Theorien für eine gerechtere Welt. Das Gerechtigkeitskonzept von Martha Nussbaum als Bewertungsmaßstab der UN


Bachelor Thesis, 2020

38 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhalt

1 Einleitung: Die derzeitige Welt internationaler Organisationen

2 Gerechtigkeitstheorien
2.1 Gerechtigkeitstheoretische Ideen von der Antike bis heute
2.2 John Rawls kontraktualistischer Gerechtigkeitsansatz
2.2.1 ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘
2.2.2 ‚Das Recht der Völker‘
2.3 Martha C. Nussbaums Vorstellung einer achtbaren globalen Gemeinschaft
2.3.1 Kritik an Rawls und den globalen Erweiterungen seiner Theorie
2.3.2 Der Fähigkeitenansatz

3 Die UN von ihrer Gründung bis heute

4 Bewertung unserer globalen Struktur durch Nussbaum
4.1 Die Unverzichtbarkeit von Institutionen
4.2 Anspruch und Realität der UN
4.3 Nussbaums kosmopolitisches Ideal

5 Fazit: Theorien, die unserer komplexen Welt gerecht werden

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung: Die derzeitige Welt internationaler Organisationen

Viele Probleme, mit denen sich Regierungen und Bürger heutzutage beschäftigen, gehen über den Einzelnen aber auch über Staatsgrenzen hinaus: Terrorismus, Cyber-Security, Menschenrechtsverletzungen, Armut, Überbevölkerung, Ausbeutung, Migration, Klimawandel, Raubbau an Bodenschätzen, Finanzkrisen, Hungersnöte und - zuletzt wieder präsent in der Debatte – die Gesundheitsversorgung und der Ausbruch von Pandemien. Weiter stellen auch der Weltmachtanspruch Russlands, die Umbrüche in der MENA Region sowie der Aufstieg Chinas sicherheitspolitische Herausforderungen unserer Zeit dar (vgl. Kamp 2016: 87f.), die weltweit Auswirkungen haben und denen entsprechend auf globaler Ebene begegnet werden muss. Die Vielzahl an internationalen Organisationen scheint diesen Bedarf widerzuspiegeln. Laut der Union of International Associations (2018) gibt es über 72.500 Internationale Regierungs- und Nicht-Regierungsorganisationen aus 300 Ländern und Regionen, von denen etwa 40.300 derzeit aktiv sind und zu denen jährlich etwa 1.200 weitere hinzukommen.1

Gleichzeitig sind vielerorts populistische Bewegungen auf dem Vormarsch, die das genaue Gegenteil fordern: Brexit und ‚America First‘ sind die hierzulande bekanntesten Beispiele einer Politik, die eine Rückbesinnung auf das Nationale sowie den Rückzug aus internationalen Organisationen fordert. In zahlreichen europäischen Staaten gibt es national-populistische oder europaskeptische Parteien. Aber auch anderswo, beispielsweise in Indien, Russland oder Israel, sind nationalistische Strömungen zu beobachten, die gewissen Rückhalt in ihren Bevölkerungen genießen.

