Hiobs Frau. Vergleich der Figur der Deborah in Joseph Roths "Hiob"-Roman und dem Alten Testament


Dossier / Travail de Séminaire, 2017

23 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Joseph Roths Hiob -Roman und das Alte Testament

3. Hiobs Frau

4. Deborah Singer und Hiobs Frau – Identität oder Referenz?
4.1. Figurenanalyse
4.2. Figurenvergleich von Deborah und Hiobs Frau

5. Fazit

6. Quellen

1. Einleitung

„Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb!“1. Diese Worte sind die einzigen, die die Frau des alttestamentarischen Hiob spricht und die allein ihre Existenz in der Geschichte konstatieren. Joseph Roths Roman Hiob (1930) beruft sich zweifelsfrei auf das biblische Vorbild und verweist nicht zuletzt durch den Titel auf die Leidens- und Prüfungsgeschichte des frommen Mannes aus dem Lande Uz. Die Intertextualität des biblischen Hiob-Buchs und des Hiob -Romans von Roth wird nicht nur in der Figur des Mendel Singer augenscheinlich. Vielmehr orientiert sich die Handlung durchweg am Alten Testament: die Katastrophen, der Trost der Freunde und das nahezu übersteigerte ‚Happy End‘ sind parallel in beiden Narrativen zu finden. Fraglich bleibt jedoch, inwieweit ein Bezug zwischen der namenlosen Frau Hiobs und Deborah Singer, der Frau Mendels, herzustellen ist. Auf den ersten Blick scheinen sich die Figuren fremd zu sein; die eine ist abwesend, nur in einem Satz präsent, die andere beinahe mehr als eine Nebenfigur. Eine Analyse, die zum Vergleich dieser Frauengestalten führt, scheint demnach erstrebenswert.

Als Methode zu einer derartigen Untersuchung liegt zunächst eine Figurenanalyse der Gestalt der Deborah Singer nahe. Entlang der vorgeschlagenen Fragestellungen Bachorz‘ werden verschiedene Aspekte der Figur untersucht, um Kategorien zu Hiobs Frau herauszuarbeiten, die zu einem Vergleich der Figuren führen. Im Voraus wird ein kritisch-würdigender Blick auf die bestehende Forschung zu Hiob und dem Alten Testament sowie auf Deutungsversuche der Gestalt der Frau Hiobs geworfen.

2. Joseph Roths Hiob -Roman und das Alte Testament

Markant spiegeln besonders die ersten Sätze des Hiob die Nähe zum Referenztext wider: „Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude.“2 Mit diesem „bewußt imitierten biblischen Tonfall“3 fährt Roth durchweg fort. Ritter beschreibt den Stil im Hiob folgendermaßen:

Um die erzählerische Verknüpfung zwischen biblischem Vorbild und literarästhetischer Nachbildung herzustellen, die Wahrheitssuche auf der religiös autorisierten Metaebene in Psychogramm und Soziogramm zu bewerkstelligen, nutzt der Autor eine symbol- und metaphernreiche, allegorisierende und konnotierende Darstellung.4

Raffel bezeichnet das Werk nicht nur aber auch durch den Bibelbezug als Roths „jüdischstes Buch“5. Diese Zuschreibung liegt auf der Hand. Durch Titelgebung6 und „inhaltlichen und sprachlichen Bibelrekurs“7 werden sowohl Lesererwartungen evoziert, Motive aus dem biblischen Vorbild wiederzuerkennen, aber auch Hoffnungen geweckt, eine Handlungsalternative zum stoischen Erleiden aufzuzeigen – nicht zuletzt dadurch, dass die Romanhandlung in die Neuzeit versetzt wird.

