Deutsche Kriegslyrik seit dem Barock. Die Entwicklung der Darstellung von Krieg


Hausarbeit, 2007

112 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II Der lyrische Umgang mit dem Thema Krieg in den Epochen
II.1 Das Barock
II.1.1 Das Barock als Epoche
II.1.2 Lyrik im Barock
II.1.3 Der historische Kontext
II.1.4 Andreas Gryphius
II.1.5 Das Sonett und der Alexandriner als Gedichtart und Versform des Barocks
II.1.6 Tränen des Vaterlandes / Anno 1636
II.1.6.1 Zur Entstehungsgeschichte
II.1.6.2 Die Sprache des Andreas Gryphius
II.1.6.3 Vergleich der Fassungen von 1636 und 1663
II.1.6.3 Interpretation des Gedichtes
II.1.6.4 Einordnung des Gedichts
II.2 Aufklärung
II.2.1 Die Aufklärung als Epoche
II.2.2 Lyrik der Aufklärung
II.3 Vom Sturm und Drang bis zur Romantik
II.3.1 Der Sturm und Drang und die Romantik als Epoche
II.3.2 Lyrik des Sturm und Drang und der Romantik
II.4 Lyrik zur Zeit der Befreiungskriege
II.4.1 Historischer Kontext
II.4.2 Ernst Moritz Arndt
II.4.3 Das Vaterlandslied
II.4.3.1 Interpretation des Gedichtes
II.4.3.2 Einordnung des Gedichtes
II.5 Vom Biedermeier bis zum Realismus
II.5.1 Die Epochen und Strömungen
II.5.2 Der historische Kontext
II.5.3 Das Biedermeier
II.5.4 Junges Deutschland
II.5.5 Vormärz
II.5.6 Der Realismus bzw. die Lyrik des Nachmärz bis zur Reichsgründung
II.6 Vom Naturalismus zum Expressionismus
II.6.1 Der Naturalismus als Epoche
II.6.2 Lyrik des Naturalismus - Lyrik im Kaiserreich
II.6.3 Der Übergang zum Expressionismus und die Lyrik des Ersten Weltkriegs
II.6.4 Expressionismus
II.6.5 Georg Trakl - Ein expressionistischer Dichter und Opfer des Ersten Weltkrieges
II.6.6 Grodek
II.6.6.1 Entstehungsgeschichte
II.6.6.2 Über die Sprache und die Chiffre Trakls
II.6.6.3 Interpretation des Gedichtes
II. 6.6.4 Einordnung des Gedichtes
II.7 Von der Weimarer Republik über die Neue Sachlichkeit bis 1933
II.8 Drittes Reich - Lyrik im gleichgeschalteten Deutschland
II.9 Der Abwurf der Atombombe 1945 - Eine neue Zeitrechnung der Kriegsführung
II.9.1 Die Literatur und Lyrik nach 1945
II.9.2 Der historische Kontext
II.9.3 Marie-Luise Kaschnitz - Eine Zeitgenossin
II.9.4 Hiroshima
II.9.4.1 Interpretation des Gedichtes
II.9.4.2 Einordnung des Gedichtes

III. Zusammenfassung

IV. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

„Jeder Krieg ist anders, jeder Krieg ist gleich!“

Dieser Slogan des Anti-Krieg-Filmes „Jarhead - Willkommen im Dreck“ umschreibt die Schwierigkeit meiner bevorstehenden Arbeit und zugleich auch das Interesse daran recht deutlich. Der Krieg an sich ist gleich - es ist ein bewaffneter Konflikt von mindestens zwei Gruppierungen, bei der jede Gruppe durch Gewalt der anderen ihren Willen aufzwingen will. Doch jeder Krieg ist auch anders, da jeder Krieg andere Entwicklungen aufweist und andere Schicksale aufzeigt. In der Lyrik verarbeiten die Schreiber das Thema ebenfalls auf verschiedene Art und Weise. Sie schreiben alle über das Thema Krieg, über Zerstörungen, über Tote, Schicksale und Elend, dennoch sind eindeutige Unterschiede und Zäsuren zu erkennen. Genau dieses Phänomen werde ich im Laufe dieser Arbeit anhand der literarischen Epochen aufzeigen und eine Vielzahl an Versen anführen, die die Kriegslyrik der jeweiligen Zeit repräsentieren.

Ich werde, beginnend mit dem Barock, Schwerpunkte in den einzelnen Epochen der deutschen Literatur setzen und mit dem Abwurf der Atombombe 1945 abschließen. Denn hier schließt sich für mich ein Kreis. Die apokalyptischen Vorausdeutungen seit dem Barock über die sinnlose Zerstörung der Menschen findet in Hiroshima ihren vorläufigen Höhepunkt: Mit diesem Menschen vernichtenden Akt beginnt wie mehrfach betont wird eine neue Zeitrechnung - vor allem bezüglich der Kriegsführung. Von der Vernunft des Barock zur Unvernunft des 20. Jahrhunderts. So könnte man die Entwicklung einfach dargestellt ausdrücken. Denn mit dem ersten Abwurf eines nuklearen Sprengsatzes ist die Phase erreicht, in der es nicht mehr um Politik, Gerechtigkeit oder Leben und Tod der Kämpfer geht, sondern um die Frage der Existenz der Menschheit insgesamt.1

Mit Ausführungen in der Antike oder im frühen Mittelalter zur Zeit des Minnesangs zu beginnen, halte ich für unangemessen. Die Phasen, die ich aufzeigen möchte, sollen sich auf die Neuzeit beziehen, um auch in einem geschlossenen Rahmen überblickt werden zu können. So stellt der 30-jährige Krieg von 1618 bis 1648 den ersten großen neuzeitlichen ,europäischen’ Krieg dar.

Beginnen möchte ich also mit der Epoche des Barock und hier schwerpunktmäßig das Gedicht „Tränen des Vaterlandes“ von Andreas Gryphius behandeln, da es im Grunde zeitlich unbegrenzt anwendbar ist und immer wieder Bezugspunkte zu den anderen Kriegsgedichten darstellt.

Anschließend sollen die weiteren Epochen kurz abgehandelt werden. Die prägenden literarischen Formen und Eigenarten werden aufgestellt und Verweise zu Kriegsgedichten - wenn passend - gezogen. Auch die Hauptvertreter der epochentypischen Kriegsgedichte sollen zumindest genannt werden. Die Epochen müssen zum Verständnis thematisch, historisch und zeitlich eingeteilt werden, auch wenn dadurch aus der Kriegslyrik häufig politische Lyrik im Allgemeinen wird.

Als zweites ausführliches Beispiel stelle ich dann ein kriegsverherrlichendes Gedicht von Ernst Moritz Arndt vor. Das „Vaterlandslied“ (1812) - auch bekannt als „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“ - entstand zur Zeit der Befreiungskriege und zeigt, dass der Krieg gegen die Franzosen durch die Lyrik unterstützt und sogar dazu aufgerufen wurde. Der besondere Pathos, der Appellcharakter an die Deutschen und das gemeinsame Ziel, sich von der Fremdherrschaft zu lösen, ist das besondere an der politisch motivierten Lyrik dieser Zeit. Die Anknüpfungspunkte an diese Lyrik im weiteren 19. Jahrhundert, als Jahrhundert der Nationalstaatswerdung, werden thematisiert, wenn es um die deutsche Revolution von 1848/49 und um den Deutsch/Französischen Krieg 1870/71 geht. Vom Kaiserreich und der aufstrebenden Parteienlandschaft wird dann das 20. Jahrhundert mit den radikal-revolutionären Expressionisten näher beleuchtet. Das Gedicht „Grodek“ von Georg Trakl stellt hier meinen Schwerpunkt dar. Dieses Gedicht kann als Augenzeugenbericht gesehen werden, da Trakl zu dieser Zeit als Garnisonsarzt im ukrainischen Grodek eingesetzt wurde. Die Geschehnisse im Krieg und seine Hilflosigkeit konnte er nicht verarbeiten und brachte sich 1914 an einer Überdosis Heroin um. Das Gedicht mit seiner dunklen Sprache und seinen verschlüsselten Bildern (, Chiffren’) sind prägend für Trakl und den Expressionismus. Ich werde ebenfalls aufzeigen, wie sich die Lyrik innerhalb des Ersten Weltkriegs gewandelt hat: Von kriegsbegeisternder Euphorie bis zum Entsetzen. „Das letzte Kapitel“ von Erich Kästner (1934), das in die Strömung der ,Neuen Sachlichkeit' fällt (so man sie als eigenständige Strömung überhaupt bezeichnet), soll anschließend kurz bewertet werden, da es einen Übergang zwischen dem Barock und dem Abwurf der Atombombe darstellt. Es kann sogar noch weiter gefasst werden und auf die aktuelle politische Lage bezogen werden. Es beschreibt mit aller Nüchternheit, dass sich die Menschen selbst zerstören, weil es von einer ,Weltregierung' so befohlen wird. Es stellt einen ironischen Höhepunkt der apokalyptischen Vorausdeutungen dar, die mit dem Abwurf der Atombombe bestätigt werden. Das 1951 entstandene Gedicht „Hiroshima“ von Marie Luise Kaschnitz soll dann den Abschluss meiner Kriegsanthologie darstellen. Gedichte aus der Zeit der Weimarer Republik und dem Zweiten Weltkrieg werde ich in der Hinführung mit berücksichtigen.