Trotzdem scheint sich kein grundlegendes Abwenden vom Multilateralismus abzuzeichnen. Eine 2018 von YouGov durchgeführte repräsentative Umfrage unter den fünf Ländern Argentinien, Deutschland, Großbritannien, Russland und der USA weist insgesamt eine überwiegende Zustimmung zu internationaler Zusammenarbeit aus (vgl. Tillmann 2018). Insgesamt wurden 8.312 Personen über 18 Jahre befragt, von denen sich 83% dafür ausgesprochen haben, dass ihre jeweiligen Regierungen bei der Lösung globaler Probleme zusammenarbeiten. 58% vertreten selbst dann noch diese Meinung, wenn dies bedeutet, dass das eigene Land zugunsten des weltweiten Gemeinwohls vorübergehend zurückstecken muss. Auffällig an den Umfragewerten ist jedoch die Differenz zwischen der Beliebtheit der grundsätzlichen Idee internationaler Zusammenarbeit und der verhaltenen Unterstützung konkreter Organisationen, welche sich ebenjener verschrieben haben. In der von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebenen Umfrage wurde speziell die Einstellung zur G20 erhoben. Die Antworten und Ergebnisse dürften aber über die G20 hinaus exemplarischen Charakter für internationale Organisationen haben. So gaben nur 45% an, der G20 grundsätzlich positiv gegenüberzustehen, bei 20% überwiegt das Negative und ein Drittel hat sich noch keine Meinung gebildet. Bemerkenswert an den Ergebnissen der Befragung ist weiter der Zusammenhang zwischen der Einschätzung, die Globalisierung habe einen positiven Effekt auf das eigene Leben und der Zustimmung zum Multilateralismus: Demnach sind 71% der Globalisierungsprofitierenden bereit, für das eigene Land kurzfristig negative Konsequenzen hinzunehmen, wenn damit gemeinsame Probleme gelöst und langfristig ein positives Ergebnis für alle erzielt werden kann – gegenüber 47% unter den Globalisierungsverlierenden. Eine Konsequenz aus den Umfragewerten lautet daher: „Insgesamt sind internationale Organisationen gut beraten, die aktuellen Verlierer der Globalisierung nicht aus dem Blick zu verlieren. Sie sind herausgefordert, auch für sie zu arbeiten und die Globalisierung gerechter zu gestalten.“ (Tillmann 2018: 8)

Internationale Organisationen werden in der Regel mit hehren Ansprüchen gegründet und verfolgen moralisch anspruchsvolle Ziele. Trotzdem sind sie nicht unfehlbar, wirken bewusst oder unbewusst auf Strukturen dieser Welt ein und werden somit unter Umständen Teil des Problems. Es stimmt, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen internationalen Organisationen und demokratischem Frieden gibt2. Aber es stimmt eben auch, dass nicht nur die Globalisierung, sondern auch die internationalen Organisationen selbst für Gewinnende und Verlierende sorgen. Das macht sie hochpolitisch und anfällig für den Einfluss von partikularen Sonderinteressen (vgl. Schieder 2013: 461).

Aus all den oben genannten Gründen – den über Staatsgrenzen hinweg spürbaren Missständen, dem gelebten Multilateralismus, den negativen Effekten der Globalisierung und der Anfälligkeit internationaler Organisationen für partikulare Sonderinteressen – ist es unabdingbar, die Frage nach globaler Gerechtigkeit in den Blick zu nehmen. Nicht, weil es das moralisch Richtige oder eine ideologische Träumerei wäre, sondern weil es unsere heutige Zeit erfordert und damit die unerlässliche Reaktion ist auf die immer enger werdende Vernetzung unseres Zusammenlebens.

Trotz der Vielzahl an internationalen Organisationen wird hier die Einschätzung Henning Hahns (2009: 16) geteilt, „dass die globale Arena relativ schwach institutionalisiert ist“. Hauptursache dieses Mangels liegt vermutlich eher in der Qualität der globalen Institutionen denn in deren Quantität. Anders als nationalen Akteuren fehlt es den internationalen an Durchsetzungsfähigkeit, Regelungsdichte und Repräsentation (vgl. Hahn 2009: 15). Dieser Mangel, aber auch die Dramatik der gegenwärtigen Probleme, verbieten es, die Verantwortung allein auf politische Institutionen zu schieben und zwingen uns zur Mitverantwortung – unabhängig davon, ob wir durch unser Handeln direkt oder indirekt zu den Missständen beigetragen haben oder einfach nur deshalb, weil wir helfen können (vgl. Hahn 2009: 17f.). An dieser Stelle können politische Gerechtigkeitskonzeptionen eine Hilfestellung sein, denn sie sind nicht nur normative Referenz für bestehende Institutionen, sondern „ihre Funktion besteht ebenso darin, die Idee eines fair geregelten Miteinanders auch dort einzufordern, wo gerechtigkeitssichernde Institutionen fehlen“ (Hahn 2009: 16).