Jedoch ist die zeitliche Einordnung der Handlung Roths verschleiert. In der Forschung wird dies allgemeinhin als märchenhaftes, zeitliches und räumliches Entrücken8 gedeutet. Hackert merkt hierzu an, dass es sich hier um Verwendung des Genres der Legende handle, die bei Roth und auch im Allgemeinen eine Erzählung mit dem Ziel sei, den Lesern von einer Leistung anderer zu berichten und sie zur Nachfolge zu bewegen9. Dem biblischen Hiob kann dieser Beispielscharakter zweifelsfrei zugeschrieben werden. Hiobs Beharrlichkeit, Glaube und Durchhaltevermögen werden mehr als reich belohnt. Jedoch verkörpert Mendel Singer diese Beharrlichkeit auf eine ausgesprochen passive und daher für moderne Leser unnachvollziehbare und negative Weise, sodass Zweifel am Beispielcharakter der Erzählung Roths bleiben dürften. Der Mythisierung der Handlung widerspricht auch Raffel; sie sieht bereits zu Beginn des Buchs die Realität des Dorflebens zu ernüchternd geschildert, als dass die Zuschreibungen ‚Märchen‘ oder ‚Legende‘ angebracht wären.10

Tatsächlich verstärkt sich der Rekurs auf das biblische Vorbild erst im zweiten Teil des Romans, sodass dem ersten Teil allein keine solchen Zuschreibungen gemacht werden können. Die ‚Hiobsbotschaften‘, die auf Mendel Singer hereinbrechen, beginnen erst hier11, während Hiob sofort nach seiner Vorstellung mit Elend und Leid überhäuft wird. Dementsprechend lassen sich auch andere Abweichungen zwischen den Erzählungen feststellen. Hüppauf erkennt zwar den märchenhaften Anfang als solchen an, hebt aber auch einen Bruch, den er zwischen dem Buch Hiob und Hiob feststellt, hervor: Im Roman kommt es zu einer psychologisierten und dadurch nachvollziehbaren Handlung12, was der Bibelerzählung fehlt. Der Zerfall der Familie wie er in Hiob dargestellt wird und die Figuren menschlich leiden lässt, ist zwar ebenfalls Fakt des Buchs Hiob, wird aber dennoch erzählerisch ausgespart.

Dennoch lassen sich mehr Argumente für als gegen das Zusammenlesen der beiden Texte finden. Prägnant fasst Hartmann zusammen:

Wie Gottes treuer Diener Hiob verliert auch Mendel Singer seine Familie, seine Söhne, seine Frau und seine Tochter, wie Hiob lehnt er sich gegen Gott auf und wie Hiob wird er am Ende die Gnade Gottes in Form einer ‚restitutio ad integrum‘ erfahren.13

Ebendieses Ende, die Wiederherstellung der Familie und des Reichtums, die ein konventionelles ‚Happy End‘ darstellen, aber erzählerisch nicht eingebettet scheinen (‚zu schön, um wahr zu sein‘), schließen den Bogen zur Anfangspassage. Das Ende ist stimmig mit dem Roman, da das Ende stimmig mit dem Alten Testament ist.14 Zudem erkennt Vom Hofe auch einen Parallelismus der Ost-West-Spannung des Romans (Russland – Amerika) zum alttestamentarischen Konflikt Ägypten-Kanaan.15 Es lässt sich also deutlich feststellen, dass Mendel Singer ein moderner Hiob ist, da die Gemeinsamkeiten überwiegen. Vom Hofe begibt sich bei seiner Analyse jedoch auch über die Figur Mendel Singers hinaus und belegt darüber hinaus Bezüge in Motiven, Situationen und Figurenkonstellationen16, was dem Vergleich zwischen Deborah und Hiobs Frau eine weitere Daseinsberechtigung gibt. Sieg nimmt eine ähnliche Position ein: Er betont, dass Roths Werke selten alleinstehend zu lesen seien, denn sein Werk sei von einer ‚doppelten Strukturierung‘ durchsetzt; ohne Kenntnis des Alten Testaments falle eine Bedeutungsebene des Hiob schlicht weg.17

