazu an, „verstärkt sich selbst zu beobachten und eigene Theorien oder Praktiken kritisch zu hinterfragen, die zu dem Glauben verführen, die Gesellschaft bzw. die Psyche des Menschen objektiv erfassen zu können“ (ebd. S. 22).

In diesem Sinne offenbart sich der systemtheoretisch fundierte Konstruktivismus als eine postmoderne Reflexionstheorie, die sich hinsichtlich der hier behandelten Thematik als äußerst hilfreich und gewinnbringend herausstellt: Denn auch die Wahrnehmung dessen, was als psychisch >>krank<< gilt, unterliegt den Prozessen unserer psychischen und sozialen Konstruktionen von Wirklichkeit(en) und zeigt sich demnach als kontingent.

Wenn also davon ausgegangen werden kann, dass eine psychische >>Erkrankung<< lediglich aufgrund einer bestimmten Perspektiveinnahme zur Welt als (soziales) Konstrukt entsteht, so ist - unter einer anderen Perspektive - auch das Gegenteil möglich. Das hieße weiterhin, dass psychische >>Erkrankungen<< keineswegs als gegeben betrachtet werden müssten, sondern dass auch dieser Begriff zu verflüssigen wäre.

Diese hier bereits angerissenen Möglichkeiten und Perspektiven des systemtheoretisch fundierten Konstruktivismus als postmoderne Reflexionstheorie in Hinblick auf die übergeordnete Thematik dieser Bachelorarbeit sollen allerdings erst in Kapitel vier vertieft werden. Zunächst lohnt es sich jedoch, dem Begriff bzw. der zentralen Praxis der Dekonstruktion, die sich bereits in die letzten Abschnitte dieses Kapitels eingeschlichen hat, stärkere Aufmerksamkeit zu schenken.

2.3 Dekonstruktion: Der Versuch einer Definition

„Dekonstruktion ist aufregend - die letzte geistige Spannung, die uns noch geblieben ist. Als wenn man den Ast absägt, auf dem man sitzt“ (Zapp 1996, zit. n. Sutherland 2012, S. 124).

In Hinblick auf den Titel dieser Arbeit „Eine dekonstruktive Auseinandersetzung mit dem Begriff der psychischen >>Erkrankung<< in Anlehnung an Foucault“ ist es unumgänglich, sich auf eine Diskussion über Dekonstruktion einzulassen.

Diesem Vorhaben soll ein Eingeständnis vorausgeschickt werden: Das Verfahren der Dekonstruktion soll freilich mit dem ihm eng verbundenen Namen des französischen Philosophen Jacques Derrida in Erscheinung treten; allerdings wird es im weiteren Verlauf - vornehmlich in Kapitel fünf - nicht um eine strikte Verwendung dieses Begriffs im Sinne Derridas gehen.

Vielmehr soll - in Anlehnung an White (vgl. 1992, S. 48) - eine eher lockere Definition dazu dienen, die praktischen Konsequenzen, die sich aus diesem (bereits „als eine bestimmte kritische >>Haltung<< gegenüber jeglichen bestehenden Beschreibungen“ (von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 127) umschriebenen) Verfahren ergeben, zu verdeutlichen und greifbar zu machen.

Doch versuchen wir uns zunächst einmal auf die ursprünglichen Aspekte zu konzentrieren, die die Dekonstruktion im Sinn hatte. Demnach war es zuerst die Architektur, die der Dekonstruktion zum Opfer fiel:

„Diese ist das künstlich zusammengefügte 'Ganze', dessen systemische Einheit nur in unserer Vorstellung besteht und dessen Teile man wieder dekomponieren oder dekonstruieren muß, um seine Künstlichkeit zu durchschauen, hinter der keine 'tiefere Wirklichkeit' liegt“ (Jensen 1999, S. 131).

Doch betrachten wir das philosophische Gesamtwerk Derridas, so wird eines deutlich: Dekonstruktion lässt sich nicht festschreiben; sie ist weder auf ein Anwendungsgebiet (wie beispielsweise das der Architektur) beschränkt noch ist sie als eine explizite Methode zu verstehen. Von Schlippe und Schweitzer (2013, S. 127) formulierten ihr Anliegen wie folgt:

„Der Praktiker der Dekonstruktion arbeitet zwar innerhalb eines Begriffssystems, aber mit der Absicht, es aufzubrechen, mit dem Sinn zu spielen, indem immer wieder neue Verbindungen, Korrelationen und Kontexte bereitgestellt werden. Solange man noch auf der Seite der Vernunft steht, hat noch nicht wirklich eine Dekonstruktion stattgefunden“.

