Der Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund. Die Rolle von ethnischer und institutioneller Diskriminierung


Hausarbeit, 2016

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Zur Situation von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem

3. Ursachen
3.1. Merkmalsbezogene Ursachen
3.2. Schulorganisatorische und institutionell begründete Ursachen

4. Theoretische Hinwendung zum Begriff Diskriminierung

5. Diskriminierung im schulischen Kontext

6. Wissenschaftliche Positionen

7. Schlussbetrachtung

8. Quellen

1. Einleitung

Bildung und Wissen sind zentrale Ressourcen in unserer Gesellschaft. Neben Geld haben sie entscheidenden Einfluss auf die Handlungs- und Gestaltungsspielräume von Menschen. Bil­dung ist in kapitalistisch geprägten Gesellschaften aber auch ein Wirtschaftsfaktor, der die Wettbewerbsfähigkeit steigert, Innovationspotenzial fördert und somit auch zum Wirt­schaftswachstum entscheidend beiträgt. Die Vermittlung von Bildung und Wissen geschieht in modernen Gesellschaften vorrangig institutionell, also über Bildungseinrichtungen, die staatlich strukturiert und reglementiert sind. Bildung ist somit auch ein Politikum und je nach politischem Lager existieren unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Bildungsungleich­heit zu bewerten ist, wann sie gerechtfertigt ist bzw. wann sie als ungerecht gilt. Als Orien­tierungsrahmen dient dabei meist das Leistungsprinzip: Chancengleichheit bedeutet in die­sem Sinne also keine Ergebnisgleichheit, denn Ungleichheiten beim Bildungserfolg werden bei ungleicher Leistung gerechtfertigt. Diese Rechtfertigung setzt jedoch auch voraus, dass gleiche Handlungsmöglichkeiten bei den Akteurinnen und Akteuren bestehen müssen.

Insbesondere der Pisaschock im Jahr 2001 hat deutlich gemacht, dass etliche Defizite im deutschen Bildungssystem existieren. Zum einen zeigen sich diese bei den kognitiven Fähig­keiten und hier insbesondere in der Lesefähigkeit, im Textverstehen und im Mathematikver­ständnis. Zum anderen wurde durch die Ergebnisse der Pisa-Studie, die von der OECD durch­geführt wird, aber auch deutlich, dass sich in Deutschland anhand der Dimension der sozia­len Herkunft eine sehr deutliche Bildungsungleichheit abzeichnet. Dieses Ergebnis bestätigte 2007 schließlich auch der Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung der Vereinten Nationen, der dem deutschen Bildungssystem in seinem Bericht einen Mangel an Chancen­gleichheit attestierte.

Aus dem daraus erwachsenen Handlungsbedarf wurden in den letzten Jahren in allen Bun­desländern Reformen im Bildungssystem durchgeführt. Insbesondere ein Ausbau der Ange­bote im Bereich der frühkindlichen Bildung, der Ganztagsbetreuung und eine Ausdifferenzie­rung innerhalb des allgemeinbildenden Schulwesens haben stattgefunden. So gibt es im dreigliedrigen Schulsystem mittlerweile mehr Möglichkeiten einen höheren Bildungsab­schluss zu erreichen. Aufgrund dessen hat sich auch die Anzahl mittlerer Schulabschlüsse und die Anzahl der Hochschulzugangsberechtigungen erhöht. Bestehende soziale Disparitä­ten beim Bildungserfolg sind in Deutschland aber nach wie vor, auch im Vergleich mit ande­ren Industriestaaten, sehr hoch. Bis jetzt ist es in Deutschland nicht gelungen, die Bildungs­chancen und somit die Handlungsmöglichkeiten von Kindern aus sozial schwachen und bil­dungsfernen Familien und von Kindern mit Migrationshintergrund insoweit zu stärken, dass sie in ähnlicher Weise Bildungserfolge erzielen, wie Kinder aus der Mitte der Gesellschaft oder sogenannte Akademikerkinder.

Die vorliegende Arbeit analysiert, welche Ursachen diesen Disparitäten zugrundeliegen kön­nen. Der Fokus liegt dabei auf mögliche Formen der Diskriminierung im Bildungssystem, die sich insbesondere negativ auf den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund auswirken. Ob solche Diskriminierungen existieren und an welchen Stellen sie zum Einsatz kommen bzw. kommen können, wird in der vorliegenden Arbeit erörtert.