3. Hiobs Frau

Im Alten Testament wird Hiobs Frau weder in der Beschreibung seiner Lebensumstände noch in der Liste seiner Güter erwähnt18. Zudem bleibt ihr Schicksal ungewiss, ob sie stirbt oder am glücklichen Ausgang und der reichen Belohnung durch Gott teilhat, ist unklar.19 Sie existiert im Kanon nur in ihrer einzigen Aussage und der Antwort ihres Mannes:

Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb! Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?20

Hiobs Frau ist namenlos, was jedoch nahezu alle Figuren der Hiobsgeschichte betrifft.21 Jedoch kann aus dieser einen Aussage bereits vieles gezogen werden. Durch das Leid hat sie ihren Glauben verloren; sie fordert ihren Mann auf, Gott zu lästern, selbst wenn dies den Tod zur Folge haben sollte. Der Tod sei dem Leid vorzuziehen. Für Hiob fällt an dieser Stelle die Ehefrau als Hilfe und Stütze während des Leidens weg; er wendet sich von ihr ab, indem er sie als närrisch bezeichnet und auf seine Weltsicht beharrt.

Magdalene bietet eine feministische Auslegung der Gestalt der Frau an.22 Obwohl Hiobs Frau zunächst so wirkt als würde sie den Plänen des Satans zuspielen, indem sie Hiob zum Suizid auffordert, arbeitet Magdalene ein positives Bild der Figur hervor. Zunächst thematisiert sie das nicht geschilderte, aber doch anzunehmende Leid der Frau beim Verlust der Kinder; eine Situation, in der ihr keine Stimme gegeben wird.23 Aus einer gegenwärtig psychologischen Sicht fiele ihr Verhalten demnach unter Unzurechnungsfähigkeit oder affektives Handeln. Magdalene geht jedoch noch darüber hinaus: Sie zeichnet Hiobs Frau als ‚stille Heldin‘24. Im Kontrast zur angelegten Deutung als törichte Frau, die Hiob, der weise das auferlegte Schicksal erträgt, deutet sie Hiobs Frau als weise und schlägt im Suizid eigentlich einen Akt des Märtyrertums vor.25 Ihr Erfolg bestehe darin, dass einerseits ihr Rat niemals vollends abgelehnt werde26 und sie ihn zu weiterem Widerstand, ergo zum Überleben und Durchhalten, anrege.27 Stärke beweise zudem, dass ihre Weltsicht und ihre Stimme nicht im Schmerz des eigenen Verlustes untergehen, sondern beibehalten werden.28

Ein anderes Bild zeichnet Legaspi, der sich jedoch auch auf nicht kanonische Texte bezieht. In einer anderen Textüberlieferung arbeitet Hiobs Frau aktiv für ihr eigenes und das Überleben ihres Mannes nach den Schicksalsschlägen, unter anderem verkauft sie ihr Haar an Satan.29 Dementsprechend ist sie zwar von Satan fehlgeleitet, wenn sie Hiob rät, aufzugeben, aber auch sie besitzt eine Stimme, Aktivität und einen Willen im Kontrast zu Hiob.

4. Deborah Singer und Hiobs Frau – Identität oder Referenz?

4.1. Figurenanalyse

Wenn Mendel Singer als Hiob identifiziert wird, wird die Gestalt der Frau Hiobs automatisch zu Deborah Singer. Diese Figur soll im Folgenden analysiert werden. Hierbei wird im Hinterkopf stets der abschließende Vergleich der Figuren behalten werden, während hauptsächlich nach Bachorz Anregungen analysiert wird. Als Aspekte und Unterpunkte der Figurenanalyse stelle ich folgende Kategorien heraus: ihr (a) Aussehen und ihre Lebensumstände, ihre (b) Religion, (c) Mutterrolle, Deborah als (d) Ehefrau und ihre Weiblichkeit, die markanten Charaktereigenschaften (e) Neid und Unzufriedenheit und zuletzt ihre (f) Aktivität und Fähigkeit zur Assimilation.

(a) Aussehen und Lebensumstände. Deborah Singer wird zunächst in der Eingangspassage als Frau ihres Mannes dargestellt. „Eine Frau und drei Kinder mußte er kleiden und nähren. (Mit dem vierten ging sie schwanger)“ (7). Ihr Weltbild ist ihrer Lebensrealität zuschulden beherrscht von Gegenüberstellungen, zum Beispiel Russland, Armut und Vergangenheit gegen Amerika, Zukunft, sozialer Wohlstand.30 Bei der ersten Erwähnung der Figur wird ihr Name noch ausgespart, erst nach einer Darstellung der ärmlichen Lebensverhältnisse der Familie Singer im Dorf und dem Arbeitsalltag Mendel Singers wird ihr Name genannt: „Deborah[…], der Frau Mendel Singers“ (8). Ihr Name ist sprechend in zweierlei Hinsicht. Der hebräische Stamm bedeutet ‚die Biene‘ und im übertragenen Sinne ‚die Fleißige‘31, was einerseits auf ihre Aktivität (f) vorausdeutet und andererseits einen Bezug32 zur Richterin und Prophetin Deborah herstellt, die eine ungewöhnlich starke Frauenfigur in der Bibel darstellt33.

Stark ist Deborah Singer jedoch zunächst in anderer Hinsicht. Physisch wird sie mit Attributen körperlicher Stärke und eines gewissen Körperumfangs beschrieben. „Wie ein breites, gewaltiges und bewegliches Gebirge“ (9) wirkt sie beim Putzen und „ihre starken Hände“ (9) werden erwähnt. Zudem hebt sie Menuchim kurz vor der Abreise hoch, „obwohl er schon ein ansehnliches Gewicht hatte“ (91). Solche körperlichen Attribute lassen sie wenig feminin wirken, insbesondere weil ihrem Mann solche Beschreibungen nie zufallen.

„Früh verwelkt waren auch Angesicht, Körper und Hände Deborahs“ (27) verweist auf ihr fortgeschrittenes Alter, das durch vier Kinder und ärmliche Lebensumstände besonders gekennzeichnet ist. Jedoch finden sich diverse Referenzen auf ihre vergangene Jugend, in der sie schön war. Sowohl in ihren eigenen Gedanken („so schön bin ich auch einmal gewesen, so schön wie meine Tochter“ (84f)), als auch in Mendels Erinnerung („ihre junge Wärme [...] ihre roten Wangen“ (185)) wird sie als vergangene Schönheit beschrieben, die zudem der Tochter und der ‚neuen Enkelin‘ ähnelt.

(b) Glaube und Religion. Während Mendel Singer durch seine Haltung und Gottergebenheit in der ganzen Handlung als religiös charakterisiert wird, geschieht dies für Deborah seltener. Sie reinigt das Haus für den Sabbat und zündet Kerzen an, schlägt „die Hände vors Gesicht und betet“ (9), was im Erzähltext als habitualisiert, wöchentlich wiederkehrende Handlung gekennzeichnet ist. Doch beruft sie sich selten auf Gott selbst. Nachdem Menuchim im Vorbeigehen des impfenden Arztes als Epileptiker diagnostiziert wurde, sucht sie Hoffnung auf dem Friedhof: „Sie beschwor die Toten, deren stumme tröstende Antworten sie zu hören vermeinte“ (13). Zudem ruft sie einmal „alle guten Geister […] zu Hilfe“ (87).

Ähnlich ihres Mannes glaubt sie, Menuchim sei der Familie als Strafe auferlegt worden. Während Mendel Singer sich jedoch keiner Sünde bewusst ist und dennoch annimmt, vermeint Deborah die Schuld bei sich zu sehen, und glaubt, sie im Betreten der Kirche auf sich geladen zu haben (26f). Daran macht Hartmann zwei Dinge fest: ihren Glauben an die Existenz und Handlungsmacht Gottes und an einen ‚Tun-Ergehens-Zusammenhang‘34.

Insbesondere ist ihr Glaube jedoch durch das Aufsuchen des Rabbi (14-18) gekennzeichnet. Da ihr Mann die weltliche Hilfe für Menuchims Gesundheit ablehnt, nimmt sie es in die Hand, geistlichen Rat zu suchen. Ihre „naive […] Wundergläubigkeit“35 legt nicht nur ihr Glaubenspotential nahe, sondern auch den zentralen Begriff der Hoffnung, der sich in verschiedenen Situationen offenbart und ihrem Weltbild in vielerlei Hinsicht zugrunde zu liegen scheint. Nach der Prophezeiung des Rabbi wird ihr Antlitz beschrieben: „ihre Lippen [waren] leicht geöffnet, als atmeten sie lauter Hoffnung“ (18). Die neugeschöpfte Hoffnung auf Menuchims Heilung nach der Prophezeiung des Rabbi trägt Deborah lang mit sich. „Er ist noch jung“ (116) sagt sie; ebenso legt die Aussage „Es sind noch ein paar Wochen mindestens bis zu unserer Abreise, bis dahin tut Gott sicher ein Wunder“ (83) ihre Hoffnung ein weiteres Mal nahe. Darin sieht Hartmann eine allgemeine Tendenz der jüdischen Diasporagemeinschaft, die in Hoffnung auf den Messias vereint ist.36 In Deborahs Fall verbinden sich hier Altes und Neues Testament, wenn in Menuchim nicht nur der im sprechenden Namen erhaltene ‚Tröster‘37 sondern auch der Messias, der ‚Erlöser‘ gesehen wird.38 Deborahs Hoffnung ist demnach berechtigt und motiviert, dadurch dass ihr eigenes Kind nicht nur die Quelle ihrer Verzweiflung, sondern auch die ihrer Hoffnung ist.

(c) Mutterrolle. Deborah wird von ihrer ersten Erwähnung mit der Rolle einer Mutter in Verbindung gebracht. Die Fürsorge für die vier kennzeichnet sie im ganzen Roman, ist aber auch von Widersprüchen begleitet. Die Beziehung zu den beiden älteren Söhnen, Jonas und Schemarjah/Sam, ist von Beginn an von mütterlicher Sorge gekennzeichnet. Dies wird besonders explizit, wenn sie versucht, die Söhne vorm Einzug in die Armee zu bewahren (44f). Jedoch wird sie hier vor eine unmoralische Wahl gestellt, da sie nur einen Sohn retten kann („Wenigstens Einer!“ (45)). Die Entscheidung erfüllt sie mit dem Schmerz, den man von einer Mutter erwarten kann: […] erschien ihr die Lage noch elender als zuvor. Wie konnte sie ihre Söhne voneinander unterscheiden? Jonas oder Schemarjah? – fragte sie sich unermüdlich. Besser einer als beide – sagte ihr Verstand, wehklagte ihr Herz. (45)

In Bezug auf die Söhne wird sie auch durch die Erzählstimme klar als Mutter charakterisiert. Als Jonas und Schemarjah heimkehren, wird sie als „ihre Mutter Deborah“ (35) beschrieben, im Gegensatz zu dem ihr bisher zukommendem Attribut die Frau Mendels zu sein. Besonders auffällig wird dies in folgender Textpassage:

Die Mutter Deborah setzte sich auf einen der zwei Schemel, die immer in der Nähe des Ofens standen, als hätten sie schon seit langem auf die Gelegenheit gewartet, eine trauernde Mutter aufzunehmen. (35)

Deborah wird hierin nicht nur Fürsorglichkeit, sondern auch Sorge um die Kinder zugeschrieben. Ihr Versuch der Rettung und ihre Skrupel, eine Wahl zu fällen, sind psychologisch nachvollziehbar. Zudem ist Deborah auch in Gedanken bei ihnen, wenn sie entfernt sind. „Wo ist jetzt Schemarjah?“ (52), fragt sie sich, als er in Sicherheit ist. Ihr Leid beim Verlust Jonas‘ („Auch das Rote Kreuz hatte mitgeteilt, daß Jonas verschollen sei. ‚Er ist wahrscheinlich tot‘, dachte im stillen Deborah“ (124)), mag noch stumm sein, doch der Verlust des zweiten Kindes, Sam, ist fatal für die Mutter:

Deborah sitzt, als ob nichts geschehen wäre, ruhig auf dem Sessel. Ihre Augen sind trocken und leer […]. Plötzlich beginnt Deborah, sich ganz langsam, mit schleichenden Fingern die Haare zu raufen. Sie zieht eine Haarflechte nach der andern über das Gesicht, das bleich ist und ohne Regung, wie aufgequollener Gips. […] Deborah reißt sich sachte die Haare aus. […] Deborah beginnt zu singen. […] ein altes jüdisches Lied ohne Worte, ein schwarzes Wiegenlied für tote Kinder. (128f)

Stunden nach Verkünden der Todesbotschaft durch Mac stirbt Deborah. Die kurz aufeinander folgenden Verluste sind zu schmerzhaft für sie. Eine wirkliche Hierarchie unter ihren Kindern ist demnach nicht zu erkennen, lediglich eine psychologisch nachvollziehbare Trauerreaktion. Jonas, der ihr bereits ferner war, wird im selben Gesang wie Schemarjah betrauert; das Wiegenlied gilt beiden.

[...]


1 Hiob 2,9.

2 Roth, Joseph. Hiob. (1930). Stuttgart: Reclam, 2014. Alle weiteren in Klammern angegeben Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

3 Siehe, Vom Hofe, Gerhard. S.74. „‚Reigen aus Mühsal‘ und ‚Schwere des Glücks. Joseph Roths Hiobdeutung.“ In: „ Die Schwere des Glücks und die Grösse der Wunder“. Joseph Roth und seine Welt. Reihe: Herrenalber Forum Band 10, 1994. S.66-91.

4 Siehe Ritter, Alexander, S.72. „Über das ‚Gleichgewicht zwischen der Tischplatte und ihrer künstlichen Verlängerung‘. Zur kulturkritischen Antithese ‚Amerika‘ und der Lebensbalance in Joseph Roths Hiob (1930)“. In: Joseph Roth. Europäisch-jüdischer Schriftsteller und österreichischer Universalist. Hrsg. Johann Georg Lughofer, Mira Miladinovic Zalaznik. Reihe: Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte. Band 82. Berlin: De Gruyter, 2011. S.87-100.

5 Siehe Raffel, Eva, S.206. Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. Reihe: Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Christine Bierbach u. a. Band 54. Tübingen: Gunter Narr, 2002.

6 Die Titelgebung, beziehungsweise der Untertitel „Roman eines einfachen Mannes“, vereint zudem die jüdisch-religiöse Thematik mit der weltlichen. Vergleiche auch bei Ritter (2011), 92.

7 Ritter (2011), 87.

8 Sowohl das Dorf Zuchnow als auch das Land Uz sind fiktiv.

9 Siehe S.113, HACKERT, Fritz. „Zum Gebrauch der Gattung Legende bei Joseph Roth“. In: „ Die Schwere des Glücks und die Grösse der Wunder“. Joseph Roth und seine Welt. Reihe: Herrenalber Forum Band 10, 1994. S.109-123.

10 Raffel (2002), 205.

11 Vom Hofe (1994), 71.

12 Siehe S. 28; Hüppauf, Bernd. „Joseph Roth: Hiob. Der Mythos eines Skeptikers“. In: Joseph Roth. Werk und Wirkung. Hrsg. von Bernd M. Kraske. Reihe: Sammlung Profile. Band 32. Hrsg. Von Rudolf Wolff.. Bonn: Bouvier, 1988. S. 25-51.

13 Siehe S. 157; Hartmann, Telse. Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths. Reihe: Kultur – Herrschaft – Differenz, Band 10. Hrsg v. Moritz Csásky u.a. Tübingen u. Basel: A. Francke, 2006.

14 Vom Hofe (1994), 89.

15 Vom Hofe (1994), 87.

16 Vom Hofe (1994), 68.

17 Siehe S. 120; Sieg, Werner. Zwischen Anarchismus und Fiktion. Eine Untersuchung zum Werk von Joseph Roth. Reihe: Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik. Hrsg. von Armin Arnold und Alois M. Haas. Band 27. Bonn: Bouvier, 1974.

18 Hiob 1,1-6.

19 Hiob 42,10-17.

20 Hiob 2,9-10.

21 Siehe S. 147; Hahn, Barbara. „Hiobsgeschichten. Übersetzungen und Umschriften von Martin Luther bis Martin Buber.“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 71 (1), 1997. S.146-163.

22 Siehe S. 209; Magdalene, F. Rachel. „Job’s Wife as Hero: A Feminist-Forensic Reading of the Book of Job”. In: Biblical Interpretation. 14 (3), 2006. S.209-258.

23 Magdalene (2006), 211.

24 Magdalene (2006), 257.

25 Magdalene (2006), 231-233.

26 Magdalene, (2006), 246.

27 Magdalene, (2006), 214 und 257.

28 Magdalene, (2006), 240.

29 Siehe S. 77; Legaspi, Michael. „Job’s Wives in Testament of Job. A Note on the Synthesis of Two Traditions”. In: Journal of Biblical Literature. 127 (1), 2008. S. 71-79.

30 Siehe S. 89; Schott, Sonia. „New York als imaginiertes Stadtbild in Joseph Roths Hiob. Roman eines einfachen Mannes.“ In : Joseph Roth – Städtebilder. Zur Poetik, Philologie und Interpretation von Stadtdarstellungen aus den 1920er und 1930er Jahren. Hrsg. Stéphane Pesnel u.a. Berlin: Frank & Timme, 2016. S. 83-99.

31 Hanks, Pattick und Flavia Hodges. Oxford Dictionary of First Names. Oxford: University Press, 1990.

32 Nach Deborahs Tod hält Mendel sich an der Prophezeiung fest und zititert sie als Deborahs, nicht als die des Rabbi. Er macht sie zur Prophetin. Siehe auch S. 366; Garloff, Katja. „Femininity and Assimilatory Desire in Joseph Roth”. In: Modern Fiction Studies. 51 (2), 2005. S.354-373.

33 Ungewöhnlich in dem Sinne, dass die biblische Deborah nicht nur Prophetin war, sondern auch das Amt einer Richterin innehat und Recht spricht.

34 Hartmann (2006), 148f.

35 Vom Hofe (1994), 80.

36 Hartmann (2006), 149.

37 Menuchim ist ebenfalls ein Beiname des Messias.

38 Vom Hofe (1994), 86.

Fin de l'extrait de 23 pages

Résumé des informations

Titre
Hiobs Frau. Vergleich der Figur der Deborah in Joseph Roths "Hiob"-Roman und dem Alten Testament
Université
University of Heidelberg  (Neuphilologisches Institut)
Cours
Hauptseminar
Note
2,0
Auteur
Année
2017
Pages
23
N° de catalogue
V954683
ISBN (ebook)
9783346298041
ISBN (Livre)
9783346298058
Langue
allemand
Mots clés
Hiob, Joseph Roth, Charakteranalyse, Altes Testament, Charaktervergleich, Hiobs Frau, Biblische Figur
Citation du texte
Almut Amberg (Auteur), 2017, Hiobs Frau. Vergleich der Figur der Deborah in Joseph Roths "Hiob"-Roman und dem Alten Testament, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/954683

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