Aufstieg und Untergang europäischer Nationen -exsimplifiziert an den Theorien Eric J. Hobsbawms


Trabajo de Seminario, 1996

20 Páginas


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Verwandlung des Nationenbegriffes

3. Das europäische Nationalbewußtsein seit der Französischen Revolution

4. Die Renaissance des Nationalen am Ende des Jahrhunderts

5. Hobsbawms Standpunkte zum Themenbereich

6. Schluß

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Den tiefen Grund für die Orientierungslosigkeit innerhalb der gegenwärtigen Politik sehen viele in der Auflösung tradierter Gewohnheiten und althergebrachter kultureller Überlieferungen. Die altokzidentale Ordnungsvorstellung von Universalismen und die rasante Beschleunigung der ökonomischen Internationalisierung wurden seit eh und werden seit heute als die Scharfrichter der territorialen Eigenheiten angesehen. Gerade der Erhalt nationaler Identitäten und die selektiven Besonderheiten dieser sollten doch der geschichtliche Garant eines Schutzes vor den zermürbenden Einflüssen der medialen Gleichschaltungen und des überschreitenden Warenverkehrs sein. Um so mehr sollte man sich, am Ende des Zeitalters der Extreme (Hobsbawm) verwundern, daß das Nationale von einer unterschwelligen Salonfähigkeit hin zu einem politischen Leitmotiv mutiert. Dachten die verwegensten Politiker der Europapolitik noch in den vierziger und fünfziger Jahren, durch den Faschismus sei der Nationalismus endgültig diskreditiert und das freie "intra- europäische" Europa wäre nur noch eine Frage des politischen Arrangements, so stehen die Politiker von heute wieder vor einem nationalen Flickenteppich, wie er seit dem Beginn des I. Weltkrieges nicht mehr gesehen worden ist. Die Vermutung ist nicht unbegründet, daß mit der Auflösung der sogenannten Ostblock-Staaten nur die Ouvertüre zu tiefgreifenden Veränderungen einsetzte. Jeder, der nach dem II. Weltkrieg geboren wurde, hat nicht solche politischen Umwälzungen erlebt wie seit 1989. Die konfliktorientierten Auseinandersetzungen in den alten Balkanstaaten und der ehemaligen Sowjetunion und neofaschistische Bewegungen in den westlichen Ländern lassen wieder ein Gespenst durch Europa laufen: das Gespenst des Nationalismus.

In dieser Arbeit sollen die in diesem Kontext erschienen Werke von Eric J. Hobsbawm dargestellt werden. Hobsbawm, ein international renommierter Sozialhistoriker und streitbarer Marxist (früher Mitglied der KP Großbritanniens), führte in mehreren seiner Werke die moderne Entstehungsgeschichte der Nationen und die Auswirkungen eines Nationalismus aus, bis er schließlich ein zentrales Werk mit explizit dieser Thematik herausbrachte (Nationen und Nationalismus - Mythos und Realität seit 1780; dtv, ... 1992).

In dieser Arbeit wird sich zum großen Teil auf dieses, aber auch auf andere und frühere Werke von Hobsbawm gestützt werden. Die Schriften Hobsbawms sind deshalb von großem Interesse, weil Sie zum einem eine fulminante Zusammenführung von bereits erschienenen wissenschaftlichen Werken dieses Themenbereiches darstellen und zweitens eine rationale Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ermöglichen sollen. Um den Stellenwert Hobsbawms Arbeiten darzustellen, soll an dieser Stelle ein anderer ernsthafter Historiker zitiert werden: "Der seriöse Historiker erkennt den historischen Charakter aller Werte; derjenige aber, der für seine eigenen Werte eine Objektivität hinter der Geschichte beansprucht, ist nicht ernst zu nehmen. Unsere Glaubenssätze wie unsere Maßstäbe der Beurteilung sind Teil der Geschichte, sie sind der historischen Forschung genauso unterworfen wie jeder andere Aspekt des menschlichen Verhaltens. Heutzutage werden wohl nur wenige Disziplinen der Wissenschaft, am wenigsten aber die Sozialwissenschaften - Anspruch auf totale Unabhängigkeit erheben. Aber die Geschichte steht zu nichts außerhalb ihrer selbst in einem grundsätzlichen Abhängigkeitsverhältnis und unterscheidet sich somit nicht von den anderen Wissenschaften."

Eine begriffs- und entstehungsgeschichtliche Deutung des Staates wird in dieser Arbeit nicht vorgenommen.

