Kästner, Erich - Fabian - Der Moralbegriff


Exposé / Rédaction (Scolaire), 1997

9 Pages, Note: 15 Punkte


Extrait


Gliederung

"Der Moralbegriff in Erich Kästners Roman Fabian - Die Geschichte eines Moralisten"

1. Einleitung mit Erläuterung der Schwierigkeit, einen derart abstrakten Begriff wie den der "Moral" zu definieren. Ferner wird mit der zu belegenden Feststellung, dass der Fabian im Hinblick auf den Moralbegriff die Aussage von Erich Kästners Lebenswerk wiederspiegelt, gerechtfertigt, dass im Folgenden Leben und Werk des Autors herangezogen werden, um Thesen über den Fabian zu untermauern

2. Hauptteil

2.1 Die Hauptfigur Jakob Fabian wird sehr kurz charakterisiert und ihre Funktion für die Aussage des Romans verdeutlicht. Dieser Aspekt soll nicht vertieft werden, weil er nicht der eigentliche Gegenstand der Untersuchung ist, sondern nur für die weitere Analyse des Romans benötigt wird.

2.2 An das Verhältnis zwischen Gesellschaftsordnung und Moralität wird über

2.2.1 drei Episoden aus dem Roman herangeführt. Der Vertrag, der Herrn Moll zusichert, die Liebhaber seiner Ehefrau begutachten zu dürfen, der Erfinder, der Gewissensbisse hat, weil durch seine Maschinen Menschen arbeitslos wurden, sowie die gescheiterte Liebesbeziehung zwischen Jakob Fabian und Cornelia Battenberg zeigen Kästners "Diagnose", dass nämlich dem einzelnen moralisches Verhalten gar nicht möglich sei.

2.2.2 Der Streit zwischen Fabian und Labude liefert zwei gegensätzliche Erklärungsansätze: der Mensch sei von Grund auf "schlecht", deshalb könne es auch kein moralisches Handeln geben; bzw. sei der Mensch zwar "gut", d.h. lernfähig, man müsse aber erst die Gesellschaft so einrichten, dass sie die Entfaltung von Moralität nicht verhindert.

2.2.3 Kästner macht sich - im Prinzip - die Position Labudes zu eigen. Dies wird z.B. dadurch deutlich, dass er keine der Romanfiguren als im Grunde schlecht charakterisiert. Ihre oft absurde Lage wird stets durch die gesellschaftlichen Umstände begründet. Der Autor ruft also dazu auf, nicht in Melancholie zu verfallen, sondern aktiv an der Schaffung von Verhältnissen mitzuarbeiten, die moralischem Handeln nicht im Wege stehen würden. Er räumt gleichwohl die mit einer solchen Lebensphilosophie verbundenen Schwierigkeiten ein.

2.3 Eine Definition des Moralbegriffs im Sinne Erich Kästners kann nun versucht werden. Moralisches Handeln ist eine höchst individuelle Angelegenheit. Moral erfordert Emanzipation. Sie leitet sich aus der Vernunft ab.

3. Schluss - Pointierung der Aussage des Romans und aktueller Bezug Auch zur heutigen Zeit ist das moralische Befinden der Gesellschaft angeschlagen, die Orientierungslosigkeit ist groß. Kästners Anliegen, eine Gesellschaft zu schaffen, der die Entfaltung individueller Moralität zu Grunde liegt, ist daher noch von großer Aktualität.

Facharbeit

Wenn man sich mit einem Begriff wie dem der "Moral" beschäftigt, so wird man schnell auf ungeahnte Schwierigkeiten stoßen. Eine Moralvorstellung hat zunächst wohl jeder, wahrscheinlich sogar eine ziemlich präzise. Je mehr man aber versucht, jenen Begriff einzufangen oder gar zu definieren, desto problematischer wird das Unterfangen. Moral ist ein Wertmaßstab. Damit liegt das Problem auf der Hand. Wer definiert diesen Maßstab? Es ist ein geistesgeschichtliches Kennzeichen unseres Jahrhunderts, daß man absolute Werte, überhaupt Absolutheit an sich, ablehnt.

Sicherlich ist Erich Kästners Roman Fabian - Die Geschichte eines Moralisten1 zunächst einmal ein Zeugnis seiner Zeit. Er ist ein Spiegel der Gesellschaft der untergehenden Weimarer Republik. Kästner selbst beschreibt diese Funktion im Vorwort zu einer späteren Neuauflage des Buches folgendermaßen:

"[Der Roman] wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten."(S.9f.)

