Heimat
- das deutsche Wort "Heimat" hat viele Bedeutungen, wird in anderen Sprachen benutzt; die Italiener z.B. sagen "patria", wollen sie aber die ganzen Bedeutungen des deutschen Wortes ausdrücken, sagen sie "Heimat" (wie die Franzosen "le Lied" oder die Amerikaner "the butterbrot" sagen)
- Das Wort war im Laufe der Zeit vielen Wandlungen unterworfen. Es wurde verzerrt, mißbraucht, dann wieder verdrängt. Der Begriffssinn von Worten wie Seele, Sentimentalität, Nostalgie und Treue floß ein.
- Das Wort "Heimat" muß immer wieder untersucht werden, da sich die Bedeutungen ständig verändern/verändert haben.
- "Heimat" ist ein nüchternes Wort und ein poetisches Wort
"Heimat" als nüchternes Wort
- wurde von Polizei, Bürgermeisteramt, staatlichen Hoheitsdienern und Notaren benutzt
- Bedeutungen: Geburts- und Wohnort, Herkunftsland, elterliches Haus; Erbrecht: der Älteste übernahm das Gut, die anderen Geschwister (oder auch Mägde und Knechte (Dienende), Untermieter) wurden "heimat-los", der Erbe blieb "auf der Heimat"
- kein Begriff der Idylle, mehr rauhe Wirklichkeit, Amtsstuben-Realität; "Heimat" zu haben bedeutete auch Privilegierung
- "Heimat" für die Kirche: "himmlische Heimat" - Heimat für alle, auch die auf der Welt heimatlosen (Besitzlosen)
- spätere Bedeutungen - zur Zeit der Industrialisierung, Verstädterung, Vermassung: Heimat als "Gestern", wo die Welt noch in Ordnung war; Provinzialität im Gegensatz zur Großstadt
- als Reaktion zur Aufklärung und des Umdenkens "Heimat" als Rücknahme der Aufklärung, Absage an den Kosmopolitismus von Weimar, gegen die moderne Zivilisation; ein Reich, wo die alte Ordnung noch garantiert war: der Herr gilt mehr als der Knecht, der Mann mehr als die Frau
"Heimat" als poetisches Wort
- Schriftsteller, die in der Welt herumreisten, oder aber auch exiliert bzw. vertrieben wurden, beschreiben ihre Heimat bzw. die Heimat, deren sie beraubt wurden
- teilweise sentimentales Klischee
- Exilanten/Vetriebene beschreiben ihre verlorene Heimat, ihr Heimweh
- wer umherzieht bzw. "in die Fremde" geht, bekommt das richtige Maß für die Dinge und wird sich seiner Heimat bewußt, die er dann genauer analysiert und beschreibt (oft auch weil er sie vermißt)
- Hölderlin in einem Brief an Böhlendorff, Dezember 1801 (zitiert nach BIENEK): "Aber das Eigene muß so gut gelernet seyn wie das Fremde."
Region, Regionalismus
- für viele Schriftsteller ist ihre "Heimat", die sie beschreiben, in erster Hinsicht eine geographische Region, die sich auch nur auf den Umkreis einer Stadt erstrecken kann
- "Regionalismus" entspringt der politischen, nicht der Literaturgeschichte
- seit dem 19, Jahrhundert autonomistische Bewegungen in verschiedenen Regionen europäischer Länder, die unter der zunehmenden Zentralisierung litten
- diese Bewegungen wollten regionale Kultur und Literatur erhalten und fördern; auch benutzten sie sie als literarisch-publizistisches Mittel
- so entstand aus dem politischen Regionalismus auch der literarische Regionalismus
- Regionalität » Ortsbezogenheit; Lebenszusammenhänge, Alltagspraxis sind immer auch regional
- politisch: Kampf der Arbeiter um ihren Arbeitsplatz (fundamentale Heimatbedingung); Anti-Kernkraft-Bewegung (wird hauptsächlich von den regional Betroffenen ausgeübt/getragen)
- literarisch: Darstellung in Heimat-Heftromanen (millionenfach gelesen), Komödienstadel, Ohnesorg-Theater, Mundart-Hörspiele; Fernsehspiele, welche die Darstellung der Provinz in den Vordergrund stellen
Provinz, Provinzialismus, Provinzliteratur
- Um 1900 etablierte sich die "Heimatliteratur". Diese beschrieb die "kleine Welt", welche symbolisch die ganze Welt widerspiegeln sollte; schnell mischte sich die Ideologie der "heilen Welt" dazu à Widerspruch: "heile Welt" « ganze Welt
- später faschistische Blut-und-Boden-Poesie (diskreditierte den Begriff der "Heimatliteratur")
- heute "literarischer Regionalismus": Thematisierung von Provinz; aber kein Spiegelbild der ganzen Welt mehr, sondern mehr Abstraktion zum Modell
- Schauplätze in der Provinz - Dorf und Kleinstadt als kritische Gesellschaftspiegel oder als Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft (evtl. Darstellung einer besseren Welt wie in der Gattung der Idylle)
- Darstellung der Provinz als Teil des gesellschaftlichen Gesamtsystems, wie z.B. in Romanen, wo der Schauplatz zwischen Provinz und Metropole wechselt (z.B. Johnsons "Jahrestage", wo die Erzählung zwischen dem mecklenburgischen Provinzstädtchen Jerichow und der Weltstadt New York wechselt)
- Wilhelm Rabe (frei zitiert): Die großen Deutschen kommen alle aus Nippenburg und Bumsdorf.
Literaturliste:
BIENEK, Horst: "Vorbemerkung des Herausgebers. Warum dieses Buch?" in
BIENEK, Horst (Hrsg.): "Heimat: neue Erkundungen eines alten Themas"; Hanser, München 1985
JENS, Walter: "Nachdenken über Heimat, Fremde und Zuhause im Spiegel deutscher Poesie" in ebenda, S. 14-26
MECKLENBURG, Norbert: "Die grünen Inseln: zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes"; Iudicum-Verlag, München 1987
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet "Heimat" im deutschen Kontext?
Das deutsche Wort "Heimat" hat vielfältige Bedeutungen und wird in anderen Sprachen wie Italienisch ("patria") übernommen, um seine ganze Bedeutung auszudrücken. Der Begriff hat sich im Laufe der Zeit gewandelt und beinhaltet Aspekte wie Seele, Sentimentalität, Nostalgie und Treue. "Heimat" ist sowohl ein nüchternes als auch ein poetisches Wort, dessen Bedeutung stetig untersucht werden muss.
Wie wurde "Heimat" als "nüchternes Wort" verwendet?
Als "nüchternes Wort" wurde "Heimat" von Behörden wie Polizei, Bürgermeisterämtern und Notaren verwendet. Es bezog sich auf Geburts- und Wohnort, Herkunftsland und das elterliche Haus. Im Erbrecht bedeutete "auf der Heimat" zu bleiben, das Gut zu erben, während andere Familienmitglieder "heimatlos" wurden. Es war weniger ein idyllischer Begriff als vielmehr eine Amtsstuben-Realität. Die Kirche verstand "Heimat" als "himmlische Heimat" für alle, auch die Besitzlosen.
Wie veränderte sich die Bedeutung von "Heimat" während der Industrialisierung und Verstädterung?
Mit der Industrialisierung, Verstädterung und Vermassung wurde "Heimat" oft als "Gestern" idealisiert, eine Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war. Sie repräsentierte Provinzialität im Gegensatz zur Großstadt und diente als Reaktion auf die Aufklärung und den Kosmopolitismus. "Heimat" wurde als ein Reich gesehen, in dem die alte Ordnung herrschte.
Wie wurde "Heimat" als "poetisches Wort" verwendet?
Schriftsteller, die reisten, exiliert oder vertrieben wurden, beschrieben ihre Heimat oder die Heimat, deren sie beraubt wurden. Diese Beschreibungen beinhalteten oft sentimentale Klischees und Heimweh. Das Verlassen der Heimat ermöglichte eine genauere Analyse und Beschreibung der Heimat, oft aus dem Gefühl des Vermissens heraus.
Was bedeutet "Regionalismus" im Kontext von "Heimat"?
Für viele Schriftsteller ist die beschriebene "Heimat" eine geographische Region, die sich auf den Umkreis einer Stadt erstrecken kann. "Regionalismus" entspringt der politischen Geschichte und bezieht sich auf autonomistische Bewegungen im 19. Jahrhundert, die unter der Zentralisierung litten und regionale Kultur und Literatur erhalten wollten. Politisch kann dies der Kampf von Arbeitern um ihren Arbeitsplatz oder die Anti-Kernkraft-Bewegung sein. Literarisch findet sich Regionalismus in Heimat-Heftromanen, Komödienstadel, Ohnesorg-Theater, Mundart-Hörspielen und Fernsehspielen, die die Provinz in den Vordergrund stellen.
Was ist "Provinzliteratur" und wie hat sie sich entwickelt?
Um 1900 etablierte sich die "Heimatliteratur", die die "kleine Welt" als Spiegelbild der ganzen Welt beschrieb. Später wurde sie durch die faschistische Blut-und-Boden-Poesie diskreditiert. Heute thematisiert der "literarische Regionalismus" die Provinz, jedoch nicht mehr als Spiegelbild der ganzen Welt, sondern als Abstraktion zum Modell. Die Provinz (Dorf und Kleinstadt) dient oft als kritischer Gesellschaftsspiegel oder als Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft. Die Darstellung der Provinz kann auch als Teil des gesellschaftlichen Gesamtsystems erfolgen, beispielsweise in Romanen, die zwischen Provinz und Metropole wechseln.
Welche Autoren werden im Zusammenhang mit "Heimat" und "Region" genannt?
Genannte Autoren sind unter anderem Hölderlin, Wilhelm Raabe sowie die Herausgeber und Autoren der zitierten Literaturliste: Horst Bienek, Walter Jens, Norbert Mecklenburg und Stefan Chwin.
Welche Werke werden in der Literaturliste aufgeführt?
Die Literaturliste umfasst unter anderem:
- BIENEK, Horst: "Vorbemerkung des Herausgebers. Warum dieses Buch?" in BIENEK, Horst (Hrsg.): "Heimat: neue Erkundungen eines alten Themas"
- JENS, Walter: "Nachdenken über Heimat, Fremde und Zuhause im Spiegel deutscher Poesie"
- MECKLENBURG, Norbert: "Die grünen Inseln: zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes"
- CHWIN, Stefan: "Region als geographische Tatsache und als Werk der Einbildungskraft" in GÖSSMANN, W. (Hrsg.) und ROTH, K.-H. (Hrsg.): "Literarisches Schreiben aus regionaler Erfahrung"
- Citation du texte
- Georg Schmitz (Auteur), 1997, Leitbegriffe der literarischen/literaturwissenschaftlichen Diskussion. Literatur und Heimat/Region/Provinz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94793