2. Die Verwandlung des Nationenbegriffes

Aus der heutigen Sicht stellt sich die Daseinsform der Nation als eines der eigentümlichsten Erscheinungen kollektiven Daseins überhaupt dar. Die Genealogie der Nationalstaaten steht zumeist gleich mit der Vorstellung einer unausweichlichen Deckung von Territorium und Bevölkerung. In vielen Arbeiten und Schriften werden Darstellungen des Nationalstaates als das Endresultat einer Entwicklung von der Familie zur modernen Nation aufgeführt. Unbestreitbar ist die alte Ordnungsvorstellung, daß sich Personenverbände aufgrund gleichgearteter Kultur oder Sprache identifizierten. Hinsichtlich der jungen historischen Erscheinung des Nationalstaates ergibt sich aber in einer geschichtsanalytischen Untersuchung, daß sich unter diesen schematischen Anschauungen näher zu untersuchende und durchaus eigenwillige Entwicklungssprünge vollziehen. "Wir müssen daher recht genau unterscheiden zwischen der Bildung von Nationen und dem Nationalismus als Phänomen jener Epoche [19. Jhdt. /Anm. d. Verf.] und der Schaffung von Nationalstaaten." Um dem Autor zu folgen, soll der terminologische Aspekt des Begriffes "natio" erläutert werden. "Natio ist ein alter, aus der römischen Antike überlieferter Traditionsbegriff, der ursprünglich Geburt oder Abstammung als Unterscheidungsmerkmal von Gruppen aller Art bezeichnet." So wie uns diese Deutung verständlich erscheint, wurde die Verwendung des Begriffes aber keineswegs im Sinne eines ethnischen Gebrauchs verstanden. Für Cicero etwa waren damit die Aristokraten gemeint, für Plinius waren es die Anhänger philosophischer Schulen. Häufig wurde er benutzt als Gegenbegriff zu civitas, also als unzivilisierte Völkerschaft, die keine gemeinsame Institution kannte. Der Begriff natio hatte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine rein standesrechtliche und eher sehr vage Herkunftsbezeichnung. Lange Zeit waren mit natio nur diejenigen gemeint, die im status politicus standen, also eine Beziehung zur Krone oder Geistlichkeit besaßen. "Vom Hohen Mittelalter bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts galt: Nationen bildeten nicht die Gesamtheit des Volks, sondern die herrschende, politisch repräsente Schicht; nicht mit Volksnationen haben wir es hier zu tun, sondern mit Adelsnationen." Die Wandlung der Begrifflichkeit wird auch deutlich, wenn man Wörterbücher vom Ende des 18. Jahrhunderts mit den 100 Jahre später erschienenen Ausgaben vergleicht; es können dort drastische Veränderungen in den Interpretationen festgestellt werden. Das königlich spanische Wörterbuch legte zum Beispiel eine moderne Deutung des Begriffes Nation erst 1884 dar. War die Deutung vor 1884 von nacion"die Gesamtheit der Einwohner einer Provinz, eines Landes oder eines Königreiches," aber auch die Bedeutung für "Fremder", so wurde er nach 1884 wiedergegeben als "ein Staat oder eine politische Körperschaft, die eine höchste gemeinsame Regierungsinstanz anerkennt".

Nationalismus und Staat übernahmen die Assoziationen von Verwandschaftgruppen, Nachbarschaft und Heimatboden und übertrugen sie auf Territorien und Bevölkerungen von einem Umfang und einer Größe, die diese Begriffe auf reine Metaphern reduzierte. Eine konkrete Verwendung von Nation als Ordnungsbegriff wurde zuerst in den Universitäten von Paris und Orléans aufgezeichnet (13. Jahrhundert). Der Begriff Nation wurde benutzt um die vielen Studenten der unterschiedlichen Fakultäten auseinander zu halten. Es gab in Orléans 10 verschiedene Nationen, darunter auch die nation germanique. Zu dieser nation gehörten natürlich die Studenten des Heiligen Römischen Reiches, aber auch die aus Polen, England, Dänemark, Italien und Dalmatien. Es ging dabei um eine ganz pragmatische Sache: die Studenten eines gleichen Sprachraumes [sic!] sollten bezüglich des Unterrichtes eingeteilt werden. Eine Vorstellung von Deckungsgleichheit Staat - Nation - Volk kam den Dozenten der Universitäten gar nicht in den Sinn.

Aber auch wo der Begriff das Politische streifte, war nicht augenblicklich die Gesamtheit eines Königreiches oder Landes gemeint. Fast in ganz Europa waren nur die Leute des staatlich bediensteten oder adligen gehobenen Standes gemeint. "Die deutsche Nation bestand aus den auf dem Reichstag zu Regensburg versammelten Reichsständen, die englische trat im Parlament zu Westminster in Erscheinung, die französische in den Generalständen; und noch Montesquieu erklärte kategorisch, in den états généraux versammle sich "la nation, c ‘ est- à - dire les seigneurs et les evèques."

Die historische Neuartigkeit des Begriffes kommt uns erst entgegen mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Seit dieser Zeit war es konformer Gedanke, daß die Gemeinschaft von Bürgern eines Landes, deren kollektive Souveränität, sie zu Mitgliedern eines Staates machte als ihren politischen Ausdruck. Für Abbé Sieyes war in seiner Schrift "Was ist die Nation?"1789 das Volk der politische Ausdruck der Souveränität, also eine soziologische Definition. Franzose konnte dabei aber nicht nur jemand werden, der der französischen Sprache mächtig war, sondern jeder, der den Idealen der Revolution zustimmte und willens war die französische Sprache zu erlernen. "So faßte beispielsweise der Württemberger Karl Friedrich Reinhard (1761 -1837), Hauslehrer bei einer Händlerfamilie in Bordeaux, beim Bekanntwerden der Nachricht vom Fluchtversuch Ludwigs XVI. den Entschluß, als Franzose leben und sterben zu wollen. Und damit war er Franzose, wurde eine der bedeutendsten Gestalten der französischen Diplomatie und sogar Außenminister Frankreichs".

Wie stand es mit der Sprache generell? Heute wird die Sprache als das eigentliche Fundament einer Nation ausgegeben. Hobsbawm geht in seiner Auffassung über Ursprung und Vielfalt der Sprachen der Völker davon aus, daß erst späte Verallgemeinerung Menschen gleicher Herkunft zu Freunden, Fremde zu Feinden machte. Eine generelle Muttersprache, "d.h. das Idiom, das Kinder von ungebildeten Müttern lernten und für den Alltagsbedarf sprachen, war zweifellos in keiner Hinsicht eine Nationalsprache". Eine einheitliche Sprache konnte in keinem Land nachgewiesen werden, in dem bis zu einem gewissen Zeitpunkt eine allgemeine Schulpflicht unter einem bindenden Gesetz nachgewiesen werden konnte. Sprachen sind, Zitat "[...] das Gegenteil dessen, wofür die nationalistische Mythologie sie ausgibt, nämlich die archaischen Fundamente einer Nationalkultur und der Nährboden des nationalen Denkens und Fühlens."