Doch der Roman leistet unendlich viel mehr. Wie könnte auch die "Geschichte eines Moralisten" umhin kommen, einen Beitrag zur - wie oben beschrieben - hochproblematischen Definition des Moralbegriffs zu leisten? Insofern ist der "Fabian" repräsentativ für das Lebenswerk Erich Kästners, der sich selber als Moralist verstand2. Wie schon Helmuth Kiesel feststellte, bestehen große Parallelen zwischen dem Roman und der gesamten Lyrik Erich Kästners3. Die in gewisser Weise zergliederte Aussage seines Gesamtwerkes erlebt somit im "Fabian" eine Synthese. Es ist daher legitim, wenn im Folgenden auch Kästners Leben und Werk benutzt werden, um ein besseres Verständnis des bearbeiteten Romans zu erreichen.

Es erscheint zunächst einmal geboten, sich mit der Hauptfigur des Romans auseinanderzusetzen, denn das dargestellte Leben und Verhalten eines "Moralisten" könnten Rückschlüsse auf den Moralbegriff bieten. Hier ist allerdings Vorsicht angesagt! Das Verhalten des Jakob Fabian unreflektiert als moralisch im Sinne Kästners zu bezeichnen, wäre eine grobe Fehleinschätzung seiner Funktion im Kontext des Romans. Es wird zu zeigen sein, dass gerade erst eine sehr kritische Auseinandersetzung mit der Hauptfigur eine Moraldefinition möglich macht.

Fabian ist ein Beobachter. Erich Kästner benutzt ihn, um die unterschiedlichsten Milieus der Gesellschaft darstellen zu können. Fabian gerät von einer Situation in die nächste, wobei er sich so gut wie nie selber zu etwas entscheidet, sondern immer vom Strudel der Ereignisse mitgerissen wird. Er trifft so immer von neuem auf eine in allen Bereichen des Lebens unmoralische und absurde Welt. Der Leser sieht diese Welt einzig und allein durch Fabians Augen. Das Ziel ist dabei nicht, ein wahrheitsgetreues Abbild jener Gesellschaft zu zeigen, sondern (mit den Mitteln der Satire und Karikatur) einzelne ihrer Auswüchse wieder und wieder zu betonen. "Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten", sagt Erich Kästner (S. 10). Fabian ist genau dieser Zerrspiegel in der Hand des Autors. Sein "Moralismus" ist daher in erster Linie kein Wesenszug, sondern ein Darstellungsmittel. Die Moraldefinition erfolgt also nicht vorrangig durch die Charakterisierung der Hauptfigur, sondern vielmehr dadurch, dass jene den Blick des Lesers unaufhörlich auf bestimmte Zusammenhänge lenkt und somit provoziert.

Dennoch haben selbstverständlich die von Jakob Fabian zahlreich präsentierten Reflexionen über Moral und Anständigkeit eine hohe Bedeutung. Keinesfalls darf man sie aber ohne weiteres übernehmen, wenn auch die Versuchung zumindest zu Anfang recht groß ist, was Helmuth Kiesel mit der Einheitlichkeit der Erzählperspektive sowie der "augenblicklichen Sinnfälligkeit" von Fabians Äußerungen begründet4.

Wie auch Kiesel im weiteren feststellt, ist die Liste der Übereinstimmungen zwischen Erich Kästner und seiner Titelfigur Fabian sehr lang; dies betrifft sowohl biographische Einzelheiten5 als auch weltanschauliche Ansichten. Um letzteres zu belegen, könnte man etwa den spontanen Gedanken Fabians, der mitbekommt, wie eine Frau ihren blinden Begleiter in dessen Beisein mit einem anderen Mann betrügt, anführen: "Der Fortschritt der Menschheit war unverkennbar." (S.25). Der Satz hat genau denselben ironischen Charakter wie Kästners Gedicht "Entwicklung der Menschheit"6. Andere Beispiele ließen sich anführen.