So ist Dekonstruktion vielleicht am ehesten als ein Verfahren aufzufassen, welches die Intention verfolgt, „die systemische ... und technische Einheit von Sinnstrukturen“ (Norris & Benjamin 1990, S. 7) anzugreifen. Unter einer Sinnstruktur wird im Allgemeinen eine artifiziell erzeugte Einheit verstanden; bestimmte Elemente, die im Bereich der Kommunikation aus kontingenten - sprich zufälligen - Gründen miteinander in Verbindung gebracht wurden, vereinen sich also unter dem Deckmantel einer Sinnstruktur (vgl. ebd.). Somit erfolgt eine Dekonstruktion, sobald die betreffende Struktur als etwas von Menschenhand Geschaffenes[3 ] sichtbar gemacht wird; es geht darum, „die kontingente, historisch zufällige und insofern künstliche Entwicklung [des Artefakts (Anm. d. Verf.)] bewußt“ (ebd., S. 8) zu machen.

In diesem Sinne „zielt die Dekonstruktion auf eine Hinterfragung platonischer und aristotelischer Logikvorstellungen ab, wie sie sich insbesondere in der Sprachphilosophie, der Seinsmetaphysik (Ontologie) und dem wissenschaftlichen Positivismus manifestiert haben“ (Erlhoff & Marshall 2008, S. 86).

Das heißt, das Denken wird „vom Prinzip der Zweiwertigkeit befreit“ (ebd.): Die gegensätzliche Relation sprachlicher Gebilde (wie „Buchstäblichkeit / Bildhaftigkeit, Wissenschaft / Literatur, Objektsprache / Metasprache, innen / außen, männlich / weiblich, Geist / Körper, Kultur / Natur, Subjekt / Objekt, Signifikat / Signifikant … ) wird außer Kraft gesetzt, weil sie [die dekonstruktiven Lesarten (Anm. d. Verf.)] nachweisen, daß bestimmte Regelmäßigkeiten, die einen der beiden Begriffe und damit die unterscheidende Grenze zum anderen Begriff kennzeichnen, gleichermaßen für den anderen gelten“ (Pflugmacher 2009, o.S.).

Insofern versteht sich die Dekonstruktion als philosophische Strömung, die sich durch „eine fundamentale Ideologie- und Kulturkritik“ (ebd.) auszeichnet: Denn solch eben beschriebene „binäre Oppositionen“ (ebd.) beeinflussen unser Denken und unsere Wahrnehmungen nicht nur dahingehend, dass wir in unserer Vorstellung eine unversöhnliche Grenze oder Differenz zwischen den betreffenden beiden Einheiten konstituieren. Auch wird einem der beiden Begriffe meist mehr Beachtung geschenkt, sodass ihm eine höhere Geltung und größere Bedeutung zukommt als dem anderen (vgl. ebd.).

Demnach kann die grundlegende Intention der - „als Schlagwort für eine ganze Reihe von Strömungen in Philosophie, Architektur, Kunst und Literatur [dienenden (Anm. d. Verf.)]“ (ebd.) - Dekonstruktion vielleicht am treffendsten wie folgt formuliert werden:

Da sie [die Dekonstruktion (Anm. d. Verf.)] „grundsätzlich davon ausgeht, dass die Thematisierung bestimmter Theorien, Sachverhalte, Darstellungen usw. andere zugleich ausgrenzt …, achtet der Dekonstruktivist nicht nur auf explizit mitgeteilte Informationen, sondern vor allem darauf, was bei Infomationen verschwiegen und ausgeklammert wird und welche Strategien und Weltanschauungen dahinter stecken“ (Ryklin 2004, o.S.).