Während der Französischen Revolution wurde von 50 % der Franzosen Französisch überhaupt nicht und von nur 12 % richtig gesprochen. In Italien zur Zeit des Resortimento (1860) waren es in der Tat nur 2,5 % der Italiener, die die italienische Sprache beherrschten. In Deutschland war Deutsch nur eine Amtssprache, d.h. keine Verkehrssprache und wurde nur in den gutbürgerlichen Beamtenstuben gesprochen. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts (1830-40) gab es schätzungsweise nur dreihundert- bis fünfhunderttausend Personen, die literarische Werke in deutscher Sprache lesen konnten. In den 83 geschaffenen französischen Departments wurde in nur 15 generell Französich gesprochen. Erst mit dem Schulgesetz vom Oktober 1793 wurde verfügt, daß alle Kinder französisch lesen und schreiben lernen sollten. Die Forderung seit Mitte der Sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, Sprache sei der einzige Indikator für Herkunft und Zugehörigkeit, war gerade in Deutschland ein Ausdruck der über Europa zerstreuten Intellektuellen und Nationalisten, nicht der Massenbevölkerung. Ernst Moritz Arndt brachte zum Beispiel als Endlosung seines Vaterlandliedes von 1813 heraus: Das deutsche Vaterland ist überall dort, wo deutsch gesprochen wird. Unter deutschen Intellektuellen setzte sich früh der Gedanke durch, daß die Individualität eines Volkstums sich nur auf gleiche Sprache gründen könnte. Dabei war die deutsche Sprache nie eine einheitlich gesprochene Schriftsprache oder besser Verkehrssprache. "Das Wort deutsch komt von "thiutisk", ein Begriff, der sich im 8. und 9. Jahrhundert, von Bayern ausgehend, in Mitteleuropa ausbreitete und einfach Volkssprache bedeutete: Keineswegs eine einheitliche Sprache, sondern eine Vielfalt von germanischen Stammesdialekten, die sich vom gelehrten Latein der Kirche wie von den romanischen und slawischen Sprachen Europas unterschieden."

Sprache besaß generell bis spät ins 19. Jahrhundert überhaupt kein politisches Potential bezüglich der Massenmobilisierung. Erst ab den Siebziger Jahren setzte sich das Argument der Sprache als politisches Zugehörigkeitsmerkmal langsam durch.

3. Das europäische Nationalbewußtsein seit der Französischen Revolution

Um die tiefgreifenden Veränderungen seit 1789 zu verstehen, soll die geschichtliche Auswirkung der Französischen Revolution kurz skizziert werden. Wie oben schon mehrmals erwähnt, gab es in Europa seit der Französischen Revolution eine immense Transformation von politischer Loyalität. Schon mit der Vorgeschichte der Revolution wurden die traditonellen Garanten dynastischer oder religiöser Legitimation permanent in Frage gestellt. Die althergebrachte Herschaft von Monarchie, die pausenlos geschwächt wurde durch sich verändernde sozio-politische Bindungen, eine Umwertung vieler politischen Beziehungen und die Abwertung der mittelalterlichen Führungsformen, endete durch eine lange Aufklärungsepoche darin, daß sich "Volk" nicht mehr verstand als dumpfe, unpolitische Masse, als Schmarotzer an der bestehenden Ordnung, sondern als freie, unverdorbene Mitglieder einer Gesellschaft, die ihren politischen Tribut an der dynastischen Herrschaft einforderten. "Die alten Bindungen, Mythen und Loyalitäten verblaßten; der einst feste, auch im Geistigen und Religiösen verankerte Sozialkörper der ständisch-agrarischen Gesellschaft brach auf und entließ Myriaden von Einzelwesen, die nach neuer Sinngebung suchten, sofern sie nicht allein mit der nackten Dasseinsfürsorge befaßt waren." Durch die Französische Revolution wurden Identifikations- und Konsensmuster hervorgerufen, die abnorme soziale Reichweite hatten. Es waren nicht mehr die Versprechen alter Handlungsabläufe, sondern ein Vertrauen in zukunftige Entwicklungen, die sich radikal von der Vergangenheit unterscheiden sollten. Es war erst die Umgestaltung der irdischen Wirklichkeit, die eine Wendung in den sozialen Relevanzen hervorrufen sollte. Seit der Französischen Revolution hat sich die politische Ansehung von Zeit umgekehrt: nicht mehr das Althergebrachte, die tradierte Überlieferung, sondern die zukünftigen Erwartungen und Forderungen beherrschten von nun an die politischen Diskussionen. Man began ab dato, zwar noch sehr unbewußt, daß gesellschaftliche Handeln in sozio-ökonomischen Beziehungen zu interpretieren.

Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, eine genaue Wiedergabe der historischen Abläufe darzulegen, soll in Anlehnung an Ernst Schulin (bezogen auf die Einleitung seines Buches Die Französische Revolution, Beck, München 1988), eine zusammengefaßte Definition der geschichtlichen Wirkung und Auswirkung der Revolution dargestellt werden:

Sie stellt die erste und bedeutsamste Zeitspanne im Verlauf des Übergangs des Staatsführungsmonopols von der alten, in Rechtsgewohnheit der Feudalzeit wurzelnden Aristokratie, auf die neue im Verlauf des 18. Jahrhunderts selbstbewußt gewordene Schicht des Bürgertums dar. Die Französische Revolution ist ein historischer Prozeß , der sich in mehrere Phasen gliedert und in deren Verlauf sich im Zusammenhang mit gewaltsamen Ereignissen eine grundlegende Umstrukturierung der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Verhältnisse als endgültiger Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzog.