Dennoch ist Fabian keinesfalls Erich Kästner, sondern höchstens, wie sich Egon Schwarz ausdrückt, die Projektion eines Teils der Persönlichkeit des Autors7. Die Figur vertritt in letzter Konsequenz eine andere Weltanschauung als ihr Erfinder. Dies wird an späterer Stelle ausführlich herauszuarbeiten sein, hier sei nur so viel gesagt, dass die Auseinandersetzung mit den von Jakob Fabian vertretenen (provozierenden) Wertvorstellungen den zweiten Anhaltspunkt für die Kästnersche Definition moralischen Verhaltens liefert. Der erste Punkt besteht - wie oben ausgeführt - aus Fabians Beobachtungen der Gesellschaft.

Die Vermutung liegt folglich nahe, dass Kästners Moralbegriff in einem engen Zusammenhang mit der Gesellschaft steht. So besteht dann auch ein zentrales im Roman ausgeführtes Problem in dem Verhältnis zwischen Moralität und der bestehenden Gesellschaftsordnung. Es soll hier verdeutlicht werden, dass Moral in Kontext des Romans keinesfalls mit gesellschaftlichen Konventionen gleichzusetzen ist, sondern dass der Autor im Gegenteil in zahlreichen Situationen, die er Fabian durchleben lässt, verdeutlicht, wie die Beschaffenheit von Wirtschaft und Gesellschaft gerade moralisches Verhalten verhindern.

Großen Raum nehmen so die Themen Liebe und Sexualität ein. Ziemlich zu Anfang des Romans macht Jakob Fabian zum Beispiel in einem entsprechenden Etablissement die Bekanntschaft der Irene Moll, die ihn alsbald in ihre Wohnung abschleppt. Ihr Ehegatte ist nicht etwa überrascht oder entrüstet, als er nach Hause kommt und den (eher unfreiwilligen) Liebhaber Fabian bei seiner Frau antrifft, sondern er nimmt ihn mit in sein Arbeitszimmer, um ihm einen Vertrag zu zeigen, der seiner Gattin unter bestimmten Auflagen den Ehebruch erlaubt (S. 19ff.).

Die Metaphorik dieser Episode liegt auf der Hand: Unmoralisches (warum, ist noch zu klären) Verhalten - in einer eigentlich ziemlich absurden Situation - wird durch eine gesellschaftliche Akzeptanz oder Übereinkunft (der erwähnte Vertrag) normalisiert und für rechtens erklärt.

Bezeichnend ist auch die Beziehung zwischen Jakob Fabian und der Studentin Cornelia Battenberg. Wie Helmuth Kiesel ausführlich erläutert, handelt es sich dabei um eine romantische und idyllische Liebesbeziehung, die in scharfem Kontrast zu allen anderen im Roman beschriebenen erotischen Erlebnissen steht, und die Fabian für einen Moment alle negativen Erfahrungen vergessen macht8. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer: Cornelia beginnt eine Affäre mit einem Filmproduzenten, um eine Karriere als Schauspielerin beginnen zu können. Sie wird dabei nicht von Eitelkeit oder sexuellen Bedürfnissen getrieben, sondern von der rein wirtschaftlichen Notwendigkeit. Der inzwischen arbeitslos gewordene Fabian ist nicht in der Lage, Cornelia und sich eine Perspektive zu bieten (S.179ff.). Diesmal zwingt also die wirtschaftliche Situation den einzelnen zu unmoralischem Verhalten.

Der Deutung von Egon Schwarz, Kästner gebe sich "als Konservativer zu erkennen", weil er dem Ideal von Ehe und Familie das Wort rede9, muss hier allerdings widersprochen werden. Im Fabian wird keine Besinnung auf traditionelle Sitten und Institutionen wie die Ehe gefordert. Es geht hier vielmehr um eine Diskrepanz zwischen reiner Triebhaftigkeit und sinnlicher Liebe in Respekt vor der eigenen Würde und der des andern. Die Gesellschaftsordnung, die Jakob Fabian beschreibt, insbesondere die aus ihr erwachsenden wirtschaftlichen Zwänge verhindern wirkliche Liebe und fördern oder verlangen sogar ein sexuelles Verhalten, das die Menschen ihrer Persönlichkeit beraubt.