In der folgenden Arbeit soll trotz der ernüchternden Einschätzung, es fehle an effektiven globalen Institutionen, das Augenmerk auf das Bestehende gerichtet werden. Daher wird die Organisation der Vereinten Nationen3 in den Blick genommen als internationale Organisation, die mit derzeit 193 Mitgliedsstaaten den weitumfassendsten Wirkungsanspruch erhebt und auch inhaltlich beansprucht, sich weitgefasst um sämtliche Fragen zu kümmern, mit denen die Menschheit im 21. Jahrhundert konfrontiert wird.

Beantwortet werden soll die Frage, auf welchen Grundlagen Martha Nussbaum, Philosophin unserer Zeit, ihren Gerechtigkeitsansatz zur Förderung einer achtbaren Welt konzipiert und wie sie vor dessen Hintergrund internationale Institutionen allgemein, die UN im Speziellen und den Kosmopolitismus unserer Zeit bewertet.

Um die Forschungsfrage zu beantworten, gibt das folgende Kapitel einen Überblick über relevante, gerechtigkeitstheoretische Entwicklungen sowie die wichtigsten Schlüsselkonzepte von der Antike bis zur Gegenwart (2.1). Mit John Rawls ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ und deren Erweiterung zum ‚Recht der Völker‘ wird die Basis für die gegenwärtig diskutierten Gerechtigkeitskonzepte geschaffen (2.2). Auch Martha Nussbaum entwickelt ihre Theorie unter anderem aus den Konzepten Rawls. Gleichzeitig kritisiert sie grundsätzliche seiner Annahmen und leitet daraus ihren eigenen sogenannten ‚Fähigkeitenansatz‘ ab (2.3). Aktueller Bezugsgegenstand der theoretischen Überlegungen ist die UN (3). Konkret wird nachvollzogen, wie Nussbaum auf Basis ihrer Vorstellungen von Gerechtigkeit Institutionen allgemein (4.1), die UN im Besonderen (4.2) und den modernen Kosmopolitismus (4.3) bewertet. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse rundet die Arbeit ab (5).

2 Gerechtigkeitstheorien

Folgende Autoren und Ansätze werden als entscheidend für das Verständnis des heutigen Diskurses um Gerechtigkeitstheorien betrachtet und deshalb im folgenden Kapitel näher erläutert4: die Ursprünge der Gerechtigkeitstheorie bei Platon und Aristoteles, der Einfluss des christlich geprägten Naturrechts, der Kontraktualismus bei Thomas Hobbes, das Vernunftrecht bei Immanuel Kant und die in dessen Tradition stehende Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls sowie dessen eigene Erweiterung seiner Theorie zum Recht der Völker. Aus der gegenwärtigen Debatte werden die gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen von Martha Nussbaum sowie deren Fähigkeitenansatz5 besprochen.

2.1 Gerechtigkeitstheoretische Ideen von der Antike bis heute

Obgleich Gerechtigkeitsfragen seit jeher vor allem Gegenstand philosophischer Erörterungen sind, beschäftigen sich auch Soziologie, Recht, Geschichte, Politik oder die Volkswirtschaftslehre mit etwaigen Fragen. Dem Umfang entsprechend kann in der vorliegenden Arbeit nur eine Auswahl von Autoren und Ideen aus diversen Wissenschaftsfeldern vorgestellt werden, die meiner Meinung nach aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit oder aber aufgrund ihrer radikalen Neuartigkeit prägend waren für die Debatte – und noch heute sind.