Mit Beginn dieser Veränderungen, waren "la patrie" oder, entfernter, das englische "right or wrong, my country" kein Ausdruck nationalistischen Gedankentums. Entscheidend für einen wahren Franzosen war der Wunsch und die Bereitschaft, seine Liebe zum Land durch Reformen und Revolution unter Beweis zu stellen und zu versuchen das Land zu erneuern. "Französiche Nationalität war französische Staatsbürgerschaft: Ethnische Zugehörigkeit, Geschichte, die Sprache oder der in der Familie gesprochene Patios waren für die Definition der Nation ohne Bedeutung." Anders ausgedrückt war es nicht das Land, die als regionale Eigenart gesprochene Sprache, die ethnische Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bevölkerungsteil oder die Bindung an alt legitimierte Staatsbindungen, sondern die Bejahung eines politischen Konstrukts, einer neuen Auffassung von den idealistischen Inhalten einer neuen Staatssouveränität. Diese neuen Auffassungen führten in ihrer eigenen Logik dazu, daß die veränderten Formen staatlicher Loyalität in politischen Programmen ein völlig neues Verständnis von Legitimität hervorriefen. In diesem Zusammenhang steht auch, daß Anfang des 19. Jahrhunderts die Gleichschaltung von Sprache nicht mehr als rein pragmatische Frage behandelt wurde, sondern mutierte zu einer leidenschaftlichen Charakterisierung jeder Nation. Seit dato war die Einführung von einheitlicher Sprache, besonders in Deutschland, nicht nur die Auffassung von irgendeiner politischen Form von Nationalität, sondern insbesondere von sprachlicher Nationalität. "Für die Herrscher ging es mithin nicht nur einfach darum, eine neue Legitimität zu gewinnen - obwohl dieses Problem in den neuen und neuartigen Staaten ebenfalls gelöst werden mußte, und hier die Identifikation mit einem Volk oder einer Nation, wie auch immer definiert, eine bequeme und elegante Möglichkeit zu seiner Lösung darstellte. In Staaten, die auf einer Volkssouveränität bestanden, war es per definitionem sogar die einzige Möglichkeit." Der Zwang entstand aus dem Bereich von Wissenschaft und Technik, sich entfaltender Ökonomie, sowie aus den Aufkommen von Gewerkschaften und sozialistischen Bewegungen. Die innenpolitische Frage bedurfte einer außenpolitischen Antwort. Durch völlig neue Mechanismen wurde eine ganz andere Auffassung von Vaterland regelrecht okkupiert; denn wenn etwas als meins empfunden werden sollte, mußte es dem anderen vorzuziehen sein. Erst damit erhielt Sprache Gewicht im politischem Geschehen, machte Deutsche zu Deutschen, Italiener zu Italienern, Finnen zu Finnnen oder Katalanen zu Katalanen und wurde ein neues Element in der Politik. Sprache wurde zum Kulturartefakt.

In seiner psychologischen und sozialen Reaktion war es eine Verteidigung althergebrachter Lebensweisen und Traditionen der Mittelschichten. Hobsbawm hebt die Tatsache hervor, daß die soziale Zusammensetzung innerhalb des nationalistischen und nachher auch des faschistischen Lagers eher kleinbürgerliches Millieu hatte, als eine Basis innerhalb des gewöhnlichen Volkes oder der Arbeiterschaft. Gleichzeitig betont er jedoch die Tatsache, daß er diese Feststellung nicht so flach interpretieren möchte, wie, Zitat:"[...] vulgärmaterialistische Liberale Kriege auf eine Frage der Profite der Rüstungsindustrie zu reduzieren pflegen."

Unter liberalistischen Intelektuellen, gab es zum Beginn des 19. Jahrhunderts aber auch markante Merkmale, die zur Berufung auf Nation ausschlaggebend waren. Innerhalb nationalökonomischer Debatten gab es eine Art Schwellenprinzip, das verbunden wurde mit ökonomisch ausreichender Größe eines Nationalstaates. Ausreichende Größe des Territoriums war eine Grundbedingung für die Legitimation von Nationen. Neben List (unter der Berücksichtigung seiner nationalistischen Ambitionen und der daraus folgenden Neuformulierung politischer Ökonomie als "Volkswirtschaftlehre") interpretierte zum Beispiel auch Arthur Griffith in Irland, daß die Grundbedingung aller nationalen Entwicklung territorial ausreichende Größe sei. Spöttisch faßte man unter den Liberalen des 19. Jahrhunderts die selbstberufene Eigenständigkeit von Belgien (1835) auf, da es deren Meinung nach keine Eignung zu ökonomischer Selbständigkeit besäße. Der Nationenbegriff umfaßte einen fortschrittlichen Expansionsbegriff, der der Kleinstaaterei entgegengesetzt war.

Abgesehen von den Bestrebungen der politisch-administrativen Seite, weiß man eher wenig über die Mentalitätsentwicklung der allgemeinen Bevölkerung. Grundsätzlich wird eine Deduzierung von der Intelektuellenseite auf die Ebene der unteren Schichten faktisch kaum nachvollziehbar. Erkenntnisse zu ziehen aus den Arten eines Schlagzeilenjournalismus, der begrenzt war auf Eliten, kann den Wandel des Begriffes innerhalb der normalen Bevölkerung nicht genau wiedergeben. Versuche mit scheinwissenschaftlichen Argumenten der Vererbungslehre (aufbauend auf der Rassenlehre von Darwin) die Nation als entwicklungsgeschichtlichen Endpunkt von der Familie zur Nation darzustellen, waren ein politisches Extrem nationalistischer Demagogen. Aufgrund dieser durchaus fruchtbaren Erkenntnisse sollte die Schwammigkeit der nationalen Legitimität verwischt werden. So suchte man in der Geschichte vehement nach nationalen Identitäten: für Serben war es die Schlacht auf dem Amselfeld (1389 n. Chr.), die Erben des Dschingiskan (1155[?]-1227) in Russland, die Berufung auf Karl den Großen (742-814 n. Chr.) für französische Nationalisten und in Deutschland Hermann der Cherusker (9 n. Chr.). All diese Phänomene waren Abbilder ein und derselben Wesensart: eine völlige Ablehnung der Moderne, die alte Traditionen und Lebensweisen auflöste und von den betroffenden Schichten als schiere Bedrohung empfunden wurde. Die Folge davon war, daß "Rasse und Nation" terminologisch als Synonym ausgegeben wurden, obwohl deren Gleichartigkeit nicht im entferntesten erschlossen werden kann. "Die Sozialisten jener Zeit, die das Wort Nationalismus nur selten ohne das Attribut kleinbürgerlich gebrauchten, wußten, wovon sie redeten. Die Schützengräben des sprachlichen Nationalismus waren bemannt mit Provinzjournalisten, Volksschullehrern und aufstrebenden Subalternbeamten."