Eine Schlüsselstelle hinsichtlich des Verhältnisses von Moral und (Gesellschafts-)System stellt die Episode mit dem Erfinder dar, der als Landstreicher durch die Gegend zieht und dem Fabian begegnet (S. 110ff.). Es handelt sich um einen sehr gelehrten, in wissenschaftlichen Kreisen hochangesehenen Mann, der sich aber entschlossen hat, seine (revolutionären) technischen Entwicklungen geheimzuhalten, seit er gesehen hat, wie die Polizei auf demonstrierende, weil durch Rationalisierung arbeitslos gewordene und damit ihrer Existenzgrundlage beraubter Arbeiter losgegangen ist. In der Erkenntnis, dass im Grunde seine Maschinen die Arbeiter in diese Lage gebracht haben, weigert der Erfinder sich fortan, seine Fähigkeiten dem vorherrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystem zur Verfügung zu stellen. Er möchte nicht länger ein Teil einer Ordnung sein, die einzelnen Menschen ihre Würde nimmt, bringt sich selber dafür aber in eine absurde Lage: Er, der berühmte Gelehrte, wird ins Irrenhaus gesteckt und wird zum Vagabunden.

Die geschilderte Episode ist typisch für den Roman. Egon Schwarz schreibt dazu: "Immer wieder [führt] die moralische Handlungsweise in groteske Situationen und [illustriert] dadurch die Unvereinbarkeit von Moral und Welt."10 Man muss zur Erläuterung allerdings ergänzen, dass Kästner mit dem, was Schwarz "Welt" nennt, ein von Menschen geschaffenes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem meint. Im Roman wird diese Kästnersche Diagnose von dem Wirtschaftsredakteur Malmy ausgesprochen: "Im Rahmen des falschen Systems [...] sind die falschen Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen sind begreiflicherweise falsch."(S.32)

Erich Kästner lässt also in dem Roman die Hauptfigur eine Gesellschaft beschreiben, in der moralisches Verhalten nicht möglich ist. Den Schlüssel zur Erklärung dieses Umstands liefert Kästner in den Streitgesprächen zwischen Jakob Fabian und dessen engem Freund Stephan Labude. Letzterer ähnelt übrigens einem Studienfreund von Erich Kästner; Labudes Selbstmord, vom dem später noch die Rede sein wird, ist authentisch11.

Sollte man die Auseinandersetzung der beiden Romanfiguren auf einen Punkt bringen, dann bezeichnete man Fabian als den schicksalsergebenen und verzweifelten Mitläufer, Labude hingegen wäre der ehrgeizige Optimist. Unzufrieden sind beide, weil sie die Absurdität ihrer Umwelt erkennen. In der Erklärung des Zustands der Gesellschaft bedient sich der Autor der beiden Figuren, um eine polarisierte Gegenüberstellung von Gründen zu erreichen. Unter dem Vorbehalt aller notwendigen Differenzierung kann man überspitzt feststellen, dass Fabian der Natur des Menschen die Schuld gibt, während sein Freund ein eigendynamisches, zynisches, weil zum Selbstzweck und damit menschenfeindlich gewordenes System kritisiert.

Labude hat konkrete politische Ziele. An den Universitäten versucht er, die Jugend zu mobilisieren, um die Gesellschaftsordnung zu wandeln und den "kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet wird" (S.79) aufzuhalten. Hinter seinem politischen Plädoyer, das hier nicht im einzelnen erörtert werden soll, darf Erich Kästner vermutet werden. Die aufgezählten Maßnahmen sollen zur Schaffung eines "Kulturstaates"(S.54) beitragen, der die hinreichend geschilderten Übel der Zeit beseitigen würde. Labude ist kein reiner Theoretiker, sondern er ist im Sinne seiner Ideen aktiv. Auch gibt er sich optimistisch, wenn er z.B. sagt: "Die Sache kommt in Gang."(S.80)

Fabian ist der Gegenpol zu der politischen Euphorie seines Freundes. Dabei ist interessant, wie Egon Schwarz zu Recht feststellt, dass er nie politisch, sondern stets mit "Einwänden des Temperaments"12 argumentiert, Helmuth Kiesel sieht hierin eine erste Problematisierung des Standpunktes der Hauptfigur13. Fabian hält die Menschen für von vornherein unfähig, in einem solchen "Paradies", wie er sarkastisch die Vorstellungen seines Freundes bezeichnet (S.54), zu leben. Fabian bringt sein Credo auf den Punkt, wenn er sagt: "Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, dann schlägt man einander tot, oder man ist [mit] der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Was nützt das göttlichste System, solange der Mensch ein Schwein ist?" (S.80). Er wartet auf "den Sieg der Anständigkeit.", tut dies aber "wie ein Ungläubiger auf Wunder" (S.100) und erweist sich somit als Fatalist.

Labude hält dieser Einstellung seine Überzeugung entgegen, die Menschen würden sich einem "vernünftig gestalteten System schon anpassen." (S.54) Die Vernunft ist hier der zentrale Begriff, weil sie den Maßstab für die Ordnung darstellt, die Labude vorschwebt. Nicht von ungefähr konzentriert er daher auch seine politische Arbeit auf akademische Kreise und erhebt damit Wissenschaft und Bildung - ein wenig in der geistigen Tradition Voltaires - zur Voraussetzung für eine ideale Gesellschaft.

Labude will ein System schaffen, das die Menschen vernünftig macht. Er stellt also gesellschaftliche Ordnung und damit die Macht, ein System zu installieren und aufrechtzuerhalten, in den Dienst der Menschen. Fabian bestreitet diese Möglichkeit; für ihn sind "Vernunft und Macht Antinomien" (S.80), der Mensch ist unverbesserlich.

Wenn vorher gesagt worden ist, dass Fabians Reflexionen einen Teil von Kästners eigenen Überlegungen wiedergeben, so sind die Ansichten Labudes der andere, gegensätzliche Teil. Der Streit der beiden kontrastierenden Romanfiguren ist somit nicht zuletzt eine Auseinandersetzung des Autors mit sich selber14.

Es wurde schon angesprochen, dass sich dabei das Menschenbild Kästners von demjenigen Fabians letztlich unterscheidet. Helmuth Kiesel bringt diesen Unterschied auf den Punkt, indem er feststellt, dass sich Erich Kästner mit seinem Werk für jene "Erziehung des Menschengeschlechts" eingesetzt habe15, die Fabian im Roman von vornherein als aussichtslos abtut (S.157).

Abgesehen von den Äußerungen Labudes wird die Hauptfigur im Roman nur ein einziges Mal direkter Kritik ausgesetzt: Das letzte Kapitel, in dem Fabian beim Versuch, ein Kind zu retten, ertrinkt, weil "er nicht schwimmen konnte" (S.236), trägt die Überschrift "Lernt Schwimmen!" (S.231). Erich Kästner ruft damit dazu auf, eben nicht so zu leben wie Fabian, der in seiner absurden und unmoralischen Umwelt - so ist die Symbolik - untergehen musste. Indirekt wird im Verlauf des ganzen Romans das fatalistische Menschenbild Fabians außerdem dadurch zurückgewiesen, dass alle handelnden Personen als im Grunde bedauernswert erscheinen. In ihre oft groteske Lage sind sie stets von äußeren, von ihnen selber konkret nicht beeinflussbaren Faktoren getrieben worden, nie aber willentlich und bewusst. Auch Fabian selber sticht ja, wenn man z.B. an das Sexualleben denkt, nicht aus der Unmoral der Gesellschaft, die er verurteilt, heraus. Die Tatsache, dass die Ablehnung von Fabians Weltanschauung sich erst nach einer intensiven kritischen Auseinandersetzung mit seiner Figur (dann aber um so deutlicher) herauskristallisiert, ist ein Hinweis auf die Kästnersche Anfälligkeit für Fabians verzweifeltes Menschenbild. Das meint Egon Schwarz, wenn er die Ansicht vertritt, man könne in Anlehnung an Goethes Leiden des jungen Werther etwas überspitzt von Fabian sagen, dass auch er sterben musste, damit sein Erfinder leben konnte16.

Es ist dann ja auch bezeichnend, dass der Roman Fabian nicht eben ein glühendes und unhinterfragtes Bekenntnis zu den gesellschaftspolitischen Reformvorstellungen des Stephan Labude darstellt, die sich zunächst als Alternative zu Fabians Weltanschauung anbieten. Zum Beispiel steht auf den ersten Blick der Selbstmord des Optimisten Labude im krassen Widerspruch zu einer solchen Deutung. Paradoxien sind, das sei angemerkt, immer wieder sehr bezeichnend für den Erich Kästner eigenen Sarkasmus. Letzterer ist wohl sein Mittel, mit den Widersprüchlichkeiten der Welt fertig zu werden17.

Vor die Wahl gestellt zwischen dem Fatalismus des Jakob Fabian und dem Optimismus des Stephan Labude, entscheidet sich der Autor Kästner für den letzteren, das ist hinreichend verdeutlicht worden. Das Paradox, welches der Selbstmord darstellt, dient dazu zu veranschaulichen, dass es sich nicht um eine einfache und unanfechtbare Entscheidung handelt. Erich Kästner, der sich selber als "Urenkel der deutschen Aufklärung" verstand, schrieb in einem Gedicht über Lessing, welcher in dem Roman nicht von ungefähr eine wichtige Rolle spielt: "Es gab kein Ziel. Er fand die Richtung."18 Dasselbe hätte Kästner über sich sagen können. Er zeigt im Roman keinen "goldenen Weg" auf, der die beschriebenen gesellschaftlichen Miss- Stände beseitigen kann. Kästner weiß um das große Maß an Wahrheit, das Teil von Fabians fatalistischem Menschenbild ist. Wenn Labude Anstand und Vernunft durch Macht Geltung verschaffen will, so blendet er aus, dass die schlechten menschlichen Eigenschaften eines jeden Machthabers die Entwicklung seines idealen Gesellschaftssystems behindern werden. "Dennoch!" heißt aber der Wahlspruch des Moralisten Kästner (S.10). Und so kommt er doch eindeutig zu seinem Appell: "Lernt Schwimmen!". Kann man aber bei der Figur des Labude von einem euphorischen Optimismus sprechen, so ist es bei Kästner ein zwanghafter. Er hat keine Wahl. Ihn nährt lediglich die Hoffnung, sich in der richtigen Richtung zu bewegen: In der beschriebenen Schluss-Szene des Romans ertrinkt das Kind, das Fabian retten wollte, nicht. Es kann "schwimmen". Der Kinderbuchautor Kästner glaubt, dass sich langfristig, in einer neuen Generation die menschlichen Werte, die er in seiner Zeit vermisst, durchsetzen können. In Labudes Abschiedsbrief heißt es entsprechend: "Nur die Kinder sind für Ideale reif." (S.186). Erich Kästner bekennt sich, in Anlehnung an Lessing, zur "Erziehbarkeit des Menschengeschlechts".

In seinem wohl kürzesten Gedicht "Moral" erteilt der Autor dann auch dem passiv-lethargischen Pseudo- Moralismus des Fabian eine klare Absage: "Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es!"19 Moralisch ist im Sinne von Erich Kästner das aktive Eintreten für eine Besserung der Menschen und deren Lebensumstände. Doch dieses Ziel bleibt abstrakt, denn einen allgemein gültigen moralischen Maßstab gibt es nicht, was den Moralisten vor enorme Probleme stellt. Im Roman "liebte und brauchte" der "moralische Mensch [Labude] die Ziele" (S.114f.). Er kann sie nur in sich selber finden: Seine Moral ist eine ist eine Konsequenz aus "sein[em] private[n] Ordnungssystem". Es gibt bei Kästner keine wie auch immer geartete Gesellschaftsmoral, sondern Moral ist ein hochgradig individueller Handlungsmaßstab. Sie erfordert die Emanzipation des einzelnen von den Zwängen und Absurditäten eines a priori vorhandenen und nicht die individuellen Bedürfnisse bedienenden Gesellschaftssystems. Letzteres muss (im Sinne von Rousseaus "Contrat Social") so eingerichtet werden, dass es dem Individuum die weitestgehende Selbstentfaltung entsprechend der eigenen moralischen Maßstäbe erlaubt.

Die Qualität solcher Individualmoral wird in dem Roman am besten aus der weiter oben geschilderten Liebesbeziehung zwischen Fabian und Cornelia Battenberg deutlich: Kennzeichnend ist die Achtung vor der Würde und Persönlichkeit, der eigenen wie der des anderen Menschen. Insofern hat Kästners Moralbegriff auch sehr viel mit gegenseitiger Verantwortung zu tun.

Fabian möchte "helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen" (S.54), natürlich meldet sich in diesem Zitat der Autor zu Wort. Das Ziel des Moralisten Kästner besteht also darin, Anstand und Vernunft Geltung zu verschaffen (wobei sich der "Anstand" auf das beziehen dürfte, was hier zur Menschenwürde gesagt worden ist). Der Rationalist Kästner erhebt somit die Vernunft zum moralischen Maßstab. Einerseits handelt es sich dabei vielleicht um einen Versuch, ein letztes objektives Kriterium in einer subjektiven Welt zu erhalten, andererseits mag der Autor den Verstand als einzige wirksame Waffe der Emanzipation von dem vorherrschenden System ansehen.

Heute, im Jahre 1997, hat Erich Kästners Roman wenig von seiner Aktualität eingebüßt. Allzu viele der im Fabian geschilderten sozialen Absurditäten lassen sich auf die gegenwärtige Lage, auf das moralische Befinden der heutigen Gesellschaft übertragen. Die Orientierungslosigkeit in Zeiten wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung hat im Vergleich zu dem Deutschland der Dreißiger Jahre eher noch zugenommen, die Gefahren eines eigendynamischen, menschenverachtenden und damit zynischen Wirtschaftssystems sind so bedrohlich wie noch nie.

Es bleibt zu hoffen, dass der 1930 ungehört verklungene Appell, den Erich Kästner in seinem Roman Fabian - Die Geschichte eines Moralisten entfaltet, heute auf fruchtbaren Boden fallen möge: nämlich eine Gesellschaft zu schaffen, die der Entfaltung individueller Moralität Vorrang einräumt und damit Lebenssinn stiftet.

Bibliographie

A. Werke von Kästner

Kästner, Erich: Fabian - Die Geschichte eines Moralisten, München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1989 (Erstausgabe 1931)

Kästner, Erich: Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke, München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1988 (Erstausgabe 1936)

B. Sekundärliteratur

Kiesel, Helmuth: Der zeitkritische Roman "Fabian", in: ders.: Erich Kästner (Autorenbücher), München: Verlag C.H. Beck, 1981. S. 87-109

Schwarz, Egon: Erich Kästner. Fabians Schneckengang im Kreise, in: Hans Wagener (Hrsg.): Zeitkritische Romane des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Reclam, 1975. S. 124-145

C. Biographie

Enderle, Luiselotte: Erich Kästner (Rowohlts Bildmonographien), Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995 (überarbeitete Neuauflage, Erstausgabe 1966)

Anmerkungen

[...]


1 ) Kästner, Erich: Fabian - Die Geschichte eines Moralisten, München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1989 (Erstausgabe 1931) - Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf Kästners Roman

2 ) Enderle, Luiselotte: Erich Kästner (Rowohlts Bildmonographien), Hamburg: Rowohlt Taschenbuch-verlag, 1995 (Erstausgabe 1966). S.61

3 ) Kiesel, Helmuth: Der zeitkritische Roman "Fabian" in: ders.: Erich Kästner (Autorenbücher), München: Verlag C.H.Beck, 1981. S.87

4 ) Kiesel: 88

5 ) Als Beispiel könnte man Einzelheiten aus dem beruflichen Werdegang Fabians anführen, welche mit solchen aus Kästners Leben übereinstimmen. Auch etwa die Mutterbindung der Romanfigur erinnert stark an den Autor.

6 ) Kästner, Erich: Dr. Erich Kästners lyrische Hausapotheke, München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1993. (Erstausgabe 1936). S.32

7 ) Schwarz, Egon: Fabians Schneckengang im Kreise, in: Hans Wagener (Hrsg.): Zeitkritische Romane des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Reclam, 1975. S. 133

8 ) Kiesel: S.100

9 ) Schwarz: S.137

10 ) Schwarz: S.128

11 ) Enderle: S.35

12 ) Schwarz: S.138

13 ) Kiesel: S.95

14 ) Schwarz: S.138

15 ) Kiesel: S.89

16 ) Schwarz: S.133

17 ) vgl. Enderle: S.144. James Krüss schreibt über Erich Kästner, das, was Zynismus scheine, sei Verzweiflung.

18 ) Kästner: Hausapotheke. S.188

19 ) Kästner: Hausapotheke. S.30

Fin de l'extrait de 9 pages

Résumé des informations

Titre
Kästner, Erich - Fabian - Der Moralbegriff
Cours
Leistungskurs Deutsch
Note
15 Punkte
Auteur
Année
1997
Pages
9
N° de catalogue
V95477
ISBN (ebook)
9783638081559
Taille d'un fichier
345 KB
Langue
allemand
Mots clés
Moral System Aufklärung Kästner Fabian, Thema Erich Kästner
Citation du texte
Tobias Schröder (Auteur), 1997, Kästner, Erich - Fabian - Der Moralbegriff, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95477

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