Hierfür wird zunächst die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem näher erläutert. Im Anschluss daran werden die im fachlichen Diskurs ge­nannten Ursachen skizziert und mögliche Formen von Diskriminierungen im Schulalltag so­wie ihre Folgen beschrieben. Abschließend werden die im Fachdiskurs vorhandenen Positio­nen dargestellt.

2. Die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund im deut­schen Bildungssystem

Zur Situation von Kindern mit Migrationshintergrund1 im deutschen Bildungssystem muss zunächst angemerkt werden, dass die Datenlage zur Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund* nach wie vor gering ist. Eine Vergleichbarkeit der erhobenen Daten sowie eine daraus hervorgehende Metaanalyse bereits bestehender Studien ist aufgrund der unterschiedlich verwendeten Ausgangsdaten kaum möglich. Dies ist insbesondere dem Um­stand geschuldet, dass in einigen Studien erst seit wenigen Jahren über die Nationalität der Schülerinnen und Schüler hinaus auch deren Migrationshintergrund erfasst wird.2 Auch die Definition des Migrationshintergrundes unterscheidet sich hierbei wiederum mehr oder minder stark.3 Weiterhin besteht das Problem, dass bei vielen Studien zwar ein Migrations­hintergrund erfasst, jedoch dann nicht nach der jeweiligen ethnischen Herkunft unterschie­den wurde. Somit kann zwar ggf. eine Aussage zum formalen Bildungsabschluss, zu den Schulleistungen oder zur Bildungsbeteiligung an bestimmten Schultypen von Kindern mit Migrationshintergrund insgesamt gemacht werden, jedoch zeigt sich bei näherer Betrach­tung, dass bestimmte Gruppen von Migrantinnen und Migranten beispielsweise sehr viel häufiger an Hauptschulen anzutreffen sind, als andere. Die fehlende separierte Erfassung einzelner ethnischer Gruppen, kann allerdings dadurch gerechtfertigt werden, dass eine möglicherweise daraus resultierende geringe Stichprobengröße keine sicheren Rückschlüsse zur Bildungsbeteiligung der einzelnen Gruppen mehr zulassen würde. Dies trifft insbesonde­re bei einem Rückgriff auf die Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) zu (Diefenbach: 24). Weiterhin ist die Vergleichbarkeit von Leistungsstudien dadurch erschwert, dass die Leistungen von Schülerinnen und Schülern in unterschiedlichen Fächergruppen, je nach Stu­die mit unterschiedlichen Testmaterialien erfasst werden. Auch sind vorhandene Studien zur Leistungserfassung bzw. Leistungsbeurteilung dahingehend kritisch zu betrachten, da, insbe­sondere im Fach Deutsch, oft nur spezifische Bereiche abgefragt werden. So wird dort häufig nur das Leseverstehen, jedoch nicht das Grammatikverständnis etc. erfasst (vgl. Kristen: 24). Dadurch kann kein umfassendes Bild der Leistungen von Schüler_innengruppen im Vergleich zu anderen abgebildet werden. Daran anknüpfend sind auch nur eingeschränkt Aussagen über die Beurteilung der Leistungen durch die Lehrkräfte insbesondere im Fach Deutsch möglich. Denn diese könnten in die Leistungsbeurteilung, neben dem erfassten Leistungs­ausschnitt, das breitere Leistungsspektrum der Schülerin/des Schülers miteinbeziehen. So­mit verwundert es nicht, dass die Ergebnisse der bereits vorhandenen Studien teils stark variieren (Bericht der Migrationsbeauftragten: 60).

Als weiterer wichtiger Punkt ist anzufügen, dass es kaum aussagekräftige Längsschnittstudi­en zum Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund gibt. Zurückzuführen ist dies auf den hohen Aufwand und die hohen Kosten solcher Studien, bei denen u.a. sehr komple­xe statistische Auswertungsverfahren erforderlich sind. Hinzu kommen die erst späte Erfas­sung des Migrationshintergrundes und schließlich auch die Panelmortalität, die den Umfang der Grundgesamtheit sehr einschränkt. Durch solche Langzeitstudien jedoch, könnten kon­kretere Aussagen zum gesamten Schulverlauf und insbesondere zu den Bildungsübergängen und anderen wichtigen Schwellen gemacht werden, die als besonders entscheidend für ei­nen erfolgreichen Bildungsverlauf gelten. Vor allem der Einfluss der beteiligten Akteure wie Lehrkräfte, Eltern, Peers und der Institution Schule auf den Schulerfolg von Kindern und Ju­gendlichen könnte so hinreichender untersucht werden.

Bei der Betrachtung der Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern hinsichtlich ihres ethnischen Hintergrundes muss weiterhin angemerkt werden, dass zwischen den Bundes­ländern teils erhebliche Unterschiede bestehen: Diese beziehen sich einerseits auf den Bil­dungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund insgesamt sowie andererseits auf den Bildungserfolg der jeweiligen ethnischen Gruppen. Auch die Anteile und die Zusammenset­zung der unterschiedlichen ethnischen Gruppen in den Bundesländern variieren teils erheb­lich. Zudem existieren in den Bundesländern jeweils unterschiedliche schulische Konzepte. Dies bedeutet, dass die Studienergebnisse einer Studie, die im Stadtstaat Hamburg durchge­führt wurde, nicht vorbehaltlos mit den Bedingungen beispielsweise in Berlin oder Bayern vergleichbar sind.

Wie bereits beschrieben, lassen sich am meritokratischen Modell (Rössel: 186) orientiert, - also in der direkten Beurteilung durch Leistungstests, nur sehr schwer eindeutige Aussagen zum Leistungsspektrum und zur Lehrendenbeurteilung von Kindern mit Migrationshinter- grund insgesamt machen.4 In der Betrachtung hinsichtlich der Anteile ethnischer Gruppen an bestimmten Schultypen - sog. Proporzmodell -, nach der Datenlage der Schulstatistik5 kann gesagt werden, dass im Schuljahr 2012/2013 ausländische Schülerinnen und Schüler (27,5%) nahezu dreimal so häufig an Hauptschulen anzutreffen waren als deutsche Schüler_innen (10,6%). Diese Schulform ist es auch, die von Kindern mit Migrationshintergrund nach wie vor am häufigsten besucht wird. Während die Anteile an den Realschulen ähnlich verteilt sind (20,2% ausl. - 21,3% dt. Schülerinnen) drückt sich an den Gymnasien ebenfalls ein star­kes Missverhältnis aus: Hier sind 2012/2013 mit 24,5 % ausländische um die Hälfte weniger vertreten, als deutsche Schüler_innen (48,9%). Auch an Förderschulen sind ausländische Kinder und Jugendliche (9,7%) zu fast einem Drittel häufiger vertreten (deutsche Kinder 6,7%). Der Bericht Bildung in Deutschland 2014 der Autorengruppe Bildungsberichterstat­tung weißt weiterhin darauf hin, dass 2012 17 Prozent der 18 - 25jährigen ausländischen Personen in Deutschland der Gruppe der frühzeitigen Schulabgänger_innen ohne einen Ab­schluss des Sekundarbereichs II angehörten, während es bei den Personen deutscher Her­kunft acht Prozent waren. 62 % der deutschen erlangen außerdem eine Hochschulzugangs­berechtigung und lediglich 27 % der ausländischen Schülerinnen und Schüler (vgl. Auslän­derbericht: 62ff. sowie Bildungsbericht: 92).

Werden die Daten des Mikrozensus6 betrachtet, der nicht nur die Daten von ausländischen Schüler_innen, sondern auch von Schüler_innen mit Migrationshintergrund erfasst, zeigen sich ähnliche Anteile. Die Unterschiede in den Anteilen an den Schulformen zwischen Schü- ler_innen mit und ohne Migrationshintergrund bei der Alterskohorte der 15 bis 20-jährigen sind jedoch weniger gravierend: 2012 waren 14,9 % der Schüler_innen mit Migrationshinter­grund ohne Abschluss, 8,2 % waren es bei den autochthonen Schüler_innen. Auch bei den Hauptschulabschlüssen waren Migrant_innen mit 32,4 % mehrheitlich vertreten (Deutsche 24,8%). Über einen mittleren Schulabschluss verfügten 2012 39,7 % der Migrant_innen (Deutsche 48,9%) und Abitur/Fachabitur hatten 12,5 % der Migrant_innen dieser Altersko­horte (18% Autochthone). Im Zeitverlauf betrachtet, wird jedoch ersichtlich, dass sich die Anteile von Kindern mit Migrationshintergrund an den Hauptschulen umfangreicher verrin­gert haben, als die Anteile autochthoner Kinder. Anders ist dies mit den Anteilen an Gymna­sien. Zwar zeigen sich seit 2005 auch hier Zuwächse bei den Personen mit Migrationshinter­grund (2005: 8,1%; 2012: 12,5%), der Zuwachs der Personen ohne Migrationshintergrund fällt jedoch noch deutlicher aus (2005: 10,2%; 2012: 18%). Werden die Ergebnisse der OECD- Leistungsstudie PISA betrachtet, die seit dem neuen Jahrtausend das Leistungsspektrum der Schülerinnen und Schüler der OECD-Länder, mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten erfasst, wird ebenfalls wiederholt der im deutschen Bildungssystem bestehende Zusammen­hang zwischen dem Bildungserfolg und der ethnischen sowie der sozialen Herkunft betont: Kinder aus Migrantenfamilien sowie Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status werden darin durchweg als Risikogruppen benannt, da sie schlechtere schulische Leis­tungen in den bisherigen Pisatests zeigten (vgl. Ausländerbericht: 61ff).7

Die sozialen Disparitäten beim Bildungserfolg in Deutschland beziehen sich somit nicht nur auf Migrantenkinder, sondern diese betreffen auch insbesondere Kinder mit niedrigem sozi­oökonomischen Status. Im Bericht Bildung in Deutschland 2014 der Bundesregierung (Bil­dungsbericht) werden diesbezüglich sog. Bildungsrisiken8 benannt, von denen Kinder aus sozial schwachen Familien sowie Migrantenkinder - und hier insbesondere Kinder türkischer Herkunft - auffallend stark betroffen sind: Der Bericht gibt an, dass Kinder von Eltern türki­scher Herkunft zu 68 Prozent mindestens einem Bildungsrisiko ausgesetzt sind. Bei Kindern ohne Migrationshintergrund liegt hier der Anteil bei 29 Prozent (Bildungsbericht, 24). Wei­terhin sind Kinder mit türkischem Migrationshintergrund auch mehreren Risikolagen ausge­setzt: Ihr Anteil liegt bei 11 Prozent, der deutscher Kinder bei drei Prozent.9 Auch zahlreiche Einzelstudien betonen wiederholt den auffallend geringeren Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen türkischer Herkunft, im Vergleich mit anderen ethnischen Gruppen, wie bei­spielsweise Kinder griechischer Herkunft (vgl. u.a. Diefenbach: 54). So ist auch der Anteil von Kindern und Jugendlichen türkischer Herkunft an Hochschulen (vgl. Bildungsbericht: 235) nach wie vor auffallend niedrig (2012 8,4% : 15,8% Deutsche).10 Diefenbach beschreibt das deutsche Bildungssystem entsprechend als „ethnisch segmentiert" (Diefenbach: 77).

Abschließend muss jedoch angemerkt werden, dass sich in den letzten Jahren merkliche Verbesserungen bei der Bildungsbeteiligung und beim Bildungserfolg von sowohl Kindern mit Migrationshintergrund als auch von Kindern und Jugendlichen mit niedrigem sozioöko­nomischen Status vollzogen haben.11 Vor allem bei Personen türkischer Herkunft hat sich die Bildungsbeteiligung von 2005 auf 2012 stark erhöht. Ihr Anteil an Hochschulen hat sich von 4,2 % auf 8,4 % verdoppelt (Bildungsbericht: 38).

Wie diese Steigerungen erwirkt wurden, muss jedoch durch weitere wissenschaftliche Un­tersuchungen erst noch abgeklärt werden. Das folgende Kapitel erläutert, welche Ursachen für das schlechtere Abschneiden von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Bil­dungssystem diskutiert werden.

3. Ursachen

Die Argumente hinsichtlich der Ursachen für die unterschiedliche Bildungsbeteiligung und den besseren bzw. schlechteren Bildungserfolg von bestimmten Migrant_innengruppen sind vielfältig. Nach Diefenbach (87ff.) und Radke (661) lassen sich zwei Argumentationsstränge unterscheiden:

3.1. Merkmalsbezogene Ursachen

Der erste Argumentationsstrang bezieht sich auf die Merkmale von Kindern mit Migrations­hintergrund bzw. deren Eltern. Hier stehen mögliche sozio-kulturelle oder sozio­ökonomische Defizite sowie Bedingungen, die mit der jeweiligen Migrationssituation oder dem Minderheitenstatus in Zusammenhang stehen im Zentrum. Als Beispiele können andere Bildungsaspirationen der Schüler_innen und deren Eltern durch mögliche Alternativkarrieren in der ethnischen Community oder Rückkehrorientierungen genannt werden. Auch die Aus­Wirkung von allgemein vorherrschenden Stereotypisierungen auf die Betroffenen, geringeres Humankapital sowie schichtspezifische Nachteile, werden innerhalb dieses Argumentations­strangs thematisiert. Ein weiteres zentrales Argument sind die geringeren Anteile von Kin­dern mit Migrationshintergrund beim Kitabesuch. Denn insbesondere ein Kitabesuch könne - so die Argumentation beispielsweise im 10. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (sog. Ausländerbericht) - ungleiche Startchancen von Beginn an effektiv re­duzieren (vgl. u.a. Ausländerbericht: 52). Ein zeitnaher Kitabesuch könne sprachliche Defizite früher ausgleichen, soziale Netzwerke könnten besser geknüpft und damit die soziale Kapi­talausstattung erhöht werden. Weiterhin würden die Eltern, die Bildungsinstitutionen und darin vorherrschende Erwartungen besser kennenlernen sowie Informationen über non­formale und informelle Lernangebote erhalten und diese im Idealfall nutzen.

Als theoretischer Bezugsrahmen bzw. als Erklärungsmodell kann hier die Theorie der rationa­len Entscheidungen von Raymond Boudon (1974) herangezogen werden.12 Bei dieser Theorie legt Boudon seinen Fokus auf akteurs- und klassenspezifische Bildungsentscheidungen, die vorrangig ein Resultat von Kosten-Nutzen-Abwägungen verschiedener Bildungsalternativen seien. Anhand dieser klassenspezifischen Entscheidungen ist für Boudon die anhaltend man­gelnde soziale Mobilität im Bildungssystem, trotz für ihn formal gleicher Bildungschancen und verfügbarer Handlungsalternativen erklärbar. Er unterscheidet dabei primäre und se­kundäre Herkunftseffekte: Primäre Herkunftseffekte beschreiben ungleiche soziale Her­kunftsbedingungen je nach Klassenlage, die sich auf die schulischen Bildungsleistungen aus­wirken. Hat die Familie also einen bildungsarmen Hintergrund, mit niedrigen Bildungsab- schlössen der Eltern, eine geringe finanzielle Kapitalausstattung, einen geringen Bestand an Büchern und kulturellen Gütern im Haushalt etc., wirkt sich dies nachteilig auf die schuli­schen Leistungen und damit auf den schulischen Erfolg der Kinder aus. Denn diese Familien seien beispielsweise weniger in der Lage eine günstige Lernumgebung für die Kinder zu schaffen, finanzielle Mittel für Nachhilfestunden oder außerschulische Lernorte zu generie­ren oder elterliche Unterstützung bei Schulaufgaben zu leisten. Der sekundäre Herkunftsef­fekt schließlich, bezieht sich auf die Bildungsentscheidungen bei gleichen Schulleistungen der Kinder. Diese würden, so Boudon, klassenspezifisch unterschiedlich ausfallen. Dies liege u.a. daran, dass die Bildungskosten für weniger privilegierte Familien zu hoch seien oder die Notwendigkeit eines hohen Schulabschlusses oder Studiums bzw. die Bildungserträge bei unteren Klassen als weniger bedeutsam erachtet werden (vgl. Kahlert in Kneer und Schroer: 74ff sowie Rössel: 204f.).

Boudon bezieht sich also nicht explizit auf migrationsbedingte oder gar kulturdeterministi­sche Ursachen und Merkmale, sondern allein auf Merkmale der sozialen Herkunft, die zu Risikofaktoren beim Bildungserfolg werden können. Wird diese Perspektive weiter verfolgt, zeigt sich, dass Migrantinnen und Migranten besonders häufig einen niedrigen sozioökono­mischen Status aufweisen bzw. - aus der Perspektive Boudons oder Bourdieus - in unteren Klassen anzutreffen sind: Im Bericht Bildung in Deutschland wird an dieser Stelle von beson­deren Risikolagen gesprochen, denen Kinder aus Migrantenfamilien ausgesetzt sind. Den Daten des Mikrozensus von 2012 ist zu entnehmen, dass Migrant_innen in Deutschland zu 27 % armutsgefährdet sind (Autochthone 12%). Diese erhöhte Armutsgefährdungsquote von Personen mit Migrationshintergrund lässt sich außerdem bei allen untersuchten Kohorten und auch bei Personen mit hohem Bildungsabschluss feststellen (Ausländerbericht: 30). Da­ran knüpft sich auch die Problematik an, dass Migrantinnen und Migranten doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Personen deutscher Herkunft (ebd.). Schließlich wei­sen Eltern mit Migrationshintergrund nach wie vor häufiger niedrige Bildungsabschlüsse auf. Dementsprechend kommen bei Kindern mit Migrationshintergrund drei zentrale Risikofakto­ren zusammen, die sich nachweislich negativ auf den Bildungserfolg auswirken: Armut, Ar­beitslosigkeit und niedrige Bildungsabschlüsse der Eltern.

An Boudons Theorie, bezogen auf die sekundären Herkunftseffekte, also die klassenspezifi­schen Bildungsentscheidungen, muss jedoch insofern Kritik geübt werden, dass - so konnte u.a. eine Studie von Bernhard Nauck zeigen - Bildungsaspirationen von Eltern mit Migrati­onshintergrund, im Vergleich zur autochthonen Bevölkerung überdurchschnittlich hoch sind (vgl. Diefenbach: 91) und die soziale Herkunft hier einen insgesamt weniger stratifizierenden Einfluss besitzt als bei Autochthonen.13 Es kann folglich also angenommen werden, dass El- tern mit Migrationshintergrund ein anderes Entscheidungsverhalten zeigen als autochthone Eltern der gleichen Klasse. Insofern scheinen bei Kindern mit Migrationshintergrund weitere Einflussfaktoren bei den Bildungsentscheidungen und beim Bildungserfolg eine Rolle zu spie­len.

Alle Erklärungsmodelle zur Ungleichheit im Bildungssystem, die sich vorrangig auf die Merk­male der sozialen Herkunft beziehen, können auch insofern interpretiert werden, dass der Misserfolg von Schüler_innen mit niedriger sozialer Herkunft durch eine mangelnde Passung mit den institutionell vorherrschenden Strukturen und Verfahrensweisen in den Schulen zu erklären ist. Dadurch wird auch nachvollziehbar, wieso im internationalen Vergleich, manche Staaten erfolgreicher darin sind, den Zusammenhang der sozialen Herkunft und schulischem Erfolg zu minimieren. Die von Boudon beschriebenen primären Herkunftseffekte können also je nach Bildungssystem und den darin vorherrschenden Institutionalisierungen besser oder schlechter gepuffert werden. Und auch die sekundären Herkunftseffekte scheinen auf­grund der hohen Bildungsaspirationen bei Migrant_innen weniger ins Gewicht zu fallen.

3.2. Schulorganisatorische und institutionell begründete Ursachen

Die zweite Argumentationslinie nimmt somit die Merkmale der Institution Schule in den Fo­kus. Hauptargumente für die schlechtere Performance von Kindern mit Migrationshinter­grund an deutschen Schulen sind hier die mit dem Schulbesuch zusammenhängenden Kon­textbedingungen - beispielsweise die ethnische Zusammensetzung der Klasse oder der Um­gang der Lehrkräfte mit den Schülerinnen und Schülern. Die Antidiskriminierungsstelle (ADS) (Bericht der ADS: 88f.) mahnt insbesondere im städtischen Raum Formen einer Segregation an, die anhand eines hohen Anteils an Kindern mit Migrationshintergrund an bestimmten Schulen zum Ausdruck kommt. Einerseits sei dies eine wohnräumliche Segregation, durch die ethnische Zusammensetzung der Stadtteilbewohner_innen verursacht, andererseits durch die Schulwahl der Eltern. Schließlich weisen Studien darauf hin, dass Klassen mit ei­nem sehr hohen Anteil an Kindern mit niedrigem sozioökonomischen Status, und darunter häufig Kinder mit Migrationshintergrund, tatsächlich die Lernfortschritte der Schüler_innen vermindern können (ebd.: 89).

Auch das Argument der niedrigeren Anteile beim Kitabesuch von Kindern mit Migrationshin­tergrund und die daraus resultierenden Defizite der Kinder bzw. das Nicht-Nutzen eines An­gebotes zur Nivellierung von geringeren Bildungschancen, kann innerhalb dieses Argumenta­tionsstranges diskutiert werden. So können auch hier institutionelle Hürden Ursache dafür sein, dass Eltern mit Migrationshintergrund das Kitaangebot weniger für Ihre Kinder nutzen können. Denn es besteht zwar grundsätzlich ein Recht auf einen Kitaplatz, jedoch ist die frühkindliche Bildung nach wie vor freiwillig und kostenpflichtig. Auch das begrenzte Ange­bot an Kitaplätzen hat eine Reglementierung des Zugangs zur Folge: Meist nur Kindern von 44ff.). Insbesondere das Problem segregierter Schulen bzw. homogener Klassen, könnte - bezogen auf den Einflussfaktor von Peers, aber auch Eltern - zur Folge haben, dass Kinder aus Problembezirken weniger in der Lage sind Bildungsaspirationen aufbauen. Ob dies der Fall ist, müsste durch weitere Studien geklärt werden.

[...]


1 Der Begriff „Kinder mit Migrationshintergrund" kann hinsichtlich der unterschiedlichen Definitionen bei den vorliegenden Daten und Studien bzgl. des Migrationshintergrundes, an dieser Stelle nicht klar abgegrenzt wer­den: Generell gilt aber, dass Kinder, unabhängig ihrer Nationalität und ihres Geburtslandes als Kinder mit Mig­rationshintergrund bzw. Migrantenkinder bezeichnet werden, sobald wenigstens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren ist. Außerdem befasst sich die vorliegende Arbeit nicht mit der Diskriminierung im Bildungsbereich von sog. status­losen Kindern oder mit Kindern, die sich im Asylverfahren befinden oder eine Duldung besitzen, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde. *An dieser Stelle soll für die vorliegende Arbeit grundsätzlich betont werden, dass sich die Verfasserin der Problematik bewusst ist, dass die von ihr verwendeten Begrifflichkeiten und Kategorisierungen, Differenzen betonen und bereits vorhandene Zuschreibungen weiter verfestigen können. Dies widerspricht dem eigentli­chen Ziel, für Stereotypen zu sensibilisieren und angenommene Kategorisierungen und Differenzen abzubauen.

2 Im Mikrozensus, wird der Migrationshintergrund erst seit 2005 erfasst, in der Schulstatistik der jeweiligen statistischen Landesämter wird nach wie vor in der Mehrzahl nur zwischen ausländischen und deutschen Schü- ler_innen unterschieden.

3 Beispielsweise können darin Personen subsummiert sein, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder diese werden extra als Ausländer_innen aufgeführt. Eine weitere Abweichung kann sich in der Unter­scheidung der EU-Zugehörigkeit oder nach Drittstaaten ergeben oder es werden nur solche Personen einge­nommen, bei denen beide Elternteile eine nicht-deutsche Herkunft aufweisen. Viele Studien wiederum definie­ren einen Migrationshintergrund, wenn bereits nur ein Elternteil eine nicht-deutsche Herkunft aufweist, also im Ausland geboren ist. Auch die nicht-deutsche Verkehrssprache im elterlichen Haushalt wird teilweise als weite­res Merkmal mit einbezogen. Näheres hierzu u.a. im 10. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (sog. Ausländerbericht).

4 Die Pisastudie der OECD ist wohl eine der bekanntesten Studien, die das Leistungsspektrum der Schüler_innen aller OECD-Staaten misst. Weiterhin gibt es zahlreiche kleinere Studien, die neben dem Leistungsspektrum auch die Lehrendenbeurteilung in den Blick nimmt. Exemplarisch können hier NEPS, LAU und IGLU genannt werden.

5 Die Daten der Schulstatistik werden als nicht hinreichend aussagekräftig beurteilt, da dort, wie bereits aufge­führt, nur der Status Ausländer_in und Deutsche_r erfasst wird. Auch die exakte Erfassung der Daten an den Schulen hinsichtlich der dort vorherrschen knappen Ressourcen wird kritisiert. Aufgrund der mangelnden um­fassenden quantitativen Datenlage wird aber auch auf diese Daten zurückgegriffen. Weitere Ausführungen siehe 10. Ausländerbericht S. 60f.

6 Der Mikrozensus bezieht seine Daten aus der Befragung von Alterskohorten, ein direkter Vergleich mit der Schulstatistik, die jeweils Jahrgänge untersucht, ist deshalb nicht sinnvoll.

7 Auch bei der statistischen Kontrolle der sozioökonomischen Verhältnisse, bleibt bei der Pisastudie der Migra­tionshintergrund als Einflussfaktor bei den gemessenen Leistungen bestehen. Dies widerspricht beispielsweise dem Studienergebnis von Kristen, die lediglich das Merkmal der sozialen Herkunft als für den Bildungserfolg nachweisbar erkennt.

8 Die Bildungsrisiken bzw. Risikolagen sind abgeleitet von familiären Strukturmerkmalen, wie der Bildungsbetei­ligung, dem Bildungsniveau und dem sozioökonomischen Status, die einen gravierenden Einfluss auf die Ent­wicklungs- und Bildungsprozesse der Kinder haben. Es werden drei Arten von Risikolagen unterschieden: Eine finanzielle und soziale Risikolage sowie die Risikolage bildungsferner Eltern. (Bildung in Deutschland : 23)

9 Ausführliche Zahlen sind dem Bericht Bildung in Deutschland zu entnehmen

10 Auf geschlechtsspezifische Unterschiede beim Bildungserfolg von Schüler_innen mit Migrationshintergrund wird in dieser Arbeit aus Kapazitätsgründen nicht eingegangen. Jedoch sollte angemerkt werden, dass deutlich mehr Jungen mit Migrationshintergrund die Schule ohne qualifizierenden Abschluss verlassen als Mädchen und das Mädchen öfter höher qualifizierende Abschlüsse erreichen (vgl. u.a. Diefenbach: 73).

11 Insbesondere der Bericht Bildung in Deutschland 2014 betont diese Erfolge. Weitere Erklärungsmodelle zur Ungleichheit im Bildungssystem wären die Konflikttheorie von Bourdieu, der Sozial-ökologische Ansatz Bronfenbrenners oder linguistisch inspirierte Theorien schichtspezifischer Sozialisati­on von z.B. Bernstein (vgl. Radtke: 661f.).

12 Diese hohen Aspirationen zeigen sich besonders bei Migrantinnen und Migranten türkischer Herkunft (vgl. Relikowski et al.: 117).

13 Weiterhin weisen Wohlkinger und Ditton darauf hin, dass Bildungsentscheidungen generell als Prozess zu be­trachten seinen, an denen neben den Eltern und Lehrenden auch die Kinder selbst beteiligt sind. Die Eltern würden dabei ein schichtspezifisches Entscheidungsverhalten zeigen und die Lehrenden eine sozialspezifische Empfehlungspraxis. Insbesondere die Wünsche der Kinder könnten - den Studienergebnissen von Wohlkinger und Ditton nach - jedoch in nicht unerheblichem Maße die Lehrendenempfehlung mit beeinflussen. Wobei wiederum das Wunschverhalten der Kinder durch Peers sehr stark beeinflusst wird (vgl. Wohlkinger/Ditton:

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Details

Titel
Der Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund. Die Rolle von ethnischer und institutioneller Diskriminierung
Hochschule
Universität Potsdam
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
24
Katalognummer
V949603
ISBN (eBook)
9783346288264
ISBN (Buch)
9783346288271
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Migrationssoziologie, Bildung, Migrantenkinder, Bildungssystem, Diskriminierung, Institutionelle Diskriminierung, Institutioneller Rassismus, Rassismus
Arbeit zitieren
Katrin Geier (Autor:in), 2016, Der Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund. Die Rolle von ethnischer und institutioneller Diskriminierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/949603

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