In seinem Buch "Das imperiale Zeitalter" geht Hobsbawm im Kapitel 6 davon aus, daß ein weiterer Bestandteil in der umgreifenden Fremdenfeindlichkeit eine Reaktion auf hohe Wanderungsbewegung, Mobilität und vor allem auf Jahrzehnte sozialer Depressionen und den damit verbundenen Spannungen war. Der Zustrom von armen Einwanderern war für die degenerierte Mittelschicht das sinnbild aller wirtschaftlichen Probleme, die alle Merkmale des fremden Barbaren trugen (Bsp: Allein 1914 hatten 3,6 Millionen Polen ihr Land verlassen; oder 15 % der Bevölkerung). Jedoch fanden diese Umstände nur in Europa solch eine extreme politische Formulierung. In dem größten Einwanderland, der USA, gab es die Formen des Nationalismus als politische Programmatik wenn überhaupt, dann nur sehr gering. Hier in Europa, ging der Aufstieg des Nationalismus Hand in Hand mit seinem Stallgefährten, dem Liberalismus, der sich seit Anfang des Jahrhunderts in seiner Auflösung befand. Die Unzufriedenheit heruntergekommener Mittelständler, die Aufgabenlosigkeit einese preußischen Soldaten zwischen den Kriegen, der Chauvinismus kleiner Intellektueller oder die Hilflosigkeit heruntergekommener Arbeiter brauchte nur noch kanalisiert und in präzisen Ausdruck gebracht werden.

Die Zeit zwischen 1914 und 1939 umreißt Hobsbawm mit sehr prinzipiellen Worten.

Aufgrund des Kontextes vermutet man gerade für diese Zeit genaue Deutungen und Analysen, aber der italienische oder deutsche Faschismus finden in seinem Buch kaum ausgedehnte Darlegung oder Interpretation.

Er ist der Auffassung, daß die bestimmten Formen des nationalen Extremismus sich zum einen ergaben aus den nationalpolitischen Begründungsversuchen einer Nation, mit denen man im Auftakt nationalistischer Entstehung schwanger ging und zum anderen, bezogen auf den aufkommenden Nationalsozialismus, nur eine Entartung waren: "Die logische Konsequenz aus dem Versuch, einen Kontinent säuberlich in zusammenhängende Territorialstaaten aufzuteilen, die jeweils von einer ethnisch und sprachlich homogenen Bevölkerung bewohnt wurden, war die massenhafte Vertreibung oder Vernichtung von Minderheiten." Dies sei schon im Ansatz ein Resultat des Wilsonschen Prinzips gewesen, staatliche Grenzen mit Nationalitäts- und Sprachgrenzen zur Deckung zu bringen. Solch ein Programm von homogener Nation, konnte nur von Barbaren oder zumindest nur mit barbarischen Mitteln verwirklicht werden. In der Zeit zwischen 1918 und 1945 hatte das Bewußtsein der gemeinsamen großen Taten, der gemeinsam gebrachten Opfer und der gemeinsamen Herkunft Hochkonjunktur. Der Ausdruck "Du bist nichts, dein Volk ist alles" war die vollständige Definition eines politischen-militärischen Staatenwesens, das unmittelbar in die totalitäre Diktatur führte. Durch die Anlehnung der Wirtschaft an das politische Axiom Selbstdefiniton durch Feindmarkierung wurde dem Faschismus das Tor geöffnet und gleichzeitig war es ein Resultat aus den verherrenden Niederlagen der sozialistischen Bewegungen, hervorgerufen durch den Stalinismus.

Die "Levée en masse", bei der während der Französischen Revolution zum erstenmal in der Geschichte eine ganze Nation bedingungslos in den Dienst der Landesverteidigung gestellt wurde, war das Exemplarbeispiel, welche politische Macht von diesem neuen Mobilisierungsmechanismus ausgehen sollte. Obwohl Europa zur ethnischen Koexistenz bestimmt ist, wurde die Instabilität von Gruppenbeziehungen zu Gunsten politischer Macht ausgenutzt. Von den 28 europäischen Staaten waren 1939 nur noch 11 demokratisch verfaßt. Die Zeit von 1914 bis 1945 war eine Zeit des totalen Nationalstaates.