In den Worten Derridas gesprochen geht es in der Dekonstruktion also nicht um eine bereits erschaffene Differenz, „sondern um eine reine Bewegung, welche den Unterschied hervorbringt“ (Derrida 2004, o.S.). Dekonstruktion darf in diesem Sinne allerdings nicht mit Begriffen wie >>Auflösen<< oder >>Zerstören<< gleichgesetzt werden; es geht dabei eher um das „Analysieren der verfestigten Strukturen, in denen wir denken“ (ebd.). Infolgedessen handelt es sich bei der Dekonstruktion nicht einfach um eine Philosophie; auch Worte wie >>Disziplin<< oder >>Methode<< erweisen sich ihrer als unwürdig.

Was bleibt, ist „eine gewisse Übereinstimmung in der Art, wie bestimmte Fragen in dekonstruktivem Stil gestellt werden“ (ebd.), indem sie Gegensätzlichkeiten samt ihren hierarchischen Verhältnissen aufzudecken versuchen, da zumeist einer der beiden oppositionellen Begriffe verschleiert oder sogar unterdrückt wird (vgl. Ryklin 2004, o.S.). Auch die Entlarvung gewisser Muster, „die in einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Kontext als ''wahr'' gelten“ (ebd.), erweist sich in diesem Zuge als Kern dekonstruktiven Denkens.

Sollte nun abschließend eine knappe Beschreibung der Dekonstruktion gegeben werden, „würde ich sagen, dass sie das Denken über den Ursprung und die Grenzen der die gesamte Philosophie dominierende Frage ist, nämlich der Frage: ''Was ist das?'' “ (Derrida 2004, o.S.).

3 Der Wahnsinn existiert nur in einer Gesellschaft

„Den Wahnsinn findet man nicht im Naturzustand. Der Wahnsinn existiert nur in einer Gesellschaft, er existiert nicht außerhalb der Formen der Empfindsamkeit, die ihn isolieren, und der Formen einer Zurückweisung, die ihn ausschließen oder gefangennehmen“ (Foucault 2001, S. 236).

Wir belächeln den Wahnsinn und strafen ihn Lügen; wir reduzieren ihn „auf ein natürliches, an die Wahrheit der Welt gebundenes Phänomen“ (ebd., S. 237). Wir vergessen, dass der Wahnsinn und die Unvernunft „als eine der faktischen Möglichkeiten des Menschseins“ (Sarasin 2012, S. 19) in Erscheinung treten können - denn die Vernunft hat diese Möglichkeit „zum Schweigen verurteilt“ (ebd.). Insbesondere die Ende des 18. Jahrhunderts datierte Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit ist Foucault nach verantwortlich dafür, dass dieses Schweigen einen endgültigen Charakter trägt; der Wahnsinn ist nun nichts weiter als eine Krankheit. Und diese Krankheit - der Wahnsinn - wird in einer Gesellschaft wie der unsrigen abgelehnt und ausgeschlossen; und dies offenbar in ganz besonderem Maße (vgl. Foucault 2003, S. 611).

Vielleicht kann diese Erkenntnis als Ausgangspunkt für Foucaults Interesse am Wahnsinn betrachtet werden: Denn anders als in der Tradition der europäischen Soziologie oder auch in der Tradition der Geistesgeschichte, „wie man sie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Westeuropa betrieb [und in der (Anm. d. Verf.)] man sich hauptsächlich für positive Phänomene interessierte, (…) um herauszufinden, welche Werte in einer Gesellschaft anerkannt wurden“ (ebd., S. 609), interessierte sich Foucault vielmehr für das umgekehrte Phänomen.

Anders formuliert: Anstatt „eine Gesellschaft oder eine Kultur … [weiterhin (Anm. d. Verf.)] über deren positiven Inhalt zu definieren“ (ebd.), trat die negative Struktur einer Gesellschaft in den Fokus des Interesses - und damit der Wahnsinn.

Wie bereits in der Einleitung formuliert, sind Foucaults Gedankengänge in ihrem Wesen dekonstruktivistisch; sie verfremden das uns so Vetraute; sie befreien sich von dem scheinbar Wahren und suchen nach anderen Spielregeln.