Vor allem im globalen Kontext stehen sich häufig moralischer Universalismus in Form von normativen Ansprüchen und politischer Realismus in Form von Machtpolitik gegenüber (vgl. Henning 2009: 30). Diese Relation von Moral und Praxis findet sich auch in den jeweiligen Theorien und der Auseinandersetzung zwischen Kosmopolitismus und Partikularismus wieder, eine von vielen Klassifizierungsmöglichkeiten von Gerechtigkeitstheorien. Weiter kann bei den unterschiedlichen Ansätzen zwischen denen unterschieden werden, die ihren Theorien das Naturrecht zugrunde legen (vor allem in der Zeit von der Antike bis zum Mittelalter) oder das Vernunftrecht (vor allem seit der Aufklärung). Eine dritte mögliche Klassifizierung, die an dieser Stelle erwähnt werden soll, ist eine, welcher sich unter anderem Jürgen Habermas bedient. Er unterscheidet zwischen dem „pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft“ (Habermas 1991: 100). Diesen drei Unterscheidungen liegen drei unterschiedliche Annahmen zugrunde, auf welche sich beinahe alle gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen stützen. Als Begründer gelten im europäischen Einflussgebiet Thomas Hobbes für den pragmatischen, Aristoteles für den ethischen und Kant für den moralischen Ansatz.

Das Ringen um Gerechtigkeitstheorien, welche die Kriterien zum Bewerten einer politischen Ordnung liefern, lässt sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Der Philosoph Platon gilt als der Erste, welcher mit seinem politischen Hauptwerk ‚Politeia‘ 374 v. Chr. eine solche Gerechtigkeitstheorie entwickelt hat. Seither gilt das Bemühen um Gerechtigkeit als stetiger, kultureller Prozess und notwendige Reflexion über die gelebte Politik. Je nach vorherrschendem Welt- und Gesellschaftsverständnis wurde ‚Gerechtigkeit‘ dabei unterschiedlich begriffen, denn hinter jedem Gerechtigkeitsverständnis stehen normative Annahmen und Voraussetzungen (vgl. Kersting 2013: 131).

Erschüttert durch das Todesurteil seines Lehrers Sokrates, bricht Platon mit den Prinzipien der bestehenden Demokratie Athens, welche eine Polis der Gleichen war. Anstelle der korrupten ungerechten Stadt soll eine gerechte Stadt treten, welche eine streng hierarchisch aufgebaute Drei-Klassen-Gesellschaft ist, in der jeder das tut, was er am besten kann (vgl. Ottmann 2001: 1). Die unterste Klasse stellen dabei die Bürger, Bauern und Handwerker, welche ihren unpolitisch-privaten Geschäften nachgehen und die materielle Versorgung der Gemeinschaft sicherstellen. Militär und Sicherheitskräfte stehen in der Mitte und sorgen für Frieden und Sicherheit innerhalb der Gemeinschaft. An der Spitze stehen die Archonten, welche zahlenmäßig die kleinste Gruppe sind und sich um die Führung und Erziehung der Gemeinschaft kümmern. Damit widmen sie sich ebenso wie die mittlere Klasse um Angelegenheiten der Allgemeinheit. Dass alle Spezialisten auf ihrem Gebiet sind, wobei ein Teil der Gesellschaft ein unpolitisch-privates Interesse für das Besondere verfolgt und der andere Teil ein politisch-öffentliches Interesse für das Allgemeine, nennt Platon das ‚Idiopragie-Prinzip‘. Dieses bildet den Kern seines Gerechtigkeitskonzeptes. Ein Gemeinwesen ist demnach dann gerecht, wenn die Weisheit der Philosophen regiert, die Sicherheitskräfte Tapferkeit beweisen und die Bürger sich nicht daran stören, keine Macht zu haben und vernünftig die Anordnungen der Regierenden befolgen (vgl. Kersting 2013: 133). Folgt jede Klasse diesem Idiopragie-Prinzip, also der ihr zugeordneten Tugend – Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit –, zeigt sich die Tugend der Gerechtigkeit als diejenige, welche den Zusammenhang darstellt und die gesellschaftliche Ordnung begründet.