4. Die Renaissance des Nationalen am Ende des Jahrhunderts

"The national movements of the end of the twentieth century are engendered by defensive reflexes. They express a turning inward, a fear of the vast world that escapes us, and from which we cannot escape. It is thus hardly surprising, that the nationalist spasm of the posttotalitarian world is xenophobic rather than imperialistic. One could circle the world and show that, on entire continents, the national idea survives today only by allying itself with forces that have overtaken it: religion, race, ideology, and the tribe." Diese Feststellung trifft Jean Marie Guéhenno in ihrer Einleitung. Jedoch sind die von ihr aufgeführten Merkmale des Nationalismus eher eine Renaissaance schon althergebrachter Kräfte, die damals wie heute die Hauptargumentationslinien aller nationaler Lager waren. Es ist die selbe bornierte Auffassung, daß nur eben diese Faktoren, wie Ethnik, Rasse und Sprache die Menschen zusammenhalten könnten. Ob Katalanien, Quebec, Serbien, Tschechien oder die Lombardei, die Begründung ist immer dieselbe: wirtschaftliche Unabhängigkeit vom unwirtschaftlichen Teil der bestehenden (oder bestandenen) Nation, höher gewichtete kulturelle Eigenart oder Befreiung von zentralistischer Bevormundung. Recht hat Guéhenno, wenn man diese nationalen Reflexionen in einen ökonomischen Kontext setzt: je internationaler die Warenwirtschaft wird, desto mehr regionale Bestrebungen nach Loslösung werden hervorgerufen. Hobsbawms Meinung nach, der diese Faktoren auch anerkennt, besteht jedoch ein extremer Gegensatz zu dem nationalistischen Phänomen des 19. Jahrhunderts: "Es [das nationalistische Phänomen des 20. Jahrhunderts] fungiert nicht mehr als Haupttriebkraft der historischen Entwicklung. In der entwickelten Welt des 19. Jahrhunderts war der Aufbau einer Reihe von Nationen, in denen sich ein Nationalstaat und eine nationale Wirtschaft miteinander verbanden, schlicht eine zentrale Tatsache des historischen Wandels (und wurde auch so gesehen)." In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die nationalen Bewegungen eine Bestrebung gegen die koloniale und imperiale Verwaltung, es waren Bestrebungen einer nationalen Befreiung. Dadurch erhielten sie einen legitimen Character. Was sich hinter den Gefühlen der neuen Nationalismen verbirgt, ist eher die Unsicherheit und die Angst vor den raschen sozialen Umwälzungen, die wir heutzutage miterleben, ist ein dramatischer Verfall aller alten Institutionen, die über 45 Jahre ein Gleichgewicht in den dualen Machtverhältnissen darstellten. Ohne inneren und geistigen Zusammenhang, ohne wirkliche Notwendigkeit und nationale Legitimation. "In einer Zeit, in der die traditionellen (religiösen) Glaubensformen ihre Wirkung verloren haben, gibt die Idee der Nation den Menschen im Kampf gegen fremde und despotische Herrschaft nach wie vor einen neuen Glauben und neue Ziele, die ihnen befriedigend, glaubwürdig und sinnvoll erscheinen."

Aber könnte man nicht bei all den sozialen Umwälzungen auch heute sagen, der Nationalismus entsteht aufgrund eines historischen Wandels ? Die Vermutung liegt nahe, aber die zentrale Prämisse des 19. Jahrhunderts war eben die Tatsache, daß Kleinstaaterei keine Legitimation war für die Berufung auf Nation, sondern die Schaffung von übergestellten Nationen sollte im Verhältnis zur liberalistischen Wirtschaft eher den allgemeinen Tendenzen ökonomischer Entwicklung gerecht werden. Aus heutiger Sicht hätte die Nation somit ihre Aufgabe vollständig aufgegeben. In einer Welt, die von transnationalen Konzernen beherrscht wird, werden nationale Konzepte vollends außer Kraft gesetzt. Keine Nation kann von sich behaupten, sie hätte eine Volkswirtschaft, die den komplexen Bedürfnissen der Ökonomie gerecht wird.

Die Stärke des neuen Nationalismus besteht deshalb eher auf semantischen Illusionen, die einen Bevölkerungsteil zu einer Nation machen, den anderen nicht. Es sind heutzutage antiquierte Kriterien, die einen gewissen Teil der Bevölkerung empfänglich machen für nationale Konzepte. Getrieben durch die hohe Arbeitslosigkeit, gekoppelt an die raschen internationalen und technologischen Entwicklungen und den Zerfall alter Traditionen und Einstellungen, die in einer komplexen multimedialen Welt eine kulturelle Trennung anscheinend immer schwerer machen. Gleichzeitig kommt ein rascher Verfall der religiösen Bindungen zum tragen, wobei die Gruppen bestimmter religiöser Gemeinschaften darauf achten, daß es auch Feinde gibt, damit die eigene Gruppe gestärkt wird. "Die Ähnlichkeit mit einer Reihe von ethnisch/nationalistischen Phänomenen aus jüngster Zeit ist nicht zu übersehen, vor allem wo diese mit einem gruppenspezifischen, religiösen Glauben verbunden sind, oder solche Verbindungen wiederherzustellen suchen - wie unter den (christlichen) Armeniern im Konflikt mit den (muslimischen) Aserbaidschanern oder in der neueren und ausgeprägt alttestamentarischen Phase des Likud-Zionismus in Israel, der sich so deutlich von der aggressiven konfessionslosen und selbst antireligiösen Ideologie der Gründer der Bewegung unterscheidet."

Auf politischem Gebiet bringt die Form des Nationalismus, laut Hobsbawm, die Minderheits- und Partikularinteressen von Parteien oder Bewegungen eines Landes zum Ausdruck, um sich gegenüber einer vorgestellten Gemeinschaft zu behaupten. "Infolgedessen neigen alle Bewegungen, die nach territorialer Unabhängigkeit streben, zu der Vorstellung, ihr Ziel sei die Errichtung einer Nation, auch wenn dies überhaupt nicht der Fall ist; und alle Bewegungen, die für regionale, lokale oder auch partikulare Interessen gegen die Zentralmacht und den bürokratischen Staatsapparat kämpfen, werden sich nach Möglichkeit ein nationales Kostüm umhängen und auf ethnische und/oder sprachliche Eigenständigkeit pochen."

Der obige Abschnitt zeigt uns, daß der Nationalismus nicht nur eine Facette politischer/religöser Legitimation kennt. Was beschrieben worden ist, ist eher eine Charakterisierung der psychologischen Beweggründe des Nationalismus. Wenn man die Quelle des Nationalismus eines jeweiligen Landes ergründen möchte, muß man in die Detailansicht gehen. Grundsätzlich baut er auf den oben genannten Tatsachen auf, aber es ist ja gerade die Eigentümlichkeit des Besonderen, die den Nationalismus als Selektionskriterium diese verschiedenen Auslegungen annehmen läßt. In seiner politischen Programmatik ist er jedoch generell deckungsgleich.

5. Hobsbawm Standpunkte zum Themenbereich

Dieses Kapitel ist bewußt an das Ende der Arbeit gestellt worden, um nicht den Blickwinkel Hobsbawms bestimmend werden zu lassen. In seinem Werk Nationen und Nationalismus stellt er seinen Standpunkt zum Themenbereich ganz klar dar. Folgende Punkte sollen diesen kurz skizzieren:

- Er gebraucht den Begriff Nationalismus vor allem als politisches Prinzip, das besagen soll, politische und nationale Einheiten sollten deckungsgleich sein.
- Der Nationalstaat ist nicht eine ursprüngliche und unveränderliche soziale Einheit. Er hat transitorischen Charakter und gehört einer bestimmten und jungen Epoche der Geschichte an. Nicht Nationen bringen Staaten hervor, sondern umgekehrt, Staaten und Nationalismen bringen Nationen hervor.
- Nationen existieren nicht nur als Funktion einer bestimmten Form des Territorialstaates oder des Strebens nach seiner Verwirklichung, sondern stehen auch im Kontext mit einer bestimmten Phase der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung.
- Nationen sind für ihn Doppelphänomene, das heißt sie sind zwar von oben konstruiert, aber dennoch nicht gänzlich zu verstehen ohne eine Betrachtung der damit verbundenen Sehnsüchte, Hoffnungen, Annahmen und Interessen der kleinen Leute.
- Nationalbewußtsein entwickelt sich unter den gesellschaftlichen Gruppen ungleichmäßig. Die Masse der Bevölkerung, Bauern, Arbeiter, etc. ist als letzte von diesem Bewußtsein ergriffen worden.
- Sein Hauptinteresse liegt darin, eine Analyse zu liefern, wann und wie die nationalpolitischen Programme die Unterstützung der Massen gewannen, deren Repräsentant zu sein sie immer wieder behaupteten.

Im Schlußkapitel seines Buches "Nationen und Nationalismen" geht Hobsbawm sehr genau auf den Verlust der Bedeutung des Nationalstaates in Bezug auf die internationale Wirtschaft ein. Der Nationalstaat als "Baustein" einer Weltwirtschaft verliert immer mehr an Relevanz. "Kaufleute sind vaterlandslose Gesellen. Nicht einmal der Platz, auf dem sie stehen, bindet sie so sehr wie der Ort, an dem sie ihren Gewinn machen," sagte einmal Thomas Jefferson (1806). Im Gegensatz zu anderen Ideologien schert sich Kapitalismus nicht um Glaube und Rasse seiner Anhänger, solange sie einen Beitrag zum Betriebserfolg leisten. Es sei denn, der Nationalismus wird zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen benötigt.

Seinen Standpunkt zu seinem gesamten Arbeitsfeld führt er in dem Buch "The Age of Capital 1848 - 1878" aus. Dort kennzeichnet er nicht nur seine Position zu der, sondern auch seine Auffassung von der Arbeitsweise des Historikers. Um dies wiederzugeben, soll ein längerer Abschnitt zitiert werden.

"Objektivität gegenüber seinem Gegenstand kann der Historiker nicht beanspruchen. Darin unterscheidet er sich (zu seinem eigenen intellektuellen Vorteil) von den typischen Ideologen der hier behandelten Epoche. Sie waren überzeugt, daß der Fortschritt der Technik, der positiven Wissenschaft und der Gesellschaft ihnen erlaubte, ihre Gegenwart mit der fraglosen Unparteilichkeit des Naturwissenschaftlers zu betrachten, dessen Methoden sie (irrtümlich) verstanden zu haben glaubten. Der Verfasser kann einen gewissen Widerwillen, ja vielleicht Verachtung angesichts des hier behandelten Zeitabschnitts nicht verhehlen; diese Abneigung wird freilich gemildert durch Bewunderung für dessen titanische materielle Leistungen und durch das Bemühen um Verständnis selbst dessen, was er nicht leiden mag. [...] Seine Sympathien gehören jenen, die vor hundert Jahren nur bei wenigen Gehör fanden. Sicherheit und Selbstvertrauen beruhten jedenfalls auf Irrtum. Der Triumph der Bourgeoisie war kurz und nicht von Dauer."

Bezüglich des Zusammenbruchs der Ostblock-Staaten ist er der Meinung, daß die immensen wirtschaftlichen Probleme der Länder, Abwanderungswirkung und reformkommunistische Führer eine Auflösung dieser bewirkten. Die Wiedervereinigung Deutschlands sieht er als ein Nebenprodukt unerwarteter Entwicklungen außerhalb Deutschlands.

Die ganze Methodik und Herangehensweise von Hobsbawm ist generell aus der gesamten Argumentationslinie der vorhergegangenen Kapitel zu ersehen. Seine Persönlichkeit fließt prägend in die Erarbeitung des Themas ein. Seine Herangehensweise an die Nationenfrage, zeugt trotz seiner politischen Intentionen nicht von einer oberflächlichen Schulung stalinistischer Prägung. Seine Ausführungen zum Zusammenbruch der Sowjetunion sind jedoch eher "dünn". Klarere Worte findet er dafür in seinem Buch "Das Zeitalter der Extreme" (1995). Das gesamte Werk ist gekennzeichnet von einer Ohnmacht angesichts der geschichtlichen Ereignisse und einer fatalistischen Auffassung par excellence. Seine aktuelle Haltung beruht auf dem Axiom, daß alle geschichtlichen Verläufe einem Geschichtsdeterminismus unterliegen, der sich unkontrolliert von menschlichen Handlungen und menschlichem Bewußtsein vollzieht. Dies bezieht er auch auf die Sowjetunion bis zu ihrem Untergang. Damit revidiert er im eigentlichen Sinne jede Geschichtsinterpretation, wie er sie uns beispielhaft auch in dieser Arbeit vermitteln wollte. Denn im Bereich des Nationalismus führte er uns doch vor, daß menschliche Handlungsweise und menschliche Agitation ein wesentlicher Bestandteil des Nationalismus waren. Selbst bei "Geburten" von Nationen war bewußtes menschliches Handeln ausschlaggebend.

Zum Schluß seines Buches "Nationen und Nationalismen" schreibt Hobsbawm, man könne die Rolle von Nationen und Nationalstaaten nicht unterschätzen, aber für die zukünftige Geschichte werden sie eine untergeordnete Rolle und geringere Bedeutung haben. Man könnte anfügen: jedoch ist dieser Tag noch nicht sehr nahe.

6. Schluß

Hobsbawms Arbeiten hinsichtlich der Nationenbildung und des Nationalismus zeigen meiner Ansicht nach sehr zeitgemäße und wertvolle Einsichten, die in den aktuellen Nationendiskussionen schwer zu finden sind. Seine Ausführungen zu dem Thema bezeugen, daß eine Definition des Nationalstaates, einmal aus seiner harten Schale gelöst, sich eher wie ein vage zu definierendes Weichtier darstellt. Die Faktensammlung seiner Schriften beweist eine langjährige Auseinandersetzung mit der Thematik. Schon in seinem Buch "The Age of Capital" (deutsche Erstveröffentlichung 1975), im Kapitel Nationen im Aufbau, sind die grundlegendsten Darstellungen zusammengeführt worden, wie er sie später genauer ausgeführt hat. Seine Schriften ermöglichen in der Tat, wie er es selbst bezeichnet, eine rationale Auseinandersetzung mit dem Themenbereich, und dies ist bekanntlich ein schweres Unterfangen.

Umso wertvoller sind diese Schriften in einer Zeit, in der der Nationalismus und die Bildung von Nationen anscheinend Hochkonjunktur besitzen. Die Entwicklungen seit der Auflösung der Ostblock-Staaten und des alten Jugoslawiens versetzte die meisten Geschichtshistoriker und Politwissenschaftler in eine Art Ohnmacht vor den sich überschlagenden Ereignissen. Noch 1987 hätte kein Politiker gewagt, eine deutsche Wiedervereinigung für möglich zu halten. Die rapide Veränderung ließ den meisten erst nachträglich Zeit, reflexive Gedanken in Arbeiten nieder zu schreiben. Verständlicherweise erlaubt dem Betrachter ein gewisser Abstand zum Forschungsgegenstand erst den benötigten Freiraum, aber im 18. oder 19. Jahrhundert waren viele Schriften zur Nation oder zum Nationalismus wegbereitend oder aktuell. Man hatte Entwicklungen nicht rezipiert, sondern prognostiziert. Der Nationenkollaps kam deshalb überraschend, weil er im Einklang mit einer bestimmten politischen Auffassung stand, nämlich mit der vermuteten Unabänderlichkeit eines Nationenbestehens. Wenn man die Geschichte der Neuzeit betrachtet, ist eine Nation etwas temporäres, was entstehen und auch in kurzer Phase wieder vergehen kann. "Da über die Hälfte der heute bestehenden Staaten jünger als vierzig Jahre sind, spielt das traditionelle Nationalitätenprinzip offensichtlich nur noch eine beschränkte Rolle."

Besondere Erwähnung müssen Hobsbawms Ausführungen zu den angeblichen Fundamenten einer Nation finden: Sprache, Rasse und kulturelle Eigenart. War die Legitimation einer Nation durch ethnische Gleichartigkeit schon immer pseudo wissenschaftlich, so war es doch schwerer, dem Argument der Sprache entgegenzutreten. Die in Kapitel 3 aufgeführten Fakten sprechen jedoch für sich. Die Einbindung der Sprache in nationale Konzepte fand erst spät Einzug in die politische Rechtfertigung von Nationen und hatte in der anfänglichen Nationenbildung, wie wir sahen, keine Relevanz. Kulturelle Eigenarten, zumeist Brauchtümer, Traditionen, etc. sind in jedem Landstrich aufzufinden. Sie sind aber kaum ein Fundament zur Bildung von Nationen, wenn sie auch eine Berechtigung auf Ausübung und Bestehen haben. Unter solchen Argumenten könnte man auch Oberfranken von Bayern lossagen und einen Nationalstaat bilden lassen. Es kommt meiner Einschätzung nach nicht von ungefähr, daß die überdrehten Forderungen nach Nationenbildungen im Kontext stehen mit der Globalisierung der Ökonomie. Die Ausarbeitung dieses Zusammenhanges bedarf aber einer eigenen Arbeit, die noch aussteht.

Literaturverzeichnis

Carr, E. H.: Was ist Geschichte?, Kohlhammer, Stuttgart 1974

Hobsbawm, Eric J.: Die Blütezeit des Kapitals - Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848 - 1875, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1980

Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismen - Mythos und Realität seit 1780, dtv, München 1990

Hobsbawm, Eric J.: Das imperiale Zeitalter 1875 - 1914, Campus, Frankfurt am Main 1989 Guéhenno, Jean Marie: The end of the nation state, University of Minnesota Press 1995

Schulze, Hagen: Das Europa der Nationen, in: Berding, Helmut [Hsg.]: Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996

Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, Beck, München 1994

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Detalles

Título
Aufstieg und Untergang europäischer Nationen -exsimplifiziert an den Theorien Eric J. Hobsbawms
Universidad
University of Duisburg-Essen
Curso
Politisches Denken V. - Nationalstaaten im 21. Jahrhundert
Autor
Año
1996
Páginas
20
No. de catálogo
V95098
ISBN (Ebook)
9783638077774
Tamaño de fichero
467 KB
Idioma
Alemán
Notas
eine analytische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Nation und der Wandlung des Nationalismus, Ausführungen zu den Arbeiten des englischen Sozialhistorikers Eric J. Hobsbawm
Palabras clave
Aufstieg, Untergang, Nationen, Theorien, Eric, Hobsbawms, Gerhard-Mercator-UniversitätGesamthochschule, Duisburg, Dozent, Prof, Konrad, Wegmann, Politisches, Denken, Nationalstaaten, Jahrhundert
Citar trabajo
Markus Gaisenkersting (Autor), 1996, Aufstieg und Untergang europäischer Nationen -exsimplifiziert an den Theorien Eric J. Hobsbawms, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95098

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