Und um dieses Ziel zu erreichen, diente ihm eine Art >>archäologische<< Methode (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2013, S. 126):

„Foucault wollte zeigen, dass der Wahnsinn selbst, unter dem Regime der strafenden Vernunft zuerst im so genannten >>klassischen Zeitalter<< - von Louis XIV. bis zur Französischen Revolution -, dann durch die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts und schließlich auch durch die Psychoanalyse Freuds >>entfremdet<< wurde. Foucault spielt hier mit den Begriffen aliéné und aliénation , was ebenso >>entfremdet<< wie >>Wahnsinn<< bedeutet:

Der Wahnsinn wurde, so Foucault, entfremdet - und damit als aliénation auch erst hergestellt - durch eine >>vergessene<<, d.h. verdrängte Praxis der Trennung von Vernunft und Unvernunft und der Einsperrung der Wahnsinnigen in Asyle, was, so Foucaults ikonoklastische These, für die Psychologie und für die Psychoanalyse erst die Bedingung ihrer Möglichkeit geschaffen habe“ (Sarasin 2012, S. 20).

In geradezu koketter Art und Weise erteilt Foucault mittels seiner historischen Arbeit „über die wechselvolle Geschichte des Wahnsinns“ (ebd., S. 18) der Psychologie eine Abrechnung. Nicht nur, dass er sie dem scheinbar gesicherten Standpunkt beraubt hat, von dem aus die Psychologie in ihrer Form als positive Wissenschaft doch seither davon ausgegangen ist, dass sie ihre Elemente - also „den Wahnsinn, psychische Krankheiten, Störungen des Bewusstseins, ja das Bewusstsein überhaupt“ (ebd., S. 18f.) - dekontextualisiert, also die gesellschaftliche Bedingtheit von Geisteskrankheiten ablehnend, „als zeitlose Objektivitäten der menschlichen Natur“ (ebd., S. 19) beschreiben könnte.

Auch stellte er fest, dass der Versuch einer Be- oder Festschreibung des Irren, der sich mittlerweile nun über 150 Jahre erstreckt, sein Ziel verfehlte; denn was geschrieben wurde ist keineswegs eine Geschichte des Irren, sondern vielmehr eine Geschichte dessen, was das Auftreten einer Psychologie überhaupt erst möglich machte (vgl. ebd, S. 18).

So widmen wir uns nun Foucaults Wissenschaftsgeschichte, die sich „als eine Rationalitätsgeschichte“ (Fisch 2011, S. 141) erkennen lässt, da sie „die Konstituierung des Wahnsinns spiegelbildlich zur Konstituierung der Vernunft verfolgt“ (Foucault 1985, zit. n. ebd.). Zudem wird sie die Figur des Wahnsinnigen herausstellen als eine der letzten Objekte, die bis heute einem gesellschaftlichen Ausschluss unterliegen (vgl. ebd.).

3.1 Die Geschichte von der ethnologischen Ausschließung des Irren

„Seine [Foucaults (Anm. d. Verf.)] Geschichte des Wahnsinns ist ,eine Geschichte des Anderen, dessen, was für eine Zivilisation gleichzeitig innerhalb und außerhalb steht, also auszuschließen ist, aber indem man es einschließt' (Foucault 2003, S. 27). Die Geschichte des Wahnsinns ist eine Geschichte der Vernunft, die ihren Gegenstand über dessen Anderes zu fassen sucht“ (Fisch 2011, S. 142).

Soll eine Geschichte des Wahnsinns geschrieben werden, so muss mittels einer historischen Analyse den verschiedenen Definitionen desselben - aus bereits vergangenen Zeitaltern bis hin zu jener der aktuellen Epoche - nachgegangen werden (vgl. ebd.). Das Werk Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft (1961), welches vornehmlich als Grundlage für dieses Vorhaben dient, verfolgt exakt diese Vorgehensweise. Ziel dessen ist es, aufzuzeigen, „dass es in allen Gesellschaften einen allgemeinen Status des Irren gibt, dessen Äußerungsformen in den europäischen Gesellschaften des Mittelalters, des 17. und 18., aber auch des 19. und 20. Jahrhunderts anzutreffen sind“ (Foucault 2003, S. 614).

Zwar wird Kapitel 3.2 noch auf gewisse Statusveränderungen des Irren hinweisen, allerdings handelt es sich bei diesen lediglich um Veränderungen, die den eigentlichen Kern der Sache kaum - wenn nicht sogar überhaupt nicht - berühren (vgl. ebd).