Auch für Aristoteles Ethik spielen Tugenden eine entscheidende Rolle. Denn nur durch Tugendhaftigkeit kann dasjenige Glück erfahren werden, welches den Kern eines ‚guten Lebens‘ darstellt. Oberste Aufgabe des Staates ist es nach Aristoteles demnach, mit Hilfe von Gesetzen ein solch gutes Leben im Gemeinwesen sicherzustellen. Im Gegensatz zu Platons Expertokratie spricht sich Aristoteles jedoch für eine Bürgerpolitik aus, bei der gleichberechtigte Bürger miteinander diskutieren und sich beraten (vgl. Ottmann 2001: 111). Für Aristoteles Philosophie typisch ist zudem seine Weltzugewandtheit. Er ist davon überzeugt, dass das Gerechte bereits in der Welt ist und dort gefunden und ausgebaut werden muss. Aristoteliker – wissenschaftlich Arbeitende, welche die grundsätzlichen Annahmen Aristoteles teilen – beschäftigen sich demnach vor allem mit empirischen, soziologischen Gegebenheiten. Sie beobachten und analysieren gesellschaftliche Phänomene und leiten daraus Tugenden ab, welche bei Einhaltung zu einer gerechten Welt führen. Die so entstehenden Gerechtigkeitstheorien verfügen über konkrete Handlungsempfehlungen, welche sich direkt auf messbare Gegebenheiten stützen (vgl. Festl 2016). Die Praxis und Anwendbarkeit steht somit bei Aristoteles ethischer Gerechtigkeitsphilosophie im Vordergrund.

Ebenfalls ihren Ursprung in der griechischen Antike hat die Idee des Naturrechts, auf welcher das Völkerrecht oder auch das deutsche Grundgesetz gründen. Dahinter steckt die Einsicht, dass es neben dem positiven Recht – demjenigen Recht, auf das sich ein Volk in Form von Gesetzen einigt – noch ein Naturrecht gibt, welches unveränderlich ist, zu allen Zeiten für alle gelten soll und seinerseits das geschriebene Gesetz begründet. Auf die Frage worauf dieses Naturrecht beruht, gab es im Verlauf der Geschichte unterschiedliche Antworten. Platon und Aristoteles waren davon überzeugt, dass nur durch Besonnenheit und Logos ein tugendhaftes, gutes und wahres Leben zu führen sei. Im Mittelalter war die Vorstellung eines christlichen Naturrechts verbreitet, bei dem Gott an Stelle des Logos gesetzt wurde. Als bedeutendster Vertreter dieser Lehre gilt unter anderen Thomas von Aquin. Mit der Aufklärung traten die Naturwissenschaften und die Vernunft immer stärker in den Vordergrund und es entstand die Idee eines Vernunftrechts, welches eine Art säkularisierte Variante des Naturrechts ist, bei der die Vernunft als Quelle der allgemeinen Rechtsprinzipien gilt. Alle Varianten des vorstaatlichen Naturrechts haben gemeinsam, dass sie von einer universellen Gerechtigkeit ausgehen, die aus sich heraus, von Natur aus, recht ist. Sie postulieren, dass jeder Mensch aufgrund seines Menschseins Rechte hat und ermöglichen somit, zumindest in der Theorie, ein friedliches, sicheres und gerechtes Miteinander.

Thomas Hobbes brach mit der Vorstellung von natur- oder gottgegebener Gerechtigkeit. Ihm gemäß ergeben sich die moralischen Rechte und Pflichten des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausschließlich aus den gelebten Konventionen. Damit diese zur Geltung kommen können, ist eine staatliche Ordnung notwendig. Denn ohne eine solche befände sich der Mensch laut Hobbes pessimistischem Menschenbild in einem permanenten Kriegszustand, in dem alle gegen alle kämpften. Erst durch einen Gesellschaftsvertrag, in dem sich die Menschen ein gegenseitiges Versprechen geben und sich aus freien Stücken einer Staatsmacht unterwerfen und damit ihre individuellen Freiheitsrechte aufgeben, wird friedliches Zusammenleben möglich. Die politische Ordnung nach Hobbes ist also geprägt von einem freiwilligen Zusammenschluss, der die Macht des Staates begründet. Im Gegenzug garantiert der Staat das Leben und die Sicherheit der Gesellschaft und begründet und legitimiert damit, was Gerechtigkeit ist (vgl. Frey, Schmalzried 2013: 190 ff.). Theorien, welche die hobbeseanische Grundposition übernehmen, stellen die Rationalität in den Vordergrund: Menschen handeln dann gerecht, wenn dies für sie vorteilhaft ist. Gemäß Habermas Klassifizierung in ethischen, moralischen und pragmatischen Vernunftgebrauch entspricht Hobbes Position Letzterem.

Ebenso wie Hobbes, vertritt Immanuel Kant die Idee des Kontraktualismus. Seine Vertragstheorie jedoch basiert auf dem fiktiven Gedankenexperiment, dass jeder Mensch im Naturzustand das Recht hätte, sich zu nehmen, was ihm gerecht erscheint. Um diese Willkür zu beenden, bzw. zu unterbinden, sind ein Staat sowie eine Rechtsordnung unabdingbar. Nicht also der eigene Vorteil ist nach Kant oberstes Handlungsprinzip, sondern die Vernunft gebietet das Befolgen der Rechtspflicht, wodurch ein Staat entsteht (vgl. Ebert 2015: 186). Das Vernunftrecht ist entsprechend der moralische Maßstab, an dem staatliche Gesetze gemessen werden können. In dieser Annahme unterscheidet sich Kant maßgeblich von Hobbes, für den es keine externen Prinzipien gibt (vgl. Kersting 2013: 140). An seine staatstheoretischen Überlegungen anschließend, entwickelt Kant die Idee des ewigen Friedens. Dafür überträgt er seine Theorie des Gesellschaftsvertrags auf die gesamte Menschheit und konstruiert eine Zukunft, in der Kriege vermieden werden. Der Naturzustand auf globaler Ebene zeigt sich im Recht des Stärkeren, welches zu Krieg führt und daher unrecht ist. Erst durch ein Völkerrecht wird dieser Zustand überwunden. So wie das Zusammenleben innerhalb eines Staates nicht durch Eigeninteresse motiviert ist, sondern als rechtliche Pflicht verstanden wird, sei auch das Frieden schließen oder halten keine eigennützige Abwägung, sondern eine staatliche Pflicht, damit nicht eine Weltgesellschaft, aber zumindest eine Weltföderation entstehen kann (vgl. Ebert 2015: 195f.).

Diese hier nur schemenhaft dargestellten Ideen gehören zu denjenigen, welche bis heute sämtliche Konzepte und Theorien zur Gerechtigkeit prägen. Dass sich in der Wissenschaft auf die eine oder andere Weise auf schon bestehendes Wissen bezogen wird, ist üblich. Besonders prägend waren dabei unter anderem die Ideen von Aristoteles, Hobbes und Kant. Auch Rawls und Nussbaum, welche im Folgenden als diejenigen vorgestellt werden, welche die Debatte um Gerechtigkeit gegenwärtig besonders prägen, beziehen sich in ihren Arbeiten immer wieder auf diese drei Grundströmungen.

2.2 John Rawls kontraktualistischer Gerechtigkeitsansatz

Sämtliche Rezensierende scheinen sich darüber einig, dass es John Rawls zu verdanken sei, dass die Frage nach Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert wieder ins Zentrum der politischen Philosophiedebatte gerückt ist. Seine Theorie, welche in insgesamt 27 Sprachen übersetzt wurde, prägt wie keine andere den Gerechtigkeitsdiskurs der Moderne (vgl. Rieger 2007: 391). Rawls Hauptwerk ‚A Theory of Justice‘ (zu Deutsch ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘), 1971 erschienen, wurde unmittelbar zum Standardwerk, auf das sich seither alle jene beziehen, die sich mit Gerechtigkeit auseinandersetzen – sei es seine Idee weiterführend oder dieselbe kritisch hinterfragend (vgl. u.a. Ebert; Frey, Schmalzried). Rawls selbst, geboren 1921, beschäftigte sich von den 1950er Jahren an bis zu seinem Tod 2002 immer wieder mit seinen Grundideen von Gerechtigkeit und entwickelte diese auch nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes weiter, präzisierte seine Gedanken und verteidigte sie gegenüber kritischen Stimmen. In dieser Arbeit herausgestellt werden soll neben Rawls Hauptwerk sein Werk mit dem Titel ‚The Law of Peoples‘ (zu Deutsch ‚Das Recht der Völker‘), welches 1999 veröffentlicht wurde. Darin thematisiert er internationale Beziehungen und unternimmt den Versuch, seine Grundgedanken zur Gerechtigkeit innerhalb eines Staates auf die Beziehung zwischen Völkern zu übertragen und somit ein Recht der Völker zu entwickeln

2.2.1 ‚Eine Theorie der Gerechtigkeit‘

Mit seiner Theorie der Gerechtigkeit entwickelt und begründet Rawls Grundsätze, welche die Grundstruktur der Gesellschaft regulieren, „genauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen“ (Rawls 1975: 23). Er begründet damit kein Moralsystem, welches dem Individuum Handlungsanweisungen vorgibt, sondern konzentriert sich auf die Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft. Konkret betrachtet Rawls, wie die sogenannten nicht natürlichen Grundgüter verteilt werden. Solche Grundgüter sind laut Rawls „Dinge, von denen man annimmt, daß sie ein vernünftiger Mensch haben möchte“ (Rawls 1975: 112) und „wovon er lieber mehr als weniger haben möchte. […] Die wichtigsten Arten der gesellschaftlichen Grundgüter sind Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen.“ (ebd.)

Leiten lässt sich Rawls beim Aufstellen seiner Grundsätze von der Idee der „‚Gerechtigkeit als Fairness‘: Sie drückt den Gedanken aus, daß die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt werden“ (Rawls 1975: 29). Mit diesem Gedankenspiel knüpft Rawls nach eigenen Aussagen an Locke, Rousseau und Kant und deren Vorstellungen eines Gesellschaftsvertrags an. Demgemäß entscheiden Menschen im Voraus, „wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. Ganz wie jeder Mensch durch vernünftige Überlegung entscheiden muß, was für ihn das Gute ist, […]so muß eine Gruppe von Menschen ein für allemal entscheiden, was ihnen als gerecht und ungerecht gelten soll. Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit.“ (Rawls 1975: 28)

Aus dem Fairnessprinzip, welches u.a. angelehnt ist an Kants kategorischem Imperativ, leitet Rawls schließlich seine zwei berühmten Grundsätze der Gerechtigkeit ab:

„Erster Grundsatz Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Zweiter Grundsatz Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:

(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und
(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.“ (Rawls 1975: 336)

Der erste Grundsatz beschreibt ein Freiheitsprinzip und gewährt jedem gleichermaßen Freiheiten, wie sie im deutschen Grundgesetz zu finden sind. Es sind die klassisch liberalen Persönlichkeitsrechte wie „die politische Freiheit (das Recht, zu wählen und öffentliche Ämter zu bekleiden) und die Rede- und Versammlungsfreiheit; die Gewissens- und Gedankenfreiheit; die persönliche Freiheit, zu der der Schutz vor psychologischer Unterdrückung und körperlicher Mißhandlung und Verstümmelung gehört (Unverletzlichkeit der Person); das Recht auf persönliches Eigentum und der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft, wie es durch den Begriff der Gesetzesherrschaft festgelegt ist.“ (Rawls 1975: 82)

Dieses von Rawls formulierte Freiheitsprinzip steht an oberster Stelle, denn die beiden Grundsätze stehen in lexikalischer Ordnung zueinander. Das bedeutet, dass die Grundfreiheiten eines Menschen nicht zugunsten sozialer oder wirtschaftlicher Vorteile verletzt werden dürfen (vgl. Rawls 1975: 82). Wie auch bei Kant darf keine einzelne Person dem Gemeinwohl geopfert werden. Eingeschränkt werden dürfen die Grundätze lediglich an der Stelle, wo die Grundrechte anderer beschnitten werden.

Der zweite Grundsatz besteht aus dem Differenzprinzip, welches die Gleichverteilung der sozialen Grundgüter regelt und ist seinerseits in das Unterschiedsprinzip (a) und die Chancengleichheit (b) unterteilt.

Mit dem Unterschiedsprinzip trägt Rawls der Tatsache Rechnung, dass ‚Jedem das Gleiche‘ in der Praxis nicht unbedingt gerecht ist. Dies ist dann der Fall, wenn beispielsweise einer mehr Bedürfnisse hat als der andere (‚Jedem nach seinen Bedürfnissen‘) oder auch, wenn ‚Jedem nach seinen Leistungen‘ gelten soll. Diese dynamischen Prozesse berücksichtigt Rawls in seiner Theorie, indem er ungleiche Verteilung nur dann akzeptiert und als gerecht bezeichnet, wenn sie den am schlechtesten Gestellten den größtmöglichen Vorteil bringen. Weiter verweist Rawls auf den gerechten Spargrundsatz und bezieht sich damit auf die Generationengerechtigkeit. Jede Generation ist demnach verpflichtet, einen bestimmten Teil ihres Gewinns in künftige Generationen zu investieren.

[...]


1 Einschränkend muss angemerkt werden, dass die rein quantitative Anzahl von internationalen Organisationen nicht direkt auf deren qualitative Relevanz schließen lässt. Denn, während die Gründung einer Organisation gut erfasst werden kann, verlieren die meisten eher unscheinbar an politischem und gesellschaftlichem Gewicht bis sie letztlich nur noch eine Adresse sind (vgl. Herren 2009: 9).

2 Besonders zwischen Demokratien existiert ein besonders enges Netz von Organisationen und Regimen. Demokratien scheinen besonders willig, mit ihresgleichen zu kooperieren und internationale Organisationen zu gründen. Gleichzeitig herrscht in solchen Verbunden ein verringertes Risiko für gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedsstaaten (vgl. Schieder 2013: 458).

3 Im Folgenden stets nur noch als ‚die UN‘ bezeichnet.

4 Dabei handelt es sich um ausschließlich eurozentristische Produkte. Dies soll nicht unreflektiert bleiben. Andererseits soll der europäische Anteil an der Geschichte der Gerechtigkeitstheorien und Moralphilosophien auch nicht geleugnet werden.

5 Bei der Entwicklung des Fähigkeitenansatzes, welcher als Basis des „Human Development Index“ der UN-Entwicklungsberichte gilt, waren neben dem indischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya K. Sen, der als Begründer der Idee gilt, eine Reihe weiterer Wissenschaftler und Einrichtungen der UN beteiligt. Martha Nussbaum war neben Sen diejenige, welche maßgeblich an der Forschung und anschließenden Verbreitung des Konzepts beigetragen hat (vgl. Comim 2016). Zusammen mit Sen gründete Nussbaum beispielsweise die „Human Development and Capabilities Association“, welcher sich bereits im ersten Jahr 700 Mitglieder aus 49 Ländern anschlossen.

Excerpt out of 38 pages

Details

Title
Theorien für eine gerechtere Welt. Das Gerechtigkeitskonzept von Martha Nussbaum als Bewertungsmaßstab der UN
College
University of Marburg  (Institut für Soziologie)
Grade
1,3
Author
Year
2020
Pages
38
Catalog Number
V947991
ISBN (eBook)
9783346284754
ISBN (Book)
9783346284761
Language
German
Keywords
theorien, welt, gerechtigkeitskonzept, martha, nussbaum, bewertungsmaßstab
Quote paper
Isabel Thoma (Author), 2020, Theorien für eine gerechtere Welt. Das Gerechtigkeitskonzept von Martha Nussbaum als Bewertungsmaßstab der UN, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/947991

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