Zu meinem Vorgehen: Zu jeder Epoche sollen zunächst allgemeine Aussagen über die Epoche getroffen werden. Daran anschließend stelle ich Ausführungen zu der Kriegslyrik dar - inwieweit Veränderungen auftreten, wie die Lyrik in dieser Zeit motiviert war und wer die Hauptvertreter waren. Die Epochen werde ich z. T. zusammenfassen und nur kurz behandeln, wenn sie mir nicht von großer Bedeutung erscheinen. Die vier oben genannten Gedichte sollen innerhalb ihrer Epochen dann genau analysiert werden. Hierfür ist es meiner Ansicht nach unabdingbar, auf die Biografien der einzelnen Dichter einzugehen, um ihre Einstellung zum Krieg und deren Hintergrund zu beleuchten. Ebenfalls muss zum historischen Hintergrund kurz Bezug genommen werden. Hier werde ich mich auf die wichtigsten Informationen beschränken, damit die Arbeit nicht in eine Nacherzählung Deutscher Geschichte ausufert. Deshalb werde ich auch nur allgemeine Überblicksdarstellungen zu den bestimmten historischen Themen verwenden. Die Sprache und die Eigenarten der Dichter/in beziehungsweise die Entstehungsgeschichte des Gedichtes, bei Gryphius auch ein Vergleich der Fassungen, sollen in einem Unterkapitel jeweils Erwähnung finden, ehe die Interpretation folgt. Dort werden dann die Sprache, die Stilmittel, der historische Kontext und die Biografie in die Gedichtanalyse mit einfließen. Eine kurze Einordnung des Gedichtes in den Gesamtzusammenhang schließt dann den jeweiligen Schwerpunktteil ab.

Insgesamt besteht mein Ziel darin, anhand ausgewählter Gedichte zu zeigen, wie sich das Bild des Krieges innerhalb der Lyrik vom Barock bis hin zum Abwurf der Atombombe entwickelt hat. An geeigneten Passagen werde ich Querverweise zu anderen Epochen ziehen und dies mit Gedichten unterlegen, ohne allerdings eine genaue Interpretation anzulegen. Es wird mehr Wert auf den Zusammenhang der Gedichte und die politisch motivierte Aussagekraft der Zeit gelegt, als auf die Beschreibung der genauen Details jedes einzelnen Gedichtes; dennoch soll eine genaue Gedichtanalyse zumindest bei meinen ausgewählten Schwerpunktgedichten den Gehalt des Gedichtes untermauern.

II. Der lyrische Umgang mit dem Thema Krieg in den Epochen

11.1 Das Barock

Im Folgenden werde ich zunächst zum Verständnis grundlegende Aussagen und Anmerkungen über die Epoche des ,Barock’ anführen. Die Hauptphasen, Kennzeichen, Repräsentanten, Ideale und Ziele sollen hierbei angerissen werden: Anschließend werde ich dann auf die Lyrik des Barocks und deren Besonderheiten eingehen, um mich so der Kriegslyrik anzunähern, in deren Kern dann Andreas Gryphius’ „Tränen des Vaterlandes“ als repräsentatives Gedicht für die deutsche Barock-Lyrik stehen soll.

11.1.1 Das Barock als Epoche

Der Begriff „Barock“, der vom portugiesischen ,barueco’ (,schiefrunde Perle’) stammt und von der Kunst auf die Literaturwissenschaft des 17. Jahrhunderts übertragen wurde, lässt sich grob in vier Phasen einteilen. Dem Vorbarock (ca. 1570-1620) schließt sich der Frühbarock (1620-1640) an. Es folgt die Zeit des Hochbarocks, der auch Gryphius zugerechnet werden sollte, ehe der Spätbarock von 1680 bis ca. 1725 in die Übergangsperiode, der Wende zur Aufklärung übergeht. Als Grundtendenz lassen sich die höfische Dichtung und entsprechende Formen konstatieren. Der Ordo-Gedanke (Ordnung auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene) war der prägende Grundsatz der Künstler. Des Weiteren ist wichtig festzuhalten, dass barocke Literatur und auch speziell Lyrik immer öffentlich ausgelegt war, da es von der Bevölkerung, natürlich in erster Linie dem Bildungsbürgertum, insgesamt wahrgenommen werden sollte.

11.1.2 Lyrik im Barock

In der Lyrik des Barock war das oberste Gebot, wie auch für die Literatur insgesamt bereits erwähnt, die Wahrung der Tugend und der Ordnung. Lyrik diente der Huldigung der Obersten. Im Zeitalter des Absolutismus galt der König oder der jeweilige Herrscher als unantastbar und so musste die Lyrik vor allem ihm gefallen.2 Denn durch diese Lobgedichte für die Obrigkeit wird den Untertanen ebenso eine Verhaltenslehre aufgestellt - diese Darstellungsweise war gewollt und wurde so auch häufig praktiziert. Allerdings gab es im Barock auch politisch motivierte Lyrik, die sich gegen den Kaiser oder gegen die Herrschenden allgemein richtete. Diese Verse waren aber zumeist anonyme Flugblätter, die die übrige Bevölkerung über Missstände im Reich aufklären oder für eine politische Richtung gewinnen wollten und dadurch das wichtigste, politische Ausdrucksmittel darstellten. Die angesehenen Schreiber der Zeit wie Opitz oder Gryphius konnten sich diese Art des Dichtens nicht leisten. Sie mussten weiter ihre allgemeinen Äußerungen über die Vergänglichkeit des Menschen (,Vanitas' = Vergänglichkeit), über die Schreckensbilder des Krieges oder Lobgedichte über große Persönlichkeiten der Zeit schreiben.3 4 Andere Lyriker der Zeit sind in ihrem Ausdruck hingegen forscher. Weckherlin z. B. ruft in seinen Versen „ Wehr über Tyranney und stoltz zu triumfieren“ zum Handeln auf, er beschreibt die Situation des Krieges nicht nur, sondern nennt die Ursachen der Tyrannei und fordert dazu auf, den Fürsten zu folgen, die die seiner Ansicht nach gerechte Sache vertreten. „Des Feindes zorn, hochmuth, hassz, durch macht, betrug, untrew,

Hat schier in dienstbarkeit, Unrecht, Abgötterey,

Des Teutschlands freyheit, Recht und Gottesdienst verkehret;

Als ewer haupt, hertz, hand, gantz weiß, gerecht, bewehret,

Die Feind bald ihren wohn und pracht in hohn und rew,

Die Freind ihr layd in frewd zuverkehren, gelehret.“

So gibt es viele Autoren, deren Gedichte sich gegen die Aufoktroyierung des Glaubens durch „ausländische Feinde“ stellen. Ganz allgemein gibt es eine Vielzahl von lyrischen Texten, die sich mit dem Konflikt der Konfessionen befassen. Gedichte pro Katholische Liga oder eben gegen diese „ Lügen-Lig “ und pro Protestantischer Union. So wird auch der Kaiser nicht verschont, der zusammen mit dem Papst, den Jesuiten und den Spaniern für die Vernichtung der deutschen ,Libertät' verantwortlich sein soll. Diese Flugblätter, die durchaus als Propaganda einzustufen sind, um Werbung für die Protestanten und gegen die Katholiken zu machen, beherrschten diese Zeit der politischen Lyrik.5

Ein anderes Motiv für , Kriegs' - Lyrik der Barockzeit stellten die Bauernaufstände dar. Die sozialen Missstände und der Glaubenszwang waren die Hauptgründe für die Bauernaufstände zu dieser Zeit. So sind Gedichte wie das folgende ebenfalls typisch für die Zeit um 1640. Das Flugblatt „Newe Bauren­Klag / Vber die Vnbarmhertzige Baur en Reütter dieser zeit“ (1643) nimmt eindeutig Bezug auf Gryphius „Tränen des Vaterlandes“.

„Die Häuser sind verbränt /die Kirchen seindzerstört /

Die Dörffer seind verkehrt /der Vorrhat ist verzehret /[...]

Durch Krieg / raub / mord vnd brand wird es zur wüsteney /

Das freye Römische Reich wird jetzt zur Barbarey [...]

Wir werden auff das blut vnd marck gantz außgesogen /

Ja gar biß auff die Haut /gantz nackend außgezogen [...]“6 7

Ziel der Bauern war es allerdings nicht, Verbesserungen oder Fortschrittlichkeit zu erzielen. Sie wollten lediglich den status quo zurück gewinnen: Die freie Religionsausübung und die Wiederherstellung der kaiserlichen Oberherrschaft, die ihr Leid und ihre Unterdrückung mildern sollte.

Doch diese und all die anderen Themen der Barock-Zeit stehen im Schatten des 30-jährigen Kriegs - dem politisch wichtigsten Ereignis. Hier ging es in den Schriften und Gedichten nicht um Propaganda für die eine oder andere Seite, sondern darum, den Schrecken und die grausamen Bilder des Elends aufzuzeichnen. Es stelle sich die Frage nach der Sinnlosigkeit des Krieges - warum führen stets die Christen untereinander Krieg? Es sollte Einigkeit innerhalb des Reiches erreicht werden - ein Gedanke der Nationalstaatswerdung, der erst später erreicht werden sollte. So machten sich die Autoren Sorgen um Deutschland und hatten die Vorahnung „Deutschland wird nicht wieder wie es wahr“ oder sie sprachen die Bedrohung durch die Nachbarn direkt an (Frankreich und die Türkei als Hauptkonkurrenten): „ Die Nachbarn äffen dich / dein Einfalt wird verlacht / Dein treu= und redlich seyn giebt leider! gutte Naht /“. Die Angst vor der Unterdrückung durch andere Völker erzwang geradezu auch erste chauvinistische Dichtungen, die sich z. B. gegen die Franzosen richtete.

„Nun ist es an der Zeit zu wachen

Eh Deutschlands Freyheit stirbt /

Und in dem weiten Rachen

Des Crocodils verdirbt.

Herbey / dass man die Krötten /

Die unsern Rhein betretten /

Mit aller Macht zurücke

Zur Son und Seine schicke.“8

So lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass vor allem polemische und propagandistische Zwecke die Lyrik dieser Epoche prägte. Neben den Huldigungen für die Obrigkeit galt es Tugendhaftigkeit und Ordnung - auch durch den streng eingehaltenen formalen Stil (hauptsächlich Sonett, vgl. Abschnitt II.1.5) repräsentiert - darzustellen. Doch anonyme Flugblätter richteten sich nun zahlreicher an die Menschen, um über die Missstände im Reich aufmerksam zu machen. So waren die Bauernaufstände und die Aufstände gegen die jeweils andere Konfession die hauptsächlichen Themen dieser Lyrik. Der 30-jährige Krieg überschattet freilich alle anderen Themen, denn in ihm wurden alle Ängste, Sorgen und Schicksale gehäuft und durch den Verlust des „Seelenschatzes“ bei Gryphius pointiert zusammengefasst. Zur Zeit des 30-jährigen Krieges gab es ausschließlich Antikriegstexte, zumindest so ich dies überblicken konnte.

II.1.3 Der historische Kontext

Das Gedicht „Tränen des Vaterlandes / Anno 1636“9 gibt eindeutig an, dass es in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges fällt. Auch innerhalb des Gedichtes „dreimal sind schon sechs Jahr“ wird eine genaue Datierung vorgenommen - der Krieg dauert bereits 18 Jahre an. Zunächst war es ein Krieg, der aus konfessionellen Gegensätzen innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation entstand. Nach dem Augsburger Religionsfrieden, der Gegenreformation und der Bildung der konfessionellen Bündnisse (Protestantische Union und Katholische Liga) entflammten im ganzen Reich Konflikte zwischen den Lagern. Ein zunächst lokal gebundener Anlass (Prager Fenstersturz) entfesselte den Böhmischen Aufstand, bei dem die böhmischen Stände gegen das Haus Habsburg kämpften. Dieser Konflikt verschärfte sich immer mehr, ehe er in einer großen europäischen Auseinandersetzung mündete, bei dem es hinterher nicht mehr um Religion und Glaube gehen sollte, sondern um Macht und Expansion. Der Krieg lässt sich in vier ,Unterkriege’ aufteilen: Den Böhmisch-Pfälzischen Krieg (1618-1623), den Niedersächsisch-Dänischen Krieg (1625-1629), den Schwedischen Krieg (1630­1635) und den Schwedisch-Französischen Krieg (1635-1648). Seit 1644/45 wurde der Frieden zwischen den französischen Gesandten in Münster und den schwedischen Delegierten in Osnabrück verhandelt. Mit dem Westfälischen Frieden vom 24.10.1648 war der Krieg offiziell beendet. Die Beschreibung der einzelnen Verläufe würde an dieser Stelle zu weit führen. Wichtiger als die Fakten und der Verlauf sind auch die Folgen, die der Krieg nach sich zog, denn darum geht es in dem Gedicht. Hungersnöte, Pest und Armut waren die vordergründigsten Folgen. Doch auch die Bevölkerungsverluste von bis zu 40 Prozent, beziehungsweise bis zu 70 Prozent in manchen Gebieten (Schlesien) zeigen die Auswirkungen des Krieges. Alles in allem wird sich bei der Interpretation des Gedichtes noch zeigen, dass Gryphius' Bilder zwar teilweise apokalyptisch und überhöht erscheinen, der Krieg, der zwei Generationen nahezu auslöschte, aber in der Tat „verheerend“ war, wie Gryphius es formuliert.

II.1.4 Andreas Gryphius

Vieles über das Leben des Andreas Gryphius muss unbekannt bleiben, da die von ihm selbst verfasste Biografie als endgültig verloren gilt. Doch das wichtigste aus seinem Leben erfahren wir aus zweiter Hand von Baltzer Siegmund von Stosch sowie von Johannes Theodor Leubscher. Ihnen hat die Selbstbiografie Gryphius' vorgelegen, weshalb wir vom Leben des Andreas Gryphius mehr erfahren, als von anderen großen Dichtern der Barockzeit. Es soll bei der folgenden Biografie weniger um das Nacherzählen der einzelnen Lebensdaten und Wege des Dichters gehen, sondern eher um einen kurzen Abriss der wichtigsten Erlebnisse und Rückschläge des wohl bedeutendsten deutschen Dichter der Barockzeit. Hierdurch sollen seine Einstellung und sein politischer Hintergrund beleuchtet werden und diese Schlüsse später auch in die Interpretation seines mit bekanntestem Sonett „Tränen des Vaterlandes“ eingearbeitet werden. Nach der Kurzbiografie werde ich am Ende dieses Kapitels ebenfalls Aussagen zur Sprache und den Stilmitteln des Dichters anführen.

Andreas Gryphius wurde am 2. Oktober 1616 in Glogau geboren. Die z. T. falsch angegebenen Geburtsdaten lassen sich zum einen auf einen Lesefehler zurückführen (die römische Zahl II wurde als 11 angesehen) und zum anderen verwirrt die eigene Angabe des Dichters. Sein Sonett „Der Autor über seinen Geburtstag den 29. September MDCXVI“ ist eine von ihm gewollte Vorverlegung seines Geburtstages, um den Erzengel Michael als seinen Patron zu beanspruchen.10

Der Name ,Gryphius' scheint nach Ansicht von Fleming nach Humanistenbrauch latinisiert zu sein, aus dem Namen ,Greif.11

Sein Geburtsort Glogau gehörte den Erbfürstentümern der Krone Böhmens [in Schlesien] an. Dieser Fakt ist von hoher Bedeutung, wenn man den historischen Kontext hinzuzieht. Das weitestgehend protestantische Glogau wurde des Öfteren von Jesuiten und anderen Gegenreformatoren aufgesucht. Da der Vater von Andreas Gryphius Archidiakon und der dem Vater gleichnamige Sohn Paul protestantischer Geistlicher war, geriet die Familie häufig in Gefahr. So ist auch der frühe Tod seines Vaters im Januar 1621 eventuell mit den konfessionellen Wirren dieser Zeit zusammenhängend. Inwieweit der frühe Tod des Vaters Andreas Gryphius beeinflusst hat, lässt sich nicht sicher beantworten. Allerdings scheint der Stiefvater, Michael Eder, den seine Mutter 1622 heiratete, ein guter Ersatzvater gewesen zu sein. Er war Magister am protestantischen Gymnasium Glogaus, das Andreas Gryphius auch besuchen sollte - allerdings nicht lange: Nachdem die Jesuiten die Stadt aufsuchten, um die Gegenreformation weiterzuführen, wurde 1628 die Rekatholisierung erzwungen, die Pfarrkirche musste den Katholiken überlassen werden, das Gymnasium wurde geschlossen und die nicht Bekehrungswilligen mussten die Stadt verlassen - einer davon war der Stiefvater Gryphius'. Die Anordnung, dass Emigranten Kinder bis 15 Jahren in der Stadt zurücklassen mussten, wog für Andreas Gryphius besonders schwer, da seine Mutter im März 1628 gestorben war: „ Und dieser Todesfall ist wohl der höchste Verlust, den ich erlitten, sintemal durch ihren Hintritt alles, was noch von Mitteln, Trost, Rath und Beystand übrig, verloren. Dazu ist kommen, dass die väterliche Bibliotheca, die Hr. Eder mit auf das Dorf genommen, zerstreuet und nebenst anderem Mobilien von den Mansfeldischen zur Beute gemacht.“12

Es zeigt sich also, wie die konfessionellen Wirren im Zuge des 30-jährigen Krieges Andreas Gryphius bereits in frühen Jahren geprägt haben müssen.

Ein halbes Jahr später durfte Gryphius seinem Stiefvater Eder nach Driebitz nachreisen „ da er durch Anweisung seines Hn. Pflege Vaters / und selbst eigenen Fleiß / sich in Studien höher zu bringen gesuchet [...]“13 14 1631 verließ er dann wieder die Stadt, um eine öffentliche Schule zu besuchen. In Görlitz konnte er wegen der Kriegsgeschehnisse nicht bleiben, Glogau brannte im Krieg nieder - dem Brand folgte die Pest. Unterdessen hatte sein Pflegevater neu geheiratet und nahm eine Stelle als Pfarrer in Fraustadt, sowie die Aufsicht über das dortige Gymnasium an. So besuchte Gryphius bis Mai 1634 das Gymnasium in Fraustadt. Sowohl Schicksale - in seiner Pflegefamilie starben die Frau und fünf Kinder an der Pest - als auch erste Erfolge als Schauspieler und Dichter sind kennzeichnend für diesen kurzen Lebensabschnitt. Nach den ersten 18 Lebensjahren lässt sich also festhalten, dass Andreas Gryphius mit 12 Jahren Vollwaise war, durch die Kriegswirren keine zusammenhängende Ausbildung genießen konnte und auf die Hilfe von Menschen angewiesen war, die verfolgt wurden oder selbst in Not geraten waren.

Ab Juni 1634 lebte Gryphius in der damals sehr angesehenen Stadt Danzig - sie galt als Treffpunkt für Schlesiens bedeutendste Dichter. Dort wurde er am akademischen Gymnasium aufgenommen. Dieses Gymnasium galt als Bastion der lutherischen Orthodoxie im ansonsten konfessionell gespaltenen Danzig. In Danzig erkrankte Gryphius lebensgefährlich; deshalb und weil ihn der „große Politicus [.] Schoeborner a Schönborn zum Hofmeister seiner Herren Söhne annahm“15, rief ihn sein Stiefvater Eder zurück nach Fraustadt, auch, weil die Magisterwürde in Danzig nicht zu erlangen war.

Der Umgang auf dem Gut Georgs von Schönborns stellte sich rückblickend als großer Gewinn für Gryphius dar. Dieser hatte eine große Bibliothek und unterstütze Gryphius auch finanziell, indem er 1637 z. B. die ,Lissaer Sonette’ drucken ließ und ihm den Adelstitel und die Magisterwürde verlieh. Im Dezember desselben Jahres starb Schönborn, Gryphius blieb der Familie jedoch eng verbunden. Zu den fast gleichaltrigen Söhnen Schönborns entstand eine lange Freundschaft, sie gingen zusammen an die damals europaweit berühmteste Universität ins holländische Leiden. Das Verhältnis zu Eugenia, der Tochter des Schönborns, ist umstritten. Viele Gedichte sind einer „Eugenien“ gewidmet, in denen Andreas Gryphius auch seine Liebe gesteht, allerdings könnte der Bezugspunkt auch in Leiden gesucht werden.16 Doch für das von mir behandelte Gedicht ist dies nicht von Bedeutung, eher das Erscheinen der ,Lissaer Sonette' (s. Abschnitt II.1.6.1). Die Leidener Zeit gilt als Höhepunkt des Lebens und des Schaffens von Gryphius. Er schrieb sich für das Fach Philosophie ein und gab auch Kollegs, um Geld zu verdienen. 1639 erschienen seine „Son- und Feyrtags- Sonnete“, dazu 1643 je ein Buch „Sonnete“ und „Oden“ sowie je eine Sammlung deutscher und lateinischer Epigramme. Ebenfalls erwähnenswert ist die Bekanntschaft Gryphius' mit Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, aus der sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte, was sein Schreiben auch geprägt haben dürfte. Doch auch erneute Schicksalsschläge, wie der Tod seines Stiefbruders Paul und eine schwere Krankheit bestimmten diese Zeit in Leiden.17 Sein weiterer Werdegang nach der ,Leidener Zeit' ist für die Betrachtung der „Tränen des Vaterlandes“ nicht mehr von Bedeutung, weshalb er nur kurz zusammengefasst werden soll.

Nach seiner Reise durch Italien und Frankreich kehrte er im November 1647 nach Fraustadt zurück, wo er seinen Stiefvater in „ bejammernswerten Zustand “ wieder traf.18 Berufungen an die Universität Heidelberg und Frankfurt sowie eine Professur in Upsala lehnte er ab und nahm das Amt des Syndicus in Glogau an. Im Januar 1649 heiratete er Rosine Deutschländer, aus deren Ehe sieben Kinder hervorgingen; nur der älteste Sohn Christian Gryphius sollte älter als fünf Jahre alt werden und eiferte seinem Vater nach. Er brachte nach Gryphius' Tod einige Werke seines Vaters heraus und erbte die Bibliothek.19

Als „Landes-Syndicus“ war Gryphius als Rechtsberater der Landesstände tätig und war für die öffentlichen Interessen wie Finanzrechte und Privilegien verantwortlich.20 Als 1656 eine erneute Pestepidemie ausbrach, flüchtete Gryphius mit seiner Familie auf das Landgut des Freundes J. Christoph Schönborn. Er verfasste weiter Gedichte, Dramen und Lustspiele und bereitete eine Gesamtausgabe seiner Gedichte „Andreae Gryphii Deutsche Gedichte Erster Teil“ vor. 1663 wurde diese Ausgabe ergänzt und neu herausgegeben. 1662 wurde er in die bedeutendste deutsche Sprachgesellschaft „Palmenorden“ aufgenommen und bekam den Beinamen ,Der Unsterbliche'.

Am 16. Juli 1664 starb Gryphius überraschend.21 Seine privaten und politischen Erfahrungen ließen Andreas Gryphius zu einem radikalen Luther-Anhänger werden, dessen poetische Aussagen häufig in einer christlichen Weltklage münden, wie sich auch bei den „Tränen des Vaterlandes“ zeigen wird.

II.1.5 Das Sonett und der Alexandriner als Gedichtart und Versform des Barocks

Das Sonett gehört neben der Ode zu der beliebtesten Gedichtart des Barocks. Auch „Tränen des Vaterlandes“ von Andreas Gryphius ist ein Sonett. Martin Opitz definiert diese besonders stilvolle Form des Gedichtes wie folgt: „ Die Sonnet vnnd Quatrains oder vierversicherten epigrammata [werden] fast allezeit mit Alexendrinischen oder gemeinen Versen geschrieben / (denn sich die anderen fast darzue nicht schicken) [...] Ein jeglicher Sonnet aber hat vierzehn Verse /vnd gehen der erste / vierdte /fünfte vnd achte auff eine endung des reimens auß; der andere / dritte / sechste vnd siebende auch auff eine. Es gilt aber gleiche / ob die ersten vier genandten weibliche termination haben / vnd die andern viere männliche: oder hergegen. Die letzten sechs verse aber mögen sich zwar schrencken wie sie wollen; doch ist am bräuchlichsten / das der neunde vnd zwölffte vnd dreyzehende wieder einen.“22

Alle stilistischen Merkmale der typisch barocken Dichtkunst beruhen auf dem kleinen Bändchen „Buch von der Deutschen Poetery“, das Martin Opitz verfasst hat. Die Dichter des Barocks nahmen diese Empfehlungen Opitz' an und variierten nur teilweise, beispielsweise beim Reimschema der beiden Schlussterzette.

Die typischen Kennzeichen dieser stilistischen, klassischen Sonettform war also bereits vorgegeben: Die ersten acht Verse sollten durch den umarmenden Reim (abba / abba) gekennzeichnet werden, die beiden Terzette dreireimig (ccd / eed) oder alternierend in der Form „cdc-dcd“ enden. Zunächst sollten die Verse aus in der Regel elf Silben bestehen und als Metrum die aus dem italienischen stammenden Endecasillabi (fünffüßige Jamben) verwendet werden. Im 17. Jahrhundert führte Opitz dann das Alexandriner-Sonett, nach französischem Vorbild, ein. Der Alexandriner ist der vorherrschende Langvers vor allem im Barock. 80 Prozent aller Sonettproduktionen des 17. Jahrhunderts entsprachen dieser Versform. Es handelt sich hierbei um einen sechshebigen Jambus mit einer Zäsur nach der dritten Hebung, was der barocken Neigung zur Antithetik sehr entgegenkommt.23 Man kann weiter zwischen der so genannten „Heldenart“ und den elegischen Versen unterscheiden - je nach Reimschema und der Verwendung von weiblichen und männlichen Kadenzen. Beim elegischen Alexandriner wechseln sich Verse mit weiblichem und männlichem Verschluss ab. Zur Auflockerung dieses recht strikten Musters werden der Zeilensprung (Enjambement) und die Verwischung klarer Strophengrenzen empfohlen.24 Auch kann man das fortlaufende Gedicht - ohne Strophengliederung - als Sicherung des Ganzheitscharakters des Sonetts an sich interpretieren.25 Gryphius gilt als der größte Sonettist deutscher Sprache im 17. Jahrhundert.26

II.1.6 Tränen des Vaterlandes / Anno 1636

II.1.6.1 Zur Entstehungsgeschichte

Das Gedicht „Tränen des Vaterlandes / Anno 1636“ [auch Trenen des Vatterlandes] - so die uns bekannte und heute gebräuchliche Übersetzung - ist erstmals in Gryphius’ ,Lissaer Sonetten’ 1637 erschienen. In der Forschung wird angenommen, dass diese Publikation, bestehend aus 31 Sonetten, die erste deutscher Gedichte von Gryphius gewesen ist, allerdings zeitnah auch die „Thränen. “ und die „Son- und Feyrtagssonette“ erschienen sind.27 Inhaltlich geht es zunächst um rein geistliche Sonette, darunter auch Übersetzungen aus lateinischen Vorlagen, ehe Sonette folgen, in denen es um Gryphius persönliche Erlebnisse und Schicksale geht. Auch Lobes-, Liebes- und Sonette satirischen Gehalts für Lehrer, Freunde oder Gönner werden thematisiert. Hauptmotiv der Lissaer Sonette, vielleicht Gryphius' Hauptmotiv schlechthin, war das der ,Vanitas'. Das Gedicht „Es ist alles eitel“ ist mit der „Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes“ - so die erste Version des Gedichtes - das bekannteste Gedicht dieses Bandes. Die Angst und der Widerwille, in dieser Welt zu leben und zu sterben, leiteten ihn zu dem Zentralgedanken der ,vanitas' - also der „Eitelkeit und Nichtigkeit alles Vergänglichen “.28 Das einschneidendste Erlebnis für Andreas Gryphius war allerdings der Dreißigjährige Krieg. Er zog sich durch zwei Drittel seines Lebens: Er erlebte, wie sich anhand seiner Biografie zeigt, sinnloses Morden, brennende Städte, Vertreibungen, Seuchen, Hunger, Elend - diese Bilder verarbeitete er in den z. T. apokalyptischen Bildern seiner Werke. Es zeigt sich also deutlich, dass das Leben, das Werk und auch die Sprache in einem engen Zusammenhang stehen und deshalb auch diese „Vorarbeiten“ nötig waren, um nun zur Interpretation der „Tränen des Vaterlandes“ zu kommen.

II.1.6.2 Die Sprache des Andreas Gryphius

Gryphius' Sprache ist relativ typisch für die eines barocken Dichters - hat er sie doch auch entscheidend geprägt. Wie von Opitz in seinem für die Zeit grundlegenden Bändchen „Poetery“ gefordert, so hält sich auch Gryphius an die recht starre Form des Sonetts, gebunden mit den alexandrinischen Versen (s. Kapitel II.1.5). Traditionell geht es in den meisten Gedichten um „ das Seelenheil des einzelnen “ und schwerpunktmäßig hierbei um die Vergänglichkeit. Die Betrachtung der Naturgegenstände ist häufig weisend für die Bestimmung des Menschen. Christliche Bezüge sowie eindeutige Anlehnungen an die Bibel spielen ebenfalls mit herein. Der Aufbau der Gedichte innerhalb des Sonetts ist häufig ähnlich angelegt: Nach der Überschrift (inscriptio) folgen die einzelnen Bilder (pictura), ehe das Epigramm (subscriptio) abschließt. Dieser Typ des allegorisch­auslegenden, emblematischen Gedichtes lassen sich in vielen Gedichten Gryphius nachzeichnen („Einsamkeit“, „Morgen“, „An die Welt“ u. a.).29 Auch bei dem von mir behandelten Gedicht lässt sich diese Form, wie ich nachher aufzeige, erkennen.

Typische und die häufigsten, rhetorischen Figuren bei Gryphius sind Worthäufungen, asyndetische Reihungen, Parallelismen und Antithesen. An klanglichen Phänomenen lassen sich vor allem Stilmittel wie Anapher, Assoziation und Alliteration feststellen.30 Hierdurch können die Bilder zugespitzt und pointiert definiert werden und auf die ,subscriptio' hinauslaufen.31 Durch die Verwendung von Antithesen und die Verwendung von Chiasmen wird häufig der argumentierende Charakter der Verse unterstrichen und durch den häufig mit einhergehenden Rhythmuswechsel verstärkt.32 Durch die bewusste Betonung und der Verwendung greller Farben, harter Ausdrücke (,Zentnerworte') und überspitzer Bilder soll zum einen die starre äußere Form des Sonetts aufgehoben- aber auch der Pathos seiner Rede gesteigert und pointiert werden.33 Dass das Dichten für Gryphius selbst eben nicht nur Spielerei oder Zeitvertreib war, sagte er auch selbst: „Mir zwang die scharffe noth Die federn in die faust!“34 Innere Bedrängnis, Not und das Miterleben von den schlimmen Zuständen geben ihm den Anlass zum Schreiben und Dichten. Auch hat die zunehmende Verwendung dieser Stilmittel zu den Überarbeitungen seiner Gedichte geführt. So kann man die Intensivierung als das Stilmittel Gryphius erklären, wodurch die Sprache eben diese Wucht und Stärke erhält.35 Komparative, Worthäufungen, Superlative und Hyperbeln sind prägend für Gryphius' Gedichte und lassen sich folglich auch in meinem beispielhaften Gedicht aufzeigen. So kann ich mich Gudrun Beil­Schlicker nur anschließen, wenn sie Gryphius' Sprache als „ die gewichtigste und eindringlichste des Jahrhunderts“ nennt.36

II.1.6.3 Vergleich der Fassungen von 1636 und 1663

Bevor ich zur eigentlichen Interpretation der uns heute bekannten Version des Gedichtes komme, möchte ich nach der Entstehungsgeschichte noch einen kurzen Vergleich der beiden Fassungen von 1636 bzw. 1663 des Gedichtes anstellen, um die Motivation Gryphius’ darzulegen, Änderungen in diesem Maße vorzunehmen (Texte s. Anhang, Abschnitt V.1.4).

Die Forscher sind sich einig, dass jede Änderung des Sonetts das zugrunde liegende Thema kunstvoller und überzeugender dargestellt hat. Vor allem die veränderte Wortwahl lässt die Verkettung der apokalyptischen Bilder stärker zum Ausdruck kommen (s. dazu auch Abschnitt II.1.6.2). So stehen in der ersten Fassung die Reime vertorben, erworben, gestorben und Korben, während in der Fassung von 1663 die ausdrucksstärkeren Prädikate verheret, auff gezehret, umbgekehret und durchfehret benutzt werden.37 Das gesamte Gedicht wirkt in seiner Überarbeitung lebhafter und intensiver: Aus dem abstrakten Vers „hat alles diß hinweg/was mancher saur erworben“, ist der einprägsame und eingehendere Vers „hat aller schweis / vnd fleis / vnd vorrath auff gezehret“ geworden. Später als 1663 - wohl durch seinen Sohn - wurde auch der elfte Vers hyperbolisch verändert: Statt „von so vielen Leichen schwer“ ist „der Ströme flutt“ nun „von leichen fast verstopfft“. Auch ist Robert Browning der Ansicht, dass das Schlussterzett im späteren Erscheinen wesentlich pointierter und klarer die Hauptaussage wiedergibt. Durch die nochmalige Zusammenfassung der Bilder von Pest, Glut und Hungersnot, also allem, was den Glauben auf die Probe stellt, werden die ersten elf Zeilen resümierend aufgezeigt und nun im letzten Vers zur Pointe geführt: Nämlich, dass nicht nur „gar vielen“, sondern „so vielen“ der innerste Schatz, indem sie der Gewalt nachgaben, gegen ihren eigentlichen Glauben und ihre Meinung, verloren gegangen ist.38

Auch ein Vergleich zu Martin Opitz lässt sich an dieser Stelle kurz resümieren. Die Bilder in Gryphius Gedicht treten nämlich gehäuft bei Opitz auf. Auch bei ihm ist von „grawsamen Posaunen“, „fewrigen Carthaunen“ und „die Mawren sind verheeret / die Kirchen hingelegt / die Häuser umbgekehret“ die Rede.39

Auch beschreibt er am Ende seiner ,Poemata', dass „ die Ströme kaum geflossen, von Leichen zugestopft “.40 Die Kunst des Andreas Gryphius ist hierbei darin zu sehen, dass er sich zwar einiger Bilder Opitz' bedient hat, diese aber in einem Sonett als ein symbolisches Bild zu verdichten schafft, während Opitz über Hundert Verse dafür benötigt.

II.1.6.3 Interpretation des Gedichtes

Das Gedicht „Tränen des Vaterlandes Anno 1636“ (s. Anhang V.1.1) ist ein Antikriegsgedicht, das - wie die Jahreszahl in der Überschrift bereits impliziert - sich auf die Zeit des 30jährigen Krieges bezieht. Gryphius hat die Erlebnisse, die er in dem Gedicht verarbeitet, also hautnah miterlebt und ist selbst auch ein Opfer des Krieges. Dies wird durch das erste Wort „Wir“ bereits signalisiert. Ob er mit dem „Vaterland“ Schlesien oder ganz Deutschland gemeint hat, lässt sich nicht genau belegen. Allerdings halte ich den Bezug zum gesamten Deutschland für wahrscheinlicher, da seine erste Version des Gedichtes auch „Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes“ geheißen hat.

Das Sonett - mit eben den alexandrinischen Versen und der prägenden Mittelzäsur - beginnt gleich mit einem Aussagesatz, was einem Ausruf gleichkommt und die Verzweifelung widerspiegelt. Bereits dieser erste Vers enthält das für Gryphius typische Stilmittel der Intensivierung, gekennzeichnet durch die Hyperbel „ja mehr denn ganz verheeret“ nach dem ersten Halbvers. Bei den folgenden Zeilen des ersten Quartetts ist auffällig, dass alle Subjekte sich lediglich auf ein Prädikat „hat aufgezehret“ beziehen. Die Subjekte stellen Einzelbilder der Kriegsgräuel dar, die in asyndetischer Reihung je einen Halbvers einnehmen. Die Substantive sind die angesprochenen ,Zentnerworte', die durch zumeist adjektivische Attribute noch verstärkt werden (durch die personifizierte „rasende Posaun“ oder „donnernde Kartaun“). Zwischen den beiden Teilen des Prädikats stehen Objekte, die für ein wenig Hoffnung stehen („Schweiß“, „Fleiß“ und „Vorrat“) und polysyndetisch aneinandergereiht sind. Erich Trunz sieht in dieser Schlusszeile des ersten Quartetts eine Andeutung von Frieden.41 Dies könnte meiner Meinung nach antithetisch beabsichtigt gewesen sein, weil es durch das Prädikat „hat aufgezehret“ zugleich aufgehoben wird. Diese erste Sinneinheit des Gedichtes ist also gespickt von einzelnen Kriegsbildern, die durch die ,Zentnerworte' und die dazugehörigen Attribute sowie dem hyperbolischen Eingangsvers des Gedichtes schon apokalyptischen Charakter aufweisen.

Das zweite Quartett führt in weiteren fünf Halbversen die Häufung der Kriegbilder fort. Diesmal lässt sich allerdings ein parataktischer Satzbau konstatieren. Die parallele Konstruktion - ein Subjekt, ein Prädikat - zeigt die inhaltliche Zusammengehörigkeit dieser ersten fünf Halbverse. Die Zerstörungsbilder beziehen sich auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Die brennenden Türme stehen für die verminderten Abwehrchancen: die Bevölkerung ist nicht mehr durch Mauern und Türme gesichert. Die geistliche Welt (durch die Kirchen symbolisiert) und das Rathaus (also die weltliche Verwaltung) sind zerstört - das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Opfer sind, so die Halbverse vier und fünf, auch die Männer („die Starcken“) und die jungen Frauen, die im Zuge des Krieges geschändet werden. Gryphius stellt also hier eine Auflistung von Kriegsbildern dar, die ein Leben in dieser Welt unmöglich machen. Der Bruch innerhalb dieser Strophe wird durch die Mittelzäsur im siebten Vers signalisiert. Der nun hypotaktische Satzanschluss, gekennzeichnet durch den relativen Satzanschluss, stellt die sprachliche und inhaltliche Veränderung dar. Die Verallgemeinerung „und wo wir hin nur schaun“ gibt an, dass die vorherige Aufzählung noch weiter geführt werden könnte, nun aber durch die Verallgemeinerung weitere Kriegsfolgen, die die gesamte Bevölkerung betreffen, aufgezeigt werden sollen. Zu den Zerstörungen kommen noch „Feuer, Pest und Tod“ hinzu, die durch den Relativsatz im letzten Halbvers einen ausmalenden und ergreifenden Charakter erhalten; sie berühren die Menschen nicht nur, sondern „durchfähren Herz und Geist“ - eine typische Zusammenstellung, so Trunz.42

Nach diesem zweiten Quartett stellt sich der Leser nun die Frage, wie diese Bilder des Elends weitergeführt werden können - ob überhaupt noch eine Steigerung möglich ist. Der erste Vers des ersten Terzetts gibt sofort die Antwort. Die Bilder der Gräuel werden noch weiter geführt. Wie der erste Vers des Gedichtes verwendet Gryphius auch hier einen Aussagesatz, der bildlichen Charakter hat. Durch das Wort „allzeit“ wird die Kontinuität des Krieges herausgestellt und die Hoffnungslosigkeit auf ein Ende des Krieges kommt zum Ausdruck. Es folgen hypotaktische konstruierte Zeilen, die eine weitere Steigerung einschließen. „Dreimal sind schon sechs Jahr“ wirkt wesentlich klangvoller und bedrohlicher als das Zahlwort „18 Jahre“. Der Halbvers wirkt auf den Leser beeindruckender wenn man sich die Zeitspanne von sechs Jahren dreimal vorstellt. Durch diese Periphrase wird der klagende Charakter des Gedichtes noch deutlicher unterstrichen.43 Der Halbvers „als unser Ströme Flut“ ist inhaltlich in der Forschung umstritten. Das ,als’ könnte zum einen temporal gemeint sein, im Sinne von ,in deren Verlauf’. Zum andern könnte wie Trunz es beschreibt ,als’ als Vergleichspartikel angenommen werden „Dreimal schon sind sechs Jahre langsam dahingeflossen wie die Fluten unserer Ströme.. ,“44 Wenn man das ,als’ allerdings im Kontext des Satzgefüges analysiert, scheint mir die temporale Satzeinleitung zum Prädikat passender und auch dem Sinn gerechter zu sein.

Durch das rhetorische Stilmittel der Praeteritio „Doch schweig ich noch. “ erreicht Gryphius eine Intensivierung der Spannung. Das ,doch’ deutet an, dass eine weitere Steigerung bevor steht. Nach diesem Halbvers werden nochmals die Schreckensbilder des Krieges kurz zusammengefasst und mit den anaphorisch angelegten Komparativen betont („was ärger“, „was grimmer“), und somit die Pointe im Schlussvers vorbereitet. Mit der Einleitung dieses Schlussterzetts wird dem Leser klar gemacht, dass der Seelenschatz das Wichtigste ist, was der Mensch besitzt. Dass nun auch noch über allem Elend und Not der Seelenschatz „so vielen Menschen abgezwungen“, verstärkt die Klage des Gedichtes nochmals. Die unbestimmte und scheinbar unendliche Anzahl „so vielen“ gibt den apokalyptischen Charakter des Gedichtes seinen Höhepunkt. Auch ist in diesem letzten Vers erstmals deutlich der Charakter einer Klage, die sich auf die Überschrift beziehen könnte, abzulesen. Die Tränen des Vaterlandes werden zwar auch aufgrund der anschaulichen Kriegsbilder und der Nöte der Menschen vergossen, doch der größte Verlust, der in diesem Krieg zum Vorschein tritt, ist der Verlust des eigenen Glauben. Der abgezwungene Seelenschatz steht im Zusammenhang der damaligen Zeit für die gewaltsame religiöse Bekehrung innerhalb des Reiches.45 Deshalb ist hier auch ein direkter Bezug zu Gryphius' Biografie zu sehen, da wir in dem Kapitel festhalten konnten, dass Gryphius in der Tat ein nahezu orthodoxer Luther-Vertreter war und er deshalb die erzwungene Re-Katholisierung nicht hinnehmen konnte. So könnte man auch die Klage nicht nur auf den Krieg sondern auch auf die Menschen beziehen, die sich den Seelenschatz, also ihre Religion, ohne Gegenwehr abnehmen lassen. Diese These lässt sich dadurch stützen, wenn man von dem allgemeinen „Wir“ aus der ersten Zeile die „so vielen“ aus dem letzten Vers abzieht. Was bleibt, ist dann ein ,Ich' und ein ,Ihr', die sich wehren und die den Seelenschatz noch nicht abgetreten haben. Browning interpretiert den Schluss ähnlich. Hiernach ist der Krieg lediglich ein Bild menschlicher Sündhaftigkeit. Der Mensch lebt nur auf dieser Welt, die der Gott nur als Prüfung des Glaubens bestehen lässt. Demnach ist der Schlussvers so zu verstehen, dass die Menschen, die sich ihren Seelenschatz haben abzwingen lassen, die Prüfung nicht bestanden haben und deshalb von Gott auch nicht das Recht bekommen weiterzuleben. Er gibt somit den Menschen die Hauptschuld - auch wenn der Grundton und die Bilder des Gedichtes Mitleid erregend wirken, so entschuldige er das Verhalten nicht und somit wird auch der Klagecharakter des Gedichtes noch deutlicher. Aber nicht eine Klage gegen den Krieg als Hauptaussage, sondern wie für die Zeit üblich, gegen die menschliche Sündhaftigkeit (Vanitas-Gedanke).46

So ist festzuhalten, dass trotz der starren äußeren Form des Sonetts in klassischer Anordnung mit 6-hebigen Jamben und Mittelzäsur die Intensivierung und die apokalyptische Klage gegen die Kriegsgräuel und die dadurch entstandenen Folgen zum Tragen kommt. Die teils realistischen, teils hyperbolischen und apokalyptischen Bilder des 30-jährigen Krieges werden formal und inhaltlich soweit gesteigert und intensiviert, bis sie im größten anzunehmenden Verlust - dem Verlust des Seelenschatzes - enden.

II.1.6.4 Einordnung des Gedichts

Abschließend zu dieser ersten ausführlichen Interpretation des Gedichtes zur Epoche des Barocks, möchte ich meine Wahl des Gedichtes kurz begründen: Gryphius' „Tränen des Vaterlandes“ stellt sowohl ein typisches Gedicht für die barocke Lyrik dar, es ist aber ebenso ein Kriegsgedicht, das zeitlos erscheint. Somit steht es zwar zu Beginn meiner kleinen Anthologie, es werden sich aber im Verlaufe der Arbeit des Öfteren Parallelen aufzeigen lassen. Im Gedicht ist der Kriegszustand als apokalyptisch dargestellt. Es ist alles zerstört, die Klage des Autors scheint klar zu sein, er stellt sich die Frage ,wie weit soll es noch gehen?' Ein Ende oder gar ein Anzeichen von Frieden gibt Gryphius nicht vor - im Gegenteil. „Aller Vorrat ist aufgezehret“, die Angst vor der Zukunft, nach diesem Wahnsinn ist deutlich spürbar in dem Gedicht, sowohl durch die prägende Sprache als auch durch den Inhalt und die Bilder des Krieges. Der Bezug zu heutigen Kriegen ist also mehr als deutlich. Im heutigen Zeitalter der Atombomben ist nur die Idee eine andere: Overkill.47 Das sinnlose Morden und Zerstören entbehren jeglicher Vernunft. Im Zeitalter des Barock wurde diese Unvernunft und Sinnlosigkeit erkannt und angesprochen - auch wenn es unter dem Postulat der konfessionellen Interessensgegensätze gesehen wurde - heute scheinen wir nicht viel weiter zu sein als vor knapp 350 Jahren. Es wird weiter zerstört und so kann das Gedicht Gryphius auch weiterhin verwendet werden - es hat je nach Lesart eine schier endlose Berechtigung. Auch die religiöse Legitimität spielt heute bei der Kriegsführung eine Rolle, auch wenn der Fanatismus und die Mittel der Kriegsführung mit der vom 17. Jahrhundert nicht vergleichbar sind. Dabei schien nach dem Barock doch gerade der Gedanke der Vernunft, der Unterschied zwischen Mensch und Tier, eine größere Rolle gespielt zu haben - die Aufklärung.

II.2 Aufklärung

II.2.1 Die Aufklärung als Epoche

Zunächst soll an dieser Stelle bemerkt werden, dass die Übergänge der Epochen immer fließend sind; es gibt zur Orientierung zwar Eckdaten, aber die verschiedenen Strömungen greifen des Öfteren ineinander über und lassen sich nicht genau trennen. Es soll deshalb auch nicht der Versuch gemacht werden, die politisch motivierte Lyrik genau dem Epochenverlauf anzupassen. Vielmehr werde ich die folgenden Epochen bis zur Romantik zusammenfassend darstellen und die Hauptvertreter sowie die Hauptströmungen der Zeit vorstellen. Abgrenzungen, Schwerpunkte bei einigen Dichtern und die Hauptakzente der Strömungen sollen herausgestellt werden, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit gewährleisten zu können.

Mit der Epoche „Aufklärung“ verbindet man automatisch die Person Immanuel Kant (1724-1804) und dessen Lehre über die Aufklärung (1784):

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung [...]. Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit, und zwar die unschädlichste unter allen, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen.“4 Das Ziel der Vertreter dieser Epoche war es also, einen gesellschaftlichen Zustand zu schaffen, bei dem der richtige Gebrauch von Mut und Verstand den Menschen zum selbst verantworteten Denken verhilft, wodurch wiederum eine Verbesserung der gesellschaftlichen Situation als ganzes hervorgerufen werden sollte. Dass die Idee der Vertreter der Aufklärung und die praktische Umsetzung nicht immer verfolgt wurden, lässt sich an der kritischen Aussage Georg Christoph Lichtenbergs (1742-1799) ablesen:

„Man spricht zwar viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?“48 49

Diese staatsphilosophischen Gedanken übertrugen sich auch - aber nicht nur - auf die zeitgenössische Lyrik. Der Epochenstil ,Aufklärung' umfasst im philosophischen Sinne den Zeitraum von ca. 1730 bis 1770. Neben dieser Epoche lassen sich die Zeitstile des literarischen Rokoko, der Empfindsamkeit und die des Sturms und Drang einbetten, die sich durch die Durchsetzung des subjektiven Gefühls entwickelten.50

II.2.2 Lyrik der Aufklärung

„Die deutsche Lyrik der Aufklärungszeit von 1700 bis etwa 1770 hat wohl nicht nur deshalb keine hervorragende Blüte erlebt, weil die Sternstunde deutscher Lyrik noch nicht geschlagen hatte, sondern aus dem inneren Gegensatz ihres irrationalen Wesens zu jenem erstarrenden Zug der Aufklärung, die das Formale überschätzte und unhistorisch auf wesenverschiedene Inhalte anpassen wollte.“51 Dieses Zitat trifft allerdings nur dann zu, wenn man die Lyrik heutiger Maßstäbe auch für die Lyrik er Aufklärung ansetzt. Lyrik der Aufklärung war geprägt von einem neuen Naturempfinden, aber auch von bisher unbekannten Vernunftgedanken. So überwiegen beschreibende Naturbilder diese Frühphase der Aufklärung, die durch Barthold Heinrich Brockes ersten Band „Irdischen Vergnügens in Gott“ seit 1721 ihren ersten Einschnitt erhält. Die wichtigsten Dichter dieser Zeit waren neben Brockes, Albrecht von Haller, Heinrich von Kleist und Christoph Martin Wieland. Für die Lyrik des literarischen Rokoko (ca. 1740 bis Ende des Jahrhunderts) sind Johann Gottfried Gottsched, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Peter Uz und Friedrich von Hagedorn die prägenden Figuren. Dieser Zeitstil ist vor allem durch die so genannte Anakreontik geprägt. Sie soll auf den griechischen Lyriker Anakreon (6. Jahrhundert v. Chr.) zurückgehen. Die Motive der Anakreontiker waren die Macht der Liebe, der Preis der Geliebten, der Lob des Weins und der Geselligkeit. Hinzu treten die schönen Bilder der Natur und der Empfindsamkeit.52 Übersetzt und überliefert sind die Lieder des Anakreon von dem französischen Humanisten und Philologen Henricus Stephanus. Inwieweit ihm aber tatsächlich die Originale vorgelegen haben oder aber eher die Lyrik anderer Anakronteen spätantiker Zeit, ist nicht sicher.53 Doch für die politische motivierte Lyrik zu der Zeit spielt die Gedichtkunst des Anakreon auch keine entscheidende Rolle, nur sollte sie als wichtige Gedichtart der Aufklärung (bzw. des Rokoko) genannt werden.

Die Lyrik des Zeitalters ,Aufklärung“ geht zum einen auf den Bereich der Macht (König, Hof, Obrigkeit) und zum anderen auf den der Öffentlichkeit (über das Vaterland, Freiheit bzw. Unfreiheit) zurück. Die Lyrik ist allerdings eher trivial und wenig kunstvoll, wenn man die Maßstäbe der Romantik ansetzt. Innerhalb der beiden oben genannten Bereiche zur politischen Lyrik der Epoche lassen sich vier Gedichtgruppen typisieren: Lobgedichte, patriotische Gedichte, Kriegs- sowie sozialkritische Gedichte. Zwei prägende Merkmale der aufklärerischen’ Gedichte sind einerseits die gebundene Rede (um sie durch Reim und Metrum von Fabeln und Satiren zu unterscheiden) und andererseits die Kürze (um sie von Dialogen und längeren Versepen zu unterscheiden).54

[...]


1 Vgl. Hunt, Irmgard Elsner: Krieg und Frieden in der deutschen Literatur: Vom Barock bis heute. Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 798. Lang. Frankfurt a. M. 1985, S.2.

2 Vgl. Meid, Volker: Im Zeitalter des Barock. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Reclam. Stuttgart 1978, S. 92ff.

3 Vgl. Ebd., S. 99f.

4 Nach: Ebd., S. 94.

5 Vgl. ebd., S.97.

6 Nach: Ebd., S. 103.

7 Nach: Ebd., S. 106.

8 Nach: Ebd., S. 107.

9 Vgl. Brockhaus: Taschenlexikon Weltgeschichte, Band 1, S. 221ff.

10 Vgl. Flemming, Willi: Andreas Gryphius - Eine Monografie. Sprache und Literatur 26. Kohlhammer. Stuttgart u. a. 1965, S. 19.

11 Vgl. ebd., S. 15.

12 Nach: Ebd., S. 21.

13 Mannack, Eberhard: Andreas Gryphius. Sammlung Metzler - Realien zur Literatur Band 76. Metzler. Stuttgart 1986, S. 3.

14 Vgl. ebd., S. 4f.

15 Flemming, a. a. O., S. 30.

16 Vgl. Mannack, a. a. O., S. 7f.

17 Vgl. ebd., S. 11ff.

18 Vgl. ebd., S. 16.

19 Vgl. Ebd., S. 17.

20 Vgl. Fleming, a. a. O., S. 73f.

21 Vgl. Mannack, a. a. O., S. 19f.

22 Nach: Braak, Ivo: Gattungsgeschichte deutschsprachiger Dichtung in Stichworten. Teil II b - Lyrik. Vom Barock bis zur Romantik. Verlag Ferdinand Hirt. Kiel 1979, S. 57f.

23 Vgl. Beil-Schlicker, a. a. O., S. 42f.

24 Vgl. Meid (1986), S. 54.

25 Vgl. Beil-Schlicker, a. a. O., S. 42.

26 Vgl. Fechner, Jörg-Ulrich: Das deutsche Sonett. Dichtungen - Gattungspoetik - Dokumente. Fink Verlag. München 1969, S. 25.

27 Vgl. Browning, Robert M.: Deutsche Lyrik des Barock 1618-1723. Autorisierte deutsche Ausgabe besorgt von Gerhart Teuscher. Kröner Verlag. Stuttgart 1980, S. 107f.

28 Beil-Schlicker, a. a. O., S. 54.

29 Vgl. Meid, Volker: Barocklyrik. Sammlung Metzler - Realien zur Literatur Band 227. Metzler. Stuttgart 1986, S. 93.

30 Vgl. Mannack, a. a. O., S. 37.

31 Vgl. Meid (1986), a. a. O., S. 92f.

32 Vgl. Beil-Schlicker, Gudrun: Von Gryphius bis Hofmannswaldau. Untersuchungen zur Sprache der deutschen Literatur im Zeitalter des Barock. Francke Verlag. Tübingen / Basel 1995, S. 55.

33 Vgl. Meid (1986), a. a. O., S. 94.

34 Nach: Flemming, a. a. O., S. 126.

35 Vgl. Mannack, a. a. O., S. 37.

36 Beil-Schlicker, a. a. O., S. 55.

37 Vgl. Browning, a. a. O., S. 110f.

38 Vgl. ebd., S. 111.

39 Nach: Meid (1986), a. a. O., S. 90f.

40 Nach: Trunz, Erich: Andreas Gryphius „Tränen des Vaterlandes Anno 1636“. In: von Wiese, Benno: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Bd. 1 vom Mittelalter bis zur Frühromantik. August Bagel Verlag. Düsseldorf 1969, S. 141.

41 Vgl. Ebd., a. a. O., S. 140.

42 Vgl. Ebd., a. a. O., S. 140.

43 Vgl. Beil-Schlicker, a a. O., S. 62.

44 Vgl. Trunz, a. a. O., S. 141.

45 Vgl. Beil-Schlicker, a. a. O., S. 63.

46 Vgl. Browning, a. a. O., S. 110.

47 Vgl. Hunt, a. a. O., S. 18.

48 Nach: Rötzer, Hans Gerd: Geschichte der deutschen Literatur. Epochen - Autoren - Werke. C.C. Buchner. Bamberg 1996, S. 66.

49 Nach: Ebd., S.66.

50 Vgl. Braak (1979), a. a. O., S. 99f

51 Richter, Karl (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen Band 2. Aufklärung und Sturm und Drang. Reclam. Stuttgart 1983, S. 9.

52 Vgl. von Wilpert, Gero: Sachwörterbuch der Literatur. 7., verbesserte und erweiterte Auflage. Alfred Kröner Verlag. Stuttgart 1989, S. 27.

53 Vgl. Große, Wolfgang: Aufklärung und Empfindsamkeit. In: Hinderer, Walter (Hrsg.): Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Zweite erweiterte Auflage. Könighausen & Neumann. Würzburg 2001, S. 154f.

54 Vgl. Pütz, Peter: Aufklärung. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Reclam. Stuttgart 1978, S. 120ff.

Ende der Leseprobe aus 112 Seiten

Details

Titel
Deutsche Kriegslyrik seit dem Barock. Die Entwicklung der Darstellung von Krieg
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
112
Katalognummer
V948045
ISBN (eBook)
9783346292452
ISBN (Buch)
9783346292469
Sprache
Deutsch
Schlagworte
deutsche, kriegslyrik, barock, entwicklung, darstellung, krieg
Arbeit zitieren
Tim Reese (Autor:in), 2007, Deutsche Kriegslyrik seit dem Barock. Die Entwicklung der Darstellung von Krieg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/948045

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