So stellt sich zunächst die Frage, worin denn nun dieser als ethnologisch allgemein bezeichneter Status besteht. Woran lässt er sich festmachen? Foucault (vgl. ebd.) nach lässt sich diesbezüglich Folgendes formulieren: Da es keine Gesellschaft ohne Regeln gibt, gibt es folgerichtig auch keine Gesellschaft, die ihrerseits ohne ein bestimmtes System von Zwängen auskommen würde. Und dort, wo eine Gesellschaft Zwänge auferlegt, schließt sie automatisch gewisse Dinge aus. Somit kann „eine Gesellschaft nur [dann (Anm. d. Verf.)] als Gesellschaft funktionieren, wenn sie eine Reihe von Pflichten definiert, aus deren Bereich oder System bestimmte Menschen, Verhaltensweisen, Worte, Einstellungen oder Charaktereigenschaften herausfallen. Es kann keine Gesellschaft ohne Rand geben, denn jede Gesellschaft grenzt sich so von der Natur ab, dass ein Rest bleibt, ein Residuum, etwas, das nicht zu ihr gehört. Und der Irre steht stets an diesen notwendigen, unerlässlichen Rändern der Gesellschaft“ (ebd.).

In dieser Hinsicht erweist sich die Geschichte des Wahnsinns als eine „Geschichte der Grenzen“ (Foucault 1969, zit. n. Brandmeyer 2001, S. 40). Denn es ist nicht das Objekt, welches den Ursprung bildet, sondern „die Zäsur, welche die Distanz zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft herstellt“ (ebd., S. 41).

Die Geschichte der Grenzen geht also nicht davon aus, dass der Wahnsinn als von der Vernunft abgetrenntes Objekt schon immer existierte; sie sucht den Ursprung nicht nach den Regeln der Vernunft, denn am Anfang steht für Foucault weder die Vernunft noch ihr Gegenteil. Da eben diese Elemente erst durch einen Trennungsprozess hervortreten, ist es gerade dieser Rückgriff auf die Grenzziehung selbst, die dieser Geschichte die Rekonstruierung der Objektbildung ermöglicht (vgl. ebd., S. 41ff.). Auf Grundlage dieser Erkenntnis kann die >>Geisteskrankheit<< nicht länger „als ein pathologisches Faktum respektiert“ (ebd., S. 43) werden. Anstatt dessen tritt der Ausschluss als „initialer Prozeß der Ojektbildung“ (ebd.) in den Fokus des Interesses.

Unter diesem Blickpunkt erscheint die (Geistes-)Krankheit nicht mehr als Ausdruck einer (kranken) Gesellschaft; sie ist in diesem Kontext nicht mehr zu verstehen als „die Erscheinung eines tieferliegenden Sinns, auf den zurückzugehen wäre, um ihre Realität zu ermitteln“ (ebd. S. 44), sondern als Effekt eines Ausschließungsprozesses. Und eben diesem „verdankt sich die Realität einer Krankheit wie auch die Identität einer Kultur, die aus der Trennung von Wahnsinn und Vernunft hervorgeht“ (ebd.).

[...]


1 Zitiert nach den eigenen Ausführungen auf S. 12

2 Siehe Duden unter Kontingenz

3 Siehe Duden unter Artefakt

Ende der Leseprobe aus 61 Seiten

Details

Titel
Eine dekonstruktive Auseinandersetzung mit dem Begriff der psychischen "Erkrankung" in Anlehnung an Foucault
Untertitel
Von den Perspektiven des systemtheoretisch fundierten Konstruktivismus als postmoderne Reflexionstheorie
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
61
Katalognummer
V947879
ISBN (eBook)
9783346284563
ISBN (Buch)
9783346284570
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Systemische Therapie; Konstruktivismus; Dekonstruktion als Lösungsorientierung
Arbeit zitieren
Hannah Horcht (Autor:in), 2014, Eine dekonstruktive Auseinandersetzung mit dem Begriff der psychischen "Erkrankung" in Anlehnung an Foucault, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/947879

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Eine dekonstruktive Auseinandersetzung mit dem Begriff der psychischen "Erkrankung" in Anlehnung an Foucault



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden